MEDIENSPIEGEL 12.4.09
(Online-Archiv: http://www.reitschule.ch/reitschule/mediengruppe/index.html)

Heute im Medienspiegel:
- Reitschule-Kulturtipps (DS)
- Progr: GFL + SVP gegen "Künstlerlobby"
- Biel: Trip-huus droht Räumung
- Drogenszene Solothurn
- Heroin: Repression wirkungslos
- Burgdorf: Courage-Stapi-Zäch zur Pnos-Demo
- Asyl GL: Wenige Härtefälle anerkannt
- Analyse Nato-Gipfel
- Frankreich: Jagd auf Patrons
- Bizarre BKA-Pläne gegen RAF
- Anti-Atom: Profit für Atomendlager-Region

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REITSCHULE
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So 12.04.09
22.00 Uhr - SousLePont - Bleesch BE, Rock PLATTENTAUFE, Support: Gsprächstoff BE, Rap/Pop
22.00 Uhr - Dachstock - CunninLinguists USA, Substantial USA, DJ Draker
18.00 Uhr- Rössli - Piano-Bar

Mi 15.04.09
19.00 Uhr - SousLePont - BeNeLux Spezialitäten
21.00 Uhr - Rössli-Bar - BIT-TUNER - Konkret / Electronica

Do 16.04.09
20.30 Uhr - Kino - Tangos - el Exilo del Gardel, F.E. Solanas, ARG 1985, OV/df, 119min, 35mm
21.00 Uhr - Dachstock - Zeni Geva JAP - Maximum Metal-Core
22.00 Uhr - SousLePont - Früchte des Zorns, Geigen-Punk

Fr 17.04.09
20.30 Uhr - Tojo - TITTANIC - die Sechste Der Quotenknüller!
21.00 Uhr - Kino - Màs Tango, A. Hannsmann, S. Schnabel, D/Arg 2006, OV/d, 56min, dvd
22.00 Uhr - Frauenraum - Festmacher&Frauenraum präsentieren: TECHTELMECHTEL@FRAUENRAUM mit: TAMA SUMO Ostgut Ton, Panaroma-bar Resident, Berlin; DJ GIRLBE BE; COLETON live BE BERRYBEATlive* ARIELLE* MYRIELLE EXPRESS* BONNIE HILL* La FÉE VERTE *) Festmacher, BE - Electro
23.00 Uhr - Dachstock - DJ Krush JAP - Hip Hop/Breakbeats/Electronica

Sa 18.04.09
21.00 Uhr - Kino - Tango Lesson, S. Potter, GB/F 1996, OV/df, 100min, 35mm
23.00 Uhr - Dachstock - Dachstock Darkside: Loxy Cylon/Renegade Hardware/uk Deejaymf cryo.ch VCA Biotic Recs Antart - Drum'n'Bass

So 19.04.09
18.00 Uhr - Rössli - Piano-Bar

Infos: www.reitschule.ch

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kulturstattbern.derbund.ch 12.4.09

Never Ever Say Never Again

Von Gisela Feuz um 12:30    [ Rock & Pop ]

Unter dem Motto "Back in Black" betraten die vier Herren von The Never Evers gestern die Dachstockbühne. Als Intro wurden denn auch die ersten Riffs des AC/DC-Brüllers angestimmt, was daraufhin folgte, hatte allerdings mit Hardrock herzlich wenig zu tun.

"PowerSuperCatGarageStompSound" nennen es die vier adrett gekleideten Never Evers, was sie da ihren Instrumenten abnötigen und Power hatte das ganze tatsächlich ordentlich. Da wurde wild mit den Augen gerollt, mit Gitarren und Bass gekonnt aus der Hüfte geschossen und eptileptische Verrenkungen erster Güte praktiziert, kurz: grosses Rock'n'Roll Kino veranstaltet, während dazu dem Publikum äusserst tanzbarer Garagen-Surf-Rock um die Ohren gehauen wurde.

Man wünschte sich gestern doch glatt, die Herren mögten ihr Alters- und Pflegeheim in Untererlinsbach ein Bisschen öfter verlassen. Wer weiss, vielleicht tun sie das in Zukunft ja auch, denn offiziell aufgelöst hat man sich ja trotz jahrelanger Pause und exklusiven "one time Reunion Gigs" nie wirklich. Man darf also hoffen.

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PROGR
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Bund 11.4.09

Nun moniert auch die GFL Unregelmässigkeiten bei der Progr-Abstimmung - für den Berner Stadtpräsidenten Alexander Tschäppät (sp) ist die Kritik politisch motiviert

Neuer Wirbel um Progr-Vorlagen

Die Progr-Vorlage sei vom Ratsbüro übermässig abgeändert worden, sagt die GFL. Die SVP zieht ihre Beschwerde gegen die Abstimmung ans Verwaltungsgericht weiter.

Bernhard Ott

Noch ist unklar, ob das Volk am 17. Mai überhaupt über die Zukunft des Progr abstimmen kann. Die SVP ist nach wie vor gewillt, den von Statthalterin Regula Mader (sp) erwirkten Entzug der aufschiebenden Wirkung ihrer Beschwerde gegen die Abstimmung vor Verwaltungsgericht anzufechten, sagt Stadtrat Peter Bernasconi. Die SVP kritisiert, dass der Stadtrat gar nicht befugt gewesen sei, dem Volk eine Alternativabstimmung vorzulegen. Eine allfällige Vergabe des Progr an die Künstler würde gegen übergeordnetes Recht verstossen. Zudem fehlten im Abstimmungsbüchlein wichtige Informationen.

Das Vorgehen bei der Aufgleisung der Progr-Vorlage wird nun aber auch von rot-grüner Seite kritisiert. "Es gibt keinen Stadtratsbeschluss, dem Volk eine Alternativabstimmung vorzulegen", sagt Stadtrat Daniel Klauser (gfl). Das Stadtparlament habe über einen Gemeinderatsantrag zur Durchführung einer Variantenabstimmung entschieden. Das Ratsbüro habe daraufhin den Begriff "Variantenabstimmung" in "Alternativabstimmung" abgeändert. Klauser räumt ein, dass es um eine "Spitzfindigkeit" gehe, da der Gemeinderat seinen Antrag bloss falsch betitelt habe.

Druck von der Künstler-Lobby?

 Klauser moniert zudem, dass das Ratsbüro zumindest in einem Fall einen vom Rat verabschiedeten Abänderungsantrag der Abstimmungsbotschaft nicht vollständig berücksichtigt habe. Die GFL habe nichts gegen das Künstler-Projekt: "Aber das ganze Geschäft wurde von A bis Z chaotisch aufgezogen." Der Jungpolitiker zeigt sich erstaunt, dass die Stadt trotz den Unregelmässigkeiten am Abstimmungstermin vom 17. Mai festhalten wolle und vermutet einen "gewissen politischen Druck" hinter diesem Vorgehen. Auch SVP-Stadtrat Bernasconi vermutet, dass "jemand politisch Druck ausübt". Es gebe sonst keinen stichhaltigen Grund, am Abstimmungstermin festzuhalten, meint Bernasconi. Vom frühen Abstimmungstermin würden jedenfalls nur die Künstler profitieren. "Bei einem Ja zum Künstlerprojekt entsteht ein moralischer Druck, den juristischen Kampf gegen das unsorgfältig eingefädelte Geschäft einzustellen", sagt Bernasconi.

"GFL will Progr bodigen"

Stadtschreiber Jürg Wichtermann bestätigt, dass das Ratsbüro den Begriff "Variantenabstimmung" in "Alternativabstimmung" abgeändert habe. Dabei handle es sich aber um eine "terminologische Spitzfindigkeit", die Korrektur eines "groben Schreibfehlers". Die Abänderung des Begriffes sei "rechtlich einwandfrei", da der Stadtrat inhaltlich über eine Alternativabstimmung befunden habe. Stadtpräsident Alexander Tschäppät (sp) weist darauf hin, dass die GFL die Progr-Abstimmung ohnehin bodigen wolle und nun alles unternehme, um ihr Ziel zu erreichen. Es mache keinen Sinn, nun "Verschwörungstheorien" zu entwickeln. "Lasst doch das Volk endlich entscheiden", sagt Tschäppät. Im Übrigen habe sich der Gemeinderat ursprünglich für das Gesundheitszentrum der Allreal ausgesprochen. "Wenn der Stadtrat unserem Antrag gefolgt wäre, gäbe es jetzt keine Diskussionen", sagt Tschäppät.

Allreal-Sprecher Matthias Meier bestätigt, dass die Stadt der Firma einen möglichst baldigen Abstimmungstermin in Aussicht gestellt habe. Der Termin vom 17. Mai sei aber nicht vertraglich vereinbart. "Ein solches Hin und Her wie in der Stadt Bern haben wir noch nie erlebt", sagt Meier.

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SQUAT BIEL
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Indymedia 12.4.09

KEINE RÄUMUNG! KEIN ABBRUCH AUF VORRAT! ::

AutorIn : Kollektiv Trip-huus         

Stellungsnahme des autonomen Freiraums Trip-huus     

Bis jetzt haben wir versucht gemeinsam mit der Stadt Biel Lösungen zu finden. Wir haben uns damit zufrieden gestellt bis zum ersten August das Gelände zu verlassen und sind auch auf ihre Forderung, die Bauwägen zu entfernen, eingegangen.

Nun wollen sie uns aber einen Vertrag aufzwingen, der ein Ende unserer kulturellen und sozialen Aktivitäten bedeuten würde, was unser Hauptanliegen ist bei der Nutzung dieser Liegenschaft. Es ist vor allem auch ein Versuch unser alternatives Vorgehen zu sabotieren und uns auf  repressive Weise zu kontrollieren. Dazu waren sie nicht bereit diesen Vertrag mit uns auszuarbeiten. Aus all diesen Gründen haben wir kollektiv beschlossen nicht mehr darauf einzugehen.

Deshalb hat die Stadt Biel, vertreten durch ihren Anwalt, Lorenz Fellmann nun ein Räumungsgesuch beim Bezirksrichter gestellt.

Seit fünf Monaten organisieren wir jedes Wochenende verschiedene Veranstaltungen und einmal in der Woche eine Volksküche. Dadurch ist das Trip-huus inzwischen zu einem festen Bestandteil des kulturellen Angebots in Biel geworden. Somit kann dieser Ort nicht einfach für einen nutzlosen Abbruch verschwinden und wir können uns auf die Unterstützung unserer zahlreichen BesucherInnen verlassen, um diesen alternativen Freiraum zu erhalten.

Wir fordern erneut, dass die Gebäude am Tulpenweg 4,6,8,12 und 14 nicht abgerissen werden, bevor ein konkretes Bebaungsprojekt existiert und dass bis dahin die Liegenschaft  für ein alternatives Kultur- und Wohnprojekt benutzt werden kann.

Kämpft mit uns! Kommt an die Versammlung vor dem Stadtrat für die Übergabe der Petiton am 23. April 2009 um 17 Uhr 30!Kommt an die Reclaim the Streets am 16. Mai 2009 um 14 Uhr beim Gaskessel! Trip-huus bleibt!

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DROGENSZENE SOLOTHURN
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Berner Rundschau 11.4.09

Drogengeschäft floriert öffentlich

Anwohner ärgern sich über die unverhohlenen Drogendeals auf Solothurns Strassen

Am Landhausquai und in der Vorstadt in Solothurn wird gedealt, was das Zeug hält. Daran stören sich die Anwohner. Fast mehr noch stören sie sich aber an der Untätigkeit der Polizei.

Regula Bättig

"Jugendliche kommen hier in Solothurn einfacher an Kokain oder Speed ran als an Zigaretten", sagt Roland F.* Stammtischgepolter, könnte man meinen. Doch F. kann seine Aussage erhärten, als Insider und guter Kenner der Szene weiss er, was am Quai abgeht - ob er nun will oder nicht. "Die Dealer da draussen scheren sich einen Scheiss um das Alter ihrer Kunden", stellt er fest. Derweil sehe es bei den Zigaretten ganz anders aus: "Wer unter 16 ist, kriegt so schnell keine Zigi. Noch nicht mal an einem Automaten, denn ohne Jeton läuft ja nichts mehr."

Zeiten ändern, Dealer bleiben

In Rage bringt ihn nicht nur der Umstand, dass sich selbst Schüler "am Mürli" mit Kokain, Ecstasy oder anderen Drogen eindecken können: "Diese Typen gehen hier seit Jahr und Tag ihrem dreckigen Business nach - völlig unbehelligt durch die Polizei."

 Tatsächlich sind die meisten Dealer am Landhausquai bekannt. Wie zum Beweis schlendert ein dunkelhaariger Mann freundlich winkend an der Fensterfront vorbei. Gut gekleidet, das Telefon am Ohr. "Mr. Big", stellt F. fest: "Immer freundlich, immer busy." Auch andere haben längst einen Spitznamen, schmeichelhaft ist keiner. Kurz darauf geht "Mr. Big" wieder vorbei. Einen zweiten Mann an seiner Seite, scherzend, lachend. "So funktionieren die Deals", erklärt F. "Völlig unspektakulär." Kein verschämtes Rumkramen also, keine gestressten Kontrollblicke.

 Noch nicht mal die Kundschaft ist auffällig: "Schüler, Büezer, Banker, Ärzte; den wenigsten sieht mans an." Tagsüber laufe daher kaum etwas, "richtig los gehts kurz nach 16 Uhr".

Heute gefilzt, morgen zurück

"In den letzten zehn Jahren hat sich hier rein gar nichts verändert", findet der Langzeit-Beobachter. Was ihn nicht weiter erstaune, denn die Polizei sehe man am Landhausquai kaum je. "Ausser man ruft sie her." Wobei man dies besser nicht allzu häufig tue. "Sonst wird man nicht mehr ernst genommen - oder es wird einem zu verstehen gegeben, dass man nervt." Auch komme es vor, dass man mehrere Stunden auf die Streife warten müsse. Er bemängelt auch, dass man den Polizisten einzelne Delinquenten zeigen könne, derartige Hinweise aber meist ignoriert würden. "Aber was solls. Die Leute sind ja eh schon tags darauf wieder im Geschäft." Das sei selbst dann der Fall, wenn man den Beamten auch die "Bunker" zeigen könne - eines jener Lager im Freien, aus denen die Drogen nach und nach verkauft werden. Dabei wäre es ein Leichtes, dem Problem Herr zu werden, findet F.: "Regelmässige Polizeipräsenz, mehr braucht es gar nicht." Doch der Wille, etwas zu verändern, fehle. "Würden die Deals aber an der Hauptgasse oder in einem der schicken Wohnquartiere laufen, dann ginge es ruckzuck."

Mal schlimmer, mal besser

Der Frust beschränkt sich jedoch nicht auf die Nordseite der Aare. Denn die Dealer, die sind bekanntlich auch in der Vorstadt. Während allerdings der Landhausquai fest in der Hand der (eher unauffälligen) Nordafrikaner ist, gilt die Vorstadt als schwarzafrikanisches Revier, und diese fallen nun mal stärker auf. So realisieren auch Ortsfremde sofort, was in und um die Vorstadt herum abgeht. Doch scheint das Geschäft mit den Drogen hier stärkeren Schwankungen unterworfen zu sein als am Landhausquai. "Mal ists schlimmer, mal ists besser", heisst es immer wieder. Und momentan? Seis mal wieder schlimmer.

 Gleich wie am Landhausquai kennen auch hier jene, die im Quartier leben oder arbeiten, jene, die dealen. Und sie wissen Bescheid über die Gepflogenheiten der Szene: Zwar spiele sich vieles nach Sonnenuntergang und in eher versteckten Ecken ab, doch scheint es auch hier ein "Highnoon" zu geben. "Donnerstags ab 16 Uhr", berichtet ein unfreiwilliger Beobachter, wie er sich selber nennt. Dann jeweils kämen grössere Lieferungen in Solothurn an. Von packenweise weissem Pulver ist die Rede. "Es sind die immer gleichen Autos, die immer gleichen Leute. Doch die Polizei unternimmt nichts." Das Berner Nummernschild reiche scheinbar schon, dass die Polizei kapituliere.

* Name der Redaktion bekannt

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Stadtpolizei: "So ist unser Rechtssystem"

Es sind happige Vorwürfe, die da beidseits der Aare geäussert werden. Doch an Peter Fedeli, Kommandant der Stadtpolizei, prallen diese ab. "Wir patroullieren sehr wohl", hält er fest. "Mal in Uniform, mal in Zivil. Mal gemeinsam mit Kantonspolizei, mal alleine." Zudem gelte für Landhausquai und Vorstadt der genau gleiche Auftrag wie für die Hauptgasse. Nur: "Wenn eine Person kontrolliert wird, die tatsächlich <nicht sauber> ist und mit auf den Posten genommen wird, sind die betreffenden Polizisten gut und gerne zwei Stunden beschäftigt", sagt Fedeli. "Natürlich sind die dann auch nicht mehr auf der Gasse anzutreffen."

 Dass Dealer, die gestern kontrolliert wurden, schon heute wieder aktiv sind, ärgert bisweilen auch den Kommandanten der Stadtpolizei. "Aber so ist unser Rechtssystem: Die Leute werden einvernommen, sie unterschreiben das Protokoll und können den Posten verlassen." Dieses Rechtssystem macht es der Polizei auch nicht einfach, wenn sie einen "Bunker" entdeckt. "Wenn wir den Zusammenhang zwischen Person und Stoff nicht hieb- und stichfest nachweisen können, ist es gelaufen."

 Auch sei es schwierig, dem Problem mit vermehrter Präsenz oder Kontrollen Herr zu werden. "Wenn wir den Landhausquai stark kontrollieren, haben wir die Dealer in der Vorstadt und umgekehrt. Das läuft dann auf ein Katz-Maus-Spiel raus." Optimal sei die Situation in den beiden Quartieren sicher nicht. "Die Toleranz ist grösser geworden", glaubt Fedeli. "Es gehört halt einfach dazu, die Leute haben sich daran gewöhnt." Oder wie es ein Vorstädter sagt: "Irgendwann resigniert man einfach. Man mag sich noch nicht einmal mehr aufregen." (rb)

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HEROIN
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Sonntagszeitung 12.4.09

Repression ist wirkungslos

Polizei beeinflusst Heroin-Abhängige nicht

Zürich Heroinabhängigkeit und -konsum werden durch den Preis oder die Polizeiaktivitäten nicht beeinflusst. Dies zeigt eine neue Studie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich.

Die Untersuchung widerspricht vorab bürgerlichen Gesundheitspolitikern. Diese sind überzeugt, dass die tolerante Schweizer Drogenpolitik zu mehr Süchtigen führt. Als die Heroinpreise vor vier Jahren sanken, fürchtete auch das Bundesamt für Gesundheit (BAG), dass dies zu mehr Neueinsteigern führen könnte. Diese Thesen widerlegen die Autoren Carlos Nordt und Ruedi Stohler.

Die Zahl der Neueinsteiger sank seit 1990 stetig - unabhängig vom Grammpreis, der in den Achtzigerjahren bis zu 800 Franken betrug und seit über einem Jahrzehnt unter 100 Franken liegt. Die Polizei ging Mitte der Neunzigerjahre am aktivsten gegen Heroinhandel und -besitz vor. Ohne erkennbaren Effekt auf den Preis oder die Zahl der Abhängigen.

Schlechtes Image führte zum Rückgang der Heroinsüchtigen

Dennoch ist die Zahl der jährlichen Neukonsumenten von 1050 im Jahr 1990 auf rund 100 gesunken. "Die Attraktivität einer Droge wird mehr von ihrem Image bestimmt", so Nordt. Heroin wird durch die Methadonabgabe eher als therapiebedürftige Suchtkrankheit wahrgenommen. Die Ergebnisse decken sich mit Thilo Becks Erfahrungen, Chefarzt der Zürcher Drogenfachstelle Arud. Er stellt fest, dass die Politik wenig Einfluss auf die Konsumgewohnheiten hat. "In unserer Leistungsgesellschaft sind stimulierende Substanzen gefragter."

Laut BAG sind direkte Zusammenhänge schwer nachweisbar. Das Amt ist verblüfft, dass es trotz tiefer Preise nicht mehr Süchtige gibt, und spricht von einem Glücksfall.Petra Wessalowski

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PNOS
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Bund 11.4.09

Die Burgdorfer Stadtpräsidentin Elisabeth Zäch (sp) zur Pnos-Demonstration und zu den Zielen im ersten Amtsjahr

 "Kein Hort der Rechtsextremen"

Während der Pnos-Demo in Burgdorf erlebte Elisabeth Zäch ihre schwierigsten Stunden als Stadtpräsidentin. Sie sagt zudem, wieso kulturell Interessierte den Teilverkauf der Localnet unterstützen sollten.

Interview: Tobias Gafafer

"Bund":

Frau Zäch, bis vor 100 Tagen waren Sie Buchhändlerin. Kommen Sie als Stadtpräsidentin überhaupt noch zum Bücherlesen?

Elisabeth Zäch: Ja, klar. Seither habe ich schon sieben Bücher gelesen. Das ist und bleibt mein Hobby und ist eine ganz grosse Bereicherung. Sehr beeindruckt war ich von Philip Roths "Empörung" und von Klaus Merz' "Der Argentinier".

Mit der Pnos-Demo hatten Sie gleich Ihre erste Feuerprobe. Hat Burgdorf ein Problem mit Rechtsextremen?

Burgdorf ist wie andere Gemeinden dieser Grösse immer wieder damit konfrontiert. Die Szene sucht gerne kleinere Städte aus, weil sie dort mit wenig Aufwand grosses Aufsehen erregt. In Burgdorf gab es zudem Verurteilungen wegen der Rassismusstrafnorm. Ich verwahre mich aber immer wieder dagegen, dass Burgdorf ein Hort der Rechtsextremen sei. Dies bewies doch die spontane Aktion aller demokratischen Parteien, die sich zu einem farbenfrohen Burgdorf und dem respektvollen Umgang mit anderen Kulturen bekannten. Das hat mich sehr gefreut.

Sie setzten sich mit der Aktion Courage gegen rechtsextreme Gewalt ein. Mit der Demo zielte die Pnos offenbar auch auf Sie. Was ging Ihnen dabei durch den Kopf?

Ich stehe zu meiner Haltung. Es ist nur gut, wenn man weiss, dass ich mich als Stadtpräsidentin gegen rechtsextremes Gedankengut verwahre. Aber es waren tatsächlich die schwierigsten Stunden in diesen 100 Tagen. Man wusste, dass eine extrem gewaltbereite Szene in die Stadt kommt, und damit meine ich auch den Schwarzen Block. Die vermummten Gestalten machen mir Angst. Trotz grossem Vertrauen in die Polizei blieb eine bedrückende Ungewissheit. Umso erleichterter war ich, dass alles gut über die Bühne ging.

In Bern wurde die Stadt Burgdorf teils als klein kariert wahrgenommen. Waren Sie tatsächlich "erleichtert", als die Demo in Bern stattfand?

Ich war nicht erleichtert, dass die Demo in Bern stattfand, sondern dass es nicht zu einer Konfrontation zwischen den beiden Szenen gekommen ist. Grundsätzlich bin ich aber enttäuscht, dass sich das Gedankengut der Pnos hält. Genauso wenig Verständnis habe ich für den Schwarzen Block. So löst man keine politischen Probleme.

Kann ein Reglement in Zukunft solche Demos verhindern?

 Auch ein Demoreglement kann uns die Grundsatzfrage der Demonstrationsfreiheit nicht abnehmen. Es kann höchstens Bedingungen für die Bewilligungen festlegen. Wir werden aber ohnehin ein Ortspolizeireglement erarbeiten müssen, und in diesem Rahmen werden wir uns der Sache annehmen. Es gilt, mit den Parteien auszuhandeln, wie stark wir ins Recht der Demonstrationsfreiheit eingreifen können und wollen. Das ist demokratisch etwas vom Heikelsten.

Die Thuner Stimmberechtigten schmetterten den Verkauf der Energie Thun an die Berner BKW jüngst wuchtig ab. Droht dem Verkauf der Burgdorfer Localnet im Mai an der Urne dasselbe Schicksal?

Wenn ich für etwas kämpfe, gehe ich auch davon aus, dass es gelingt. Der Teilverkauf der Localnet ist ein sinnvolles Geschäft, weil es sowohl dem Unternehmen als auch der Stadt viel bringt. Das Geschäft wurde anders und seriöser als in Thun aufgegleist. Geschäftsleitung und Verwaltungsrat der Localnet stehen voll und ganz dahinter. Diese Gremien waren auch für die Verkaufsgegner absolut vertrauenswürdig.

Der Zeitpunkt für Liberalisierungen ist doch denkbar ungünstig.

Es ist sicher psychologisch nicht die idealste Zeit. Zudem ist das Geschäft sehr emotional beladen, weil man ein stadteigenes Werk teilverkauft. Dass heisst aber nicht, dass man es nicht versuchen soll. Politik will gestalten, und das heisst auch, dass sie etwas wagen muss.

Sind die grossen Investitionen in die Burgdorfer Infrastruktur ohne den Verkauf möglich?

So absolut sehe ich das nicht. Aber wenn die Localnet nicht teilverkauft wird, ist die Finanzierung der notwendigen Investitionen sehr viel schwieriger oder gar unmöglich. Steuererhöhungen wären dann ein Thema und die intensive Suche nach Investoren, die der Stadt diese Aufgaben abnehmen würden. Ob dafür die richtige Zeit ist? Ich bezweifle es.

Verstellt der Verkaufserlös von 39 Millionen Franken den Blick auf die finanziellen Realitäten?

Die Localnet hat in den letzten Jahren sehr gut gewirtschaftet und damit können wir nun 39 Millionen lösen. Mit diesem Kapital wollen wir einen Gegenwert schaffen und sinnvolle Investitionen in die Infrastruktur der Stadt vornehmen, die der ganzen Bevölkerung dienen. Allerdings braucht es zuerst eine breite finanzpolitische Debatte. Wir müssen überparteilich aushandeln, was wir uns in welcher Priorität leisten können und wollen.

Was würde bei einem Nein etwa mit der anstehenden Sanierung des Casinotheaters passieren?

Das weiss ich noch nicht. Wir würden aber alles daran setzen, dass wir die Sanierung trotzdem schaffen. Das Casino ist ein wichtiger Bestandteil unserer Kultur. Es darf auf keinen Fall geschlossen werden, was leider wegen ungenügendem Brandschutzes und anderer Mängel droht. Deshalb sollten kulturell Interessierte den Teilverkauf unterstützen.

Die kantonale Spitalpolitik ist unter Druck. Ist das Regionalspital Emmental (RSE) in Burgdorf mittelfristig in der heutigen Form haltbar?

Ja, klar, denn es bietet Qualität. Der Einfluss der Stadt ist offiziell aber nicht sehr gross, weil das Spital dem Kanton gehört. Wichtig ist, dass wir in engem Kontakt stehen und die Stadt Burgdorf für einen starken Standort lobbyiert, wo immer es sinnvoll ist. Genauso halten wir es mit der Fachhochschule, die wir uns ebenfalls nicht schmälern lassen.

Was wollen Sie in Ihrem ersten Jahr als Stadtpräsidentin erreichen?

Ich will es schaffen, dass man mich als starke und partnerschaftliche Stadtpräsidentin für alle wahrnimmt - in Stadt, Region und Kanton. Einen besonderen Fokus richte ich auf die Neuausrichtung des Stadtmarketings.

"Wenn ich für etwas kämpfe, gehe ich davon aus, dass es gelingt."

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ASYL
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Südostschweiz 12.4.09

Kritik am zu restriktiven Glarner Amt für Migration

In Glarus werden sehr wenige abgewiesene Asylbewerber als Härtefall anerkannt. Steuer- zahler werden zu Abhängigen.

Von Daniel Fischli

Glarus. - Die Kantone können auch abgewiesenen Asylbewerbern eine Aufenthaltsgenehmigung erteilen, wenn sie sich gut in die hiesige Gesellschaft integriert haben, auf eigenen Beinen stehen können und die Rückkehr in das Heimatland zu einer persönlichen Notlage führen würde. Diese sogenannte Härtefallregelung wird allerdings je nach Kanton höchst unterschiedlich gehandhabt.

Dies geht aus einer Studie der Schweizerischen Flüchtlingshilfe hervor. Während vor allem in der Westschweiz viele Härtefälle anerkannt werden, gehört Glarus zur Gruppe der restriktiven Kantone.

Haft statt Arbeit

Im letzten Jahr wurden im Kanton Glarus neun Gesuche bewilligt. Mit rund 20 positiven Entscheiden läge Glarus im schweizerischen Mittel, mit deren 40 läge er gleichauf wie Waadt, der liberalste Kanton.

Wie durch die tiefe Anerkennungsquote gut integrierte Steuerzahler in die Illegalität getrieben werden oder als Gefängnisinsassen dem Staat zur Last fallen, zeigen die Beispiele von Gülüzar Korkmaz, Jubrayel Murad und Sha'aban Rashid. Korkmaz ist untergetaucht und wird polizeilich gesucht, Murad und Rashid sitzen im Glarner Gerichtshaus in Durchsetzungshaft. Bericht Seite 3

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Heute lebendig im Gefängnis, morgen vielleicht tot im Irak

Den zwei abgewiesenen Asylbewerbern Jubrayel Murad und Sha'aban Rashid droht die Abschiebung in den Irak und damit der Tod. Die Flüchtlingshilfe kritisiert den Kanton Glarus.

Von Daniel Fischli

Glarus. - Die Kantone wenden die  Härtefallregelung im Asylbereich höchst unterschiedlich an. Zu diesem Schluss kommt eine Studie der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) vom März dieses Jahres (siehe Box). Glarus wird zu den restriktiven Kantonen gezählt: "Diese Kantone haben sich offenbar dazu entschieden, von der Härtefallregelung wenig Gebrauch zu machen. Die Kriterien sind in diesen Kantonen nur schwer zu erfüllen", heisst es in der Studie.

Vom Fleck weg verhaftet

Am eigenen Leib haben die beiden kurdischen Iraker Jubrayel Murad und Sha'aban Rashid die restriktive Glarner Praxis erfahren. Beide sitzen seit März im Gerichtshaus in sogenannter Durchsetzungshaft. Rashid wurde bei einem Termin auf der Fachstelle für Migration vom Fleck weg verhaftet. Beide hatten den Status von "vorläufig Aufgenommenen", da ihre Asylgesuche abgelehnt worden waren, die Rückkehr in den Irak aber generell als nicht zumutbar betrachtet worden ist. Mit der Änderung der Praxis durch das Bundesamt für Migration (BFM) vor einem Jahr verloren sie ihr Aufenthaltsrecht in der Schweiz.

"Freiwillige" Rückkehr

Murad hatte als Härtefall ein Gesuch um eine Aufenthaltsbewilligung gestellt, das von der kantonalen Fachstelle für Migration abgelehnt worden ist. Rashid hat darauf verzichtet - da es als aussichtslos angesehen werden musste. Rashid lebt seit fünf, Murad seit sieben Jahren in der Schweiz. Beide arbeiteten im Gastgewerbe; ihre Vorgesetzten haben sich für ihren Verbleib in der Schweiz stark gemacht.

Da in den Irak (noch) keine Rückführungen unternommen werden können, können Murad und Rashid nicht zur Ausreise gezwungen werden. Sie sollen deshalb mit der Inhaftierung mürbe gemacht werden, damit sie "freiwillig" zurückkehren. Beide befürchten aus persönlichen Gründen, im Irak getötet zu werden.

Das Verwaltungsgericht muss monatlich prüfen, ob die Voraussetzungen für die Haft noch gegeben sind, ob also noch Aussicht darauf besteht, den Willen der Gefangenen zu brechen. Wenn das Gericht zum Schluss kommt, dass dies nicht mehr der Fall ist, müssen sie freigelassen werden. Die Durchsetzungshaft darf aber in jedem Fall nicht länger als 18 Monate dauern. Anschliessend haben die Betroffenen nur noch Anrecht auf die lebensnotwendigsten Dinge und dürfen nicht arbeiten. Sobald Zwangsrückführungen in den Irak möglich sind, droht Murad und Rashid die Ausschaffung.

Rechtsanwältin Bettina Dürst-Hunziker aus Glarus vertritt Sha'aban Rashid und Jubrayel Murad. Sie berichtet, dass in den nächsten Tagen für Rashid die zweite Haftüberprüfung durch das Verwaltungsgericht ansteht. "Ich rechne damit, dass die Haft verlängert wird", so Dürst. In beiden Fällen sind Wiedererwägungsgesuche gegen die Wegweisungsentscheide beim BFM hängig.

Die 33-jährige türkische Kurdin Gülüzar Korkmaz wollte es nicht so weit kommen lassen. Nach der Ablehnung ihres Härtefallgesuches ist die Netstalerin Anfang Jahr untergetaucht. Eine Beschwerde ist beim Departement Sicherheit und Justiz hängig.

Hohe Glarner Hürden

Den kantonalen Behörden steht bei Härtefällen ein grosser Ermessensspielraum zu. Zum einen können die Vorgaben des Bundes eigenmächtig von den Kantonen verschärft werden. So schreibt das Asylgesetz einen Aufenthalt von mindestens fünf Jahren in der Schweiz vor. Der Kanton Glarus verlangt zehn Jahre. Zum andern operiert das Gesetz mit dem Gummibegriff des schwerwiegenden Härtefalls. Darunter kann man alles oder nichts verstehen.

Bettina Dürsts Büronachbar, Rechtsanwalt Alban Brodbeck, will Mitte April auf der Fachstelle für Migration vorsprechen. Er erhoffe sich, dass Rashid und Murad aus der Durchsetzungshaft entlassen und als Härtefälle anerkannt würden, erklärt er. Es sei unsinnig, tüchtige Arbeitskräfte ins Gefängnis zu sperren: "Sie sollen arbeiten und nicht als Gefangene dem Staat zur Last fallen."

"Im schweizerischen Mittel"

Der zuständige Regierungsrat Andrea Bettiga verteidigt die Fachstelle für Migration: "Meines Wissens liegen die Zahlen des Kantons Glarus klar im schweizerischen Mittel." Eine Harmonisierung durch für Mai oder Juni in Aussicht gestellte Weisungen aus Bern begrüsst er. "Eine verbindliche Praxis wäre eine wertvolle Hilfe bei der Behandlung der Gesuche", erklärt der Justizdirektor.

Die SFH fordert von den Kantonen die Eröffnung einer Beschwerdemöglichkeit gegen negative Entscheide an ein Gericht sowie die Einführung einer Härtefallkommission, die über die Gesuche entscheidet. Diesen Begehren kann Bettiga nicht viel abgewinnen. Je nach Zusammensetzung würde eine Kommission keine Gewähr für eine harmonisierte Praxis bieten. Und der Rechtsweg sei bereits heute "in den meisten Fällen" garantiert.

Hoffnung auf die Politik

Für Sha'aban Rashid engagiert sich ein Kollegenkreis aus jungen Glarnerinnen und Glarnern. Sie besuchen ihn regelmässig im Gefängnis, um den eintönigen Tagesablauf aufzulockern - die Gefangenen sind pro Tag 23 Stunden in der Zelle eingeschlossen. Und sie sammeln Geld, um die Anwaltskosten decken zu können. Die Gruppe hofft auf die Politik: Sie könnte für einen offeneren Umgang mit den Härtefallgesuchen sorgen.

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Kantonale "Härtefall-Lotterie"

Bern. - Seit dem 1. Januar 2007 sind die Kantone für die Prüfung der Härtefallgesuche zuständig. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) hatte damals vor einer "Härtefall-Lotterie" gewarnt. Nach zwei Jahren sehe sie ihre Befürchtungen weitgehend bestätigt, heisst es in einem Bericht vom März. In den Kantonen hätten sich sehr unterschiedliche Praktiken entwickelt. Grund dafür sei der grosse Ermessensspielraum der kantonalen Behörden.

Grundsätzlich spalten sich laut SFH die Kantone bei der Anwendung in zwei Lager: Einige Kantone begriffen die Härtefallbestimmung als Chance, um bereits gut integrierten Menschen eine Aufenthaltsbewilligung zu erteilen. Sie praktizierten eine liberale Anwendung der Regelung. Andere Kantone würden dagegen die Auffassung vertreten, dass abgewiesene Asylsuchende nicht mit der Vergabe eines Bleiberechts belohnt werden dürften.

Eine liberale Anwendung der Härtefallregelung eröffnet laut SFH Personen, die seit Langem in der Schweiz lebten und sich gut integriert hätten, eine langfristige Perspektive. "Mit der Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung können sie und ihre Kinder aus dem Schattendasein heraustreten und zu einem vollwertigen Teil unserer Gesellschaft werden", heisst es im Bericht. Eine restriktive Praxis dagegen führe nicht dazu, dass mehr Menschen die Schweiz verliessen, sie werde langfristig zur Folge haben, dass sich Parallelgesellschaften bildeten aus Personen, die weder in ihrem Heimatland leben könnten noch Rechte in der Schweiz hätten.

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NO NATO
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linksunten.indymedia.org 11.4.09

Audio / Text: Analyse des NATO Gipfels von IMI (Informationsstelle Militarisierung)

Created by: IMI / Radio Z.

Angesichts der wichtigen Beschäftigung mit der französischen und deutschen Polizeistrategie, die offensichtlich auf eine bewusste Eskalation der Situation hinarbeitete, um die Proteste gegen den NATO-Gipfel in Straßburg zu zerschlagen, droht die inhaltliche Aufarbeitung des Gipfels ein wenig unterzugehen. Deshalb hier eine erste vorläufige Analyse der Kernelemente.

Effektivierung von Krieg und Besatzung und Kollisionskurs mit Russland

von Jürgen Wagner

Neue Macht- und Arbeitsteilung

Eine wichtige Rolle spielte auf dem Gipfel der Versuch, eine neue transatlantische Macht - und Arbeitsteilung auf den Weg zu bringen. Die machtpolitisch geschwächten Vereinigten Staaten sind bestrebt, die EU stärker an den Kosten für die (militärische) Aufrechterhaltung der bestehenden Weltordnung zu beteiligen. Dafür bieten sie den EU-Staaten umgekehrt aber an, ihre Interessen künftig in deutlich größerem Maße als bislang zu berücksichtigen.

Dieses Angebot wurde bereits Anfang Februar auf der Münchner Sicherheitskonferenz unterbreitet und nun zum Auftakt des NATO-Gipfels von Präsident Barack Obama nochmals wiederholt: "Wir wollen nicht herablassend auf Europa schauen", so Obama. "Wir wollen nicht der Schutzpatron Europas sein, wir wollen der Partner Europas sein." Gleichzeitig betonte er, die Militarisierung der Europäischen Union, die von Washington lange Zeit als rivalisierendes Projekt abgelehnt wurde, sei aus Sicht Washingtons im Sinne der neuen Lastenteilung begrüßenswert: "Je mehr militärische Fähigkeiten wir sehen, desto glücklicher werden wir darüber sein, desto effektiver werden wir unsere Fähigkeiten koordinieren können." (Spiegel Online, 3.4.09) Dementsprechend fordert auch das Abschlussdokument des Straßburg-Gipfels eine weitere Militarisierung der Europäischen Union: "Die NATO erkennt die Bedeutung stärkerer und effektiverer EU-Verteidigungskapazitäten an." (Ziffer 20)

NATO-Strategie 2010

Eine der wohl wichtigsten Entscheidungen des Gipfels bestand darin, nun auch offiziell die Erarbeitung eines neuen Strategischen Konzeptes in Auftrag zu geben. Es soll "die längerfristige Rolle der NATO im Sicherheitsumfeld des 21. Jahrhunderts ausarbeiten", heißt es in der Abschlusserklärung (Ziffer 1). Ziel ist es, das Konzept auf dem nächsten NATO-Gipfel zu verabschieden.

Kernelement der Strategie soll der Comprehensive Approach sein. Der Comprehensive Approach zielt darauf ab, "Stabilisierungseinsätze", also Besatzungen wie im Kosovo und in Afghanistan, künftig "erfolgreicher" durchführen zu können. Hierfür sollen zivile Akteure eingebunden werden und vor Ort Hand in Hand mit dem Militär zusammenarbeiten, um so für ein reibungsloses Funktionieren der Besatzung zu sorgen.

Durch diese Zivil-militärische Zusammenarbeit werden zivile Akteure jedoch systematisch zu integralen Bestandteilen westlicher Militäreinsätze degradiert und damit für große Teile der Bevölkerung vor Ort zu Gegnern. Zivile Akteure werden so für die Durchsetzung strategischer, wirtschaftlicher und politischer Zielen instrumentalisiert und die Gewährleistung humanitärer Hilfe hierdurch erheblich erschwert, teils gar verunmöglicht. Aus diesem Grund lehnen Entwicklungsorganisationen diese Zivil-militärische Zusammenarbeit ab, erst vor kurzem etwa der Dachverband entwicklungspolitischer Nichtregierungsorganisationen (VENRO). Dennoch wurde auf dem NATO-Gipfel beschlossen, mit der Implementierung eines - weiterhin geheimen - Aktionsplans zur Umsetzung des Comprehensive Approaches mit Nachdruck fortzufahren und die Ergebnisse im Dezember 2009 zu evaluieren (Abschlussdokument: Ziffer 18).

Prototypisch wird der Comprehensive Approach erstmals in großem Stil beim NATO-Einsatz in Afghanistan erprobt. VENRO befürchtet nun, dass die Zivil-militärische Zusammenarbeit künftig von Afghanistan "auf andere Konflikt- beziehungsweise Post-Konfliktszenarien übertragen wird." Dies scheint tatsächlich genau der Plan zu sein. Die NATO benötige eine grundsätzlich neue Strategie, so Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung kurz vor dem NATO-Gipfel. "Das hört sich einfach an, ist aber vergleichsweise revolutionär", sagte Merkel und forderte, dass "die Nato mit ihren militärischen Mitteln Teil eines umfassenden und kohärenten Ansatzes" sein müsse, zu dem auch eine Vielfalt an zivilen Aktionen gehöre. "Dieses Grundverständnis, das wir jetzt in Afghanistan entwickelt haben, wird aber in Zukunft nicht der Einzelfall sein, sondern muss zum strategischen Allgemeingut der Nato werden." (süddeutsche.de, 27.3.09)

Ein zweiter wichtiger Aspekt, der höchstwahrscheinlich eine wichtige Rolle bei der Überarbeitung der NATO-Strategie spielen wird, ist das Bestreben, die NATO künftig "pro-aktiver", also schneller und flexibler einsatzfähig zu machen, wie es Obamas Sicherheitsberater James Jones nannte. Hierfür schlugen die derzeit wichtigsten Papiere zur Erneuerung des Strategischen Konzepts, eines von fünf ehemaligen hohen NATO-Generälen und eines, erstellt von vier der wichtigsten US-Denkfabriken, folgendes Maßnahmenbündel vor: Abschaffung des Konsensprinzips (zumindest auf allen Ebenen unterhalb des NATO-Rats); Keine Mitspracherechte an NATO-Kriegen für die Mitgliedsländer, die sich nicht beteiligen; Übernahme der Einsatzkosten durch sämtliche NATO-Staaten und nicht nur diejenigen, die sich an einem Krieg beteiligen.[3]

Sollte dieser Umbau der Entscheidungsstrukturen tatsächlich umgesetzt werden, würden die Machtverhältnisse innerhalb der NATO drastisch zugunsten der großen Staaten verschoben und die Kriegsführungsfähigkeit des Bündnisses erheblich gesteigert. Ein versteckter Hinweis, dass an eine Überabreitung der Strukturen und Entscheidungsprozesse gedacht wird, findet sich in einem weiteren auf dem Gipfel verabschiedeten Dokument: "Wir müssen außerdem die NATO-Strukturen reformieren, um eine schlankere und kosteneffizientere Organisation zu schaffen. Wir werden die Fähigkeiten der NATO vergrößern, dort wo unsere Interessen betroffen sind, eine wichtige Rolle im Krisenmanagement und der Konfliktlösung zu spielen."[4]

Besatzung konkret: Afghanistan, Irak

Des Weiteren wurde Obamas neue Afghanistan-Strategie von den Verbündeten vorbehaltlos begrüßt: Sie beinhaltet mehr Hilfe, vor allem aber eine Vergrößerung der Truppenanzahl, verbunden mit einer Eskalation der Kampfhandlungen - möglicherweise bis nach Pakistan: "Die Allianz stellt sich geschlossen hinter Obamas neue Afghanistan-Strategie." (süddeutsche.de, 4.4.09) 62.000 Truppen befinden sich gegenwärtig am Hindukusch, die USA haben bereits zusätzlich 21.000 beschlossen und nun hat die NATO nachgezogen und will ebenfalls weitere 5.000 stellen.

Auch was den Irak anbelangt findet sich ein viel sagender Hinweis. Angesichts der Tatsache, dass auch die neue US-Regierung die Besatzung des Landes zumindest mittelfristig aufrecht erhalten will, hat die NATO bereits im Dezember 2008 beschlossen, dass die "NATO Training Mission in Iraq" künftig auch innerhalb des Landes agieren soll. Ihre Aufgaben umfassen Hilfe bei der "Absicherung der Grenzen", einer "Verteidigungsreform" und dem Aufbau von "Verteidigungsinstitutionen".[5]

Dieses Engagement, mit dem man den USA direkt bei der Besatzung unter die Arme greift, soll nun offenbar verstetigt werden. Im Abschlussdokument heißt es hierzu: "Wir erneuern unser Angebot an die irakische Regierung für einen Rahmen zur strukturierten Kooperation als Basis für eine langfristige Zusammenarbeit und begrüßen die diesbezüglich bereits erzielten Fortschritte." (Ziffer 11; Hervorhebung vom Autor) Nach den schweren Konflikten um den Irak-Krieg sind dies Entscheidungen mit erheblicher Symbolwirkung - sowohl gegenüber den USA als auch gegenüber dem Rest der Welt, sie setzen ein "klares Zeichen für einen Neuanfang."[6]

Kollisionskurs mit Russland

Trotz der begrüßenswerten Absichtserklärung der US-Regierung, den nuklearen Abrüstungsprozess wieder in Gang zu bringen, wurde ansonsten gegenüber Russland ein harter Ton angeschlagen. "Die ohne die Zustimmung der Regierung erfolgte russische Militärpräsenz in den georgischen Regionen Abchasien und Süd-Osstien ist besonders Besorgnis erregend. Darüber hinaus stellen Russlands Handlungen in Georgien seine Bereitschaft zur Einhaltung der fundamentalen OSZE-Prinzipien in Frage, auf der Sicherheit und Stabilität in Europa aufbauen." (Abschlussdokument: Ziffer 57)

In diesem Zusammenhang dürfte Moskau besondere Sorge bereiten, dass weiterhin auf die mehrfach als "rote Linie" bezeichnete NATO-Aufnahme Georgiens und der Ukraine beharrt wird. Im Abschlussdokument heißt es hierzu: "Auf dem Gipfel in Bukarest haben wir uns darauf verständigt, dass die Ukraine und Georgien Mitglieder der NATO werden und wir bestätigen nochmals alle Elemente dieser Entscheidung." (Ziffer 29) Gleichzeitig wird im Abschlussdokument auf die Bedeutung der NATO-Ukraine und NATO-Georgien-Kommissionen verwiesen, die zur Jahreswende mit dem Ziel eingesetzt wurden, die Heranführung beider Länder an das Bündnis zu beschleunigen.

Auch in der Frage der NATO-Raketenabwehr, die zusätzlich zu den US-Komponenten aufgebaut werden soll, hält man am bisherigen Plan trotz scharfer russischer Kritik fest. Zwar wird festgestellt, dass "zusätzliche Arbeit erforderlich ist" (Ziffer 51) - ein Verweis auf die gravierenden technischen Probleme -, gleichzeitig wird aber der Ständige NATO-Rat damit beauftragt, mit der Ausplanungen für ein Abwehschild fortzufahren, der nicht nur im Ausland stationierte Truppen, sondern auch NATO-Territorium abdeckt und so russische Raketen neutralisieren könnte (Ziffer 53).

Darüber hinaus finden sich in der Obama-Regierung zahlreiche Befürworter einer "Globalen NATO", also dem Bestreben, das Bündnis um "befreundete" Demokratien außerhalb des euro-atlantischen Raums zu erweitern. Damit will man eine Konkurrenzorganisation zur UNO schaffen, um das dortige Vetorecht Russlands und Chinas gegenüber Militäreinsätzen auszuhebeln. Mit Bestürzung reagiert man in Moskau auf derartige Pläne, aus der NATO eine Art Alternativ-UNO mit Lizenz zur militärischen Gewaltanwendung zu machen. So äußerte sich der russische Nato-Botschafter Dmitri Rogosin kurz vor dem NATO-Gipfel: "Heute bekommen wir weitere Hinweise darauf, dass die Nato ihre Rolle globalisieren will. Faktisch geht es um die künftige Möglichkeit, Länder in die Allianz aufzunehmen, die mit dem euroatlantischen Raum nichts zu tun haben - wie etwa Australien, Japan, Neuseeland und Indien." Vor diesem Hintergrund wolle die Nato anscheinend eine "gewisse Demokratien-Liga" gründen. Doch der Versuch, den UN-Sicherheitsrat durch solch ein Gremium zu ersetzen, bedeute eine "ernsthafte Herausforderung an die meisten Länder der Welt." (Ria Novosti, 13.3.09)

Dennoch wurde auf dem Gipfel beschlossen, mit Anders Fogh Rasmussen einen erklärten Befürworter der "Globalen NATO" zum nächsten Generalsekretär des Bündnisses zu ernennen.[7] Auch im Abschlussdokument des Gipfels findet sich der Verweis, künftig noch intensiver mit Nicht-NATO-Demokratien zusammenarbeiten zu wollen, explizit genannt werden Australien, Japan, Neu-Seeland, Südkorea mit Blick auf deren Beiträge in Afghanistan (Ziffer 40).

Fazit

Auf dem NATO-Gipfel wurde der Eskalationskurs des Bündnisses konsequent fortgesetzt. Sämtliche Entscheidungen deuten auf eine Intensivierung des Kriegskurses hin. Allein schon deshalb wird man sich auch in Zukunft weiter kritisch mit der NATO auseinandersetzen müssen.


Anmerkungen:

[1]Fünf Jahre deutsche PRTs in Afghanistan, VENRO-Positionspapier 1/2009.
[2]Fünf Jahre deutsche PRTs in Afghanistan, VENRO-Positionspapier 1/2009, S. 2.
[3] Vgl. The Washington NATO Project: Alliance Reborn: An Atlantic Compact for the 21st Century, Februar 2009; Naumann, Klaus/Shalikashvili, John/Lord Inge/Lanxade, Jacques/Breemen, Henk van den: Towards a Grand Strategy for an Uncertain World: Renewing Transatlantic Partnership, URL: http://tinyurl.com/5bujl9; An interview with General James L. Jones, NATO Defense College, Research Paper, Januar 2008.
[4] Declaration on Alliance Security, 3.4.2009, URL: http://www.nato.int/cps/en/natolive/news_52838.htm
[5] Final communiqué of The Meeting of the North Atlantic Council at the level of Foreign Ministers, NATO Presseerklärung, 3.12.2008
[6] Riecke, Henning: Mehr Einsatz in Afghanistan. Deutschland kann Obama konkrete Kooperationsangebote machen, in: Internationale Politik, Januar 2009, S. 39-44.
[7] Rasmussen, Anders Fogh, Address to the US Chamber of Commerce, 28.02.2008.


Jürgen Wagner, IMI (Informationsstelle Militarisierung)
http://www.imi-online.de/

Artikel als PDF
http://linksunten.indymedia.org/en/node/4738

Interview auf Radio Z Nürnberg - 10:20 Minuten
http://www.radio-z.net/
http://linksunten.indymedia.org/en/node/4739

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PATRONS
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Landbote 11.4.09

Die Franzosen jagen ihre Patrons

Stefan Brändle

In Frankreich häufen sich die Geiselnahmen von Firmenmanagern. Die Regierung blieb bisher passiv, um nicht zusätzlich Öl ins soziale Feuer zu giessen.

Paris - Die Stimme zittert, halb aus Wut, halb aus Angst. "Ich habe eine Familie zu ernähren, mit zwei Kindern und einer Frau, die schon arbeitslos ist", meint Thierry Mata, Ingenieur des Automobilzulieferers Faurécia. Dass sein Posten bedroht sei, habe er seit Längerem gewusst, aber auf seine 62 Stellenbewerbungen habe er nur zwei Antworten erhalten, negative.

Mata unterstützt die Geiselnahme, die am Donnerstag sein Unternehmen ausserhalb von Paris lahmlegte. Einen Nachmittag und Abend lang setzten die Beschäftigten drei Manager des Peugeot-Tochterbetriebs in ihren Büros fest. "Glauben Sie, dass ich mich mit einer Abfindung von 5000 Euro zufriedengebe?", fragt Thierry Mata und zeigt auf die Chefetage. "Das ist nicht einmal so viel, wie diese Leute da in einem Monat verdienen."

Diese Leute da - sie machen harte Zeiten durch in Frankreich. Alle paar Tage wieder sind am Fernsehen Firmenbosse zu sehen, die im weissen Hemd und mit verrutschter Krawatte ihr Büro verlassen, nachdem sie eine Nacht lang dort festgehalten wurden. Es gleicht einem Spiessrutenlaufen, wenn sie sich jeweils einen Weg durch die Beschäftigten bahnen und dann unter Polizeischutz ins nächste Rathaus fahren, wo unter behördlicher Aufsicht Verhandlungen mit den Gewerkschaften beginnen. Meistens endet es mit dem Nachgeben der Direktion.

Zerstochene Autopneus

Bei Caterpillar in Grenoble reduzierte sie den Abbau von 733 Stellen etwa auf 600. Das aber erst, nachdem es hart auf hart gegangen war. Aufgebrachte Beschäftigte hatten zuerst Metallstücke in die Richtung der Manager geworfen und ihre Autopneus zerstochen. Die Gewerkschaften versuchten die Arbeiter vergeblich zurückzuhalten; die Manager mussten sogar in das Büro des Generaldirektors flüchten. Dort wurden sie über Nacht eingeschlossen. Nachdem die Chefs selbst versucht hatten, Pizzas zu bestellen, wurden ihnen die Telefone und Handys abgenommen; ihre Gattinnen wurden von den Arbeitern informiert. Am nächsten Morgen wurde verhandelt.

Andernorts wickeln sich die "séquestration", wie man in Frankreich sagt, in einem gesitteteren Klima ab - so etwa bei Sony in Südwestfrankreich, bei 3M in Orléans oder beim Klebbandhersteller Scapa unweit der Schweizer Grenze. Meist geht es um die Zahl der zu streichenden Stellen oder die Höhe der Entlassungsabfindungen - und meist erhalten die Streikenden Zugeständnisse.

Vertreter der konservativen Regierung üben Kritik: "Das ist nicht gesund für die Demokratie", meinte der Staatssekretär für Kleinunternehmen, Hervé Novelli. "Diese Praktiken müssen aufhören." Auch Nicolas Sarkozy sprach sich diese Woche gegen die Aktionen aus. "Man kann die Wut der Leute verstehen", meinte der Staatschef, der zwar die "Gesetzwidrigkeit" anprangert, aber bisher davor zurückscheut, die Polizei einzusetzen.

Denn die Geiselnahmen stossen in Frankreich auf breite Unterstützung. Selbst der konservative "Figaro" - der am Freitag wegen eines Druckerstreiks nicht erschien - räumt ein, dass sie "keine lebhafte Ablehnung bewirken". Die Sozialistische Partei verurteilt die Gewaltanwendung genauso wie die "soziale Gewalt" bei Entlassungen und "das Gefühl der Ungerechtigkeit" angesichts der Millionenabfindungen für Spitzenmanager. "Früher begehrten die Bauern gegen die Seigneure auf", erklärte der Vorsteher der Werbegruppe Publicis, Maurice Lévy, gegenüber amerikanischen Journalisten, die sich diese Woche über die radikalen Sitten in Paris informieren kamen. "Heute sind die Seigneure eben die Firmenchefs."

Warnung vor Radikalisierung

Die Geiselnahmen sind nur der spektakulärste Ausdruck der gespannten Krisenstimmung in Frankreich. Im Norden des Landes und in Paris unterbrachen Angestellte der Electricité de France (EDF) stundenlang den Strom von Tausenden von Haushalten; beim Schokoladehersteller Barry Callebaut im Burgund blockierten Beschäftigte den Zugang zur Fabrik. Immer häufiger sind auch die Warnrufe vor einer Radikalisierung der Sozialkonflikte. In Pariser Buchhandlungen kursiert derzeit eine Publikation namens "Der Aufstand, der kommt"; darin ruft ein "unsichtbares Komitee" zur - gewaltlosen - Revolution wie anlässlich der Pariser Kommune 1871 auf. Obwohl die Autoren anonym bleiben, hat das Büchlein in kurzer Zeit bereits 15 000 Käufer gefunden.

Soziologen hinterfragen derweil den Erfolg der Patroneinschliessungen. Auf den ersten Blick haben die Beschäftigten meist Erfolg. Doch sie brauchen eine starke Medienbeachtung, und angesichts der Häufung der Geiselnahmen sinkt der Beachtungsgrad rapid. Viele Gewerkschafter befürchten, dass die ursprünglichen Sozialpläne rasch wieder aus den Schubladen geholt werden, wenn sich die Spannung im Betrieb einmal gelöst hat.lSTEFAN BRÄNDLE

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RAF
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Spiegel 11.4.09

Zeitgeschichte

Krieg der Lügen

 Bizarre Polizeipläne im Kampf gegen die RAF

Aktenfunde belegen, wie das Bundeskriminalamt und das Stuttgarter Landeskriminalamt die RAF mit einer Desinformationskampagne bekämpfen wollten.

Er war eine der meistgefährdeten Personen der Republik, sein Haus glich einer Festung, er führte ein Leben im Fadenkreuz derer, die der Staatsmacht den Krieg erklärt hatten: Horst Herold, von 1971 bis 1981 Chef des Bundeskriminalamts (BKA), RAF-Jäger, Apologet der Rasterfahndung. Noch im Ruhestand bekam er Personenschutz, fühlte sich der Terroristenjäger von Terroristen gejagt.

Wie weit Herold selbst bei seiner Jagd zu gehen bereit war, belegen Dokumente aus den siebziger Jahren, die das Innenministerium Baden-Württemberg jetzt nach über zweijährigen Bemühungen von SPIEGEL TV freigegeben hat.

Es sind Dokumente, die erstmals einen Blick erlauben auf die Planspiele der Fahnder. Sie machen deutlich, unter welchem Druck die Sicherheitsbehörden standen - und welche rechtlich fragwürdigen Ermittlungsmethoden sie ausbrüteten.

Eines dieser Dokumente stammt vom 31. August 1976. Ulrike Meinhof hat sich vier Monate zuvor in ihrer Zelle erhängt, Andreas Baader und Gudrun Ensslin stehen vor Gericht. Es ist der "Gesamtlagebericht Terrorismus", den BKA-Chef Herold unter der Geheimhaltungsstufe "VS-Vertraulich", Tagebuch-Nummer 136/76, dem Bundesinnenminister vorlegt. Um "neue entscheidende Schläge gegen die Terroristenszene" führen zu können, so seine Analyse, "werden verstärkt nachrichtendienstliche Mittel notwendig sein". Die "Bekämpfungsinstrumente müssen kreativ weiterentwickelt werden".

Wie kreativ Herold war, ist zum Teil bis heute geheim gehalten worden - aus Sicht der Strafverfolger mit gutem Grund. Denn zwischen den mit roten "Geheim"-Stempeln übersäten Aktendeckeln, die jetzt im Hauptstaatsarchiv Stuttgart für Historiker aufbereitet werden, finden sich erstaunliche Papiere. Sie zeigen, wie manche Beamte die Aufforderung von Kanzler Helmut Schmidt interpretierten, "bis an die Grenzen des Rechtsstaates" zu gehen.

So hat Horst Herold schon im Oktober 1975, ein halbes Jahr nach dem tödlichen RAF-Überfall auf die deutsche Botschaft in Stockholm, "Grundsätze der Desinformation zur Terrorismusbekämpfung" ausarbeiten lassen. Das Konzept verschickte der BKA-Boss unter eigenem Briefkopf (Aktenzeichen "PR-50/75 geheim") an Ministerialdirigent Alfred Stümper im badenwürttembergischen Innenministerium.

Auf drei eng beschriebenen Seiten wird im Anhang zunächst der Begriff erläutert: "Desinformation ist ein neu zu schaffendes Kampfmittel, das neben die bisherigen Formen der Bekämpfung kriegsähnlicher Aktivitäten tritt." Gefälschte Nachrichten sollten durch "Einschleusung in Presse, Rundfunk, Fernsehen" oder in das RAF-Umfeld plaziert werden. Dienen sollten die Maßnahmen dem "Eindringen in gegnerische Gruppierungen mit dem Ziel der Störung und Zerstörung", unter anderem "durch Entheroisierung der Terroristen". Dies sollte

durch die "Förderung bandeninterner Konflikte", die "Entfremdung der revolutionären Basis" und durch die "Verwendung von Überläufern, Renegaten, V-Leuten" erreicht werden. Selbst vor der "Bloßstellung durch Offenlegung würdeloser Reaktionen" wollte man nicht zurückschrecken: "zum Beispiel Weinen, Urinieren bei Festnahmen".

Horst Herold ist heute 85 Jahre alt. Er schließt nicht aus, "ein solches Papier" weitergeleitet zu haben; aber konkret erinnern könne er sich an diese Strategie nicht: "Ich habe Tausende Vorlagen und Berichte erstellt - nicht weil ich so fleißig war, sondern weil ich von der Notwendigkeit überzeugt war und bin, dem Terrorismus Einhalt zu gebieten."

Angesichts des Schreckens, den die RAF im Deutschland der Siebziger verbreitete, eine nachvollziehbare Position. Dass sich das BKA jedoch einiger Mittel bedienen wollte, die eher den Usancen der DDR-Staatssicherheit entsprachen als den Standards bundesrepublikanischer Rechtsstaatlichkeit, war bislang unbekannt.

"Gegenüber Mördern ist auch List erlaubt, das steht in der Strafprozessordnung", rechtfertigt sich Herold heute. Deshalb sah er damals keine großen Einwände, "solche Gedanken zu ventilieren".

Und ventiliert wurde fleißig: Am 11. November 1975 kamen der Präsident des Stuttgarter Verfassungsschutzes, Dieter Wagner, der Präsident des Landeskriminalamts,

Kuno Bux, und Polizeiinspekteur Reinhold Mikuteit zusammen, um das Papier zu besprechen. Für eine erfolgreiche Desinformation müssten "konkrete Erkenntnisse der Polizei" mit den "nachrichtendienstlichen Möglichkeiten des Verfassungsschutzes zusammengeführt werden", so das Protokoll, "dies kann nicht allein auf der obersten Ebene im Bund geschehen", sondern auch auf Landesebene. Die schwäbische Herrenrunde überlegte also ernsthaft, beim Krieg der Lügen mitzumischen.

Die Staatsschutzabteilung des Landeskriminalamts fertigte daraufhin eine siebenseitige Modellplanung zur Desinformation an - ausgerechnet jene Stuttgarter Staatsschützer, die sich bereits seit Monaten außerhalb der Legalität bewegten, indem sie fünf Zellen im Terroristentrakt des Gefängnisses Stammheim hatten verwanzen lassen, um dort Gespräche der RAF-Verteidiger mit Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Meinhof zu belauschen.

Nach den Festnahmen der ersten RAF-Generation gebe es ein verändertes Täterbild, analysierte der Staatsschutz Ende 1975, "Aktionsschwerpunkte" seien nicht mehr zu erkennen. Deshalb seien "neue Bekämpfungskonzepte" angebracht, die für die "Einschüchterung" von RAF-Sympathisanten sorgen sollten.

Die Stuttgarter Staatsschützer schlugen vor, ihre Pläne "zusammen mit Spezialisten anderer Behörden (BfV, BND, Bundeswehr - Gruppe Psychologische Kriegführung)" zu erörtern und zu vertiefen.

Die Liste reicht von banaler "Fälschung von Flugblättern" und "Anfertigung von Wandparolen", die aussehen sollten, als wären sie von RAF-"Gegenbewegungen" angebracht worden, bis zum systematischen Belügen der Medien: So sollte eine angeblich "undichte Stelle" bei einer Polizeibehörde aufgebaut werden, "um über diesen Informationsweg Desinformationen an die Presseorgane geben zu können. Dabei ist auch die Suche nach diesem 'Leck' in die Überlegungen miteinzubeziehen".

Um die RAF-Leute in der Öffentlichkeit als "gewöhnliche Kriminelle und 'miese Typen'" darzustellen, die "sich nicht scheuen, Anschläge gegen Unbeteiligte, gegen die Allgemeinheit und die Gesundheit" zu verüben, schlagen die Staatsschützer gar die "Planung von Anschlägen auf (die) Trinkwasserversorgung Berlin" vor - und auf "das Hamburger Elektrizitätswerk".

Eine realitätsnähere Idee im LKA-Plan beschreibt detailliert die "Schaffung und Vertiefung bandeninterner Konflikte" unter den in Stammheim einsitzenden RAF-Kadern. Die Staatsschützer weisen darauf hin, dass bei Zellendurchsuchungen Kassiber gefunden wurden, die Spannungen zwischen Meinhof auf der einen und Baader sowie Ensslin auf der anderen Seite belegten. Außerdem gebe es "persönlichkeitsbezogene Spannungen" zwischen Baader und Ensslin. Es "müsste geprüft werden, ob es möglich ist, gefälschte Zellenzirkulare in den Umlauf zu bringen, um damit die vorhandenen Konflikte zu verschärfen", schreiben die Polizisten am 26. November 1975.

Akten über die Realisierung des Plans finden sich bislang keine. Fakt ist aber: Als Meinhof im Mai 1976 erhängt in ihrer Zelle aufgefunden wurde, zerstreute das BKA Zweifel an ihrem Selbstmord, indem es Kassiberpassagen veröffentlichte. Sie belegen das tiefe Zerwürfnis zwischen Meinhof und Ensslin/Baader. Diese Kassiber waren angeblich bei Zellendurchsuchungen von Beamten derselben LKA-Staatsschutz-Abteilung 8 gefunden worden, die fünfeinhalb Monate zuvor die Desinformationspläne entworfen hatte.

"Wir haben damals viele Ansätze verfolgt", erinnert sich der ehemalige LKA-Chef Bux, "aber das Desinformationskonzept wurde fallengelassen, weil es weder rechtlich noch politisch durchsetzbar war." Auch Herold würde heute solche Methoden als "untauglich" verwerfen. "Man sollte die Öffentlichkeit nicht vergrämen, wir brauchen sie auf unserer Seite."

Dass man die Öffentlichkeit wohl vergrämt hätte, ahnte auch der Staatsschutz in seinem Gruselplan unter Punkt 2.1.7: "Mögliche negative Auswirkungen dieses Modells" seien "erheblicher Vertrauensschwund in den Staat und seine Institutionen, falls Desinformation als solche erkannt wird". HELMAR BÜCHEL, ULRIKE DEMMER

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ANTI-ATOM
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AZ/MZ 11.4.09

Frick

"Die Region muss kämpfen, dass für sie etwas abfällt"

Wenn schon ein Atomendlager im Bözberg, dann sollen die Menschen hier auch davon profitieren. Heiner Keller aus Oberzeihen ruft im Samstags-Interview zur Einheit auf.

Michael Mülli

Der Bözberg ist nebst dem Zürcher Weinland der zweite Standort, den die Nagra als "sehr geeignet" bezeichnet für ein Atomendlager für hochradioaktive Abfälle. Für Heiner Keller sind zwei Dinge klar: Das Tiefenlager wird in den Bözberg kommen › und: Jetzt ist es höchste Zeit, Gegenleistungen zu fordern.

Heiner Keller ist Biologe und Präsident des "Forum Doracher › Lebendiges Oberzeihen". Der Verein fördert das kulturelle und wirtschaftliche Leben in dieser Randregion. Ihr soll, so seine Forderung, denn auch ein Teil der Wertschöpfung zufliesen, die ein Atomendlager mit sich bringt. Das gehe nur gemeinsam. Deshalb hat er unter www.g20.ch eine Plattform aufgeschaltet, die helfen soll, Interessen und Kräfte der als geologisch geeignetes Standortgebiet bezeichneten 20 Gemeinden rund um den Bözberg zu bündeln.

Nach der jüngsten Erweiterung des Radius für die Erstellung von Zufahrt und Empfangsanlage kommen zu den im Kern tangierten 20 Gemeinden bis zu 35 weitere dazu (AZ 8. 4.). Sie dürfen sich, ist auf der G20-Homepage nachzulesen, nicht gegeneinander ausspielen lassen. Geld, Arbeit und Investitionen in Natur und Landschaft, Kulturgüter- und Ortsbildschutz sollten der Region schon jetzt zufallen. Die Abfälle seien ja auch schon praktisch da.

Herr Keller, Sie sagen, Bözberg sei der Favorit für ein Atomendlager. Wünschen Sie es sich sogar herbei?

Heiner Keller: Nein, das natürlich nicht. Aber der Standort Wellenberg war gescheitert, der Jura-Südfuss liegt im relativ dicht besiedelten Gebiet zwischen Olten und Aarau, und die drei übrigen sind an der Landesgrenze zu Deutschland. Es ist wie Nünistei: Der Bözberg bleibt übrig.

Also zumindest abgefunden haben Sie sich damit?

Keller: Das Zeug ist da. Das Erschreckende ist ja, dass das radioaktive Material heute auf der anderen Seite des Bözbergs im Zwischenlager Würenlingen liegt › angeblich sicher.

Haben Sie eine fatalistische Haltung?

Keller: Die einen sind dafür, die anderen dagegen: Aber eine solche Haltung löst das Problem nicht. Es geht jetzt darum, einen vernünftigen Weg zu finden.

Es gibt ja ein Mitwirkungsverfahren. Warum meinen Sie, es genüge nicht, sich bloss dort einzubringen?

Keller: Das ist eine Pseudomitwirkung. Wenn die Kriterien für den Standort Bözberg sprechen, haben wir diesbezüglich gar keine Wahl mehr. Darauf, ob das Endlager kommt oder nicht, hat das Mitwirkungsverfahren keinen Einfluss. Da bin ich völlig fatalistisch. Die Raumplanung wird versagen und einfach nachvollzogen werden. Auch in einer Volksabstimmung könnten wir uns nicht wehren; wir würden schlicht überstimmt. Zum Sachplan geologische Tiefenlager, den der Bundesrat vor einem Jahr in Kraft gesetzt hat, gehört nun eben auch ein Sachzwang.

Sie sehen das Endlager aber auch als Chance fürs Fricktal. Was meinen Sie damit?

Keller: Das wird ein Milliardenprojekt. Es ist üblich, dass bei grösseren Projekten der öffentlichen Hand fünf bis zehn Prozent der Baukosten für den ökologischen Ausgleich verwendet werden. Das muss auch hier geschehen. Die Region muss als Einheit auftreten und dafür kämpfen, dass für sie etwas abfällt.

Was könnte man konkret als Gegenleistung fordern?

Keller: Nebst langfristigen ökologischen Ausgleichsmassnahmen für den Naturschutz geht es schon in den nächsten Jahren darum, dass Geld und Arbeit im Zusammenhang mit dem Endlager in der Region bleiben. Die Drucksachen sollen im Fricktal gedruckt werden. In einem künftig leerstehenden Schulhaus soll die Nagra das Planungs- und Informationszentrum einrichten. Örtliche Ingenieurbüros sollen Aufträge erhalten. Und warum soll man mit den radioaktiven Abfällen, die nicht nur strahlen, sondern auch noch wärmen, in der Gegend nicht heizen können?

Wer müsste aktiv werden?

Keller: Das ist die Schwierigkeit. Die betroffene Region bildet keine Einheit. Wir haben kein mediales Sprachrohr, sind durch die Bezirks- und Konfessionsgrenze getrennt, und die Täler sind unterschiedlich ausgerichtet. Auch die Replas können es nicht. Wir haben keine entsprechende Tradition, wir liegen in dieser Region alle irgendwie zwischendrin.

Woher erwarten Sie Unterstützung?

Keller: Die Lethargie ist dramatisch. Was ich mir erhoffe ist, dass es jungen Leuten, die in dieser schönen Gegend neu Wohnsitz nehmen, nicht egal sein sollte, was hier passiert. Aber die Identifikation mit der Wohnregion ist heute halt auch nicht mehr so stark. Das Leben findet heute innerhalb einer Autostunde statt, der Radius ist grösser geworden. Die Unterstützung muss von der Basis kommen; die Leute, die hier wohnen, sind eingeladen mitzumachen.

Was erwarten Sie von Ihrem Engagement? Was wünschen Sie sich damit auszulösen?

Keller: Das ist noch schwierig zu sagen. Ich mache jetzt mal die Homepage und werde sie alimentieren mit Gedanken. Ich hoffe, dass irgendjemand diese Gedankenwelt teilt und sagt: Ich mache mit. Dann bin ich offen. Wir könnten einen Verein gründen oder eine Gruppierung ins Leben rufen. Aber wenn sich niemand meldet, bleibe ich ein Einzelkämpfer. Einen Businessplan habe ich nicht (lacht). Die Aktualität wird dann von anderen gemacht. Ich muss ja nicht den Takt angeben. Da kommt noch viel auf uns zu, tropfenweise. Je mehr Leute die gleichen Forderungen stellen, desto mehr können wir erreichen. Auch gegenüber den Gemeinden: Wenn wir es fertig bringen, dass sie zusammenstehen und als Region auftreten › zum Beispiel in einem Zweckverband ›, wäre das schön. Wir sind erst am Anfang.

In Bad Säckingen regt sich Widerstand, die deutschen Nachbarn wollen am Verfahren beteiligt werden. Erwarten Sie von dort Schützenhilfe?

Keller: Nein, auch nicht von Atomgegnern aus Basel oder anderswoher. Wir dürfen uns nicht fremdbestimmen lassen, sondern müssen für uns schauen. Diese Einsicht fehlt mir in der laufenden Diskussion.

Jetzt wurde der Planungsperimeter für Umlad und Zufahrt erweitert. Plötzlich fühlen sich weitere Gemeinden betroffen. Was belastet mehr: der Stolleneingang oder das Endlager selbst?

Keller: Das ist gehüpft wie gesprungen. Das Tragische ist, dass alles, wovon die Menschheit gesagt hat, es sei sicher, nicht von Bestand war.

Hier geht es um 100 000 Jahre.  Wie zuversichtlich sind Sie, dass die Anlage so lange hält?

Keller: Wer garantiert mir, dass bis dann nicht jemand eine Atombombe loslässt? Das Zeug ist da, und es ist möglich, dass sich irgendeine verrückte Konstellation ergeben kann. Es ist ja gemacht, um losgelassen zu werden. Wenn so etwas passiert, geht das Tiefenlager Bözberg im allgemeinen Fallout sowieso unter. Überdies: Ob die Menschheit nochmals 100 000 Jahre überlebt, steht auch noch nirgends geschrieben. Das sind absurde Diskussionen. Zur Gefährlichkeit kann ich nichts sagen. Aber Transport und Umlad sind immer etwas Heikles, das bestreitet auch niemand.

Sie hätten also lieber das Tiefenlager gerade unter Ihrem Haus als den Eingang zum Zufahrtsstollen gleich vor Ihrer Haustür?

Keller: Wenn irgendwo etwas passiert, leidet das ganze Gebiet gleichermassen. Es muss nicht direkt über dem Tiefenlager am gefährlichsten sein.

Zurück zum erweiterten Perimeter: Was halten Sie davon?

Keller: Man müsste in diesen Perimeter auch das Zwischenlager und die bestehenden Atomkraftwerke einzeichnen. Deshalb ist man überhaupt auf diese fünf Kilometer gekommen. Ich behaupte: Bei der jetzt angekündigten raumplanerischen Bestandesaufnahme für Umladeanlage und Zufahrt handelt es sich um ein Schattenboxen. Die Standorte der Steinbrüche sind ebenso bekannt wie die Gleisanschlüsse. Villigen hat einen grossen Steinbruch: Hier könnte auch die enorme Menge an Aushubmaterial, die beim Bau eines Zufahrtsstollens anfällt, abgeführt werden. Es ist doch klar, dass man solche Anlagen nicht auf einem Hügel baut.

Also eher nicht im Fricktal?

Keller: Nein.

Wie vertragen sich solche Immissionen mit dem geplanten Jurapark und dem Tourismusland Fricktal?

Keller: Das tangiert einander nicht; an der Oberfläche würde man überhaupt nichts vom Endlager merken.

Vor dem Hintergrund der kontrovers diskutierten Endlagerung: Verträgt es neue Atomkraftwerke?

Keller: Was soll ich dazu sagen? Solange der Verbrauch an Elektrizität dermassen zunimmt, und daran ist nicht zu zweifeln, wird man diese irgendwie produzieren müssen. Ich frage mich: Wohin führen die verschwenderischen Anwendungen des Stroms? Letztlich wird man nicht ums Sparen herumkommen. Das haben wir noch nicht gelernt. Solange wir das Wachstum nicht stoppen bzw. reduzieren können, wird man den benötigten Strom produzieren und zur Verfügung stellen müssen. Atomkraftwerk ja oder nein mündet für mich in die Frage: Wie sparen wir Strom? Und zwar massiv! Da habe ich wenig Hoffnung: Der Mensch ist nicht gemacht, um zufrieden zu sein mit dem, was er hat.