Stell dir vor, dein Kind kommt langsam ins Schulalter. Es gibt einige Schulen in der nächstgelegenen Stadt. Du kannst wählen zwischen «Nokia», «Philipp Morris», «RUAG», Volkswagen» und «Microsoft». Gratis gibt es nichts. Die vier Konzerne machen den Preis unter sich aus, denn die WTO hat die Schulbildung zu einer Handelsware erklärt. Grosskonzerne beherrschen den Markt und bestimmen das Bildungsangebot. Öffentliche Schulen sind abgeschafft worden, weil sie Staatsbetriebe waren und damit gegen die Grundsätze des «freien Handels» verstiessen. Möglich gemacht und durchgesetzt hat dies die WTO unter dem Motto «Freier Handel ist das Beste». Und hat es jahrelang, unterstützt von internationalen Institutionen wie Weltbank und Internationalem Währungsfonds (IWF), aber auch von und neoliberalen, liberalen, sozialdemokratischen und grünen PolitikerInnen, gepredigt. Als ob etwas wahr würde, wenn man es nur oft genug wiederholt.
Noch sind wir nicht ganz so weit. Doch es deutet alles auf ein solches Szenario hin, und natürlich nicht nur im Schulbereich. Die Post wird privatisiert. Strom desgleichen. Spitäler wird sich kaum noch jemand leisten können. Zug, Bus und Tram – wer viel Geld hat, kann sie benutzen; wir anderen bleiben besser zuhause.
Zwar besteht innerhalb der WTO nicht immer Einigkeit zum Vorgehen; aber der neoliberale Grundsatz bleibt: Förderung von freiem Handel und Wettbewerb. Was tatsächlich geplant ist und passiert, ist die systematische Zerstörung von öffentlichen Diensten und von kleinen Betrieben. Zum Schluss bleiben einige Grosskonzerne übrig, die aus allen Bereichen unseres Lebens Profit ziehen. Was als freier Wettbewerb angepriesen wird, ist eine verlogene Politik der Monopolisierung von wenigen Konzernen.
Willst du noch einige aktuelle Beispiele von dem, was sich tatsächlich schon abspielt?
Im Süden Mexikos trinkt die indigene Bevölkerung seit Jahrhunderten ein Getränk aus gemahlenem Mais, der mit Wasser gemischt wird. Leicht fermentiert, wirkt dieses Getränk, genannt Pozol, gegen Bakterien und Viren und beugt damit verschiedenen Krankheiten vor. Ein US-holländischer Konzern hat nun den Wirkstoff dieses Getränks patentieren lassen mit dem Ziel, Profite zu machen. Das bedeutet, dass die indigene Bevölkerung das Getränk zwar noch trinken darf, dass sie aber gebüsst würde, wenn sie es verkaufte, da der Konzern das Monopol dafür erworben hat. Das von der WTO eingeführte TRIPS-Abkommen über den Handel mit geistigen Eigentumsrechten ist für solche Zwecke ins Leben gerufen worden. Das geht so weit, dass Bauernfamilien z.B. in Indien ihr Saatgut teuer bei Gentechkonzernen wie Monsanto oder Novartis kaufen müssen, weil diese Konzerne die entsprechenden Patente auf die Pflanzen erworben haben. Demselben Abkommen ist es zu verschulden, dass Generika-Medikamente, das heisst billige Nachahmungen von Marken-Medikamenten, nur sehr beschränkt verkauft werden dürfen, obwohl sie leicht herzustellen sind und Tausenden von Menschen das Leben retten könnten. Das Recht auf Gesundheit wird dem Recht auf Profite unterstellt.
Nestlé kauft weltweit immer mehr Wasserquellen auf. Im Moment liegt
der Marktanteil von Nestlé bei 17%, Tendenz steigend. Je weniger die
Wasserversorgung durch die öffentliche Hand funktioniert – und das
ist in vielen Ländern des Südens bereits der Fall – desto mehr
profitiert Nestlé durch den Verkauf seines Flaschenwassers, das aber
für viele unerschwinglich ist. Der Firmensprecher von Nestlé gibt
dies sogar zu: «In den städtischen Zentren der Dritten Welt fehlt
es an Trinkwasser. Unser Wasser ist ein günstiger Gebrauchsartikel. Aber
es ist uns klar, dass nicht alle sich das leisten können.» (aus WoZ,
10. Juli 2003)
Die EU-Kommission hat innerhalb der WTO-Verhandlungen das Ziel, den europäischen
Wasserkonzernen den ungehinderten Zugang zu neuen Märkten zu ermöglichen.
Bereits im Mai 2002 konsultierte die EU die Firmen und wollte von ihnen Informationen
darüber, welche Regulierungen in den einzelnen Ländern ihrer Meinung
nach einen ungehinderten Marktzugang verhindern würden.
Hier wirken sich Handelsliberalisierungen besonders fatal aus. Die Länder mit einer starken Agro-Industrie fordern den freien Marktzugang auf allen Kontinenten. Häufig werden ihre Produkte gar durch Exportsubventionen künstlich verbilligt, beispielsweise in der EU oder den USA. So gelangen Weizen, Mais und Baumwolle zu Dumpingpreisen nach Indien, Afrika und Lateinamerika. Die dortige Produktion von Nahrungsmitteln kann nicht mehr mithalten und wird mehr und mehr eingestellt; die Bevölkerung muss sich für einen Hungerlohn in Fabriken der westlichen Konzerne anstellen lassen, die von den «praktischen» Billiglohnländern wiederum profitieren. Wo der freie Markt herrscht, wird grundsätzlich so billig wie möglich produziert. Ökologische, soziale und tierschützerische Aspekte gelten als Handelshemmnisse.
Die Konsequenzen des «freien Handels» sind fatal, und verlogen daran ist zusätzlich, dass nicht für alle das Gleiche gilt, sondern dass wirtschaftlich mächtige Nationen, wie die USA, die EU oder die Schweiz (vertreten durch das seco unter Bundesrat Joseph Deiss, ohne Mitsprache des Parlaments oder der Bevölkerung) die Spielregeln nach ihrem eigenen Gusto aufstellen. Agrarsubventionen wären nach den WTO-Regeln eigentlich illegal. Doch die USA und die EU wären ohne sie auf dem Weltmarkt gar nicht konkurrenzfähig. Also nutzen sie ihre Vormachtstellung innerhalb der WTO und machen Absprachen unter sich, aus denen die VertreterInnen anderer Länder ausgeschlossen sind.
Die WTO kann nur funktionieren, weil in ihr solche antidemokratischen Entscheidungsformen
gang und gäbe sind: Schlüsselentscheidungen werden hinter geschlossenen
Türen ausgehandelt – unter Ausschluss derjenigen Länder, die
dagegen sein könnten. Die Mehrheit der (armen) Länder hat keine Möglichkeit,
Resolutionen vor ihrer Verabschiedung zu diskutieren, weil der Entwurf zu spät
kommt oder nicht übersetzt wird. Zudem kommt die Unterstützung für
eine Abmachung der WTO nicht selten durch Bestechung oder Erpressung zustande.
Immer besteht auch die Drohung, dass Länder, die sich gegen eine Absprache
stellen, keine Kredite des Internationalen Währungsfonds oder Entwicklungsgelder
der Weltbank mehr erhalten. (aus: «Behind the Scenes at the WTO»,
von Fatoumata Jawara und Aileen Kwa, erschienen bei Zed Books, London 2003)
Und so verkaufen die USA und die europäischen Länder ihren Weizen
zu Dumping-Preisen nach Indien oder Afrika. Die dortige Produktion von Nahrungsmitteln
kann nicht mehr mithalten und wird mehr und mehr eingestellt; die Bevölkerung
muss sich für einen Hungerlohn in Fabriken der westlichen Konzerne anstellen
lassen, die von den «praktischen» Billiglohnländern wiederum
profitieren.
Länder wie die USA, EU und die Schweiz wollen einerseits mit der WTO ihre eigenen Agrarsubventionen schützen und anderseits garantieren, dass sich die Grosskonzerne in den Ländern des Südens schamlos holen können, was sie brauchen. Und die WTO fördert, dass Grundrechte abgebaut werden: Wird ihre Forderung nach Liberalisierung von öffentlichen Dienstleistungen umgesetzt, sind Schulbildung, Zugang zu Gesundheitseinrichtungen, Versorgung mit Trinkwasser oder Strom keine Rechte mehr, sondern werden zu käuflichen Waren. Dabei ziehen auch die wirtschaftlich mächtigen Länder nicht immer am selben Strick, sondern prallen regelmässig bei der Frage aufeinander, wer von ihnen bereit ist, die eigenen Subventionen und Zollschranken abzubauen und ihre Märkte für Investitionen von ausländischen Konzernen, zum Beispiel im Dienstleistungsbereich, zu öffnen. Für alle gilt, dass sie selbst nicht dasselbe tun wollen wie das, was sie von den anderen fordern.
Plötzlich ist der freie Handel nicht mehr so klar. Klar sind jedoch die
Konsequenzen dieses Machtkampfs für den grössten Teil der Menschheit:
Hunger, Krieg, Ausbeutung und ein ökologisches Desaster.
Immer weniger Menschen sind bereit, die zerstörerische Politik der WTO
hinzunehmen. In den Strassen von Cancún und in ganz Mexiko protestieren
Hunderttausende von Bauern und Bäuerinnen, Indígenas, ArbeiterInnen,
Studierenden, MigrantInnen und viele weiteren. Weltweit finden parallel dazu
Mobilisierungen, Strassenblockaden, Proteste und Kundgebungen statt, so zum
Beispiel in Bern am 11. September auf dem Waisenhausplatz.
Anti-WTO Koordination Bern, September 2003