MEDIENSPIEGEL 8.1.09
(Online-Archiv: http://www.reitschule.ch/reitschule/mediengruppe/index.html)

Heute im Medienspiegel:
- Reitschule-Kulturtipps (DS)
- Anti-WEF 2009: Demo GE + Party BE
- Obdachlose schlafen auch im Freien
- Club-Leben: Prestige gibt auf
- Sans-Papiers ZH nach den Aktionstagen
- Prozess wegen rechtsextremen Anschlag
- Gescheiterter Anti-Drogen-Krieg
- Atomaufsicht mit gutem Schlaf
- Wahlkampfkrieg in Gaza

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REITSCHULE
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- Jan 09: Beteiligt Euch an der Vorplatz-Präsenz!!!
- Restaurant Sous Le Pont vom 1.-12.1.09 geschlossen

PROGRAMM:

Do 8.1.09
20.30 Uhr - Kino - Wunschfilm: Adam's Apples, Anders Thomas Jensen, Dänemark 2005

Fr 9.1.09
20.30 Uhr - Tojo - Bloup von Duo Luna-tic. Judith Bach & Stéfanie Lang
21.00 Uhr - Kino - Wunschfilm: Adam's Apples, Anders Thomas Jensen, Dänemark 2005
22.00 Uhr - Dachstock - Steady Beat Service: Doreen Shaffer (JAM/Skatalites) & The Moon Invaders (BEL)

Sa 10.1.09
14.30 Uhr - Schützenmatte - Gaza-Demo
21.00 Uhr - Kino - Wunschfilm: Down by Law, Jim Jarmusch, USA/ Deutschland 1986
23.00 Uhr - Dachstock - Liquid Session: Zero Tolerance (UK), Utah Jazz (UK), Ayah MC (UK) Support: TS Zodiac.

Infos: www.reitschule.ch

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Bund 8.1.09

Sounds: Doreen Shaffer

Ska-Zückerchen

Dass Musik ein Jungbrunnen ist, beweist die grosse alte Dame des jamaikanischen Ska: Doreen Shaffer gibt mit ihrer lieblichen Stimme dem Offbeat-Sound eine süsse Note.

Es ist vielleicht kein Zufall, dass das erste Stück auf Doreen Shaffers Solo-Album "Adorable" von 1997 "Sugar, Sugar" heisst. Denn Shaffers Stimme ist süss - aber nicht süsslich: vielmehr sanft-weich und freundlich. Doreen Shaffer ist allerdings in einem musikalischen Metier tätig, in dem es gemeinhin eher rassig zu- und hergeht: im Ska. Doch Frau Shaffers delikate Stimme macht diese Musikrichtung, die sich durch ihren hüpfenden Offbeat auszeichnet, sehr melodiös und so auch für Nicht-Eingeweihte äusserst geniessbar.

Dabei gehört Doreen Shaffer zur Band, die den Ska Anfang der Sechzigerjahre erfunden hat: Die Skatalites waren Studiomusiker, die kombinierten, was ihnen gefiel: Jazz, Rhythm'n'Blues, Rock'n'Roll, Mento - und der Ska war geboren. Zu Beginn kopierte man gängige Hits aus den USA. So entstand auch Doreen Shaffers allererstes Lied, "Adorable You". Die junge Sängerin schwärmte für Dinah Washington und ihren Hit "What a Difference a Day Makes". Shaffers Version davon, "Adorable You", ist ein gemütlich schunkelndes Liebesliedchen, dem muntere Bläser einen neckischen Rhythmus geben. Und über dem Offbeat schlendert Shaffers Stimme, begleitet von einem jazzigen Saxofon.

Zu den Skatalites stiess Shaffer per Zufall - sie war im legendären Studio One zum Vorsingen, als sie Lloyd Knibb traf, den Schlagzeuger der Skatalites, und schon bald zum einzigen weiblichen Mitglied der legendären Formation wurde. Die 1964 gegründete Band löste sich 1965 allerdings bereits wieder auf. Der musikalische Einfluss der Skatalites auf die gesamte jamaikanische Musik, insbesondere den Reggae, war dennoch enorm. Dies war vielleicht der Grund dafür, dass man sich noch 1983 an die Skatalites erinnerte und die Band von einem Festival animiert wurde, sich wieder zu vereinen. Nicht nur das: Seither touren die Ska-Urgesteine unermüdlich durch alle Welt; Doreen Shaffer ist eines der letzten Originalmitglieder. Nun tauscht sie die Veteranen gegen eine jüngere Crew ein und kommt gemeinsam mit den belgischen Moon Invaders nach Bern. (reg)

Reitschule Dachstock
Freitag, 9. Januar, 22 Uhr.

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ANTI-WEF
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Bund 8.1.09

Anti-WEF: Demo in Genf, Party in Bern

Stadt Bern Mit Tränengas, Gummischrot und 242 festgenommenen Personen endete die Anti-WEF-Kundgebung vom 19. Januar 2008 in Bern. Das nächste Weltwirtschaftsforum beginnt am 28. Januar: 48 Staatschefs und 200 Regierungsmitglieder treffen sich in Davos, um über die Finanzkrise zu debattieren. Und natürlich planen auch die Globalisierungskritiker bereits in allen Landesteilen ihre Gegenveranstaltungen. In der Bundesstadt dürfte es dieses Jahr für einmal relativ ruhig bleiben. "Der Widerstand konzentriert sich heuer auf die Stadt Genf, wo am 31. Januar die grosse, nationale Anti-WEF-Demonstration stattfinden soll", sagt Marc Heeb vom Stadtberner Polizeiinspektorat. In Bern sei seines Wissens nur eine kleine, friedliche Kundgebung geplant. "Es handelt sich dabei um die Tanzparade ,Dance out Moneymania', welche bereits offiziell bewilligt wurde." Schliesslich sei die Veranstaltung - früher unter dem Namen "Dance out WEF" - immer ordentlich und friedlich über die Bühne gegangen. Der diesjährige Umzug mit vier Musikwagen soll laut Mitorganisator Jonas Brüllhardt am 17. Januar um 15 Uhr beim Bärengraben starten und sich dann zum Waisenhausplatz begeben. Erwartet werden 300 bis 500 Teilnehmende.

 Tour durch die Lorraine

Gleichentags findet auch die 9. Auflage der Tour de Lorraine statt. Das grosse Fest in verschiedenen Lokalen dies- und jenseits der Lorrainebrücke entstand in Zusammenhang mit den Protesten gegen das Davoser Weltwirtschaftsforum. Das Motto der diesjährigen Tour lautet "Stop the Game" und bezieht sich auf die Finanzkrise und die riesigen Verluste der Banken, welche die Allgemeinheit zu tragen hat. "Mit dem Gewinn aus dem Anlass werden Projekte unterstützt, welche eine öffentliche Auseinandersetzung mit Themen wie soziale Gerechtigkeit, Umverteilung und Chancengleichheit auslösen", sagt Mitorganisator David Böhner. (pas)

[i]

Das Programm des Festes gibts unter www.tourdelorraine.ch

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OBDACHLOS
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Bund 8.1.09

Bedrohliche Kälte für Clochards

Auch wenn es in Bern genügend Notbetten gibt, schläft manch ein Randständiger bei klirrender Kälte im Freien

Pascal Schwendener

Die arktische Kälte treibt derzeit viele Obdachlose in Notunterkünfte. Einzelne Betten sind zwar noch frei. Dennoch schlafen auch in der Bundesstadt Menschen auf Pappkartons, auf Lüftungsschächten oder unter Brücken.

Die Kälte kam aus Osteuropa. Seit Tagen schon hält sie das Land fest im Griff, und die Bise verstärkt sie noch. Tagsüber liegen die Werte aktuell bei minus drei Grad, nachts sinkt das Quecksilber gar auf neun Grad unter null. Und ein Ende der Eiszeit ist nicht absehbar.

Niemand trifft das garstige Wetter härter als die Obdachlosen, die der Kälte Tag und Nacht ausgesetzt sind. In Polen, Deutschland, Frankreich und Italien hat der Frost bereits erste Todesopfer gefordert. Und auch in Zürich starb Anfang Winter ein Clochard auf einer Parkbank. Gestern schlugen nun die Sozialwerke von Pfarrer Ernst Sieber Alarm: Sämtliche Notbetten in Zürich seien belegt. "Und auch mit zusätzlichen Plätzen geraten wir an die Grenzen", sagte Pressesprecher Mark Wiedmer.

215 Notbetten sind fast belegt

Wie sieht die Situation in Bern aus, wo das Parlament vor zwei Jahren die Notbetten bei der Drogenanlaufstelle an der Hodlerstrasse wegen "geringen Bedarfs" gestrichen hat? "Wir sind in der glücklichen Lage, dass wir im Gegensatz zu Zürich noch immer ausreichend Übernachtungsmöglichkeiten anbieten können", sagt der städtische Obdachlosen-Koordinator Markus Nafzger. Die Stadt habe Leistungsverträge mit fünf verschiedenen Trägerschaften abgeschlossen, die insgesamt 215 Plätze anböten - vom Passantenheim der Heilsarmee und der Frauen-Wohngemeinschaft über "Wohnen Bern" und "Schwandgut" bis zum Projekt Albatros für Drogenabhängige. "85 bis 90 Prozent der Betten sind derzeit ausgelastet", sagt Nafzger. Aber in jeder Institution seien durchschnittlich pro Nacht noch ein, zwei Plätze verfügbar. "Das Phänomen, dass Menschen über Nacht keine Bleibe finden, ist in der Bundesstadt in den letzten Jahren verschwunden", sagt der Experte. "Sobald die kalte Jahreszeit anbricht, solidarisieren sich die Randständigen und nehmen einander gegenseitig für ein paar Tage in einer Wohnung auf." Sowohl die Heilsarmee als auch der Verein Sleeper bestätigen Nafzgers Beobachtungen. "Erstaunlicherweise" gebe es trotz der klirrenden Kälte noch immer freie Plätze, heisst es unisono. Nur in Ausnahmefällen habe mal eine Person auf einem Sofa oder auf einer Matratze am Boden nächtigen müssen.

Schlafen in der Telefonkabine

Dennoch verbringen auch in Bern Menschen ihre Nächte auf der Gasse, weiss Silvio Flückiger, Leiter der Interventionstruppe Pinto. Auf nächtlichen Rundgängen finden Flückiger und sein Team Personen, die trotz den bedrohlichen Temperaturen unter dem Gefrierpunkt im Freien verharren. "Sie suchen Schutz in geschützten Ecken, schlafen auf Lüftungsschächten, in Hauseingängen und zusammengekauert in Telefonzellen." Andere schlagen ihr Lager unter Brücken auf oder errichten ein Zeltlager im Wald. Wieder andere halten sich die Nacht durch auf den Beinen, um sich dann frühmorgens in einem Aufenthaltsraum der Heilsarmee einzufinden und sich dort auszuruhen. "Wir nehmen mit diesen Leuten das Gespräch auf und raten ihnen, sich in eine Notschlafstelle zu begeben", erklärt Flückiger. Doch es gebe ein knappes Dutzend Randständige, die jedes karitative Angebot ablehnten.

Unflexible Öffnungszeiten

 "Diese Personen können oder wollen die minimalsten Spielregeln nicht einhalten, die in einer Notschlafstelle gelten", sagt Flückiger - sei es aufgrund ihrer Persönlichkeitsstruktur oder aufgrund ihres Suchtverhaltens. In solchen Fällen bleibt den Street-Workern nur eines: "Wir bieten ihnen einen winterfesten Schlafsack an." Schliesslich könne man niemanden zwingen, in einem Haus zu übernachten, es sei denn, die Person gefährde offensichtlich ernsthaft ihre Gesundheit. "Dann kann man sie mit einem fürsorgerischen Freiheitsentzug in eine Institution einweisen."

Aufgrund der gemachten Erfahrungen schätzt Pinto-Leiter Flückiger das städtische Angebot an Notschlafplätzen als genügend ein. Mit einem Vorbehalt allerdings: Spätabends werde es in der Hauptstadt schwierig, noch eine Unterkunft für einen Obdachlosen zu finden. Nach 22 Uhr bleibe eigentlich nur noch der "Sleeper" beim Henkerbrünnli offen. "Sonst sind alle Türen zu."

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Wohnführer

In der Stadt Bern bestehen verschiedene Angebote für Menschen mit Wohnproblemen, insbesondere für obdachlose Personen. Es gibt niederschwellige, begleitete und betreute Wohnungsangebote. Im Internet ist der Wohnführer, der vor vier Jahren letztmals aktualisiert wurde, unter www.bern.ch/stadtverwaltung/bss/soza/obdachlos zugänglich. (pas)

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CLUBLEBEN
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Bund 8.1.09

"Prestige"-Betreibern fehlte Geld und Lust

Stadt Bern Still und leise hat vor Kurzem ein Nachtclub das Zeitliche gesegnet, der im Sommer 2001 mit lautem Getöse in Betrieb genommen worden war. Die Rede ist vom "Prestige" im City West, das sich als Ess- und Tanzlokal einen Namen machen wollte. "Prestige"-Gründer Toni Mitidieri bestätigte auf Anfrage einen Bericht der "Berner Zeitung", wonach er und Ex-"Guayas"-Chef Claudio Paredes die Segel gestrichen hätten. Er habe schon eine ganze Weile aufhören wollen, sagt der umtriebige Geschäftsmann, der am Casinoplatz die Caffé Bar Insania und einen Coiffeursalon führt. Das Verhalten des jungen Partyvolkes, welches den Alkohol oft selber mitschleppt oder schon stark angeheitert in Nachtlokalen aufkreuzt, missfiel ihm zusehends. Es habe immer wieder Scherereien gegeben mit betrunkenen und zum Teil aggressiven Gästen, sagt Mitidieri. Dem "Prestige", gemäss der ursprünglichen Idee der Gründer für 25- bis 40-Jährige konzipiert, passierte das Schlimmste, was einem Club passieren kann: Es geriet in Verruf. Die Folgen: weniger Besucher, weniger Umsatz, finanzielle Probleme.

Liegenschaftsbesitzer Marc Wirz verfolgte die Geschehnisse rund um das "Prestige" mit zunehmender Sorge. Ihm wollte nicht in den Kopf, wieso die Betreiber es nicht schafften, ein funktionierendes Sicherheitskonzept auf die Beine zu stellen und nach Feierabend rund ums Lokal sauberzumachen. Wirz ärgerte aber auch, dass Mitidieri und Paredes eine Mietzinsreduktion wünschten, obwohl sie mit den ordentlichen Mietzahlungen im Rückstand waren. Deshalb hielt er Ausschau nach Nachmietern. Fündig geworden ist er bei der Wincasa, welche den Nachtclub, den Mitidieri und Parades geräumt haben, in Büros umfunktioniert. Die Immobilienfirma breitet sich auch in den Räumen des Thai's Restaurant aus, das Anfang Woche dichtgemacht hat. Wirz mag nach dem Ende der Geschäftsbeziehung mit den einstigen "Prestige"-Betreibern keine schmutzige Wäsche waschen. Man habe sich gütlich geeinigt. Damit sei die Sache für ihn erledigt, sagt er. (ruk)

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SANS-PAPIERS ZH
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bleiberecht.ch 7.1.09

Gemeinsame Fraktionserklärung von SP, Grüne und AL im Gemeinderat Zürich: Die Sans-Papiers ziehen aus - die Probleme bleiben

Nach einer sechzehntägigen Kirchenbesetzung der Predigerkirche, gefolgt von einem Gastrecht in der Kirche St. Jakob, werden die gegen 150 Sans-Papiers und Mitglieder des Bleiberechts-Kollektivs ihre aktuelle Aktion heute beenden.

Wir sprechen den Betroffenen unsere Solidarität aus. Dies bleibt trotz Regierungsrat Hollensteins Zugeständnis, eine Härtefallkommission einzusetzen, bitter nötig. Denn der Regierungsrat nimmt weiterhin seine Verantwortung nicht wahr, in seinem eigenen Zuständigkeitsbereich für eine menschenwürdige Umsetzung der Nothilfe zu sorgen und der Härtefallregelung des neuen, verschärften Asyl- und Ausländergesetzes Geltung zu verschaffen.

Vergessen wir nicht: Diese Härtefallregelung wurde bewusst im neuen Gesetz als Ergänzung zu den Verschärfungen geschaffen, weil absehbar war, dass die neuen Bestimmungen Hunderte von Menschen in eine auswegslose Situation bringen würde. Ohne Aufenthaltsstatus dürfen sie nicht in der Schweiz bleiben. Aber sie können gleichzeitig unser Land nicht legal verlassen, da das neue Ausländergesetz genauso die illegale Ausreise unter Strafe stellt. Eine Papierbeschaffung ist in solchen Fällen auch den Behörden nicht möglich: sonst wären die Betroffenen nämlich bereits ausgeschafft worden.

Dass Regierungsrat Hollenstein bisher die faktische Nichtumsetzung der Härtefallregelung gestützt hat, ist vor diesem Hintergrund völlig unverantwortlich. Zudem hat die aktuelle, schikanöse Ausgestaltung der Nothilfe das offensichtliche Ziel, die Leute zum Untertauchen in die vollständige Illegalität zu drängen. Dass sich diese Menschen, denen zum Überleben praktisch nur die Kleinkriminalität bleibt, kaum in Fischenthal oder Sternenberg niederlassen, sondern in den Städten untertauchen, ist ein Effekt, den der Regierungsrat offenbar bewusst in Kauf nimmt!

Regierungsrat Hollenstein und der Gesamtregierungsrat muss nun seine Verdrängungspolitik beenden und seine politische Verantwortung wahrnehmen. Wir fordern konkret:

1. Eine rasche Einsetzung der versprochenen Härtefallkommission
2. Eine sofortige Angleichung der Zürcher Härtefallrichtlinien zumindest an die bereits vorliegenden eidgenössischen Vorschläge
3. Eine rasche Verbesserung der Nothilfe: Ausgabe der Nothilfe von Fr. 8.50 in Bargeld statt in Migros-Gutscheinen. Ausgabe von Fahrkarten für behördlich angeordnete Reisen. Abschaffung der wöchentlichen Umplatzierung (die im behördlichen Neusprech "Dynamisierung" genannt wird). Aufhebung der unterirdischen Notunterkünfte.

All diese Veränderungen sind mit dem aktuellen, scharfen Gesetz bestens vereinbar und in der alleinigen Verantwortung des Regierungsrats umsetzbar. Für die auch in anderen Bereichen herrschenden offenkundigen Missstände im Zürcher Migrationsamt sind weder der Bund noch das neue Asyl- und Ausländergesetz verantwortlich!

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Medienmitteilung: Sans-Papiers setzen sich weiter für ihre Rechte ein / Gespräche mit Parteien werden gesucht

3170077961_5dca16666c_mDie Sans-Papiers werten die Aktion der letzten 19 Tage als Teilerfolg. Mit der versprochenen Härtefallkommission gibt es ein konkretes Zugeständnis. Auch die Tatsache, dass die Missstände im Zürcher Migrationsamt langsam an die Öffentlichkeit gelangen, ist ein Ergebnis der Kirchenbesetzung. Noch bleibt aber der Alltag der Sans-Papiers unverändert und die Papierlosen werden im Kanton Zürich als Menschen zweiter Klasse behandelt.

Die Vollversammlung der Sans-Papiers hat am Dienstag bis tief in die Nacht über das weitere Vorgehen diskutiert. Eine Mehrheit entschied sich, heute den St. Jakob zu verlassen um den weiteren Kampf für ein menschenwürdiges Leben, für das Recht zu Arbeiten und für einen geregelten Aufenthaltsstatus zu planen. Da sich alle beteiligten Sans-Papiers als Kollektiv verstehen, verlassen sie heute gemeinsam die Kirche.

Die Papierlosen werden sich weiterhin offensiv für ihre Rechte einsetzen. Deshalb fragen die Papierlosen noch diese Woche die Parteien des Kantons Zürich um einen Termine für ein Gespräch an. Mit einer Delegation möchten die Papierlosen die Parteien über ihre Probleme informieren und aufzeigen, dass mit dem heutigen Regime kein menschenwürdiges Leben im Kanton Zürich möglich ist. In den vergangenen Tagen hat sich gezeigt, dass nur wenige Politiker über die Praxis der Nothilfe im Kanton Zürich informiert sind.

Die Sans-Papiers weisen darauf hin, dass in der Umsetzung der Nothilfe keinerlei Verbesserungen erreicht wurden. Weiterhin wird die Nothilfe in Form von Migros-Gutscheinen ausbezahlt (8.50 Franken pro Tag). Viele Asylbewerber müssen wöchentlich die Nothilfezentren wechseln. Diese so genannte Dynamisierung führt zu psychischen Problemen und ist reine Schikane. Für die wöchentliche Reise in die neue Notunterkunft werden keine Zugtickets zur Verfügung gestellt, obwohl gemäss Sozialamtsvorsteher Hofstetter ein Anspruch darauf bestünde. Damit will der Kanton Zürich die Menschen bewusst in die Kriminalität treiben. Diese Praxis könnte Regierungsrat Hollenstein in eigener Kompetenz jederzeit ändern.

Im Jahr 2008 wurde kein einziges Härtefallgesuch vom Kanton Zürich an den Bund weitergeleitet. Regierungsrat Hollenstein versucht die politische Verantwortung von sich zu weisen. Doch die Sans-Papiers betonen, dass er sich nicht länger hinter dem Bund, dem Gesamtregierungsrat oder auch dem Kantonsrat verstecken kann. Denn es handelt sich um einen Verwaltungsakt.

Kein Mensch ist illegal, Bleiberecht jetzt!

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WoZ 8.1.09

Sans-Papiers

Enttäuscht von Zürcher Regierung und Kirche

Während siebzehn Tagen hielten rund 150 Sans-Papiers die Predigerkirche in Zürich besetzt, um gegen die Lebensbedingungen unter dem Nothilferegime und die Härtefallpraxis des Kantons Zürich zu protestieren. Danach waren sie drei Tage in der Kirche St. Jakob zu Gast. Am Dienstagabend hat das Bleiberechtkollektiv in einer Vollversammlung beschlossen, die Kirche St. Jakob, wie von deren Pfarrer Anselm Burr gewünscht, am Mittwoch zu verlassen. Eine Minderheit wollte in der Kirche verbleiben, darunter viele, die noch nicht lange genug in der Schweiz sind, um ein Härtefallgesuch stellen zu können. Das Gespräch mit Sicherheitsdirektor Hans Hollenstein vom Montag hat für sie nichts gebracht, da er sich weigerte, an der kantonalen Nothilfepraxis etwas zu ändern. Der Entscheid der Vollversammlung wurde damit begründet, dass ein Verbleib in der Kirche derzeit kaum zu weiteren Ergebnissen führen würde. Die Sans-Papiers zeigten sich jedoch enttäuscht von der Haltung der Kirche, die sich vor den Medien als Freundin und Helferin aufspielt, in Wirklichkeit aber die Schutzsuchenden lieber gestern als heute aus ihren Räumen wirft. Eine Delegation der Sans-Papiers will noch diese Woche die Parteien des Kantons Zürich um Gesprächstermine anfragen, um ihnen ihre Probleme zu schildern und sie um Unterstützung zu bitten. nol

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Die Kraft der Schützlinge

Von Noëmi Landolt (Text) und Florian Bachmann (Foto)

Zürcher Kirchenbesetzung-Die Aktion war nicht nur bemerkenswert, weil sie die unhaltbare Zürcher Härtefallpraxis publik machte. Sondern auch, weil sich die Flüchtlinge in einer Basisbewegung selbst wehrten. Beobachtungen in der Prediger- und der St.-Jakob-Kirche.

Es war ein ungewöhnliches Bild, das sich am vergangenen Sonntag und in den Wochen davor jeden Morgen in der Zürcher Predigerkirche bot. Ein Haufen verschlafener Menschen in Wollsocken und langen Unterhosen, die durch die Kirche schlurften, Schlafsäcke zusammenrollten, Decken falteten. Irgendwo dazwischen die Sigristin, die daran erinnerte, dass in einer Viertelstunde die Orgel- oder Gesangsprobe begänne.

Zu Klavierbegleitung von Fanny Mendelssohn und Rachmaninow und dem Sopran einer Frau in rotem Pulli wurde also am Sonntag aufgeräumt und geschrubbt, bis alles für den Umzug in die Kirche St. Jakob am Stauffacherplatz bereit war. Der Präsident der Kirchgemeinde zu Predigern, Daniel Lienhard, zeigte sich überrascht ob der Sauberkeit seiner "GeiselnehmerInnen". Als solche hatten er und Pfarrerin Renate von Ballmoos die BesetzerInnen gegenüber den Medien bezeichnet. Es war auch die Rede von Erpressung. Doch an diesem Morgen strahlte Frau von Ballmoos wie nie zuvor und unterhielt sich eingehend mit den Flüchtlingen - zum ersten Mal, wie viele BeobachterInnen sagten.

Decken, Essen und das Teezelt wurden mit einem Kleinbus in die Kirche St. Jakob transportiert. Dort wurden die Sans-Papiers begrüsst von Jutta Müller, Präsidentin der Kirchen­pflege Aussersihl, und von Pfarrer Anselm Burr. Im abendlichen Gottesdienst versicherte Burr die Sans-Papiers seines Engagements und seiner Freundschaft. Die Gastfreundschaft fand jedoch am Mittwoch ein Ende. Schliesslich gibt es am Freitag eine Veranstaltung in der Kirche.

Hilflos, aber entschlossen

Die Zürcher Bleiberechtbewegung nahm vor noch nicht mal zwei Jahren mit einem wöchentlichen Mittagstisch für Flüchtlinge im Infoladen Kasama ihren Anfang. Sie machte das erste Mal mit der dreitägigen Besetzung des Zürcher Grossmünsters im Dezember 2007 von sich reden. Damals wie heute lautet die Forderung, zumindest den Härtefällen eine Aufenthaltsbewilligung zu erteilen. Der kantonale Sicherheitsdirektor Hans Hollenstein versprach Änderungen in der kantonalen Härtefallpraxis. Die Kirche versprach, sich für die Anliegen der Flüchtlinge starkzumachen. Doch die wohlklingenden Worte verdampften irgendwo im grauen Zürcher Januarhimmel. Nichts änderte sich, im Gegenteil. Das neue Asylgesetz, das am 1. Januar 2008 in Kraft trat, verschlechterte die Lebensumstände der Asylsuchenden massiv.

"Wir haben im vergangenen Jahr verschiedene Aktionen gemacht, die jedoch wenig bewirkt haben. Also haben wir uns für eine erneute Besetzung entschieden", sagt die Bleiberechtaktivistin Sibylle Dirren. Seit letztem Jahr seien viele neue Leute zur Bewegung gestossen - wohl wegen der Möglichkeit, im Kasama die Migros-Gutscheine, mit denen im Kanton Zürich die Nothilfe ausbezahlt wird, in Bargeld zu wechseln. Dabei besteht das Bleiberechtkollektiv nicht aus Schweizer AktivistInnen und "ihren Schützlingen", wie es unlängst in einer Zeitung stand. "Es hat sich eine gewisse Eigendynamik unter den Flüchtlingen entwickelt. Ich denke, von den Schweizer AktivistInnen stellte sich niemand richtig vor, dass wir die Besetzung so lange durchhalten. Das ist organisatorisch sehr anspruchsvoll, vor allem, 150 Leute auf dem gleichen Informationsstand zu halten."

Sämtliche Entschlüsse wurden an Voll versammlungen gefasst, denen jeweils eine Delegiertenversammlung vor ausging. Die Delegierten leiten die Infos an ihre Gruppen weiter - so jedenfalls das System. Es funktionierte allerdings noch nicht richtig, da viele Flüchtlinge nicht in Gruppen organisiert sind. Berhanu Tesfaye aus Äthiopien, der seit acht Jahren als abgewiesener Asyl bewerber in Zürich lebt, sagt: "Bisher sind nur die Demokratische Vereinigung der Flüchtlinge, die International Federa tion of Iraqi Refugees und die Kongolesen in Gruppen organisiert. Auch die anderen Flüchtlinge müssen sich zu Gruppen zusammenschliessen, damit die Informatio nen fliessen und wir künftige Aktionen besser koordinieren können."

In der Entschlossenheit der Flüchtlinge drückten sich ihre Verzweiflung und ihre Wut über die Hilflosigkeit aus. Überwog früher die Angst, erkannt und verhaftet zu werden, sind nun viele Flüchtlinge bereit, sich zu exponieren, sei es an Demonstrationen oder in Fernsehinterviews, wo sie offen über ihr Leben sprechen. Oft war in der Predigerkirche der Satz zu hören: "Ich habe nichts mehr zu verlieren."

Die Probleme der Welt

Abgewiesene AsylbewerberInnen oder solche mit Nichteintretensentscheid wohnen in sogenannten Notunterkünften, in denen oft prekäre Verhältnisse herrschen. Da sie kein Bargeld erhalten, sind sie gezwungen, schwarzzufahren. Werden sie erwischt, können sie die Busse nicht bezahlen und müssen für ein paar Tage in den Knast. Die Asylsuchenden dürfen nicht arbeiten und sitzen darum in den Unterkünften in irgendwelchen Käffern fest, zum Teil über Monate hinweg. Andere haben aufgrund des Arbeitsverbots ihren Job, ihre Wohnung verloren. "Wenn das eine Abschreckungstaktik sein soll, funktioniert sie nicht. Ich habe nur Kontakt zu meinen Eltern in Algerien, und denen erzähle ich, dass alles gut läuft hier", erzählt Said, der seit acht Monaten in der Schweiz ist. Strenge Asylgesetze verhindern nicht, dass auch weiterhin Menschen auf der Flucht vor Armut, Hunger und Gewalt nach Europa kommen.

Vor dem Gefängnis haben die meis ten längst keine Angst mehr. Schon zu oft sind sie, die nicht hier sein dürfen, aber auch sonst nirgends hingehen können, wegen illegalen Aufenthalts verhaftet worden. "The police will catch you anyway", sagte John aus Kenia an einer Vollversammlung. Die Polizei kriegt dich so oder so, ob du nun eine Kirche besetzt oder nicht. John wurde vor gut zwei Wochen vor seiner Notunterkunft verhaftet und befindet sich nun in Untersuchungshaft. Das Bleiberechtkollektiv ist mit Anwälten daran, mehr über die Hintergründe der Verhaftung zu erfahren.

Die Delegation, die am Montag das Gespräch mit dem Zürcher Regierungsrat Hans Hollenstein führte, bestand grösstenteils aus Flüchtlingen. Bella da Costa aus Angola, die seit neun Jahren in der Schweiz lebt, war dabei: "Ursprünglich wollten wir, dass Hollenstein zu uns die Kirche kommt. Aber es war uns wichtiger, den Dialog zu suchen, als auf dieser Forderung zu beharren." Hollenstein versprach, sich für die Bildung einer Härtefallkomission einzusetzen und abgewiesene Gesuche noch einmal zu überprüfen. Aber er wünsche sich mehr Richtlinien vom Bund bezüglich der Umsetzung der Härtefallregelung. Es gehe nicht, dass die Kantone gegeneinander ausgespielt und an ihrer Bewilligungspraxis gemessen würden. Dennoch wolle er dafür sorgen, dass Zürich sich in Sachen Härtefallpraxis im Mittelfeld bewege. Am Nothilferegime wird nichts geändert.

Dem Chef des Migrationsamtes, Adrian Baumann, war sichtlich unwohl. Besonders als die Rede auf den Umstand kam, dass der Kanton Zürich im Jahr 2008 kein einziges Härtefallgesuch an den Bund weitergereicht hatte. Er schwitzte und wollte nicht lange mit den Medien reden. Im Anschluss an die Pressekonferenz sagte Hollenstein in ein Mikrofon: "Ich kann nicht die Probleme der ganzen Welt lösen."

Trotz der vagen Antworten ist Bella da Costa nicht enttäuscht: "Ich dachte mir schon, dass es so rauskommt. Aber erfreut bin ich ganz und gar nicht." Berhanu Tesfaye geht es ähnlich: "Ich glaube, Hollenstein hat die eigentlichen Probleme der Nothilfe nicht verstanden und sich schon vor dem Treffen seine Meinung gebildet. Erstaunlich ist, dass selbst die ‹kleinen› Dinge überhaupt keine Chance hatten. Dabei dachten wir, dass wir die einfach durchbringen. So wurde etwa das Anliegen, die Nothilfe statt in Migros-Gutscheinen in Bargeld auszuzahlen, kategorisch abgelehnt." Für Flüchtlinge, die schon länger als fünf Jahre in der Schweiz leben, gibt es nun die kleine Chance, ihren Aufenthaltsstatus zu legalisieren. Andere Flüchtlinge wie Said müssen sich noch jahrelang hier durchschlagen, bis sich für sie etwas verändern könnte.

Ein Gleichgewicht halten

Dass der Kampf der Sans-Papiers weitergeht, ist unbestritten. "Die Leute sind extrem motiviert und froh, dass sie endlich aus ihren Unterkünften her auskommen und etwas tun können", sagt Sibylle Dirren. "Wir haben dieses Jahr viel mehr Unterstützung erhalten als vor einem Jahr. Sowohl von Parteien als auch von anderen Gruppierungen und von Privatpersonen, die Lebensmittel und Decken brachten. Dadurch haben wir mehr Druck aufbauen können. Auch die Demonstration mit 2000 Leuten hat gezeigt, dass wir Kraft haben." Allerdings wurden die Schweizer Unterstützungsstrukturen schwächer. Die meisten AktivistInnen haben diese Woche wieder angefangen zu arbeiten. Viele sind müde. Noch lastet die Verantwortung auf wenigen AktivistInnen - SchweizerInnen und Flüchtlingen. Es ist schwierig, ein Gleichgewicht zwischen Motivation und falschen Hoffnungen zu finden und zu halten. Hadschi Said aus dem Irak sagt: "Ich weiss, dass wir nur in kleinen Schritten vorwärts kommen. Und ich weiss auch, dass einmal geschaffene Gesetze nur sehr schwer zu ändern sind."

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Dreimal Weihnachten in St. Gallen

Noch steht es, das markante Haus Rosen bergstrasse 53 direkt hinter dem Bahnhof St. Gallen. Bald wird es abgerissen - zusammen mit dem halben Quartier. Die alten Häuser mit günsti gen Wohnungen müssen dem St. Galler Fachhochschulzentrum und einem Bürohaus weichen. Das Quartier, dem das Ostschweizer Kulturmagazin "Saiten" seine aktuelle Nummer widmet, war in den letzten Jahren ein Ort regen Kulturlebens und wilder Feste.

Für einen würdigen Schluss sorgte in der Weihnachtswoche das Solidaritätsnetz Ostschweiz. Flüchtlinge und solidarische AktivistInnen zogen in das Haus hinter dem Bahnhof ein. "Ziel der Aktion war die Stärkung der Beziehungen zwischen Flüchtlingen, Migrantinnen und Migranten und Menschen aus der Schweiz", sagt Andreas Nufer, Pfarrer der ökumenischen Kirchgemeinde Halden und Mitinitiant von Solinetz. "Und wir wollten gegen die Kälte im Asylwesen, im Speziellen gegen die Nothilfe protestieren." Die abgewiesenen Asylsuchenden, die mit acht Franken Nothilfe pro Tag auskommen müssen, leben im ganzen Kanton verstreut - die meisten immerhin in Wohnungen und nicht in Zivilschutzanlagen. 2007 hat der Kanton St. Gallen 84 Härtefälle bewilligt, im letzten Jahr 22 - auch dank der hartnäckigen Arbeit von Solinetz.

Andreas Nufer ist zufrieden mit der Aktion. Im Haus herrschte eine Woche Hochbetrieb. Mehrere Hundert Leute kamen vorbei oder blieben einige Tage, die vielen geschenkten Esswaren türmten sich im Keller. In der Wasch küche dampfte das Essen in grossen Töpfen, Schreib-, Bastel- und Politworkshops fanden statt, und Weihnachten wurde gleich dreimal gefeiert. Sogar Ex-Miss-Schweiz Amanda Ammann kam zu Besuch und backte zusammen mit Freundinnen und Flüchtlingen Weihnachtsguetzli.

Es ist gut, ein Haus zu haben. Auch in Zukunft: St. Gallen soll wieder ein Volkshaus bekommen. Das ist einer der nächsten Pläne der Solinetz-Aktivist Innen.

Bettina Dyttrich

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Südostschweiz 8.1.09

SP und Grüne wollen Amnestie für Papierlose durchsetzen

Die Kirchenbesetzung durch Papierlose in Zürich zeigt nun auch auf bundespolitischer Ebene Wirkung. SP und Grüne wollen das Thema Sans Papiers während der nächsten Session aufgreifen.

Von Simon Fischer

Bern. - Während das seit Jahrzehnten ungelöste Problem der Sans Papiers in letzter Zeit weitgehend aus der politischen Diskussion verschwunden war, ist es durch die fast drei Wochen dauernde Kirchenbesetzung in Zürich über die Festtage wieder in die nationalen Schlagzeilen geraten. Nachdem die Papierlosen ihre Aktion gestern beendet und die Kirche St. Jakob am Stauffacher verlassen haben, wittern linke Bundespolitiker nun Morgenluft und wollen das Thema wieder einmal aufs Tapet bringen. "Die Schweiz schiebt das Problem im Gegensatz zu anderen Ländern seit Jahren vor sich hin", erklärt die Baselbieter SP-Nationalrätin Susanne Leutenegger Oberholzer. Der Bund sei nun gefordert, endlich etwas zu unternehmen. Von Parlamentariern ihrer Partei seien deshalb während der Frühlingssession mehrere Vorstösse zum Thema zu erwarten.

Leutenegger Oberholzer fordert konkret eine Amnestie für papierlose Menschen, die seit mehreren Jahren in der Schweiz leben und sich hier integriert haben. "Es braucht eine Legalisierung solcher Personen." Das gelte vor allem auch für Kinder von Immigranten, die in der Schweiz aufgewachsen und in die Schule gegangen seien. Leutenegger Oberholzers Parteikollege Andreas Gross pflichtet dem bei: "Die Schweiz könnte sich eine solche Amnestie durchaus leisten", meint der Zürcher Nationalrat.

Härtefall-Regelung als Lotterie

Was Politikern von SP und Grünen vor allem sauer aufstösst, ist der Umstand, dass die Härtefall-Regelung für Sans Papiers von den Kantonen sehr unterschiedlich angewandt wird. "Es herrscht eine massive Ungleichbehandlung von Papierlosen in unserem Land", sagt SP-Präsident Christian Levrat. Was es jetzt brauche, sei ein Machtwort aus Bern an die Adresse der Kantone. Auch er rechnet für die kommende Session mit entsprechenden Vorstössen aus den eigenen Reihen: "Das wirkt immer."

Auch Grünen-Präsident Ueli Leuenberger plädiert für ein Bleiberecht für langjährige Papierlose. Wer sich integriert habe und einen Job finde, solle auch arbeiten dürfen. Denn davon profitiere letztlich die ganze Gesellschaft. "Die Härtefall-Regelung ist für Sans Papiers eine Lotterie", sagt Leuenberger. Papierlose, die in einem liberalen Kanton lebten, hätten Glück, alle anderen dagegen Pech.

Alles soll bleiben, wie es ist

Kein Gehör findet das linke Anliegen bei den Mitte- und Rechtsparteien. Es gebe keinen Handlungsbedarf bei der Härtefall-Regelung, meint etwa der Zuger CVP-Nationalrat Gerhard Pfister, Präsident der Staatspolitischen Kommission. Über das Bleiberecht von Papierlosen zu entscheiden, müsse Aufgabe der Kantone bleiben. Und der Zürcher SVP-Nationalrat Hans Fehr erklärt, statt die Verantwortung dem Bund zuzuschieben, müssten die Kantone das Gesetz konsequent anwenden. Ausserdem sei die Kirchenbesetzung in Zürich von linken Kreisen für eigene Zwecke inszeniert worden. Die Sans Papiers hätten sich leider instrumentalisieren lassen.

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Sie gehen zurück in die "Bunker"

Zürich. - Die Zürcher Sans Papiers haben gestern das Ende ihres 19 Tage langen Protests in Zürcher Kirchen bekannt gegeben. Mit der Zusage von Regierungsrat Hans Hollenstein, sich für die Wiedereinführung der Härtefall-Kommission einzusetzen, sei ein Teilerfolg erreicht worden, teilte das Sans Papiers-Kollektiv "Bleiberecht" mit.

Die Vollversammlung der Sans-Papiers hatte am Dienstagabend beschlossen, die Kirche St. Jakob gemeinsam zu verlassen. Dort hatten die Sans Papiers Gastrecht erhalten, nachdem sie am Sonntag die Besetzung der Predigerkirche beendet hatten. In der Nacht auf gestern schliefen noch 60 bis 80 Sans Papiers in der Kirche, wie Michi Raissig vom Kollektiv sagte. "Sie kehren zurück in die 'Bunker'", so Raissig und meinte damit die unterirdische Zivilschutzanlage in Uster und andere Notunterkünfte für Migranten ohne Aufenthaltsbewilligung im Kanton.

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Landbote 8.1.09

Besetzer wollen nun Dialog suchen

RETO FLURY

Die Kirchenbesetzer haben gestern die St.-Jakobs-Kirche geräumt. Sie wollen nun den politischen Weg gehen. Für den Fall, dass dies nicht fruchtet, drohen sie mit weiteren Aktionen.

zürich - Bis spät in die Nach haben rund 90 Sans-Papiers und Sympathisanten am Dienstag über die Fortsetzung der Kirchenaktion diskutiert. Dann entschied eine Mehrheit: Die Aktion wird abgebrochen. Gestern haben die Papierlosen die St.-Jakobs-Kirche beim Stauffacher, wo sie seit Sonntag als Gäste weilten, geräumt.

Als die Sans-Papiers Ende Dezember die Predigerkirche besetzten, forderten sie eine humanere Härtefallpraxis und Nothilfe sowie Papiere für alle. Doch der Kanton wird seine Praxis nicht so schnell ändern. Dies hat Regierungsrat Hans Hollenstein (CVP) den Aktivisten am Montag in einem Gespräch deutlichgemacht.

Für Michael Raissig vom Bleiberecht-Komitee war die Aktion dennoch ein "Teilerfolg". Wenn die von Hollenstein versprochene Härtefallkommission wirklich eingesetzt wird, werde sich die Lage der Sans-Papiers bestimmt verbessern, sagte er gestern. Ausserdem sei die Öffentlichkeit durch die Besetzung auf die Lage der Sans-Papiers aufmerksam geworden.

Die Papierlosen und das Komitee geben sich damit aber nicht zufrieden. Sie hielten an ihren Forderungen fest, sagte Raissig. Man verlange weiterhin eine Aufhebung des Arbeitsverbots, ein regulärer Status sowie eine humanere Härtefallpraxis. "Wir wollen nun aber in den politischen Dialog eintreten." Die Sans-Papiers würden noch diese Woche mit den politischen Parteien das Gespräch suchen. Und das nicht nur mit jenen des linken Spektrums. "Es ist auch im Interesse der bürgerlichen Parteien, dass die humanitäre Tradition der Schweiz fortgeführt wird", findet Raissig. Man sei sich bewusst, dass nun ein langwieriger Prozess beginne. Deshalb seien auch keine weiteren Besetzungen geplant. Sollte der politische Weg aber versanden, werden die Sans-Papiers gemäss Raissig weitere Aktionen lancieren.

Entwurf auf dem Tisch

Unabhängig von der Kirchenbesetzung überarbeiten Bund und Kantone derzeit die Richtlinien für die Härtefallbewilligungen. Die aktuelle Weisung des Bundesamts für Migration (BfM) datiert vom 1. Januar 2008. Laut dem Schreiben sollten unter anderem folgende Punkte berücksichtig werden: die Integration, die Aufenthaltsdauer, die Einschulung der Kinder, der Leumund und der Gesundheitszustand. Voraussetzung ist, dass der Asylsuchende seine Identität offenlegt.

Ein erster Entwurf für die neuen Empfehlungen des BfM liegt momentan bei der Vereinigung der kantonalen Migrationsbehörden (VKM), deren Präsident der Zürcher Migrationsamts-Chef Adrian Baumann ist. Bettina Dangel, Geschäftsführerin der VKM und Sprecherin des Migrationsamts, bestätigte gestern einen Bericht des "Tages-Anzeigers". Die Kantone möchten vor allem zwei Bereiche genauer geklärt haben. Erstens die Frage, wie ein Sans-Papier seine Identität offenlegen muss, um als Härtefall anerkannt zu werden. Das Zürcher Migrationsamt verlangt heute einen Pass. Und zweitens wie gut jemand die Landessprache sprechen muss.

Laut BfM-Sprecher Roman Cantieni soll künftig vermehrt auf das stimmige Gesamtbild einer Person als etwa auf die Art eines Identitätspapiers geachtet werden. Auf Nachfrage bestätigte er, dass ein Sans-Papier für das BfM auch ohne Papiere als Härtefall anerkannt werden kann - falls er gut Deutsch spricht, schon jahrelang hier lebt und arbeiten will.

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Verständnis und harsche Kritik im Gemeinderat

Die Kirchenbesetzung war gestern Abend auch im Zürcher Gemeinderat ein Thema. Verschiedene Fraktionen äusserten sich dazu. Als "unverantwortlich" bezeichneten es SP, Grüne und AL in einer gemeinsamen Fraktionserklärung, dass Regierungsrat Hans Hollenstein bisher die "faktische Nichtumsetzung" der Härtefallregelung gestützt habe.

Diese Regelung sei bewusst als Ergänzung für das verschärfte Gesetz geschaffen worden. Es sei nämlich absehbar gewesen, dass zahlreiche Menschen sonst in eine ausweglose Situation kämen. Ohne Ausweispapiere könnten sie nicht legal in der Schweiz bleiben - aber auch nicht legal ausreisen. Die Papierbeschaffung sei in vielen Fällen kaum möglich.

SVP ruft nach Polizei

Die Fraktionen forderten deshalb eine rasche Einsetzung der 2002 abgeschafften Härtefallkommission und eine sofortige Angleichung der Zürcher Richtlinien für die Behandlung von Härtefällen. Ganz anders sah es die SVP-Fraktion. Sie geisselte die Untätigkeit der Stadtpolizei. Es gebe keinen Anlass, einer Aktion wie der Kirchenbesetzung tatenlos zuzusehen. Die Polizei habe auch in solchen Fällen einzuschreiten, wie sie dies tue, wenn jemand etwa eine Standaktion ohne Bewilligung durchführe. Schliesslich forderte die SVP die Verzeigung eines der Organisatoren des Bleiberecht-Kollektivs, "mindestens" wegen Durchführung einer nicht bewilligten Aktion auf öffentlichem Grund.

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NLZ 8.1.09

Politischer Vorstoss

Sans-Papiers Fall für Bundesrat

Die Kirchenbesetzer streben auf politischem Weg eine Verbesserung ihrer Situation an. Und der SP-Nationalrat Andy Tschümperlin wendet sich an den Bundesrat.

Von Flavian Cajacob, Zürich

Fast drei Wochen nach Beginn der Besetzung der Predigerkirche im Zürcher Niederdorf sind die letzten 80 der ursprünglich 150 Sans-Papiers aus der Kirche St. Jakob, in der sie während der letzten drei Tage Gastrecht genossen haben, abgezogen.

Minimales Ziel erreicht

Mit der am Montag von Regierungsrat Hans Hollenstein angekündigten Schaffung einer "Härtefallkommission" sei ein minimales Ziel der Aktion erreicht worden, sagte ein Sprecher des Bleiberecht-Kollektivs, das die abgewiesenen Asylbewerber während der Kirchenbesetzung unterstützt hat. Nach wie vor kritisieren die Papierlosen den Umstand, dass Zürich die Nothilfe in Form von Migros-Gutscheinen (statt mit Bargeld) ausbezahlt und die Nothilfezentren im Wochentakt gewechselt werden müssen. Dies sei schikanös und führe bei den Betroffenen zu psychischen Problemen. Nun wolle man den Dialog mit den kantonalen Parteien suchen, um aufzuzeigen, dass mit der Umsetzung der Nothilfe im Kanton Zürich ein menschenwürdiges Dasein nicht möglich sei.

Vertreter von SP und Grünen hatten bereits in den letzten Tagen ihre Solidarität mit den Papierlosen bekundet. Ganz anders allerdings tönen die Signale bei FDP und SVP: "Ich weiss nicht, für was das gut sein soll", sagte Alfred Heer, Nationalrat und Vizepräsident der Kantonalzürcher SVP auf Anfrage. "Wir haben eine vom Volk abgesegnete Rechtsgrundlage, und die entscheidet, ob jemand in unserem Land bleiben kann oder ob er gehen muss. Dazwischen gibts kaum Spielraum."

Diesen "Spielraum" umschreibt konkret die so genannte Härtefallpraxis (siehe Kasten). Der Entscheid, ob ein abgewiesener Asylbewerber als Härtefall eingestuft wird, ist Sache der Kantone. Wie die Klausel angewendet wird und wie gross die Bereitschaft ist, ein entsprechendes Gesuch an den Bund weiterzuleiten, ist von Kanton zu Kanton unterschiedlich. Die Kirchenbesetzer werfen dem Kanton Zürich denn auch vor, dass er in Sachen Härtefälle eine äusserst rigide Praxis verfolge.

Tschümperlin reicht Vorstoss ein

Die Härtefallregelung bei den Sans-Papiers dürfte demnächst auch das Parlament in Bern beschäftigen. Der Schwyzer Nationalrat Andy Tschümperlin (SP) will in den nächsten Tagen eine Interpellation einreichen, in der er sich beim Bundesrat nach konkreten Zahlen und Erfahrungen mit der entsprechenden Regelung erkundigt. "Das Ganze ist ein äusserst komplexes Thema", betonte Tschümperlin gestern auf Anfrage, "ich will nun beispielsweise wissen, wie der Bundesrat die höchst uneinheitliche Umsetzung von Härtefallregelungen in den Kantonen beurteilt, und was unternommen werden kann, damit die Anwendung der Regelung inskünftig möglichst einheitlich ausfällt."

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Härtefälle

Letzte Chance für Abgewiesene

Seit 2007 können die kantonalen Migrationsämter abgewiesenen Asylbewerbern, die seit mindestens fünf Jahren in der Schweiz leben, in "schwer wiegenden persönlichen Härtefällen" eine Aufenthaltsbewilligung erteilen. Nötig ist dafür eine Zustimmung des Bundes. Kriterien sind u. a. die bisherige Aufenthaltsdauer, die Integration, die fehlende Möglichkeit der Wiedereingliederung im Herkunftsstaat oder die Respektierung der Rechtsordnung. Gesuchsteller müssen ihre Identität offenlegen.
fwc

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Tagesanzeiger 8.1.09

Wer überleben will, macht sich strafbar

Häne Stefan

Wie sieht der Alltag in den Notunterkünften für abgewiesene Asylbewerber aus? Ismail Faye aus Sierra Leone, seit vier Jahren illegal in der Schweiz, hat drei Quadratmeter Privatsphäre.

Von Dario Venutti

Kemptthal. - Das gute Leben liegt gleich in der Nähe und ist doch unerreichbar fern. Villen aus der Gründerzeit umsäumen die Notunterkunft in Kemptthal gegenüber dem Bahnhof. Im Eingangsbereich hängt ein Kulturveranstaltungskalender, der in diversen Sprachen, von Arabisch bis Albanisch, auf Ereignisse in der Stadt Zürich hinweist. Doch Ismail Faye war weder am Idaplatz-Fest noch je im Theater oder Kino.

Der 46-jährige Mann aus Sierra Leone ist einer von derzeit 400, die in den vier Notunterkünften des Kantons (Kemptthal, Adliswil, Uster, Altstetten) leben. Um ein Mindestmass an Ordnung und Sauberkeit aufrechtzuerhalten, müssen die Bewohner die Unterkunft selber reinigen. Wer in Kemptthal die Küche putzt, erhält sieben Franken. Wer die Gänge wischt, drei. Für die Bewohner ist das die einzige Möglichkeit, etwas Geld zu verdienen. Seit das neue Asylgesetz in Kraft ist, wird ihnen kein Bargeld mehr ausbezahlt, sondern sie erhalten Migrosgutscheine im Wert von 60 Franken wöchentlich.

Jede Woche eine andere Unterkunft

Ismail Faye dagegen darf kein Geld verdienen. Seit die Behörden vor vier Jahren nicht auf sein Asylgesuch eingetreten sind, lebt er illegal in der Schweiz. Deshalb wird von ihm gefordert, endlich auszureisen. Um ihm den Aufenthalt möglichst unattraktiv zu machen, darf er sich an den Arbeiten in der Notunterkunft nicht beteiligen. Und er muss die Unterkunft wöchentlich wechseln. Die letzte Woche verbrachte er in Altstetten, diese Woche lebt er in einem 18 m2 grossen Raum zusammen mit fünf andern abgewiesenen Asylbewerbern in Kemptthal. Am schlimmsten sei es in Uster, weil die Unterkunft unter der Erde liege und deshalb kein Tageslicht zu sehen sei. Als er dort einmal Atemprobleme hatte, musste er drei Tage warten, bis die Heimleitung einen Arzt rief, sagt Faye. Weil er sich illegal in der Schweiz aufhält, bekommt er nur in Notfällen ärztliche Hilfe.

Solche Zustände kritisierten das Bleiberecht-Kollektiv und die Sans-papiers während der Kirchenbesetzungen der letzten Wochen als menschenunwürdig. Gemäss einer Sprecherin des Rotes Kreuzes muss sogar eine vierköpfige Familie aus Tschetschenien seit zwei Jahren in einer Notunterkunft leben. Ruedi Hofstetter, Leiter des kantonalen Sozialamtes, will sich zu Einzelfällen nicht äussern. Er entgegnet lediglich, es sei im Sinne des neuen Asylgesetzes, dass Personen, die illegal in der Schweiz leben, das Land verlassen.

Ismail Faye würde am liebsten in die USA auswandern. Dort leben einige seiner Verwandten, die wie er vor dem Bürgerkrieg in Sierra Leone geflüchtet sind. Doch Faye besitzt keine Ausweispapiere, weshalb er die Schweiz nicht auf legalem Weg verlassen kann. Und die Schweiz kann ihn nicht nach Sierra Leone ausschaffen, weil kein Rückführungsabkommen besteht. Sein Leben besteht deshalb hauptsächlich aus Warten. Manchmal liest er in einer Bibliothek englische Zeitungen und Zeitschriften, vor allem den "Economist" und "Newsweek", "um mich auf dem Laufenden zu halten und geistig zu fordern", wie er sagt. Am liebsten würde er Bücher aus seinem Fach, der Geologie, lesen. Doch weil er keine amtlichen Dokumente besitzt, kann er sich auch keinen Bibliotheksleihschein beschaffen.

Gezwungen, schwarz zu fahren

Ismail Faye muss sich jede Woche zunächst beim Migrations- und dann beim Sozialamt melden, um die Nothilfe zu erneuern. Weil ihm die Behörden für die Reise vom Standort der Notunterkunft nach Zürich kein Ticket geben, hat er zwei Möglichkeiten: entweder fährt er schwarz, oder er geht zu Fuss. "Bei uns stapeln sich die Bussen von abgewiesenen Asylbewerbern, die ohne Ticket erwischt wurden", sagt die Sprecherin des Roten Kreuzes. Weil die Verlängerung der Nothilfe die Voraussetzung für die Migrosgutscheine sei, trieben die Behörden die abgewiesenen Asylbewerber in die Kriminalität. Die letzte Busse zahlte Ismail Faye ab, indem er so lange wöchentlich auf zwei Migrosgutscheine verzichtete, bis die 80 Franken beglichen waren.

Ismail Faye hat kürzlich nochmals einen Asylantrag in Bern gestellt. Das Echo auf die Kirchenbesetzungen hat ihn in seinem Glauben an ein Wunder bestärkt.

Die Behörden dagegen warten darauf, dass ihn der Alltag zermürbt und er freiwillig ausreist.

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Kirche St. Jakob: Besetzung beendet

Zürich. - Die Besetzer sind im Verlauf des gestrigen Tages aus der Kirche St. Jakob am Stauffacher ausgezogen, um "den weiteren Kampf für ein menschenwürdiges Leben" zu planen, wie die Vereinigung Bleiberecht-Kollektiv mitteilte. Ihre Aktion, die 19 Tage gedauert hat, wertet sie als Teilerfolg. Gar ein "konkretes Zugeständnis" sieht sie im Versprechen des zuständigen Regierungsrats Hans Hollenstein (CVP), sich für die Wiedereinführung einer Härtefallkommission einzusetzen.

Bürgerliche verweigern Diskussion

Die ohne Bewilligung in der Schweiz lebenden Ausländer suchen nun das Gespräch mit den Parteien. Es habe sich gezeigt, dass nur wenige Politiker über die Zürcher Praxis bei der Gewährung der Nothilfe informiert seien. "Wir hoffen, dass uns nicht nur die Linken, sondern auch die Bürgerlichen zu einer Unterhaltung empfangen werden", sagte ein Sprecher. Diese Hoffnung wird sich nicht erfüllen. Es gebe nichts zu diskutieren, sagt Alfred Heer, SVP-Nationalrat und Kandidat fürs Präsidium der Zürcher SVP. FDP-Präsident Beat Waltiortet bei seiner Partei keinen Informationsmangel. Einen offiziellen Empfang werde es nicht geben, zumal die Kirchenbesetzer mit ihrer Aktion im Freisinn keine Sympathien geschaffen hätten. Gespräche mit einzelnen Exponenten der FDP seien aber stets möglich.

Für Diskussionen sorgte gestern auch Hollensteins Aufforderung an den Bund, klarere Regeln für den Umgang mit den illegal Anwesenden zu schaffen - obschon beim Zürcher Migrationsamt längst ein Vorschlag aus Bern liegt (TA vom Mittwoch). Für den TA war Hollenstein nicht zu sprechen. Über CVP-Präsident Markus Arnold liess er jedoch ausrichten, er weile an einem Seminar in Interlaken. Es sei mitnichten so, dass er über die Arbeiten seiner Beamten nicht im Bild sei. Er habe vom Schreiben aus Bern gewusst, habe es aber absichtlich nicht erwähnt. In dieser Phase sei es üblich, die Vorschläge als vertraulich zu behandeln. Es sei jetzt an seinen Fachleuten, die Vorschläge zu prüfen. Erst dann komme die Politik zum Zug. (sth)

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NZZ 8.1.09

Die Sans-Papiers hoffen jetzt auf die politischen Parteien

Auszug aus Kirche St. Jakob - Offen bleibt, wie Regierungsrat Hollenstein seine Ankündigungen umsetzt

 Nach ihrer Kirchenbesetzung kündigen die Papierlosen an, ihren Kampf fortzusetzen. Die Aussagen des Regierungsrats lassen Fragen zur Rolle des Bundes und zu einer Härtefallkommission offen.

 fri.  Am Mittwoch sind die Papierlosen und die Aktivisten des Bleiberecht-Kollektivs aus der Zürcher Kirche St. Jakob am Stauffacher ausgezogen, wo sie seit Sonntag Gastrecht genossen hatten. Damit brachen sie ihre Aktion gegen die Asylpolitik des Kantons Zürich nach 19 Tagen ab. Zuvor hatten sie über zwei Wochen lang die Predigerkirche besetzt gehalten und dort mit der Kirchgemeinde zusammen Weihnachten gefeiert, bevor sie an den Stauffacher zogen und am Montag unter der Leitung des Kirchenratspräsidenten Ruedi Reich von CVP-Regierungsrat Hans Hollenstein zu einem Treffen empfangen wurden.

 Müdigkeit rundum

 Am Dienstagabend beredeten die Papierlosen laut einer Mitteilung bis tief in die Nacht ihr Vorgehen. Dabei waren sie sich offenbar uneins, wie sich bereits in den ersten Stunden abgezeichnet hatte (NZZ 7. 1. 09). Auf eine gewisse Ermüdung liess schliessen, dass just am Abend der Entscheidung niemand mehr das für die Presse eingerichtete Telefon abnahm, obwohl die Aktivisten zuvor praktisch rund um die Uhr professionell Auskunft gegeben hatten. Am Morgen danach war Müdigkeit auch in der Kirche auszumachen. Bei einem Augenschein um 9 Uhr schliefen zwei Dutzend Personen in Schlafsäcken und Wolldecken auf dem Boden. Laut der Gruppierung übernachteten 60 bis 80 Personen im Gotteshaus.

 Eine Mehrheit habe schliesslich einen Abzug beschlossen, heisst es im Communiqué. Nun wollen die Aktivisten zunächst auf anderem Weg für ihre Sache einstehen. Sie kündigten an, noch diese Woche die kantonalen Parteien um Gespräche anzufragen. Sie möchten den Politikern zeigen, dass für sie im Kanton "mit dem heutigen Regime kein menschenwürdiges Leben möglich ist".

 Bund bereits an präziseren Weisungen

 Das Bleiberecht-Kollektiv verlangt, Sicherheitsdirektor Hollenstein solle sich nicht länger hinter dem Bund, dem Gesamtregierungsrat oder dem Kantonsrat verstecken und gewisse Forderungen in eigener Kompetenz erfüllen. Hollenstein hatte zwar angekündigt, er werde einigen Mängeln in den Nothilfeunterkünften nachgehen und sich für die Wiedereinführung einer Härtefallkommission einsetzen. Dabei sprach er sich aber deutlich für zusätzliche Richtlinien des Bundes aus.

 Solche Bestrebungen sind seitens des Bundesamts für Migration allerdings bereits im Gange. So hat dieses der Vereinigung der kantonalen Migrationsbehörden (VKM) einen informellen Entwurf von Weisungen zur Beurteilung von Härtefällen zukommen lassen. Der Entwurf ist bereits vor der Kirchenbesetzung eingegangen, wie Bettina Dangel, Geschäftsführerin der Vereinigung und gleichzeitig Sprecherin des Zürcher Migrationsamts, bestätigte. Die Antwort der VKM, die demnächst erfolgen soll, betrifft laut Dangel unter anderem die für die Härtefall-Anerkennung erforderlichen Identitätspapiere. Der Kanton Zürich verlangt dazu einen Reisepass oder, bei gewissen Herkunftsländern, einen Nachweis, dass sich der Gesuchsteller um die Beschaffung von Papieren bemüht hat. Nähere Angaben zu den Anliegen der VKM waren nicht erhältlich. Die massgebliche politische Vernehmlassung bei den Departementen der Kantone folgt später.

 Was für eine Härtefallkommission?

 Wie sich Hollenstein eine neue Härtefallkommission vorstellt, führte er nicht aus. Bis im Frühjahr wolle sein Departement Vorschläge ausarbeiten, wurde verlautet. Geklärt werden muss bis dann, wer in der Kommission Einsitz nimmt, welches politische Gremium - Regierungsrat oder Kantonsrat - sie einberuft und welche Kompetenzen ihr überhaupt erteilt werden. In die Überlegungen einfliessen dürften die Erfahrungen, die der Kanton mit einer Härtefallkommission zwischen 1999 und 2002 gesammelt hatte. Die damalige Kommission war aufgrund eines SP-Postulats geschaffen und später unter SVP-Regierungsrätin Rita Fuhrer wieder abgeschafft worden. Ihr gehörten Vertreter von Gemeinden, Kirchen, Fremdenpolizei und Hilfswerken an. Die Abschaffung war von den elf Mitgliedern einstimmig beantragt worden.

 Schon damals spielte die Aufteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Kanton eine Rolle. Die Kommissionsmitglieder beklagten sich über zu wenig Kompetenzen und ihre lediglich beratende Funktion. Einzelfälle zu prüfen und Empfehlungen abzugeben, lag nicht in ihrer Befugnis. Fuhrer habe dem Gremium diese Kompetenzen nicht eingeräumt, meinten sie. Die Regierungsrätin erwiderte damals, der Bund gewähre dem Kanton gar keinen Spielraum. FDP, CVP und SP zeigten sich enttäuscht über die Abschaffung. Für die SVP hingegen war es ein "mutiger Entscheid". Seither stand die Kommission mehrmals auf der Traktandenliste des Kantonsrats, ohne jemals eine Mehrheit zu finden.

 Auch im Stadtparlament ein Thema

 Am Mittwochabend waren die Papierlosen zudem Thema im Stadtzürcher Gemeinderat. SP, Grüne und AL kritisierten in einer gemeinsamen Fraktionserklärung Hollensteins "faktische Nichtumsetzung" der Härtefallregelung. Diese sei als Ergänzung für das verschärfte Asylgesetz geschaffen worden. Die SVP beanstandete die "Untätigkeit" der Stadtpolizei; einer Kirchenbesetzung dürfe man nicht tatenlos zusehen.

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20min.ch 7.1.09

Kirchenbesetzung

"Die Leute verstehen uns jetzt besser"

von A. Mustedanagic und M. Gilliand

Nach 19 Tagen Kirchen-Besetzung haben die Sans-Papiers am Mittwoch ihre Aktion abgebrochen. Im Laufe des Nachmittages verliessen sie die Zürcher Kirche St. Jakob am Stauffacher. Doch ihr Kampf ist damit längst nicht beendet.

Die Vollversammlung der Sans-Papiers hatte sich am Dienstag bis tief in die Nacht beraten und entschieden: "Aktion wird abgebrochen". Ganz einig waren sie sich dabei aber nicht. "26 von uns wollten bleiben und weiter für die Aktion einstehen", sagt Ayat Marashi, einer der Besetzer. Man habe sich aber entschieden, mögliche Konfrontationen zu meiden und das weitere Vorgehen des Zürcher Regierungsrates Hans Hollenstein abzuwarten.

Der Vorsteher der Sicherheitsdirektion hatte den Besetzern nach einem Gespräch am Montag zugesichert, sich für eine Wiederbelebung einer kantonalen Härtefallkommission einzusetzen. Zudem sollen abgelehnte Härtefallgesuche noch einmal angeschaut werden. Die Besetzer feiern dies als "Teilerfolg": Die Missstände im Zürcher Migrationsamt seien an die Öffentlichkeit gelangt und hätten die nötigen Wogen geschlagen. "Jetzt ist die Zeit für all unsere anderen Anliegen gekommen", sagt Michael Raissig vom Bleiberecht-Komitee im Interview mit 20 Minuten Online.

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Info-Box

Härtefallkommission

Regierungsrat Hans Hollenstein, Vorsteher der Sicherheitsdirektion, sicherte den Besetzern am Montag zu, sich für die Wiederbelebung der 2002 abgeschafften Härtefallkommission einzusetzen. Aus welchen Behörden und Organisationen sie bestehen könnte und welches Gremium sie einberufen würde, liess er dabei offen.

Erste Kritik an der abgeschafften Kommission tat der Winterthurer Stadtpräsident Ernst Wohlwend in einem Interview mit dem "Landboten" kund. Er kritisierte, dass die Kommission "zahnlos" gewesen sei. Das Gremium müsse in Zukunft mit mehr Kompetenz ausgestattet werden, um etwas bewirken zu können.

Bereits im März 2007 hatte sich das Zürcher Kantonsparlament gegen eine Neuauflage der Kommission ausgesprochen.

(sda/amc)

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NEONAZIS CH
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Tagesanzeiger 8.1.09

Rechtsextremen drohen harte Strafen für Anschlag auf ein Asylheim

Nach einem feuchtfröhlichen Abend warfen sie einen Molotow-Cocktail gegen eine Aargauer Asylunterkunft. Nun ist die Untersuchung gegen die fünf jungen Täter abgeschlossen.

Von Thomas Knellwolf

Es geschah in der Nacht auf Ostern 2008. Um ein Uhr in der Früh flog ein Molotow-Cocktail gegen die Asylunterkunft von Stein im Fricktal. Die Glasflasche zerbarst am Rahmen eines Fensters des ersten Stocks. Benzin entzündete sich, lief die Fassade der früheren Bäckerei herunter und verbrannte.

Zum grossen Glück der schlafenden Asylbewerber verfehlte der nächtliche Werfer die Scheibe knapp. So entstand am Gebäude, in dem zum Tatzeitpunkt vierzig Personen untergebracht waren, nur geringer Sachschaden.

Rassistische Motive

Kurz nach dem Anschlag konnte die Aargauer Kantonspolizei die mutmasslichen Täter ermitteln und festnehmen. Es handelt sich um vier Männer und eine Frau. Vier von ihnen waren damals 17 Jahre alt, einer 20. Drei stammen aus dem aargauischen Fricktal, je einer aus den Kantonen Basel-Stadt und Baselland.

Gemäss Angaben der Kantonspolizei gestanden die rechtsextrem Gesinnten ihre Tat. Sie gaben an, ihr Anschlag sei rassistisch motiviert gewesen und spontan nach einem feuchtfröhlichen Abend erfolgt.

Vier kommen vor Jugendgericht

Das Bezirksamt Rheinfelden hat nun die Untersuchung in der Sache abgeschlossen. Demnächst übergibt es den Fall an die Aargauer Staatsanwaltschaft und an die Jugendanwaltschaft, die für vier der fünf Beschuldigten zuständig ist. "Aller Voraussicht nach kommt es zu einer Anklage wegen Brandstiftung", erklärt der Rheinfelder Bezirksamtmann-Stellvertreter Peter Schmid.

Entscheidet das Gericht, dass der einzige erwachsene Täter wissentlich Menschenleben gefährdet habe, sieht das das Strafgesetz eine Freiheitsstrafe von nicht unter drei Jahren vor. Unter gleichen juristischen Voraussetzungen hat auch ein Jugendgericht die Möglichkeit, Haft von bis zu vier Jahren zu verhängen. Die fünf Beschuldigten befinden sich momentan auf freiem Fuss.

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DROGEN
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WoZ 8.1.09

Drogen  - Die Bilanz des letzten Jahres zeigt einmal mehr: Die weltweite Prohibitionspolitik ist gescheitert. Es braucht neue Strategien.

Ein realer Krieg

Von Günter Amendt

Wer sagt, der "Krieg gegen die Drogen" sei verloren und die internationale Drogenpolitik auf der ganzen Linie gescheitert, sagt weder etwas Neues noch steht er alleine mit dieser Aussage. Weltweit verlangen Fachleute nach einer Kosten-Nutzen-Analyse der Uno-Drogenpolitik und nach Lösungen jenseits der vor fast hundert Jahren verhängten Drogenprohibition. Man muss ideologisch schon ziemlich verbohrt sein, wenn man nicht einsehen will, dass das sogenannte Drogenproblem neu zu definieren ist. Eine drogenfreie Welt zu versprechen, wie das in unzähligen Uno-Dokumenten noch immer geschieht, ist Ausdruck einer grotesken Verkennung der Wirklichkeit. Die Realitäten im Jahre 2008 sahen so aus: Es kursierten mehr Kokain, mehr Heroin, mehr Opium, mehr Haschisch und mehr Marihuana auf dem Weltmarkt als je zuvor. Von allen Schauplätzen wurden Rekordernten und Rekordumsätze gemeldet, wobei die kontinuierlich wachsenden Umsätze bei Pharmadrogen hier nicht einmal berücksichtigt sind.

Der "War on Drugs" ist ein realer Krieg und keine Metapher. Präsident Richard Nixon hatte 1971 dazu aufgerufen. In den Gremien der Uno fand er eine willige Gefolgschaft. Wie in kaum einem anderen internationalen Konfliktfeld ist es VertreterInnen der USA gelungen, eine grosse Koalition von JasagerInnen für ihre drogenpolitischen Vorstellungen zusammenzubringen. Prohibition und Repression bilden den Kern dieser Politik.

In diesem Krieg führen US-Geheimdienste die Regie. Die Operationen selbst werden zunehmend von privaten Militärfirmen durchgeführt. Im Rahmen dieser Operationen kommt es permanent zu Verstössen gegen das Völkerrecht und zu schweren Verletzungen von Menschenrechten. Wesentlicher Bestandteil der Kriegsführung sind, neben bewaffneten Operationen zu Lande, Gifteinsätze aus der Luft. In Lateinamerika sind Hunderttausende auf der Flucht vor Gift sprühenden Flugzeugen und Helikoptern, die nicht nur die Kokapflanzen, sondern - kollateral - auch Äcker, Brunnen, Vieh und Menschen vergiften. Ecuador hat angekündigt, seinen Nachbarn Kolumbien beim Haager Gerichtshof wegen dieser übergreifenden Gifteinsätze zu verklagen. Die Kokaökonomie bedroht den Regenwald unmittelbar. Sowohl bei der Herstellung der Droge wie beim Versuch, diese zu verhindern, werden hochtoxische Stoffe in rauen Mengen über riesige Flächen verteilt.

Überproduktion

Dieser Krieg fordert Menschenopfer. Ihre Zahl ist schwer zu ermitteln. Allein in Mexiko gab es vorletztes Jahr 2000 Kriegsopfer. 2008 waren es bereits über 4000: Drogenhändler, Polizistinnen, Soldaten und Zivilistinnen, die zwischen die Fronten gerieten. Ähnlich ist die Lage in Brasilien, Bolivien, Kolumbien und Ecuador.

In ihrem jüngsten Bericht vom November 2008 bestätigt die Europäische Drogenbeobachtungsstelle (EBDD) einen Trend, den sie schon in ihren vorangegangenen Berichten festgestellt und beschrieben hat: Kokain ist auf dem Weg zur Massendroge, und der Heroinkonsum in der EU nimmt "besorgniserregend" zu. Das aber heisst: Das Kriegsziel wurde verfehlt. Alle Kriegsanstrengungen waren vergebens. Dennoch wird dieser Krieg fortgesetzt und mit dem Nato-Beschluss intensiviert, notfalls mit Waffengewalt gegen afghanische Drogenbarone vorzugehen. Schliesslich dient der Drogenkrieg auch immer zur Sicherung von Einflusssphären.

Nach wie vor kommt die Hauptnachfrage aus den USA. Schon bald nachdem die beiden grossen kolumbianischen Kartelle von Cali und Medellín ihre Monopolstellung verloren hatten, verschob sich das Machtzentrum der Kokaökonomie in die mexikanisch-amerikanische Grenzregion. Mehr als neunzig Prozent des gesamten in den USA konsumierten Kokains sollen über Mexiko in die USA gelangen. In Mexiko beträgt der Wert eines Kilos Kokain um die 10 000 Dollar. Jenseits der Grenze, in den USA, hat das Kilo einen Wert um die 100 000 Dollar - trotz des Überangebots.

Auch die afghanische Opiumökonomie steckt in einer Überproduktionskrise. Hinter dem Rücken von Nato-Truppen wurde seit der Vertreibung der Taliban Schlafmohn in einem bis dahin nicht gekannten Ausmass angebaut und zu Opium beziehungsweise Heroin verarbeitet. Eine Rekordernte folgte der nächsten. Das rapide Anwachsen der afghanischen Drogenindustrie, die längst auch wieder Haschisch im Angebot hat, wurde in der Öffentlichkeit der Krieg führenden Nato-Staaten zwar registriert und kritisiert, unternommen wurde jedoch wenig. Untätigkeit und taktische Duldung des Mohn- und Kokaanbaus waren immer schon Bestandteil der Drogenkriegsstrategie, die in den ers ten Kriegsjahren von den US-Truppen auf der Jagd nach Al-Kaida-Mitgliedern strikt befolgt wurde. Auf diese Weise gelang es, Drogenbarone im Kampfgebiet zu Bündnispartnern zu machen.

Nun verkündet die Nato einen Strategiewechsel. Lagerhallen, Drogenlabors und die gesamte Infrastruktur der Distribution sollen künftig als Angriffsziele gelten. Wem dieser Strategiewechsel am Ende dient, ist offen. Ökonomisch führt der Militäreinsatz zu einer Marktbereinigung, einem Abbau der Überproduktion. Das treibt die Preise nach oben und dient den Interessen der am Markt verbliebenen Herstellerinnen und Händler. Andererseits können die in Afghanistan operierenden Nato-Truppen nicht länger ignorieren, dass die Taliban ihre Waffenbeschaffung und die Versorgung ihrer Kämpfer schätzungsweise zu drei Fünfteln aus den Einnahmen des Drogenhandels finanzieren.

Ob und wieweit es den Nato-Truppen gelingen wird, den Mohnanbau in Afghanistan einzudämmen, mag für den Verlauf des "War on Terror" von Bedeutung sein. Die Auswirkung auf den globalen Opiummarkt ist jedoch gering. Denn selbst wenn es der Nato gelänge, die Opium- und Heroinproduktion in Afghanistan auf null zu bringen, würden innerhalb kurzer Zeit neue Anbieter aus anderen Anbauregionen in die Marktlücke vordringen.

Dass der Krieg gegen die Drogen militärisch nicht zu gewinnen ist, räumen mittlerweile auch US-amerikanische Drogenkriegsstrategen ein. Sie fordern deshalb weitere flankierende Massnahmen. So soll die Bevölkerung in den Anbaugebieten mithilfe finanzieller Anreize motiviert werden, andere Agrarprodukte anzubauen. Die USA und die Uno haben erhebliche Mittel in solche Substitutionsprogramme gesteckt - ohne nachhaltige Wirkung. Denn es gibt kein gleichwertiges Agrarprodukt mit Absatzgarantie, das den Mohn (oder die Kokapflanze) ersetzen könnte. Die Erfahrungen in Lateinamerika zeigen, dass sich die Landbevölkerung mehr oder weniger bereitwillig in ein Substitutionsprogramm einspannen lässt, um etwas abseits neue Setzlinge hochzuziehen.

Auch das Hilfsprogramm "Mohn für Medizin" ändert nichts. Es sieht vor, die afghanische Mohnernte aufzukaufen, das Opium in Morphin umzuwandeln und die so gewonnenen Medikamente kontrolliert dort zu verteilen, wo das Medizinsystem nicht in der Lage ist, schmerzstillende Opiate zu beschaffen. Dagegen ist entwicklungs- und gesundheitspolitisch nichts einzuwenden, doch der illegale Markt bleibt davon unberührt. Denn ökonomisch handelt es sich nur um eine Erweiterung des sowieso bereits existierenden legalen Opiummarktes für medizinische Zwecke.

Neue Märkte

In den Medien wird zwar kontinuierlich über die jährlichen Zuwachsraten der afghanischen Opiumökonomie berichtet. Doch welchen Weg der Stoff nimmt und wo er am Ende landet, interessiert kaum. Das Heroinproblem wird im öffentlichen Bewusstsein nicht mehr als so bedrohlich wahrgenommen wie noch vor zehn Jahren. Es ist auch weniger sichtbar im öffentlichen Raum. Zwar gibt es noch immer in allen europäischen Staaten eine Heroinszene, die mit afghanischem Stoff beliefert wird, doch die Nachfrage stagniert. So waren die afghanischen Händler gezwungen, neue Absatzmärkte für ihre Überproduktion zu erschliessen - mit Erfolg. Ein erheblicher Teil des Stoffes floss in die benachbarten Staaten Pakistan, Indien und Iran und die südlichen Republiken der früheren Sowjetunion ab. Und ein Teil des Stoffes blieb im Lande selbst hängen. Es ist davon auszugehen, dass es in Afghanistan selbst mittlerweile einige Hunderttausend Opiatabhängige gibt. In den Ländern entlang der Schmuggelrouten breitet sich das HI-Virus dramatisch aus. Und nun schlägt der Angebotsdruck auf Europa durch.

Angesichts dieser Lage und der Bedrohung, die von ihr ausgeht, und vor dem Hintergrund eines sich ständig wiederholenden Scheiterns über Jahrzehnte hinweg, ist es nicht akzeptabel, dass das Drogenproblem auf eine sozial- und gesundheitspolitische Frage reduziert wird, während die Frage nach den Ursachen und den Antriebskräften ausgeblendet bleibt. Welche ökonomischen Mechanismen sind verantwortlich für das ständig wachsende Angebot und den Druck auf die Verbrauchermärkte? Das ist die entscheidende Frage. Sie führt direkt zu der Frage, ob es politisch noch zu verantworten ist, die Prohibition weiter aufrechtzuerhalten. Über dieser Frage liegt ein Denkverbot.

Weg vom alten Kulturkampf

Die Bilanz von 2008 bestätigt einmal mehr, dass es an der Zeit ist, das Scheitern der Prohibitionspolitik einzugestehen und nach neuen Strategien und Lösungsmöglichkeiten zu suchen. Es geht um Kriminalität, Korruption und das Vordringen des organisierten Verbrechens in die gesellschaftlichen Institutionen. Der legitime Anspruch einer Gesellschaft, die Verbreitung von Suchtmitteln so niedrig wie möglich zu halten, ist Ausgangspunkt aller Überlegungen. Auf der Suche nach einer Strategie, die diesem Anspruch genügt, muss die Aufhebung der Prohibition eine Option sein.

Ein derart radikaler Paradigmenwechsel ist politisch nur dann durchsetzbar, wenn die Risiken der neuen Strategie analysiert und öffentlich benannt werden. Nach Jahrzehnten einer phasenweise ideologisch hoch aufge ladenen Auseinandersetzung gilt es, sich vom Kulturkampf der sechziger und siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zu lösen wie auch von der Politik der Angst. Es ist der Tatsache Rechnung zu tragen, dass Menschen Drogen nehmen und nichts und niemand sie davon abhalten kann. Abs tinenz als gesamtgesellschaftliche Forderung ist weder durchsetzbar noch akzeptabel. Sie ist Ausdruck eines totalitären Denkens.

Eine solche Strategie, die alle Aspekte des Problems erfasst, muss erst noch erarbeitet werden. Ohne ein bestimmtes Lösungsmodell präjudizieren zu wollen, lässt sich schon heute sagen, dass die Aufhebung der Prohibition gesellschaftlich nur dann akzeptabel ist, wenn der Staat regulierende Rahmenbedingungen setzt und deren Einhaltung garantiert.

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Günter Amendt

Der Drogenexperte Günter Amendt lebt in Hamburg und schreibt seit langem für die WOZ. Sein neustes Buch heisst "Die Legende vom LSD" und erschien 2008 im Zweitausend eins-Verlag. 2003 veröffentlichte er das Buch "No Drugs. No Future" im Europa-Verlag. Der vorliegende Text basiert auf einem Vortrag, den Amendt Ende 2008 an einem Treffen der deutschen Linkspartei zur Drogenpolitik hielt.

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ANTI-ATOM
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Tagesanzeiger 8.1.09

"Ich kann trotz der Risiken der Kernkraftwerke ruhig schlafen"

Maise Felix


Als oberster Chef der neu organisierten Atomaufsicht muss Peter Hufschmied gleich drei Gesuche für neue AKW beurteilen. Das verlängere deren Bearbeitung, sagt er.

Mit Peter Hufschmied sprach Felix Maise

Herr Hufschmied, die Strombranche plant nicht weniger als drei neue AKW - in Gösgen, Beznau und Mühleberg. Macht das Sinn?

Es ist nicht Sache des Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats (Ensi), den energiepolitischen Sinn von drei gleichzeitigen Gesuchen zu kommentieren. Nach dem gesetzlichen Auftrag hat das Ensi die sicherheitstechnischen Aspekte der Rahmenbewilligungsgesuche zu prüfen.

Was beinhaltet dies?

Es wird primär eine Bewertung der Standorte bezüglich der Gefährdungen durch externe Ereignisse wie Erdbeben, Überflutungen oder extreme Wettereinflüsse sein. Daraus werden sich die standortspezifischen Anforderungen für die Projektierung der Anlagen ergeben. Eine Bewertung der verschiedenen Reaktortypen ist zu diesem Verfahrenszeitpunkt nicht vorgesehen.

Jahrelang lagen keine solche Gesuche vor, nun gleich drei. Ist dies für Sie ein Problem?

Die Gleichzeitigkeit von drei Gesuchen ist für das Ensi eine Herausforderung und verlängert die Zeit für deren Bearbeitung. Wir rechnen, dass wir voraussichtlich bis Mitte 2010 brauchen.

Wenn bei einem schweren Störfall aus dem AKW Beznau Radioaktivität entweicht und der Wind diese Richtung Zürich bläst, sind Sie als oberster Wächter über die Sicherheit der Anlage hauptverantwortlich für die Katastrophe. Können Sie angesichts solcher Risiken noch ruhig schlafen?

Ja. Ich kann trotz der Risiken ruhig schlafen. Denn erstens würde ein solches Ereignis nicht von einem Moment auf den anderen auftreten. Bis eine derart kritische Situation eintritt, braucht es eine längere Zeit, in der man reagieren und den Austritt von Radioaktivität verhindern kann. Und die Wahrscheinlichkeit, dass ein solches Ereignis eintritt, ist äusserst gering.

Die bisherige Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen (HSK) stand nicht im Verdacht, den AKW-Betreibern gegenüber sehr kritisch zu sein. Bringt die Neuorganisation eine schärfere Kontrolle?

Dass die HSK zu wenig kritisch sei, ist Ihre Einschätzung. Der Ensi-Rat wird auf eine kritische Haltung Wert legen und diese auch öffentlich dokumentieren.

Das grösste Problem der Atomenergienutzung ist derzeit wohl die ungelöste Abfallfrage. Halten Sie persönlich eine Stromproduktion, die jahrtausendelang strahlenden Müll hinterlässt, für nachhaltig?

Ja, ich halte die Kernenergienutzung für nachhaltig, auch verglichen mit anderen Energieformen. Denn ich bin überzeugt, dass wir für das Abfallproblem mit dem in der Schweiz entwickelten und auch im Ausland anerkannten Konzept der geologischen Tiefenlagerung mit der Möglichkeit der Langzeitüberwachung sichere Lösungen finden werden. Im Übrigen hat das Schweizervolk die Kernenergienutzung an der Urne wiederholt befürwortet und erwartet damit auch eine sichere Entsorgung. Das Ensi garantiert, dass das Konzept richtig umgesetzt wird.

Die Suche nach einem Schweizer Atommülllager dauert aber schon Jahrzehnte, ohne dass ein Standort in Sicht ist. Erschweren die AKW-Neubaupläne die Lösung der Entsorgungsfrage zusätzlich?

Natürlich gibt es Kreise, welche die zwei Fragen aneinanderkoppeln. Das ist aus meiner Sicht aber nicht richtig, denn die Lager brauchen wir unabhängig davon, ob es neue Kernkraftwerke gibt oder nicht.

Ohne die neuen AKW-Pläne wäre das politisch aber bestimmt einfacher.

Da bin ich nicht sicher.

Der Ruf der Nagra ist nicht unbestritten. An der Spitze dieser Genossenschaft der Werkbetreiber sitzt mit dem Glarner Ex-Regierungsrat Pankraz Freitag neu ein Axpo- Verwaltungsrat. Das zerstreut die Zweifel an der Arbeit der Nagra bestimmt nicht.

Ich glaube, dass die Nagra in Bezug auf ihre wissenschaftliche Arbeit eine hohe Anerkennung geniesst - auch international. Gleichzeitig bin ich froh, dass heute mit dem Sachplan zur Entsorgung nicht mehr die Nagra selber, sondern der Bund die politische Führung des ganzen Verfahrens übernommen hat. Die neue Kompetenzordnung ist ja auch das Resultat früherer, schlechter Erfahrungen etwa mit dem Standort Wellenberg.

Die Schweizer AKW-Szene ist klein und personell eng verflochten. Auch die meisten Atomkontrolleure kommen aus der Branche. Gibt es überhaupt genügend unabhängige Fachleute?

Die meisten Ensi-Mitarbeiter kommen aus der Forschung oder aus Industriebereichen, die mit der Kernenergie nicht direkt verbunden sind. Genügend qualifiziertes, unabhängiges Personal zu finden, ist aber tatsächlich eine der Herausforderungen, die wir im Ensi-Rat anpacken müssen.

Anordnungen der Atomaufsicht haben in der Regel einschneidende, finanzielle Folgen für die Werkbetreiber. Woher nehmen Sie die Gewissheit, Entscheide ohne Rücksicht auf wirtschaftliche Interessen fällen zu können?

Die nehme ich unter anderem aus der personellen Zusammensetzung des Ensi-Rates, die über jeden Zweifel erhaben ist und es erlauben wird, allen politischen und wirtschaftlichen Pressionen zu widerstehen. Gerade durch die neue Struktur hat das Ensi eine stärkere Position erhalten.

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Ein Ingenieur als oberster Kontrolleur

Um die Atomaufsicht von der Bewilligungsbehörde für Atomanlagen zu trennen, wurde die Hauptabteilung für die Sicherheit von Kernanlagen (HSK) am 1. Januar aus dem Bundesamt für Energie ausgegliedert und als Eidgenössisches Nuklearsicherheits-Inspektorat (Ensi) mit einem sechsköpfigen Aufsichtsrat verselbständigt.

Präsident des Ensi-Rats ist Peter Hufschmied. Der 59-Jährige ist selbstständiger Ingenieur und war zuvor Chef der Planungsfirma Emch+Berger. Darüber hinaus war Hufschmied 15 Jahre lang Mitglied der Kommission für Nukleare Entsorgung, 2004 bis 2007 als Präsident.

Die direkte Kontrolle der Atomanlagen üben die bisherigen Mitarbeiter der HSK aus, die alle ins Ensi übernommen wurden. Mit dem Umzug vom traditionellen Atomstandort Würenlingen ins nahe Brugg will das Ensi ab 2010 die neu gewonnene Unabhängigkeit auch geografisch unter Beweis stellen. (mai.)

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GAZA
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gsoa.ch

Demo gegen die Bombardierungen im Gaza-Streifen

Datum: 10.1.2009 um 14:30

Schützenmatte, Bern
Kontakt Email: bern@gsoa.ch  

Nach dem schrecklichen Angriff Israels auf den Gaza-Streifen finden auf der ganzen Welt Protestaktionen und Demonstrationen statt. Auch in der Schweiz wurden das Entsetzen und die Verurteilung der Lage im Nahen Osten mit regionalen Protestaktionen auf die Strasse getragen.

Am Samstag 10. Januar findet in Bern eine gesamtschweizerische Demonstration gegen diesen Krieg statt. Die GSoA wird diese Demonstration mit organisieren.

Besammlungsort für die Demo ist die Berner Schützenmatte (http://map.search.ch/bern/schuetzenmattstr.) um 14:30 Uhr. Der Demozug startet um 15 Uhr und führt via Bollwerk-Speichergasse-Nägeligasse-Kornhausplatz-Kramgasse-Kreuzgasse auf den Münsterplatz, wo die Schlusskundgebung stattfindet.

Sobald das Detailprogramm bekannt ist, wird es an dieser Stelle veröffentlicht.

File : Demoaufruf_Deutsch.pdf (97 KB) [Datei herunterladen]
http://www.gsoa.ch/phpcms/linkbase/file.php?id=850&index=0
File : Demoaufruf_Französisch.... (115 KB) [Datei herunterladen
http://www.gsoa.ch/phpcms/linkbase/file.php?id=850&index=1

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WoZ 8.1.09

Israel/Palästina-Mit der Bombardierung der palästinensischen Bevölkerung und mit dem Truppeneinmarsch in Gaza folgt die israelische Regierung einem Konzept, das bisher nie aufging. Und das auch diesmal kaum aufgehen wird.

Der Wahlkampfkrieg

Von Uri Avnery, Jerusalem

Kurz nach Mitternacht zeigte der arabische Sender al-Dschasira, was gerade im Gazastreifen geschieht. Plötzlich wurde die Kamera zum dunklen Himmel gedreht. Er war pechschwarz, es war nichts zu sehen, doch ein Geräusch zu hören: das erschreckende, entsetzliche Dröhnen von Flugzeugen. Es war unmöglich, nicht an die Zehntausende von Kindern im Gazastreifen zu denken, die dieses Geräusch im gleichen Augenblick auch hörten und die, gelähmt vor Furcht, auf das Fallen der Bomben warteten.

"Israel muss sich gegen die Raketen verteidigen, die unsere südlichen Städte terrorisieren", verkündeten israelische Sprecher. "Die Palästinenser müssen auf das Töten ihrer Kämpfer reagieren", erklärten Hamas-Sprecher. Und alle Welt spricht von einer Feuerpause, die es nie wirklich gegeben hat.

Das Wichtigste an einer Feuerpause im Gazastreifen hätte die Öffnung der Grenzübergänge sein müssen. Ohne einen ständigen Versorgungsfluss gibt es im Gazastreifen kein Leben. Aber die Grenzübergänge waren - abgesehen von ein paar Stunden - nicht geöffnet. Die Blockade des Gazastreifens mit seinen anderthalb Millionen Menschen ist eine Kriegshandlung, genauso schlimm wie Bomben und Raketen. Sie lähmt das Leben: Sie zerstört Einkommensgrundlagen und bringt Hunderttausende an den Rand des Hungers, Krankenhäuser hören auf zu funktionieren, Strom und Wasserzufuhr sind unterbrochen.

Der Vorwand

Wer die Schliessung - egal unter welchem Vorwand - befohlen hat, wusste, dass es unter diesen Umständen keine wirkliche Feuerpause geben konnte. Hinzu kamen kleine Provokationen. So wurde nach mehreren Monaten, während deren kaum Kassam-Raketen abgefeuert worden waren, eine israelische Armee-Einheit in den Gazastreifen gesandt, um "einen Tunnel zu zerstören, der nah an den Grenzzaun" herankam. Aus rein militärischer Sicht wäre das Legen eines Hinterhalts auf israelischer Seite sinnvoller gewesen. Aber das Ziel war, einen Vorwand für die Beendigung der Feuerpause zu finden - und zwar auf solche Weise, dass den PalästinenserInnen die Schuld dafür gegeben werden konnte. Und tatsächlich: Nach mehreren solchen kleinen Aktionen, bei denen Hamas-Kämpfer getötet wurden, rächte sich die Hamas mit massivem Raketenbeschuss. Die Feuerpause war beendet, und siehe da: Alle gaben der Hamas die Schuld.

Was aber war das Ziel? Die israelische Aussenministerin Tsipi Livni verkündete es offen: die Beseitigung der Hamas-Herrschaft im Gazastreifen. Die Kassam-Raketen dienten nur als Vorwand. Dabei ist es kein Geheimnis, dass die israelische Regierung die Hamas anfänglich mit aufbaute. Als ich einmal Yacob Peri, einen früheren Chef des israelischen Inlandgeheimdienstes Schin Bet, dazu befragte, gab er die rätselhafte Antwort: "Wir haben sie nicht geschaffen, aber wir behinderten auch ihre Entstehung nicht."

Jahrelang haben die israelischen Behörden die islamische Bewegung in den besetzten Gebieten klar begünstigt. Waren andere politische Aktivitäten hart unterdrückt, konnte die islamische Bewegung in den Moscheen frei arbeiten. Das Kalkül war einfach und naiv: Damals wurde die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO als Hauptfeind betrachtet, Jassir Arafat war der Satan. Die islamische Bewegung predigte gegen die PLO und gegen Arafat und galt daher als Verbündete.

Mit dem Ausbruch der ersten Intifada 1987 nahm die islamische Bewegung offiziell den Namen Hamas an und schloss sich dem Kampf an. Selbst dann unternahm der Schin Bet fast ein Jahr lang nichts gegen sie, während Mitglieder der grössten PLO-Fraktion Fatah in grosser Zahl exekutiert oder verhaftet wurden. Erst nach einem Jahr wurden auch Hamas-Mitgründer Scheich Ahmed Jassin und seine Kollegen verhaftet.

Mittlerweile ist die Hamas der Satan. Eine wirklich an Frieden interessierte israelische Regierung hätte der Fatah-Führung und den PalästinenserInnen weitreichende Zugeständnisse gemacht. Sie hätte die Besatzung beendet, einen Friedensvertrag unterzeichnet, die Gründung eines palästinensischen Staates akzeptiert, sich auf die Grenzen von 1967 zurückgezogen, einer vernünftigen Lösung für das Flüchtlingsproblem zugestimmt, die Gefangenen entlassen. All das hätte der Hamas Einhalt geboten.

Doch nichts davon geschah - im Gegenteil. Nach dem Mord an Arafat nannte der damalige israelische Premierminister Ariel Scharon den Arafat-Nachfolger Mahmud Abbas ein "gerupftes Huhn". Der glaubwürdigste Fatah-Führer Marwan Barghuti wurde auf Lebenszeit ins Gefängnis geschickt; statt einer grosszügigen Gefangenenentlassung gab es belanglose und beleidigende "Gesten"; Abbas wurde systematisch gedemütigt. Und die Hamas errang bei den palästinensischen Wahlen 2006 - den demokratischsten Wahlen, die je in der arabischen Welt abgehalten wurden - einen überwältigenden Sieg. Israel boykottierte die gewählte Regierung. Beim folgenden internen Kampf gewann die Hamas die Macht im Gaza streifen.

Achtzig Tote für einen Sitz

Offiziell heisst der laufende Krieg "Gegossenes Blei". Genauer wäre die Bezeichnung "Wahlkampfkrieg". Militäraktionen in Wahlkampfzeiten (im Februar wird in Israel gewählt) haben Tradition: Während des Wahlkampfs 1981 liess Ministerpräsident Menachem Begin eine irakische Atomanlage bombardieren, im Wahlkampf 1996 befahl Regierungschef Schimon Peres eine Invasion des Libanon. Nach Beginn des jetzigen Krieges gewann laut Umfragen die Arbeitspartei von Verteidigungsminister Ehud Barak innert 48 Stunden fünf Knessetsitze dazu. Das macht achtzig tote PalästinenserInnen pro Sitz. Aber ein solcher Erfolg kann sich rasch wieder in Luft auflösen: Wenn der Krieg von der israelischen Öffentlichkeit als Fehlschlag betrachtet wird. Oder wenn die Bodenoffensive zu vielen israelischen Gefallenen führt.

Der Zeitpunkt wurde auch nach anderen Gesichtspunkten sorgfältig gewählt: Über Neujahr sind viele westliche PolitikerInnen in den Ferien, ausserdem regiert in Washington immer noch George Bush und unterstützt den Krieg enthusiastisch. Sein Nachfolger Barack Obama schweigt mit dem Vorwand: "Es gibt nur einen Präsidenten." Sein Schweigen lässt für seine Amtszeit nichts Gutes ahnen.

Israels Kriegskonzept ähnelt jenem des zweiten Libanonkriegs, dessen Fehler - so wird endlos beteuert - nicht wiederholt werden sollen: Die zivile Bevölkerung wird durch unablässige Luftangriffe terrorisiert, was die Piloten nicht gefährdet. Wenn die Infrastruktur des Gazastreifens völlig zerstört ist und Anarchie herrscht, so das Kalkül, werde sich die Bevölkerung erheben und das Hamas-Regime stürzen.

Im Libanon ist diese Rechnung nicht aufgegangen. Dort hat sich die bombardierte Bevölkerung, inklusive der christlichen Minderheit, hinter die Hisbollah geschart. Etwas Ähnliches wird auch jetzt geschehen.

Das Experiment

Vor einiger Zeit schrieb ich, die Gaza blockade sei eine Art Experiment: Wie weit kann man eine Bevölkerung aushungern und ihr Leben zur Hölle machen, bevor sie dem Druck nachgibt? Bisher ist das Experiment trotz grosszügiger Unterstützung von Europa und den USA nicht gelungen. Die Hamas wurde stärker, die Reichweite der Kassam-Raketen nahm zu. Der derzeitige Krieg ist eine Fortsetzung des Experiments mit andern Mitteln.

Tag für Tag und Nacht für Nacht sendet der arabische Kanal von al-Dschasira grauenhafte Bilder: verstümmelte Leichen, weinende Angehörige; eine Frau zieht unter den Trümmern ihre junge Tochter hervor; Ärzte ohne Medikamente versuchen, Verletzte zu retten. Der englischsprachige Al-Dschasira-Kanal zeigt dies nicht. Warum?

Millionen sehen die Bilder, die sich ihnen für immer ins Gedächtnis einprägen: schreckliches Israel, abscheuliches Israel, unmenschliches Israel. Eine ganze Generation von Hassenden wird her anwachsen. Das ist der schreckliche Preis, den wir bezahlen werden, wenn die israelische Öffentlichkeit den Krieg längst vergessen haben wird.

Und noch etwas wird sich tief eingraben: das Bild der erbärmlichen, korrupten, passiven arabischen Regime. Und die Mauer der Schande an der Grenze zu Ägypten. Hier ist die einzige Öffnung zur Welt, die nicht von Israelis beherrscht wird. Nur von hier können Nahrungsmittel und Medikamente kommen, doch die ägyptische Armee hält den Durchgang geschlossen.

Dies wird Konsequenzen haben. Die Nachfahren des ägyptischen Staatsgründers Gamal Abdel Nasser und von Jassir Arafat, eine ganze von der Idee eines säkularen arabischen Nationalismus beseelte Generation, werden von der historischen Bühne gefegt. Übrig bleibt im arabischen Raum nur eine einzige Alternative: die des islamischen Fundamentalismus.


Der israelische Friedensaktivist Uri Avnery, geboren 1923, schreibt regelmässig in der WOZ.