MEDIENSPIEGEL 1.12.08
(Online-Archiv: http://www.reitschule.ch/reitschule/mediengruppe/index.html)

Heute im Medienspiegel:
- Reitschule-Programm
- Bern + Sklaverei: Vortrag von Hans Fässler
- Medienpolitik: "Bund" in Gefahr
- Langenthal vs Künstler
- Stop Murder Music: Vorwärts-Artikel
- RAF: Spurensuche

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REITSCHULE
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Dez 08: Beteiligt Euch an der Vorplatz-Präsenz!!!

PROGRAMM:

Di 02.12.08  
19.00 Uhr - Frauenraum - Ökonomische Sach- & Denkzwänge aus feministischer Perspektive - Referat von Dr. Ulrike Knobloch, Sozialökonomin und Wirtschaftsethikerin

Mi 03.12.08
19.00 Uhr - SousLePont - Nord-Afrika Spezialitäten

Do 04.12.08
17.00 Uhr - Dachstock - Art Souk 2008 - Kunstbazar
19.00 Uhr - Frauenraum - Film und Diskussion: Wer bist du, dass du sprichst, D 2006
19.30 Uhr - Kino - Der freie Wille, Matthias Glasner, D 2006.

Fr 05.12.08
17.00 Uhr - Dachstock - Art Souk 2008 - Kunstbazar
19.00 Uhr - Kino - Der freie Wille, Matthias Glasner, D 2006. In Anwesenheit der Schauspielerin Sabine Timoteo
24.00 Uhr - Dachstock - Art Souk 2008 Midnight Show mit Hoo Doo Girl (GER) & DJ Soukprise

Sa 06.12.08
19.30 Uhr - Kino - Der freie Wille, Matthias Glasner, D 2006
22.00 Uhr - SousLePont - One Love Jam mit Ras Romano and the Rockers (Live Reggae, CH); Angel Byfall (SEN), Side By Cide (BE), DJ Ganja (BE)
23.00 Uhr - Frauenraum - Tonvision - Die LETZTE mit S-BIENE (BS), HERZSCHWESTER (BS), PEEL (BS), AJELE (ZH), MASAYA (VD), MANON (ZH). Visuals by ANNE STREHL (BE)
23.00 Uhr - Dachstock - Diskoquake: Arnaud Rebotini (Black Strobe/FRA) live! Support: Wildfang (Festmacher/BE) live! DJ's Mastra & Alex Like

So 07.12.08
09.00 Uhr - Grosse Halle - Flohmarkt und Brunch im SousLePont

Infos: www.reitschule.ch

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SKLAVEREI + CH
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Die Schweiz und die Sklaverei
Schwarz-weiss Malerei von der Junkerngasse bis zum Agassizhorn
Ein Vortrag von Hans Fässler

Mittwoch, 3.12.08, 20 Uhr
Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17, 3013 Bern

Hans Fässler, Historiker und Mittelschullehrer aus St. Gallen, hat mit seinem Buch "Reise in Schwarz-Weiss. Schweizer Ortstermine in Sachen Sklaverei" (Rotpunktverlag, Zürich 2005) mitgeholfen, ein neues Kapitel der Schweizer Geschichte aufzuschlagen: dasjenige der Beteiligung von Schweizer Kaufleuten, Investoren, Bankiers, Patrizierfamilien, Söldnerführern und Denkern am Sklavenhandel und der Sklaverei im Atlantikraum. Inzwischen ist sein Buch ins Französische übersetzt worden, mit einem Untertitel, der bewusst bei Jean Zieglers Buch von 1976 anknüpft: "Une Suisse esclavagiste. Voyage dans un pays au-dessus de tout soupcon" (Duboiris, Paris 2007). Und Fässler ist zum Vortragsreisenden in Sachen Sklaverei und Wiedergutmachung zwischen Sursee, Dakar, Neuchâtel, Bordeaux, Bülach, Nantes, Genf und Pontarlier geworden.

Nebst einem Überblick über die Typologie der Schweizer Beteiligung an einem Menschheitsverbrechen wird er mit seinem illustren Vortrag auf die verschiedenen "Bernese Connections" eingehen: die Investition Berns in die South Sea Bubble, Carl Ludwig von Hallers Rechtfertigung der Sklaverei, Hans Christian-Iseli aus Hasle-Rüegsau und die Schwierigkeiten des Berner Oberlands mit dem Agassizhorn.

www.louverture.ch
www.rentyhorn.ch/?lang=de

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MEDIENPOLITIK
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20min.ch 1.12.08

Gibts bald einen Berner "Tagi"?

Die Berner Tageszeitung "Der Bund" hat nach Einschätzung von Espace Media ohne redaktionelle Zusammenarbeit wirtschaftlich keine Perspektiven. Deshalb wird eine redaktionelle Zusammenarbeit zwischen dem "Bund" und dem "Tages-Anzeiger" geprüft.

Ohne redaktionelle Zusammenarbeit habe der "Bund" wirtschaftlich keine Perspektiven, teilte Tamedia am Montag mit. Das habe eine Analyse durch ein internes Projektteam ergeben, an dem alle Redaktionen und Verlage der abonnierten Tageszeitungen von Tamedia beteiligt waren.

Berner "Tagi"

Konkret prüft Tamedia die Projekte "TagesBund" sowie "Berner Zeitung&Der Bund". Bei ersterem erhielten "Tages-Anzeiger" und "Bund" einen gemeinsamen Mantel.

Es käme zu einem "weitgehenden Austausch" redaktioneller Inhalte oder zu einer teilweise gemeinsamen Ressortstruktur. Bei dieser Lösung würde aber laut Tamedia das Berner Modell zweier unabhängiger Tageszeitungen wie heute zwischen Bund und BZ in einem Verlag fortgeführt.

Nur noch eine grosse Berner Zeitung

Als zweite Lösung prüft Tamedia die Zusammenführung von "Bund" und "BZ". Eine solche Fusion werde umgesetzt, falls die Zusammenarbeit von "Bund" und "TA" publizistisch und wirtschaftlich nicht tragfähig sei.

Beide Lösungen seien mit einem Abbau von Stellen verbunden, sagte Christoph Zimmer, Leiter Unternehmenskommunikation bei Tamedia auf Anfrage der SDA. Für genauere Angaben sei es jetzt aber noch zu früh.

Bis Mitte nächsten Jahres wollen die Verwaltungsräte von Tamedia und Espace Media Groupe entscheiden, welches der beiden Projekte realisiert wird. Projektleiterin wird Uli Rubner, die bis 2008 als Chefin des Bereichs Zeitschriften Mitglied der Unternehmensleitung von Tamedia war.

"Bund" ringt seit Jahren

Das Überleben des "Bund" als eigenständige Zeitung ist seit Jahren ein Thema. Seit dem Verkauf der Berner Traditionszeitung durch die Verlegerfamilie 1992 waren insgesamt fünf Partner am Blatt beteiligt. In den letzten zwölf Jahren fuhr der "Bund" laut Tamedia Verluste von 30 Millionen Franken ein.

Im Sommer 2007 kam der Bund ganz zu Tamedia, weil die Neue Zürcher Zeitung und Publicitas ihre Beteiligungen an Espace Media abtraten. Ebenfalls 2007 hatte Tamedia Ecpace Media übernommen, womit auch die "BZ" zum Zürcher Medienkonzern kam.


Quelle: SDA/ATS

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KUNST
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BZ 1.12.08

Den wunden Punkt getroffen

Provokation erregen und so zur Diskussion anregen: Robin Bhattacharya sprach mit Interessierten über Kunst und Identität.

Ja, ein bisschen habe er schon damit gerechnet, sagt der Künstler Robin Bhattacharya. Eine Provokation war durchaus in seinem Sinne. Er hat mit seinem Hakenkreuz aus Langenthaler Porzellan im Kunsthaus für Aufsehen gesorgt. Die Porzellanfabrik verlangte noch vor der Vernissage die Räumung der Installation (wir berichteten). Das provokative Werk ist nun verschwunden.

Transparent abgerissen

Und noch eine weitere Arbeit von Robin Bhattacharya ist fort: Das Transparent an der Fassade des Choufhüsi ist in der Nacht auf Freitag heruntergerissen und am nächsten Tag im Kunsthaus abgegeben worden. Bhattacharya will es aber wieder aufhängen.

Nach der Kontroverse und der Empörung um das Hakenkreuz folgte nun das Gespräch. "Wer ist Langenthal?", fragte der 27-jährige Künstler am Freitagabend im Kunsthaus. Nur gerade 10 Interessierte liessen sich auf eine Diskussion um Langenthaler Identität ein. Neben Minarett und Rechtsextremismus rückte zusehends Bhattacharyas Werk selbst ins Blickfeld der Diskutierenden. Als aussen stehender Künstler hat er sich kritisch mit Langenthal auseinandergesetzt, hat Recherchen betrieben. "Dabei bin ich immer wieder auf die Gerüchte um die Rolle der Porzi im Zweiten Weltkrieg gestossen", sagte er. Gerüchte, die sich laut einem Historiker als falsch erwiesen hätten.

Nicht mit dem Stinkefinger

Nicht alle waren mit Bhattacharya Vorgehensweise einverstanden. So gab etwa Markus Heiniger zu bedenken: "Zwar lebt die Kunst von Provokation und Medienpräsenz. Aber du kannst nicht zuerst den Stinkefinger zeigen und die Leute dann zur Diskussion einladen." Gerade mit der Porzi würden sich noch immer viele Langenthaler identifizieren. Damit habe er, Bhattacharya, einen wunden Punkt getroffen. "Wir sehen Langenthal nicht gerne mit diesem Image", sagte Grossrätin Nadine Masshardt; sie meinte das Image des Rechtsextremen und Durchschnittlichen.

Ob Identität letztlich in der Abgrenzung oder im Austausch geschaffen wird, blieb als offene Frage im Raum stehen.
Nnh

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STOP MURDER MUSIC
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Vorwärts 28.11.08 (ca. so)

Stop Murder Music: Gemeinsam gegen Homohass

Nicht nur einige Dancehall-Reggae-MusikerInnen und RapperInnen aus Jamaica, USA und anderswo, sondern auch hiesige Soundsystems hetzen mit Homohass-Songs gegen Schwule und Lesben. Dagegen regt sich Widerstand.

"Pop Culture breaking rules" lautete der Titel einer für den 7.11.08 geplanten Podiumsdiskussion in der Kaserne Basel. Hintergrund: die Kaserne engagierte für den 6.11.08 den umstrittenen jamaicanischen Dancehall-Reggae-Musiker, Rastafari-Prophet und Homohasser Capleton (22 Homohasssongs seit 1991). Am 4.11. musste die Kaserne das Konzert aus Imagegründen absagen. Grund: Stop Murder Music Bern und die Homosexuellen Arbeitsgruppen Basel (habs), die das Engagement des Sängers scharf kritisiert hatten, konnten beweisen, dass Capleton vertragsbrüchig geworden war - denn obwohl er im Mai 2007 den Homohasspropaganda-Verzichtsvertrag "Reggae Compassionate Act" (RCA) unterschrieben hatte, hetzte er an Weihnachten 2007 während einem Konzert in Jamaica* fleissig weiter gegen "Battyman" (Schwuchteln) und "Sodomites" (Lesben).**

Schon im August hatten Fans des FC St. Pauli durch deutliche Statements ein Konzert von Beenie Man (19 Homohass-Songs) in Hamburg verhindert und der Lesben- und Schwulenverband Deutschland (LSVD) erreichte Mitte November dieses Jahres, dass "The Villain", die neue CD des US-Rappers Trick Trick, in der BRD vorerst nicht erscheinen kann. Trick Trick wollte in den Songs auf der CD u.a. mit einer AK Schwule erschiessen und rief dazu auf zwei lesbische US-Schauspielerinnen und -Moderatorinnen in die Luft zu sprengen. Viele Homohass-Songs anderer MusikerInnen sind nach wie vor problemlos im Handel erhältlich.

Propheten und Gangster

Capleton, Beenie Man und Trick Trick - der "Prophet" und die "Gangster" - sind nicht die einzigen. Auf der unvollständigen Liste von Stop Murder Music Bern befinden sich 75 MusikerInnen alleine aus dem Bereich Dancehall-Reggae, die in den letzten 25 Jahren 1 bis 22 Homohass-Songs publiziert haben. Auf der Liste fehlen noch die Namen weiterer RapperInnen (G-Hot, Bushido, etc.) und einiger Nazirock-Bands (Landser, Zillertaler Türkenjäger, etc.) welche ebenfalls Homohass-Songs mit Aufforderungen zu Gewalt gegen oder der Tötung von Schwulen und Lesben in ihrem Repertoire haben.

Trotz der internationalen Kritik in den letzten Jahren haben sich die betroffenen MusikerInnen  nur selten glaubwürdig und tatkräftig von ihrer Homohass-Vergangenheit (und -Gegenwart distanziert. Eine der Ausnahmen: Tanja Stephens, deren Homohasssong "Fag inna closet" noch 2000 auf einer Dancehall-Compilation zu finden war, distanzierte sich spätestens 2006 mit "Do you still care" von der Homohass-Fraktion.

Einige wenige liessen sich aus kommerziellen Überlegungen nur dazu zwingen, den von internationalen Schwulen- und Lesben-Organisationen entwickelten "Reggae Compassionate Act" (RCA) oder "saisonal" für ihre Europa-Tourneen Homohasssongs-Verzichtserklärungen auf geduldigem Papier zu unterzeichnen. Zur Freude von Musikindustrie, TourmangerInnen und VeranstalterInnen, die damit unangenehmen Fragen und Protesten aus dem Weg zu gehen versuchen konnten.

Homophobe Plattenteller

Dieses Wochenende finden gemäss reggae.ch mindestens 16 Reggae- und Dancehall-Konzerte und -Parties statt. Bei mindestens zwei Party-Anlässen (Zeughaus Uster und Gaskessel Biel) kann man davon ausgehen, dass Homohass-Songs zum Repertoire gehören (bei mindestens zwei weiteren (Grafitti Bern und Gaskessel Bern) ist klar, dass sich beim allfälligen Abspielen von Homohass-Songs weder die VeranstalterInnen noch das Publikum gross dran stören).
Oder anders ausgedrückt: Wo Ruff Pack International (Biel/Zürich), Sound Haunted (Zürich), Blood A Run (Zürich) oder Dubversive Soundsystem (Zürich) draufsteht, ist meist auch Homohass drin.
Die meisten der genannten Soundsystems legen nicht nur fast jedes Wochenende den Sound ihrer Lieblinge auf (inkl. Homohasssongs), sondern veranstalten und/oder supporten ab und zu auch deren Konzerte: Elephant Man (17 Homohasssongs, mit Sound Haunted am 8.5.07 im Volkshaus Zürich), Vybz Kartel (11 Homohasssongs, mit Blood a Run am 20.9.08 in der Alten Kaserne ZH) und Ober-Homohasser Bounty Killer (22 Homohasssongs, mit Ruff Pack Int. und Sound Haunted am 12.4.08 in der Alten Kaserne ZH). Für Dubversive Soundsystem war 2008 eher ein Unglücksjahr: Wegen einem ihrer homophoben Auftritte gründete sich im April 2008 Stop Murder Music Bern und Radio Lora ZH schmiess sie in diesem Sommer samt ihren Sendungen auf die Strasse. Das einzige was ihnen bleibt, ist die trotzige musikalische Unterstützung ihres exklusiv für sie singenden Idols Sizzla (13 Homohasssongs) auf ihrer myspace-Seite: "Dubversive don't apologize to no battyboy - You diss Dubversive we gunshot you boy."

Widerstand oder "Rules breaking Pop Culture"

Dass ein paar Heteros und Reggae-Aktivisten aus Bern für Menschenrechte und gegen Homophobie und Homohass (hier, in Jamaica und anderswo) in ihrer Lieblingsmusik kämpfen, hat die LGBTI-dominierte*** internationale Stop Murder Music-Community mit Freude zur Kenntnis genommen. Die Kampagne gegen Capleton und der Nachweis von dessen RCA-Vertragsbruchs hat zu ausbaufähigen Vernetzungen zwischen Bern, Basel, Jamaika, Frankreich, Deutschland und Grossbritannien geführt. Noch viel zu tun gibt die lokale und regionale Vernetzung. Nächstes Projekt von Stop Murder Music Bern wird denn auch sein, mit befreundeten libertären Bieler Strukturen in Verbindung zu treten, mit dem Ziel, die Situation in Biel (Gaskessel und andere Lokale) zu verändern.

Stop Murder Music Bern

Tom Locher

Links:
www.stopmurdermusic.ch
www.habs.ch/aktuell.html#capletonNO
www.soulrebels.org/dancehall.htm
tjenbered.fr

* Nachweis von Capletons RCA-Vertragsbruch:
http://www.stopmurdermusic.ch/reitschule/stopmurdermusic/Texte/CapletonbreaksRCA-Video.pdf
** Beliebteste Schimpfworte: Battyman, Chi Chi Man, Batty B(w)oy, Funny Man, Fag(got), Sodomite, Fish, etc.
*** LGBTI: Lesbian Gay Bisexual Transgender Intersex

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RAF
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Cicero 1.12.08

Wer ermordete Alfred Herrhausen?

VON VANESSA DE L'OR

Bis heute sind nicht alle Morde der RAF aufgeklärt. Während die Republik sich in Kinos und Büchern dem Mythos RAF zuwendet, sind die Mörder Herrhausens und Rohwedders auf freiem Fuß. Doch die Fahnder kommen voran. Eine überraschende Spurensuche

Vor wenigen Jahren kam ein neuer Mann in das Referat für linken Terrorismus der Bundesanwaltschaft. Zusammen mit drei Staatsanwälten sollte er die Spuren der Roten Armee Fraktion (RAF) weiterverfolgen. Gab es da noch etwas zu finden? Diese Arbeit hatte in den Augen einiger seiner Kollegen das Flair einer archäologischen Expedition in Castrop-Rauxel. Doch der Mann sollte sich nicht langweilen. Es gab Neues.

Das Thema war ihm vertraut. Auch er hatte wegen des Mordes an Hanns Martin Schleyer ermittelt, den RAF-Terroristen im Jahre 1977 verübt hatten. Bis heute liegt viel Dunkel über den Gewalttaten der RAF, die von 1968 bis 1998 verübt wurden. So ist auch noch immer unklar, wer auf den früheren Arbeitgeberpräsidenten Schleyer geschossen hat. Die meisten Rätsel gibt die sogenannte dritte Generation der RAF auf, die von 1984 bis 1998 unter dem Namen Rote Armee Fraktion agierte. Sie ermordete zehn Menschen, darunter einen amerikanischen Soldaten (Edward Pimental), einen Diplomaten (Gerold von Braunmühl) sowie Führungskräfte aus der Wirtschaft (den damaligen Vorstand des Unternehmens Motoren- und Turbinenunion Ernst Zimmermann, den Siemens-Manager Karl Heinz Beckurts, den Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, und den Treuhandchef Detlev Karsten Rohwedder).

Außerdem verübte die dritte Generation Sprengstoffanschläge, den letzten im Jahr 1993 auf die Justizvollzugsanstalt Weiterstadt. Der Schaden belief sich auf 123 Millionen Mark. Es war nicht nur der größte Sachschaden in der Geschichte der Bundesrepublik, sondern auch der größte Schaden durch ein vorsätzliches Sprengstoffattentat. Hier kamen die Ermittler inzwischen auf eine neue Spur zu den Tätern. Seit Jahren schon war bekannt, dass die Terroristen bei dem Anschlag eine Leiter genutzt hatten, um über eine sechs Meter hohe Mauer in den Gebäudekomplex zu klettern. Man wusste auch, dass sie die Sprossen der Leiter mit Teppichfetzen umwickelt hatten, um ihre Trittgeräusche zu dämpfen. An den Teppichfetzen hingen Haare. Erst in jüngerer Zeit konnten die Ermittler nun einige dieser Haare zuordnen: Sie stammen von den RAF-Terroristen Daniela Klette und Ernst Volker Staub, die seit Ende der achtziger Jahre abgetaucht sind und bereits als Mitglieder der RAF gesucht wurden. Diesen Erfolg haben den Ermittlern neue Methoden der DNA-Analyse beschert, die Anfang 2000 aufkamen.

In mühseliger Kleinarbeit haben die Beamten diese neue Methode in den vergangenen Jahren angewandt. Sie haben die DNA jedes am Tatort gefundenen Haares - oder anderer Spuren wie Schweiß oder Spucke - mit der DNA jener Personen verglichen, die sie bereits wegen einer Straftat beschuldigt oder deswegen womöglich verurteilt hatten. Auf diese Weise waren sie auch schon einem mutmaßlichen Täter beim Mord an Rohwedder auf die Spur gekommen. Am 2. April 1999, dem Morgen nach dem Mord an Rohwedder, hatten Kriminalbeamte ein blaues Frotteehandtuch auf einem Stuhl in einem Schrebergarten in Düsseldorf gefunden, 63 Meter vom Tatort entfernt. Von hier, so rekonstruierten die Beamten in der Nacht nach dem Mord das Tatgeschehen mit roten Laserstrahlen, hatte der Mörder auf Rohwedder geschossen, der damals im Arbeitszimmer seines Hauses stand. An jenem Handtuch fanden sie auch ein Haar. Nach den Methoden der neuen DNA-Analyse ist inzwischen so gut wie sicher, dass es das Haar des Terroristen Wolfgang Grams war. Offenbar also war Grams an dem Mord beteiligt. Der Prozess kann Grams nicht mehr gemacht werden, er ist bei seiner Festnahme in Bad Kleinen im Jahre 1993 in einem Schusswechsel mit der Polizei umgekommen.

Ob Grams tatsächlich der Mörder an Rohwedder war, bleibt womöglich für immer ungeklärt. Bis heute sind lediglich die Mörder des amerikanischen Soldaten Edward Pimental bekannt: die Terroristinnen Birgit Hogefeld, zurzeit im Gefängnis, und Eva Haule, im vergangenen Jahr aus der Haft entlassen. Alle anderen Spuren führen bis heute ins Nichts. Es ärgert den Mitarbeiter im Referat für linken Terrorismus, wenn er Zeitungsberichte mit dem Tenor liest, dass er und seine Kollegen in dem festungsartigen Gebäude untätig herumsäßen. Selbst die Angehörige eines Opfers war neulich verwundert, als sie hörte, dass die Akten der RAF keineswegs in den Kellern verstauben, sondern regelmäßig auf Wiedervorlage sind. Den Beamten tat es sicher gut, dass der stellvertretende Generalbundesanwalt Rainer Griesbaum vor ein paar Wochen in der Öffentlichkeit sagte: "Wir haben die Akten nicht geschlossen."

Im Jahr 1993, als Wolfgang Grams festgenommen wurde, beendete die RAF ihre Gewalttaten. Fünf Jahre später verabschiedete sie sich aus der Öffentlichkeit mit einer "Auflösungserklärung" an die Nachrichtenagentur Reuters. Seitdem ist die Rote Armee Fraktion für den Bundesanwalt und seine Kollegen endgültig Geschichte.

Welche Täter laufen noch frei herum? Es ist ein mühsames Mosaik, das die Behörde beschäftigt und künftig beschäftigen wird, denn Mord verjährt nicht. Sie fahnden bis heute nach den drei verschollenen Terroristen aus der dritten Generation: Daniela Klette und Ernst-Volker Staub sowie Burkhard Garweg. Garweg, in diesem September 40 Jahre alt geworden, ist der jüngste Mann auf der RAF-Fahndungsliste. Er könnte, vermuten die Ermittler, an dem Anschlag in Weiterstadt beteiligt gewesen sein. Früher lebte Garweg von der Sozialhilfe. Und jetzt? Seit Jahren fehlt auch von ihm jede Spur. Das letzte Lebenszeichen der beiden anderen verschollenen Mitglieder der dritten Generation, von Klette und Staub, stammt aus dem Jahr 1999, von einem Raubüberfall auf einen Geldtransporter in Duisburg. Spuren von Speichel und Haut an den Helmen und Sturmhauben der Räuber konnten Kriminalwissenschaftler in "genetische Fingerabdrücke" umwandeln und mit jenen Daten in der Gendatei vergleichen, die sich im Rechenzentrum des Bundeskriminalamts Wiesbaden befindet. Es waren Spuren von Staub und Klette. Ist der Überfall eine "Altersversorgung für RAF-Mitglieder im Ruhestand" gewesen, fragt der RAF-Experte Butz Peters in seinem Buch "Tödlicher Irrtum". Staub und Klette, nach Vermutung der Ermittler ein Paar, sind heute 58 und 54 Jahre alt - falls sie noch leben. Neben diesen drei RAF-Terroristen der dritten Generation steht bis heute Friederike Krabbe auf der Fahndungsliste des BKA. Sie soll am Mord an Schleyer beteiligt gewesen sein und gilt als "Altverschwundene" der RAF. Bis vor dem Einmarsch der US-amerikanischen Truppen 2003 soll sie sich in Bagdad aufgehalten haben. Alles Weitere ist ungewiss. Friederike Krabbe wäre heute 58 Jahre alt.

Nach diesen mutmaßlichen Mördern fahnden die Beamten, allerdings nicht aktiv, sondern im "wachsamen Stand-by-Modus", wie sie das nennen. Schließlich können sie sich irgendwo auf der Welt aufhalten, auf Bali oder in Bagdad. Es sei auch gut möglich, dass die Täter von einst mit guten Legenden unter uns leben. Vielleicht führen sie ein zurückgezogenes Dasein wie einst der Terrorist Horst Ludwig Meyer in einer Wiener Wohngemeinschaft. Am 15. September 1999 beobachtete eine Passantin ihn und eine Frau - Eva Haule - auf der Straße und alarmierte die Polizei, weil die beiden "wie Bonny und Clyde" ausgesehen hätten mit ihren heruntergezogenen Baseballkappen und den beiden Sonnenbrillen. Einige Minuten später starb Meyer in einem Schusswechsel mit der Polizei, und Haule wurde verhaftet. Vielleicht wird wieder einmal ein Mitbewohner eine Überraschung erleben, so wie damals der Jurastudent in Wien, der am Abend dieses Tages den Fernseher anschaltete und feststellte, wer jener "Jens" wirklich war, mit dem er vier Jahre lang in einer WG gewohnt hatte. So gingen Meyer und Haule den Fahndern ins Netz. Das ist schon fast zehn Jahre her.

Ein mutmaßlicher Täter, den die Bundesanwaltschaft wieder laufen lassen musste, ist Christoph S. Im Juli 2003 stellte sie ein Verfahren gegen den Mann ein, der des Mordes an Alfred Herrhausen verdächtigt worden war. "Wir konnten ihm nichts nachweisen", resümiert ein Jurist, der damals an dem Verfahren mitgearbeitet hatte. "Das heißt aber nicht, dass wir ihn für unschuldig halten." Davon gibt es viele Fälle.

MANCHMAL HEISST ES warten, warten auf Fehler in der Vergangenheit. Kein Ermittler sucht noch nach verschollenen Erddepots der RAF, in denen Waffen, Munition, Ausweise und andere Dokumente lagern sollen. Das wäre eine Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen. Von der dritten Generation ist kein Depot bekannt. Ein früheres RAF-Versteck entdeckten einmal Pilzsammler, und auf den Sprengstoff einer anderen linksextremen Organisation stießen einst durch Zufall Fahrraddiebe.

Corinna Ponto, die Tochter des von RAF-Terroristen ermordeten Bankiers, warf den Ermittlern vor einigen Monaten in einem Interview mit der Welt mangelnde Fantasie vor und wünschte sich "ein bisschen mehr Offenheit fürs John-Le-Carré-Milieu". Doch Bundesanwälte sind Mitglieder einer Behörde, und die ist immer bürokratisch, schon weil sie jeden ihrer Schritte dokumentieren muss. "Da finden Sie ausgesprochen viel Papier und ausgesprochen wenig Hollywood-Action", resümiert ein langjähriger Ermittler.

Die Geschichte der RAF ist auch menschlich mit der Geschichte der Bundesanwaltschaft verwoben. Heute arbeitet der Sohn jenes Wachmanns Georg Wurster hier, der im Jahr 1977 zusammen mit dem ehemaligen Generalbundesanwalt Siegfried Buback und einem weiteren Kollegen erschossen wurde. Auch so lebt hier die Erinnerung an die RAF.

Niemand macht sich im Referat für linken Terrorismus Illusionen. Alle Rätsel der RAF werden sie nicht lösen, vielleicht aber noch ein paar. Die dritte Generation hat heute immerhin sieben Gesichter: Die beiden Verurteilten, Haule und Hogefeld, die beiden Gestorbenen, Wolfgang Grams und Horst Ludwig Meyer, und die drei Verschollenen Klette, Garweg und Staub. Womöglich lässt sich doch noch herausfinden, wie groß der Personenkreis insgesamt war. Vor einigen Monaten trafen sich der Bundesanwalt und ein paar Kollegen mit einem Spezialisten des Wiesbadener Bundeskriminalamtes. Sie erstellten eine Übersicht über alle zehn Morde zwischen 1981 und 1991, über alle Beschaffungsaktionen von Verdächtigen sowie alle Namen und Spuren - zum Beispiel Prägewerkzeuge für Duplikate von Autokennzeichen. Daraus folgerten sie, wie viele Täter mindestens pro Anschlag aktiv gewesen sein mussten: Zwei für den Diplomaten Gerold von Braunmühl, drei oder vier für den Bankmanager Alfred Herrhausen und einer für Treuhandchef Detlev Karsten Rohwedder. Ihr Fazit: der Personenkreis der dritten Generation war womöglich sehr klein. Er könnte sogar nur aus einet guten Handvoll Terroristen bestanden haben. Ist das ein weiterer Grund dafür, dass diese letzten Gewalttäter so wenige Spuren hinterließen?

Die RAF hatte im Laufe der Zeit aus ihren Fehlern gelernt. Darum ist es besonders schwierig, die Spuren der dritten Genetation zu entdecken. Diese Terroristen mieteten keine Autos, sondern sie fuhren mit dem Bus oder mit der Bahn. Ihte Anschläge erreichten eine kriminalistische Perfektion, die ihre Ermittler bisweilen in Staunen vetsetzte. Zahlreiche Mitglieder der zweiten Generation wurden noch dutch Fingerabdtücke übetführt. Die dritte Generation hinterließ keine Fingerabdrücke mehr, vermutlich trugen die Mörder Wundsprays, sogenannte "flüssige Pflaster" oder einen "flüssigen Handschuh" auf. Der Anschlag auf Herrhausen war so gut vorbereitet, dass manche mutmaßten, hier arbeite ein Geheimdienst mit, etwa die Staatssicherheit der ehemaligen DDR. Doch in der Bundesanwaltschaft sieht man dafür keine Anhaltspunkte. Die Ermittler halten die Stasi nur für einen lockeren einstigen Verbündeten. Eine engere Zusammenarbeit sei schon soziologisch gar nicht möglich gewesen zwischen der streng hierarchischen Diktatur und einer Handvoll gewaltbereiter Männer und Frauen. Diese hätten sich nie untergeordnet, meinen die Ermittler. Zwar habe das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) in der damaligen DDR einem knappen Dutzend ehemaliger RAF-Mitglieder in den achtziger Jahren ein neues Leben im Sozialismus ermöglicht. Doch zwischen DDR-Regime und RAF hätten ideologische Welten gelegen. Dies gehe auch aus den Verhören von Erich Mielke und anderen ehemaligen Mitarbeitern des MfS in den Jahren 1990 bis 1994 hervor. So handelte es sich wohl schlicht um ein loses Zweckbündnis: Die DDR gewährte den Terroristen Schutz, und diese ließen das Regime in Ruhe.

Das technische Know-how für die Anschläge, vermuten die Beamten, stammte eher aus palästinensischen Trainingslagern - und damit allerhöchstens mittelbar aus der ehemaligen DDR, weil viele spätere Ausbilder in palästinensischen Trainingslagern in Ostdeutschland geschult worden waren. Als Partnet sah die dritte Generation nur Terroristen anderer Länder, denen sie in ihren Bekennerschreiben nach den Gewaltakten Grüße ausrichtete - etwa die "Action Directe" in Frankreich oder die "Volksfront für die Befreiung Palästinas". Gegen die Stasi-Theorie spricht für die Ermittler auch ein Lesebrief der Terroristin Haule vom 1. Oktober 2007 in der Tageszeitung Junge Welt. Eine Stasi-Beteiligung an der "RAF-Aktion" gegen Herrhausen nennt Haule darin "schwachsinnige Counterptopaganda". Weder die Stasi noch westliche Geheimdienste hätten hinter Anschlägen der RAF gestanden.

Der Zufall hat verschiedene Gesichter. Manchmal finden sich neue Spuren, weil sich die kriminologische Technik verbessert hat und DNA-Spuren plötzlich entschlüsselt werden können. Manchmal reden ehemalige RAF-Leute, so wie im vergangenen Jahr der frühere RAF-Mann Peter-Jürgen Boock. Er nannte erstmals die Namen derjenigen aus der zweiten RAF-Generation, die den ehemaligen Arbeitgeberpräsidenten Schleyer ermordet haben sollen. Die Bundesanwaltschaft ermittelt neu.

Immer wieder versuchen die ermittler auch, die bereits gefassten Terroristen zu neuen Aussagen zu bewegen. Zuletzt wollten sie zur Aufklärung der Frage, wer auf den Generalbundesanwalt Buback geschossen hat, drei verurteilte RAF-Terroristen durch Beugehaft zur Aussage zwingen. Doch der Bundesgerichtshof entschied sich in letzter Instanz dagegen und gestand den Terroristen das Zeugnisverweigerungsrecht zu. Dieses bestehe auch dann, argumentierten die Richter, wenn es nur die Gefahr gebe, durch Aussagen "mosaikartiges" Belastungsmaterial zu sammeln und sich somit für andere Taten selbst zu belasten. Der Rechtsstaat setzt den Ermittlern Grenzen. Diese können oft nichts anderes tun, als auf der Lauer zu sein. Vielleicht vergeblich. Vielleicht aber auch nicht. Wie die Spinne.

VANESSA DE L'OR ist freie Wirtschaftsjournalistin und Russlandkennerin. Sie lebt in Berlin