NZZ am Sonntag 8.6.03

Die illegitime Gewalt der Horde

Die Globalisierungskritiker heucheln «Gewaltlosigkeit», und doch sind sie gefährliche Brandstifter

Suzette Sandoz*

Im Recht gibt es den interessan ten Begriff des Eventualvorsatzes. Einen Eventualvorsatz hat derjenige, der nicht eine Tat mit schädlichen Folgen beabsichtigt, ein solches Risiko jedoch in Kauf nimmt. Der Eventualvorsatz zieht eine Bestrafung des Täters nach sich, unabhängig davon, ob es sich um eine Verantwortung straf- oder zivilrechtlicher Art handelt. Der Täter ist für die strafbare Handlung oder/und die verursachten Schäden verantwortlich.

Diese Situation trifft genau auf die Globalisierungsgegner zu, die angeben, «friedlich» demonstrieren zu wollen, in Wirklichkeit aber das Risiko von Ausschreitungen in Kauf nehmen - und deren «Vertreter» als Gipfel des Vorsatzes obendrein die anwesenden Ordnungskräfte der «Provokation» beschuldigen, wenn diese versuchen, die Ausschreitungen zu verhindern.

Derjenige, der andere Leute daran hindern will, sich frei von einem Ort zum andern zu bewegen, ist aber nicht pazifistisch. Er sucht vielmehr durch eine bestimmte Form der Gewalt, jene der Zahl, den anderen zu provozieren. Diese angebliche «Gewaltlosigkeit» ist zwar unbewaffnete Gewalt, aber dennoch Gewalt. In einem solchen Vorgehen steckt nicht der geringste pazifistische Wert. Die Demokratie ist ein politisches System mit hohen Anforderungen. Sie verlangt eine ehrliche Sprache, die mit dem Populismus der Globalisierungsgegner und einer gewissen Presse unvereinbar ist. Sie erfordert die Achtung vor der Freiheit des anderen, die mit der Erpressung und Einschüchterung durch die Globalisierungsgegner unvereinbar ist. Sie beruht auf einem Verantwortungsbewusstein, das mit dem Eventualvorsatz der Globalisierungsgegner unvereinbar ist.

Diese Werte gelten für die Bürger genauso wie für die Behörden. Wenn die einen oder anderen ihre Verantwortung nicht wahrnehmen, Falsches predigen, Vetternwirtschaft betreiben, fremdes Geld verschleudern, zur Erpressung greifen, um an ihr Ziel zu gelangen, dann stehen dem Populismus oder der demagogischen Oligarchie Tür und Tor offen. Beides sind Formen von Totalitarismus.

Die Globalisierungsgegner berufen sich auf ein Gefühl von globaler Tragweite. Gefühle sind aber keine politischen, sondern demagogische Kriterien. Diese Globalisierungsgegner empfinden keine Achtung für Individuen und soziale Identitäten. Beweis dafür ist ihre sture Entschlossenheit, Kundgebungen zu organisieren mit dem Risiko, Randalierer anzuziehen. Sie bewiesen es auch mit ihrer masslosen Beanspruchung des öffentlichen Raumes, was zum Verbot der Benützung desselben Raumes durch anständige Bürger sowie zu Staus und Strassensperren führte. Auch weigerten sie sich, ihre Präsenz auf jene Orte zu beschränken, die ihnen auf Kosten der Steuerzahler zugewiesen worden sind (der «unentgeltliche» Zeltplatz, der für die G-8-Gegner in Lausanne eingerichtet worden war, kostete 200 000 Franken). Zudem liessen sie den Willen erkennen, ein lange im Voraus beschlossenes Treffen von Staatschefs lahmzulegen, mit dem Risiko von Plünderungen und Schäden jeglicher Art, die von den anständigen Bürgern berappt werden müssen. Nichts ist heuchlerischer, als die Ausschreitungen und Gewalttätigkeiten zu «verurteilen», nachdem man die Geister durch Worte der Gewalt selbst aufgewiegelt hat. Nichts ist heuchlerischer, als sich von den Brandstiftern zu «entsolidarisieren», nachdem man beim Entfachen des Feuers selbst mit Hand angelegt hat. Nichts ist unehrlicher, als glauben zu machen, dass die Kundgebungen brave «Volksfeste» seien, wenn man ganz genau weiss, dass sie Randalierer anziehen. Leider sind die Globalisierungsgegner derart fanatische Anhänger ihrer Ideologie, dass ihnen jedes Mittel als gerechtfertigt erscheint.

Die Globalisierungsgegner haben keinen legitimen, demokratisch gewählten Vertreter, was echte Verhandlungen mit ihnen verunmöglicht. Sie haben keine demokratische Legitimation und respektieren keine Spielregeln. Ihre einzige «Legitimation» ist ihre Zahl, und das macht sie gefährlich. Sie haben den Mut von Horden, nicht von Tapferen.

Die elektronischen Mittel haben die Kommunikation zwischen all denjenigen erleichtert, welche die Spielregeln missachten und die Meinungsfreiheit missbrauchen, denn Gefühle zirkulieren schnell. Der Medienrummel um ihre Forderungen hat ihnen grösseres Gewicht und einen trügerischen Schein von Legitimität verliehen. Die Bürger wurden noch zusätzlich getäuscht durch die beschwichtigenden Kommentare in Radio und Fernsehen, die von «einigen zerbrochenen Fensterscheiben» sprachen, sowie durch die hartnäckige Betonung des gutmütigen Charakters der Kundgebungen durch die Presse. Der Aufruf zur Gewalt durch einige dieser Globalisierungsgegner war bekannt, aber die Behörden kapitulierten.

Es wäre die Aufgabe der Behörden gewesen, das Demonstrationsrecht von der Zusicherung der Bezahlung sämtlicher allfälligen Schäden abhängig zu machen. Die Behörden hätten auch daran erinnern sollen, dass für sämtliche Schäden diejenigen aufkommen müssen, die demonstrieren wollen, ohne sich um die damit verbundenen Gefahren zu kümmern (dies entspricht dem Verursacherprinzip, wobei der Eventualvorsatz dem verursachten Schaden gleichgesetzt wird). Die Behörden hätten die Ordnungskräfte stärker unterstützen sollen. Stattdessen liessen sie sich von einer angeblichen Meinungsfreiheit täuschen.

Mit den Globalisierungsgegnern triumphiert der Populismus, liegt die Demokratie darnieder.

*Suzette Sandoz ist Rechtsprofessorin an der Uni Lausanne. Sie sass von 1991 bis 1998 für die Liberalen im Nationalrat.
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