SonntagsZeitung 4.5.03

Demonstration des guten Willens

Kurt Wasserfallens repressive Taktik ist gescheitert. Jetzt setzen Schweizer Polizeikorps mit Erfolg auf Deeskalation

VON OTHMAR VON MATT

MITARBEIT: ADRIAN SCHULTHESS


In die heikle Phase tritt die erste Berner Nachdemo zum 1. Mai auf der Brücke, die zum Rüstungsbetrieb Ruag führt. Ein Polizei-Kordon versperrt den Demonstranten den Weg. Die Jugendlichen akzeptieren die Ausweichroute nicht, die ihnen Frontoffizier Alfred Rickli vorgeschlagen hat. Sie wollen vor der Ruag gegen Waffenexporte demonstrieren und versuchen, sich den Weg freizudrücken.

Die Polizisten müssen zurückweichen. Eine Eskalation droht. Der Wasserwerfer kommt zum Einsatz, Rickli richtet sich per Megafon an die Menge: «Hier ist Schluss. Wenn ihr weiter drückt, setzen wir Reizstoffmittel ein. Lasst uns das weitere Vorgehen absprechen.» Eine Demo-Delegation verhandelt. Doch die Polizei macht keine weiteren Zugeständnisse und die Jugendlichen willigen ins Angebot ein: Eine Delegation darf an der Aussenseite des Ruag-Tors eine Friedensfahne anbringen.

Ein mustergültiger deeskalierender Einsatz der Berner Stadtpolizei ohne Sachschaden. «Das war ein Einsatz, der uns sehr gut gelungen ist», sagt Hansueli Bäbler, stellvertretender Kommandant der Stadtpolizei. «Wir boten den Veranstaltern der Demonstration eine Lösung an, gaben ihnen aber auch ganz klar den Tarif durch: Hier geht es keinen einzigen Meter mehr weiter.»

Der Einsatz erhielt, mitten in den Wirren um die Absetzung von Polizeidirektor Kurt Wasserfallen, besondere Bedeutung. Wasserfallen hatte eine Repressions-Linie vertreten. Das wurde ihm zum Verhängnis. Denn damit hat er sich schweizweit ins Abseits manövriert. Dies zeigt eine Umfrage der SonntagsZeitung bei sieben wichtigen Polizeikorps. Alle sieben Korps arbeiten heute mit Deeskalation, wie sie deklarieren. Mit jener Strategie, die in Bern Ursache des Konflikts war.

«Inzwischen haben alle, auch die politischen Behörden, realisiert, dass Deeskalation der beste Weg ist, mit Demonstranten umzugehen», sagt Jean-Luc Vez, Direktor des Bundesamtes für Polizei (Interview Seite 20). «Die Idee der Frontenbildung führt in der Polizeiarbeit zu keinem Erfolg», sagt auch Bernhard Prestel, Managementberater von TC Team Consult. Prestel betreut Polizeikorps in ganz Europa bei Reformprozessen.

Die Kommandanten der grossen Schweizer Korps setzen schon seit den späten Neunzigerjahren auf Deeskalation. «Neu ist nur das Wort. Es umschreibt die Stossrichtung, die wir schon lange eingeschlagen haben», sagt Martin Jäggi, Kommandant der Solothurner Kantonspolizei und Präsident der Konferenz der kantonalen Polizeikommandanten.

Massgebliche Kommandanten wie Martin Jäggi, Daniel Blumer (Berner Stadtpolizei) und Philipp Hotzenköcherle (Zürcher Stadtpolizei) vermitteln den Polizeioffizieren in ihren Lehrgängen Deeskalation. Jäggi: «Repression ist einer der letzten Schritte. «Zuvor versuchen wir, den gordischen Knoten im Dialog zu lösen. Entscheidend ist das Prinzip der Verhältnismässigkeit.» Die Deeskalati ons-Strategie ist kein Freipass für Demonstranten. «Sie ist Zuckerbrot und Peitsche», sagt selbst der Berner Demo-Organisator «Fashion» Schumacher. «Die Polizei will nicht provozieren, fährt aber im Notfall massiv ein.» Drei Elemente gehören zur Deeskalation:

- Dialog: Politische Behörden und Polizei suchen im Vorfeld einer Demo Kontakt mit den Organisatoren, um Abmachungen zu treffen. «Wir zeigen Konflikte auf, suchen Lösungen», sagt Roger Fischer, stellvertretender Basler Polizeikommandant. Auch während der Demo selbst hält die Polizei den Kontakt mit den Organisatoren aufrecht, um schnell auf neue Entwicklungen reagieren zu können. «Die Polizei sollte auch über ein e Eventualplanung verfügen, um zu wissen, wo es vor Ort noch Handlungsspielraum gibt und wo nicht», sagt Bäbler.

- Information: Offene Information soll den Dialog begleiten, gegenüber Öffentlichkeit wie Organisatioren.

- Durchgreifen: Die Polizei tritt nicht provokativ auf, setzt aber klare Grenzen und greift ein, werden sie überschritten.

Unverhältnismässige Repression hat immer wieder für Eskalationen gesorgt. Das zeigte der Tränengaseinsatz der Berner Stadtpolizei von 1996 unter Wasserfallen gegen die Bauern. Und vor zwei Wochen stolperte der Genfer Polizeikommandant Christian Coquoz über den Einsatz eines «Paintball»-Geschosses.

Ein Waterloo erlebten Bündner Be hörden und Polizei beim WEF 2001. Sie machten Davos zum Bunker. Die Kritik war heftig, was die Bündner für 2003 zur deeskalativen Strategie übergehen liess. Berater Peter Arbenz hatte in seiner Analyse empfohlen, ein Szenario zu wählen, «das sich auf Spannungen abbauendes partnerschaftliches Konfliktmanagement stützt».

In einer ersten Zwischenbilanz beurteilt die Bündner Regierung den Strategiewechsel positiv. «Deeskalation war die einzige und richtige Strategie und sie ist es auch für die Zukunft», sagt Walter Schlegel vom WEF-Ausschuss.

Damit hat die Bündner Regierung der Deeskalation zum Durchbruch verholfen obwohl die einzelnen Korps die S chwer punkte zwischen Dialog und Durchgreifen nuanciert setzen.

Deeskalation hat aber auch Grenzen. Das WEF 2003 endete mit Ausschreitungen in Bern. Und ungelöste Konfliktpunkte sind Sachbeschädigungen, unbewilligte Demos, Lahmlegung des Verkehrs und Provokationen gegen die Polizei. Muss sie in Kauf nehmen, wer Eskalationen verhindern will? «Es geht um eine Güterabwägung», sagt Fischer. «Nimmt man Schmierereien in Kauf oder eingeschlagene Schaufensterscheiben? Das ist in der Regel die Alternative.» Dass Handlungsbedarf besteht, glaubt auch Jean-Luc Vez, Direktor des Bundesamtes für Polizei. Bei den Chaoten müssten Lösungen gefunden werden.

Hoffnungsvolle Zeichen kommen von der Demonstranten-Seite selber. An der Nachdemo des 1. Mai in Zürich verhinderten Pazifisten erstmals eine Eskalation: Sie stellten sich zwischen Autonome und Polizei. Auch in Bern zeigen sich neue Entwicklungen. «Es wächst eine sehr junge Generation heran, die eine politische Botschaft hat, geschickt agiert», sagt Bäbler. «Dieser Generation geht es nicht um Gewalt, sondern um Inhalte.»

 

home