MEDIENSPIEGEL 6.6.09
(Online-Archiv: http://www.reitschule.ch/reitschule/mediengruppe/index.html)

Heute im Medienspiegel:
- Reitschule-Programm
- Mitte-Rutsch im Stadtrat
- Big Brother Video erst im Herbst
- Big Brothers vs Hooligan-Grippe: 2 Walliser melden sich
- Big Brother Käser im Interview
- Big Brother DAP: Auskunft an Geheimdienst über BS-Grossrat
- Veranstaltungszyklus zur Krise
- Offpride: Inti mit Transmann
- Squat Zug: Rückblick
- Visp: Ruhe und Ordnung
- NPD goes Amazon
- Neonazis BRD: eine Feldstudie
- Camp-Realitäten in Libanon
- Atom-Ausstieg: SG + ZH im Vergleich
- Gipfel-Soli-News 6.6.09

----------------------
REITSCHULE
----------------------

Sa 06.06.09
20.30 Uhr - Tojo - Schanotta nach einem Stück von Georg Seidel. Gruppe Wolna.

So 07.06.09
09.00 Uhr - Grosse Halle - Flohmarkt und Brunch
15.00 Uhr - Tojo - Schanotta nach einem Stück von Georg Seidel. Gruppe Wolna.
19.00 Uhr - Tojo - Schanotta nach einem Stück von Georg Seidel. Gruppe Wolna.

Infos: www.reitschule.ch

---------------------
STADTRAT
---------------------

Bund 6.6.09

Im Berner Stadtrat hat sich eine lose Koalition der Mitte gebildet, die ein Gegengewicht zur bisherigen Rot-Grün-Mitte-Mehrheit bildet

Die neue Mitte-rechts-Koalition

Sie treffen und informieren sich über ihre Entscheide und Anträge: Wenn GFL/EVP, BDP/CVP und Grünliberale zusammenspannen, können sie im Stadtrat neue Mehrheiten bilden - wie bei der Rückweisung des Schulreglements.

Bernhard Ott

Peter Künzler nimmt kein Blatt vor den Mund: "Rot-Grün-Mitte ist für uns vor allem noch ein Exekutivwahlbündnis", sagt der Chef der Fraktion GFL/EVP. Im Stadtrat spiele das RGM-Bündnis keine dominierende Rolle mehr. Grund hierfür seien die neuen Mitte-Parteien im Rat, die weniger dem Links-rechts-Schema verhaftet seien. "Die Offenheit von BDP und CVP hat uns mehr Spielraum gegeben", sagt Künzler.

"Auch die SP könnte sich öffnen"

Die GFL/EVP nutzt diesen Spielraum, um vermehrt Koalitionen mit bürgerlichen Parteien zu bilden. Hinter der Rückweisung der Teilrevision des Schulreglements am letzten Donnerstag im Stadtrat steht ein Parteienbündnis aus GFL/EVP, GLP, BDP/CVP, FDP und SVP. Falls es zur Detailberatung gekommen wäre, hätte diese Koalition ein Einheitsmodell "Spiegel" mit gemischten Klassen aus Real- und Sekundarschülern festschreiben wollen. "Plötzlich wurde in der Stadt Bern ein integratives Einheitsmodell mehrheitsfähig", sagt Künzler unter Anspielung auf die Modellvielfalt, die von RGM seit den frühen Neunzigerjahren verteidigt wurde. Natürlich sei die SP gelegentlich irritiert über die Haltung der GFL. Aber auch die SP könnte sich in Zukunft vermehrt öffnen, "sobald sie merken, dass man mit den neuen Fraktionen reden kann", sagt Künzler.

"Das RGM-Powerplay ist vorbei"

Laut BDP/CVP-Kofraktionschef Kurt Hirsbrunner hat sich eine "lose Koalition der Mitte" etabliert. Die Exponenten der Mitte-Parteien diskutierten ergebnisoffen und seien an Lösungen für Sachfragen interessiert. Die BDP/CVP-Fraktion, die Grünliberalen und die GFL/EVP informierten sich nach jeder Sitzung gegenseitig über ihre Entscheide und Anträge. "Wir wissen vor jeder Ratssitzung, was die anderen wollen und wo sich Mehrheiten bilden könnten", sagt Hirsbrunner. An zweimal jährlich stattfindenden Zusammenkünften lege man die "gemeinsamen Linien" fest.

Laut CVP-Stadtrat Henri-Charles Beuchat sind die neuen Mehrheiten "nicht mehr nur punktuell". Es habe sich vielmehr eine Art Pattsituation ergeben. "Die Zeiten des RGM-Powerplays sind vorbei." Der Umgang zwischen den Fraktionen sei "weniger geprägt von Macht und Arroganz". Auch die CVP habe sich Richtung Mitte geöffnet. "Unser Eintreten für einen autofreien Bahnhofplatz wäre vor den letzten Wahlen wohl nicht so eindeutig gewesen", sagt Beuchat.

Für FDP-Fraktionschef Philippe Müller ist nicht nur die CVP in die Mitte gerutscht, sondern auch die GFL nach rechts. Grund für Letzteres sei die Konkurrenz der Grünliberalen. Auch Müller, der aus der Sicht der Linken zur Polarisierung beiträgt, stellt ein "Aufweichen der linksideologischen Erstarrung" fest. Noch vor zwei Jahren wäre sein am Donnerstag genehmigter Vorstoss zur Einrichtung von Sofortarbeitsplätzen für Sozialhilfebezüger "hochkant" abgelehnt worden. Die GFL sei aber nach wie vor "ein unsicherer Kanton", sagt Müller.

GB und SP dämpfen ab

Bei Grünem Bündnis (GB) und SP will man die Differenzen mit der GFL nicht betonen. "Die Mitte ist stärker und pluralistischer geworden", sagt Natalie Imboden (gb). Die GFL sei aber auch in der Vergangenheit gelegentlich aus dem RGM-Bündnis ausgeschert.

"Der gemeinsame Nenner mit der GFL ist nach wie vor gross", sagt SP-Fraktionschefin Giovanna Battagliero. Die Rückweisung der Schulreglementsrevision sei keine Frage neuer Mehrheiten, sondern ein Beispiel für unseriöse Kommissionsarbeit, sagt Battagliero.

-----------------------------------
BIG BROTHER VIDEO
----------------------------------

Bund 6.6.09

Wegen politischen Widerstands kann die Videoverordnung nicht wie geplant in Kraft treten

Käser macht Rückzieher

Den einen geht die Live-Videoüberwachung des öffentlichen Raums zu weit, den anderen sind die Datenschutzbestimmungen zu restriktiv. Polizeidirektor Hans-Jürg Käser muss nun nochmals über die Bücher.

Der Teufel steckt im Detail: Zwar herrscht im Kanton Bern weitgehend Einigkeit darüber, dass die Überwachung von Strassen und Plätzen mittels Videokameras sinnvoll sein kann. Wenn es jedoch um die Umsetzung geht, scheiden sich die Geister. Die Verordnung zur Videoüberwachung ist erst seit Kurzem bekannt, und bereits wehren sich Politiker von links bis rechts mit Vorstössen. Gestern wurde bekannt, dass die Regierung deswegen auf Antrag von Polizeidirektor Hans-Jürg Käser (fdp) die auf 1. Juli geplante Umsetzung der umstrittenen Punkte in den Herbst verschieben musste. Im September wird der Grosse Rat über die Verordnung diskutieren - obschon diese in der alleinigen Kompetenz der Regierung liegt.

Umstritten ist insbesondere die Frage, ob Videobilder nur nachträglich zur Verbrechensaufklärung ausgewertet werden dürfen oder ob auch Live-Überwachungen zulässig sein sollen. Breiten Widerstand lösen auch die Datenschutzbestimmungen aus. So soll es Polizisten beispielsweise verboten werden, bei Demonstrationen in Zivil zu filmen. Der Polizeidirektor wehrt sich gegen den Vorwurf, die Verordnung sei ein unausgereifter Schnellschuss gewesen: Es sei nicht unüblich, dass einzelne Punkte erst später eingeführt würden.

"Enttäuscht über Stadt Bern"

Im "Samstagsinterview" sagt Käser, der diese Woche mit einem Glanzresultat zum Regierungspräsidenten gewählt wurde, er sei enttäuscht über die Stadt Bern, weil sie gegen Videoüberwachung sei. Wolle man Hooligans bestrafen, müsse man sie packen können. "Dafür wäre Videoüberwachung ein geeignetes Mittel." Weiter spricht sich Käser dafür aus, mehr Polizisten anzustellen: Das "subjektive Sicherheitsempfinden" der Bevölkerung sei "deutlich gesunken", und mit "Internetkriminalität, Wirtschaftskriminalität, Menschenhandel und häuslicher Gewalt" kämen immer mehr Aufgaben auf die Polizei zu. (rw/bur)

Seiten 2 und 23

--

Der umstrittene Teil der Videoverordnung tritt vorerst nicht in Kraft - das Parlament soll über Echtzeitüberwachung und in Zivil filmende Polizisten entscheiden

Regierung beugt sich dem politischen Druck

Polizeidirektor Hans-Jürg Käser (fdp) musste für seine Bestimmungen zur Videoüberwachung des öffentlichen Raums harte Kritik einstecken. Nun zieht er die umstrittenen Teile vorerst zurück. Die SP liebäugelt dennoch mit einer Beschwerde.

Reto Wissmann

Selten hat eine Verordnung so viel Staub aufgewirbelt wie jene über den Einsatz von Videoüberwachungsgeräten im öffentlichen Raum. Ende April war sie publiziert worden, und am 1. Juli hätte sie in Kraft treten sollen. Doch unterdessen liegen drei politische Vorstösse gegen die Bestimmungen vor. Von links bis rechts hagelt es Kritik an einzelnen Punkten der Verordnung. An eine geordnete Einführung ist nicht mehr zu denken. Polizeidirektor Hans-Jürg Käser (fdp) hat darum zum Befreiungsschlag ausgeholt und die umstrittenen Passagen zurückgestellt, wie gestern bekannt wurde. Zuerst soll nun der Grosse Rat im September darüber diskutieren, bevor sie dann - allenfalls in abgeänderter Form - am 1. Oktober in Kraft treten können.

Umstrittene Live-Überwachung

Zwei Punkte stehen im Zentrum der Diskussion. Erstens die Echtzeitüberwachung: Polizeidirektor Käser will - mit dem Segen des Gesamtregierungsrats - zulassen, dass Polizisten oder beispielsweise auch Hauswarte Videobilder live am Bildschirm anschauen können. In der politischen Debatte war bisher jeweils lediglich von Aufzeichnungen die Rede gewesen, die bei Bedarf nachträglich von einer Fachstelle der Kantonspolizei zur Verbrechensbekämpfung ausgewertet werden können. Vor allem die SP fühlt sich von Käsers Interpretation hinters Licht geführt. Der politische Konsens sei nur möglich gewesen, weil auf Echtzeitüberwachung verzichtet worden war, sagt SP-Präsidentin Irène Marti Anliker. Ihr Parteikollege Markus Meyer, der die vorberatende Kommission zur Revision des Polizeigesetzes präsidiert hatte, spricht in einer Interpellation von einem "Missverständnis" und legt der Regierung nahe, die Echtzeitüberwachung wieder aus der Verordnung zu streichen.

Obschon Käser den Punkt nun nochmals zur Diskussion stellt, ist Meyer nicht zufrieden. "Das ist der Versuch, etwas nachträglich zu sanktionieren, was im Gesetzgebungsprozess kein Thema war", sagt der Präsident des bernischen Polizistenverbandes. Wenn man die Echtzeitüberwachung wolle, so müsse man dies in einem formal korrekten Verfahren ins Gesetz schreiben, und nicht über eine Verordnung ohne Referendumsmöglichkeiten regeln. Meyer will der SP-Geschäftsleitung beliebt machen, Beschwerde gegen die Verordnung zu führen. Käser hat dafür kein Verständnis: Die Verordnung liege in der Kompetenz des Regierungsrates. Wenn dieser nun das Parlament dennoch darüber diskutieren lasse, sei den Einwänden genügend Rechnung getragen.

Zu viel Datenschutz?

Als zweiter Punkt sind verschiedene Datenschutzbestimmungen umstritten: Laut Videoverordnung soll es künftig Polizisten nicht mehr erlaubt sein, in Zivil Ton- oder Bildaufnahmen bei Demonstrationen oder bei Sportveranstaltungen zu machen. Unter anderem soll zudem auch das Verbreiten von Bildern mit mutmasslichen Straftätern über Massenkommunikationsmittel wie Internet verboten werden. "Die Einschränkungen stammen vom Datenschutz, darüber konnten wir uns nicht einfach hinwegsetzen", sagt Käser. Er macht kein Geheimnis daraus, dass er die Einschränkungen persönlich ablehnt. Die Polizei ist bei diesen Entscheiden nicht einbezogen worden und darf sich auch jetzt nicht äussern. Es ist aber ebenfalls kein Geheimnis, dass sie sich in ihrer Arbeit stark behindert fühlt.

Diese Bedenken haben Vertreterinnen und Vertreter von BDP, Grünen, SP und FDP in zwei Motionen aufgenommen. "Die Restriktionen im Namen eines allumfassenden Datenschutzes sind nicht verhältnismässig und kontraproduktiv. Gesamthaft resultiert ein Verlust an Sicherheit für die Allgemeinheit", schreiben die Motionäre. Entsprechend zufrieden sind sie nun über die Vertagung der Einführung: "Das ist ein vernünftiges Vorgehen, alles andere wäre ein Murks gewesen", sagt Barbara Mühlheim (grüne). In einer Nacht- und Nebelaktion seien Datenschutzbestimmungen in die Verordnung eingeflossen, die nun korrigiert werden könnten. "Wahrscheinlich ist unterdessen die ganze Regierung etwas überrascht, was sie da verabschiedet hat." Auch Samuel Leuenberger (bdp) begrüsst den Verschiebungsentscheid und wertet ihn als Indiz dafür, dass sich unterdessen auch der Regierungsrat seiner Sache nicht mehr so sicher ist.

Käser: Nicht unausgereift

Der Polizeidirektor will diese Einschätzung jedoch nicht gelten lassen: "Es gibt offensichtlich noch offene Fragen, die geklärt werden müssen", sagt Hans-Jürg Käser. Er wehrt sich auch gegen den Vorwurf, die Verordnung sei ein unausgereifter Schnellschuss gewesen. Es sei ein gängiges Verfahren, dass einzelne Punkte erst später eingeführt würden.

--

Peinlich, aber vernünftig

Kommentar

Reto Wissmann

Bei jeder Gelegenheit betont der kantonale Polizeidirektor Hans-Jürg Käser (fdp) den Nutzen der Videoüberwachung und kritisiert gar die Stadt Bern, wenn sie seiner Überzeugung nicht folgt. Geht es jedoch um die Grundlagen für die konkrete Umsetzung, macht der neue Regierungspräsident keine gute Figur. Seine Videoverordnung ist bereits abgestürzt, bevor sie in Kraft getreten ist. Die Hauptverantwortung dafür muss Käser übernehmen. Getreu seinem Ruf als sicherheitspolitischer Hardliner hat er die Live-Überwachung in die Verordnung geschleust, obschon bei der Gesetzesberatung im Parlament lediglich von einer nachträglichen Auswertung der Videos zur Verbrechensaufklärung die Rede war. Nicht überzeugend ist auch, dass sich Käser vom Datenschutz Einschränkungen aufdrängen liess, die der Polizei die Arbeit extrem erschweren. Ginge es nach der neuen Verordnung, dürften Polizisten bei Demonstrationen nur noch uniformiert oder aus Polizeiautos heraus und nicht mehr unerkannt Videoaufnahmen machen.

Insgesamt erhält man den Eindruck, die Videoverordnung sei ein unausgereifter Schnellschuss. In einem dermassen heiklen Bereich, in dem lange um einen politischen Kompromiss gerungen wurde, ist das mehr als störend. Wenn Käser nun einen Rückzieher macht und die umstrittenen Punkte zurückzieht, ist das zwar peinlich, aber auch vernünftig. Es handelt sich um brisante Fragen von grosser Tragweite, die zuerst einer politischen Klärung bedürfen.

Obschon der Polizeidirektor die Hauptverantwortung für das Debakel trägt, müssen sich auch andere Kritik gefallen lassen.

Allen voran Käsers Regierungsratskollegin und -kollegen, die die Verordnung durchgewunken haben. Warum hat niemand erkannt, dass bezüglich Echtzeitüberwachung und Datenschutz noch wichtige Fragen zu klären sind? Hat die rot-grüne Mehrheit gar ihre Macht ausgespielt, um gegen Käsers Willen die nicht zu Ende gedachten Datenschutzbestimmungen in die Verordnung zu drücken? Es wäre traurig, wenn das im Jahr vor den Wahlen der neue Stil der bisher äusserst konstruktiven Regierung wäre.

---

BZ 6.6.09

Videoüberwachung

Drei Monate Verspätung

Die Verordnung zur Videoüberwachung tritt am 1.Juli nur teilweise in Kraft. Der Grosse Rat will noch einmal diskutieren.

Die Ausschreitungen und Sachbeschädigungen nach Fussballspielen im Stade de Suisse, insbesondere vor und nach dem Cupfinalspiel YB gegen Sion, wirken sich jetzt auch auf die Inkraftsetzung der Verordnung über den Einsatz von Videoüberwachungsgeräten bei Massenveranstaltungen und an öffentlichen Orten aus. Der Grund: Neben einer breiten Diskussion in der Öffentlichkeit haben jetzt Grossrätinnen und Grossräte politische Vorstösse zum Thema eingereicht. Und da diese allesamt für dringlich erklärt wurden, wird der Grosse Rat diese bereits in der Septembersession behandeln.

Warten auf den Grossen Rat

"Es macht keinen Sinn, die Verordnung integral am 1.Juli in Kraft zu setzen, um diese dann im Herbst wegen zweier Artikel wieder ändern zu müssen", begründet der bernische Polizeidirektor Hans-Jürg Käser (FDP) die Entscheidung, die Artikel 4 und 13 der Verordnung (siehe Text rechts) erst nach deren Beratung durch den Grossen Rat in Kraft zu setzen. Denn heisst das Parlament eine der Motionen gut, dürfte dies den Wortlaut der Verordnung verändern. Integral wird die Videoverordnung dann am 1.Oktober in Kraft gesetzt. Aber: An der Inkraftsetzung aller anderen Artikel der Videoverordnung auf den 1.Juli will Käser festhalten, "damit Gemeinden, die dies wünschen, bei der Kantonspolizei ein Gesuch einreichen können".

Warum plötzlich die Frage der Echtzeitüberwachung umstritten ist, kann sich Regierungspräsident Käser nicht gänzlich erklären. In den Diskussionen der vorberatenden Kommission sei die Echtzeitüberwachung nämlich nie ein Diskussionspunkt gewesen.

Kein "Big Brother"

Einzig FPS-Grossrat Jürg Scherrer (Biel) habe sich für eine flächendeckende Echtzeitüberwachung ausgesprochen. Doch eine solche sei schon darum nicht möglich, weil nie alle Gemeinden eine Überwachung wünschten. "Niemand will ‹Big Brother is watching you› flächendeckend über den Kanton Bern", betont Käser.

 Mit der Änderung des Polizeigesetzes hat der Grosse Rat Ende 2008 die gesetzliche Grundlage für Videoüberwachungen im öffentlichen Raum zur Vorbeugung von kriminellen Handlungen geschaffen. Am 29. April verabschiedete der Regierungsrat die Ausführungsbestimmungen und beschloss, diese zeitgleich mit dem revidierten Polizeigesetz per 1.Juli 2009 in Kraft zu setzen.

Urs Egli

--

Verordnung

Nur zwei Artikel sind umstritten

Folgende Artikel der Verordnung über den Einsatz von Videoüberwachungsgeräten bei Massenveranstaltungen und an öffentlichen Orten werden im Kanton Bern nicht bereits am 1. Juli 2009 in Kraft gesetzt:

Artikel 4, Abs. 2: Die Bild- und Tonaufzeichnungen sind durch uniformierte Korpsangehörige vorzunehmen. Die Verwendung von an Kundgebungsorten sowie in und vor Stadien fest installierten Bildaufzeichnungsgeräten ist zulässig. Bild- und Tonaufzeichnungen dürfen zudem aus öffentlichen und privaten Gebäuden und von als polizeiliche Einsatzmittel erkennbaren Fahrzeugen und Fluggeräten aus gemacht werden.

Artikel 4, Abs. 3: Unzulässig ist - a) das Erstellen von Bild- und Tonaufzeichnungen aus unbemannten Flugkörpern, auf denen einzelne Personen identifiziert werden können; b) das Anbringen von Bild- und Tonaufzeichnungsgeräten an Gegenständen, die von Teilnehmenden an der Massenveranstaltung mitgetragen werden; c) das Verbreiten von Bild- und Tonaufzeichnungen ausserhalb der Einsatzleitung mit Massenkommunikationsmitteln.

Artikel 13: 1. Die Auswertung der Bildaufzeichnung erfolgt durch die Kantonspolizei. 2. Die zur Anordnung der Videoüberwachung zuständige Behörde kann eine Echtzeitüberwachung der Bildübermittlung durchführen. 3. Erfolgt eine Echtzeitüberwachung, sind die Gesichter von erfassten Personen mit technischen Mitteln unkenntlich zu machen. Wird eine kritische Situation erkennbar, darf die einschränkungslose Bildanzeige eingeschaltet werden.
ue

---

Berner Rundschau 6.6.09

Überwachung überdacht

Nach dem Konsens zur Videoüberwachung herrscht jetzt Konfusion

Am 1. Juli hätte die Videoverordnung in Kraft treten sollen. Nun wartet die Regierung zuerst die Diskussion im Grossen Rat ab. Zu viele Fragen sind offen.

Für Markus Meyer hatte es nach einer unproblematischen Sache ausgesehen. Der SP-Grossrat aus Roggwil hatte als Präsident der vorberatenden Kommission zum neuen Polizeigesetz einen "breiten Konsens" ausgemacht. "Die Regierung hat aber die Umsetzung nicht gut gemacht", sagt Meyer, und so wird der Grosse Rat in der Septembersession nochmals debattieren - über zwei heikle Artikel in der Videoverordnung. Erst danach will der Regierungsrat über das weitere Vorgehen entscheiden.

Vor allem wegen der Echtzeitüberwachung ist Polizeidirektor Hans-Jürg Käser (FDP) in die Kritik geraten. Sie wird gemäss Verordnung erlaubt. Dabei, sagt Meyer, sei davon im Grossen Rat nie die Rede gewesen. Nur Jürg Scherrer (FPS) habe darauf hingewiesen, dass sie zu seinem Bedauern nie ein Thema gewesen sei.

"Nicht flächendeckend"

"Wir wollen keine flächendeckende Echtzeitüberwachung", sagt Käser. Wenn eine Gemeinde sie wünsche, müsse sie bei der Kantonspolizei die Einwilligung holen und für die Kosten aufkommen. "Der Begriff Echtzeitüberwachung wird nicht von allen gleich definiert", sagt Käser. Das müsse im Grossen Rat erst diskutiert werden.

 Etwas kritischer sieht es Meyer. "Ich bin nicht ein Gegner der Echtzeitüberwachung", sagt er, "aber wenn man sie einführt, muss man es auf korrekte Art und Weise tun - mit einem normalen Gesetzgebungsverfahren." Meyer hatte Mitte Mai eine dringliche Interpellation zur Echtzeitüberwachung eingereicht. Es gebe viele Fragen, die seriös zu beantworten seien. Etwa, wo derartige Überwachung zulässig sei oder wer die Aufnahmen konsultieren dürfe.

 Widerstand aus dem Grossen Rat provozierte auch, dass gemäss Verordnung nur noch uniformierte Polizisten Videoaufnahmen machen dürfen. Eine überparteiliche Motion fordert, dass dies auch Polizisten in zivil erlaubt ist. "Wenn die Regierung das wirklich will, müssen wir das schlucken", sagt Meyer dazu. "Aber ich glaube es nicht. Es wurde unsorgfältig gearbeitet." Aus polizeitaktischen Gründen sei es aber schlecht, wenn nur uniformierte Polizisten filmen dürften, sagt Grossrat Meyer, der auch den Berner Polizeiverband präsidiert. "Dies fordert der Datenschutz", sagt Käser. Persönlich möchte er, dass auch zivil gefilmt werden kann.

 Der Polizeidirektor erwartet nun eine "interessante Diskussion" im Grossen Rat. Am 1. Oktober sollen dann die noch umstrittenen Artikel - vielleicht revidiert - in Kraft treten. Die anderen Teile der Verordnung werden wie vorgesehen mit dem revidierten Polizeigesetz am 1. Juli umgesetzt. (joh)

---

Regionaljournal Bern 5.6.09

Schritt zurück bei der Videoüberwachung im Kanton Bern (3:00)
http://real.xobix.ch/ramgen/srdrs/regibern/2009/rbe1705062009.rm?start=00:05:54.500&end=00:08:54.600

-----------------------------------------------------------
BIG BROTHERS VS HOOLIGAN-GRIPPE
-----------------------------------------------------------

BZ 6.6.09

Krawalle

Weitere zwei Hooligans meldeten sich

Erfolgreiche Fahndung nach Hooligans im Internet: Gestern stellten sich zwei Walliser Randalierer der Kantonspolizei.

Nach den Krawallen am Cupfinal zeigt die Öffentlichkeitsfahndung im Internet der Kantonspolizei Bern Wirkung: Zwei Walliser, deren Bild am Donnerstag im Internet aufgeschaltet wurde, haben sich gestern bei der Kantonspolizei Bern gemeldet.

 "Nach der Identifizierung wurden ihre Fotos sofort aus dem Internet genommen", sagte gestern Kantonspolizei-Mediensprecher Jürg Mosimann auf Anfrage dieser Zeitung. Die beiden Straftäter haben jetzt mit rechtlichen Konsequenzen zu rechnen. Bei den Ermittlungen nach unbekannten Personen aus dem Wallis arbeitet die Kantonspolizei Bern mit den dortigen Strafverfolgungsbehörden zusammen.

Seit den Ausschreitungen rund um den Cupfinal vom 20. Mai hat die Kantonspolizei Bern bisher 71 Personen identifiziert; 6 davon nach der Veröffentlichung im Internet auf www.police.be.ch.

Die Veröffentlichung der Straftäter im Internet ist in der Öffentlichkeit mehrheitlich gut angekommen. Die positive Zwischenbilanz zieht Mosimann gestützt auf direkte Zuschriften aus der Bevölkerung. "Seit die Bilder der mutmasslichen Täter im Internet aufgeschaltet sind, gehen bei uns laufend Hinweise ein, die jetzt überprüft werden müssen", sagt Jürg Mosimann.

Jürg Spori

-------------------------------------
BIG BROTHER KÄSER
-------------------------------------

Bund 6.6.09

Samstagsinterview

Hans-Jürg Käser

"Ich versuche zu verstehen, was Bürger denken"

Er sei nicht abgehoben, sagt Hans-Jürg Käser, der neue Berner Regierungspräsident, und er wehrt sich auch gegen den Vorwurf, er sei ein "Hardliner-Polizeidirektor". Er will nicht "jedes Problem mit einem Verbot lösen", möchte aber mehr Polizisten anstellen und findet, im Fall der Hooligans dürfe Datenschutz nicht zum "Täterschutz" werden.

Interview: Anita Bachmann, Rudolf Burger

"Bund":

Herr Käser, Sie sind mit 147 von 156 Stimmen zum Regierungspräsidenten gewählt worden. Zufrieden?

Hans-Jürg Käser: Sehr zufrieden. Ich bin überwältigt von diesem Resultat.

Worauf führen Sie dieses Resultat zurück?

Ich war acht Jahre im Grossen Rat, davon die letzten zwei Jahre als Fraktionschef der FDP. Die langjährigen Grossratsmitglieder kennen mich. Ich glaube, dass ich auf Leute zugehen und zuhören kann. Es ist wichtig, dass sich die Parlamentarier ernst genommen fühlen.

Als Regierungspräsident werden Sie noch weniger zu Hause sein.

Schon in den drei Jahren, in denen ich Regierungsrat bin, gab es nur sehr wenige Wochenenden ohne Anlässe. Zu meiner Direktion gehören der Sport und das Schiesswesen. Zahlreiche Verbände erwarten mich an ihren Versammlungen.

Heute Samstag sind Sie am Feldschiessen?

Am Samstag bin ich zuerst am Festakt der Uni Bern im Münster und am Nachmittag am Feldschiessen.

Sie sehen sich als volksnaher Politiker?

Ich bin nicht abgehoben und versuche zu verstehen, was die Bürger denken. Elfeinhalb Jahre war ich vollamtlicher Stadtpräsident in Langenthal. Volksnähe habe ich dort gelebt. Es gehört wohl zu meinen Talenten, bei Auftritten die Zuhörerschaft abzuholen, Aussagen herüberzubringen.

Geht es bei Ihren Auftritte in der Öffentlichkeit immer auch um Wahlkampf?

Jedes Regierungsmitglied ist permanent im Wahlkampf, ob es dies will oder nicht. Ich bin ein Fan von Aphorismen, und es gibt einen, der heisst: Wer in der Öffentlichkeit kegelt, muss sich gefallen lassen, dass seine Treffer gezählt werden.

Was macht ein Regierungspräsident ausser Sitzungen leiten und repräsentieren?

Das sind genau die zwei Elemente: Er ist Primus inter Pares, hat aber weder mehr Macht noch mehr Einfluss noch mehr Rechte als die anderen Regierungsräte.

Auf Sie kommt ein schwieriges Jahr zu, Stichwort Wirtschaftskrise. Hätten Sie nicht lieber ein einfacheres Jahr gehabt?

Es geht nicht darum, sich als Regierungspräsident zu profilieren. Der Bürger erwartet gerade in schlechten Zeiten, dass die Regierung ihre Verantwortung wahrnimmt.

Aber für das Wahljahr 2010 wäre es besser gewesen, Sie könnten sich in grossem Finanzüberschuss sonnen, statt überall bremsen zu müssen.

Die Ausgangslage für den Kanton Bern ist nicht komfortabel. Aber ich war in Langenthal in einer Zeit Stadtpräsident, als die Stadt noch kein Geld hatte. Wenn das Geld fehlt, kann man dem Volk einfacher erklären, wieso man ein Projekt nicht realisieren kann. Seit die Aktien der Energiegesellschaft an die BKW verkauft wurden, ist die Stadt schuldenfrei. Jetzt kommen Bedürfnisse und Ansprüche, und für die Politik ist es viel schwieriger geworden.

Als Regierungspräsident haben Sie jetzt weniger Zeit, sich um die Geschäfte der Polizeidirektion zu kümmern.

Das glaube ich nicht. Der Regierungspräsident muss zwar alle Regierungsgeschäfte noch besser kennen als ein Regierungsrat, der nur seine Direktion vertreten muss. Meine Priorität liegt aber weiter bei den Aufgaben als Polizei- und Militärdirektor.

Im Gespräch ist Ihre Direktion momentan vor allem wegen Sicherheitsfragen rund um Sportanlässe.

Wenn rund um Fussball- und Eishockeyspiele Ausschreitungen passieren, dann beschäftigt dies die Bürger, die Polizei und mich. Zusammen mit den Verantwortlichen in den Behörden, den Vereinen und Verbänden müssen wir nach Lösungen suchen.

Die Fanarbeit der Vereine haben Sie nach dem Cupfinal heftig kritisiert. Wieso?

Wenn die Fanarbeit zu den Resultaten führt wie am Cupfinal, dann ist sie noch nicht am Ziel. Aber Fanarbeit ist ein wichtiges präventives Mittel. Es geht auch um Kontrolle: Es gibt eine Hooligandatenbank und Stadionverbote, aber am Eingang bringt man es nicht fertig, die Leute mit einem Stadionverbot draussen zu halten. Weiter schafft man es nicht, Feuerwerk ausfindig zu machen, obwohl der kleinste Feuerwerkskörper 17 Zentimeter lang ist.

Das gelingt nicht, weil der Intimbereich für die Kontrolleure tabu ist.

Ja. Für die Eintrittskontrolle und die Sicherheit im Stadion sind der Klub und der Stadionbetreiber zuständig, für die Sicherheit draussen die Polizei. Wenn der Polizei mehr Aufgaben zugewiesen würden, würde das mehr kosten. Die Kosten sind aber schon enorm hoch: Vor sieben Jahren haben die Kosten für die Sicherheit bei Sportanlässen 200000 Franken betragen, jetzt sind wir bei 2,8 Millionen Franken pro Jahr.

Und von YB und SCB bekommen Sie nur gerade je 60 000 Franken.

Dieser Betrag geht an die Stadt Bern. Aber was Polizeieinsätze effektiv kosten, hat die Stadt Langenthal erfahren: Im Februar 2008 haben wir der Stadt für den Polizeieinsatz beim Spiel SC Langenthal - EHC Olten eine Rechnung über 60 000 Franken geschickt.

Wurde die Rechnung bezahlt?

Die Stadt hat die Rechnung beglichen, ist aber darüber alles andere als glücklich.

Würde das Ihrer Vorstellung entsprechen, dass für jeden Polizeieinsatz bei Sportanlässen Rechnungen verschickt werden?

Nein, ich wäre für eine Sicherheitsabgabe, die auf Gemeindeebene eingeführt werden könnte. Dafür gibt es bereits eine gesetzliche Grundlage; also, liebe Gemeinden, gehet hin, tuet solches.

Die Klubs sagen, sie seien nur für die Sicherheit im Stadion zuständig, ausserhalb des Stadions sei es die Polizei.

Die Schnittstelle zwischen innen und aussen ist ein Problem. Draussen entladen sich die aufgestauten Emotionen. Deshalb bin ich von der Stadt Bern enttäuscht, weil sie keine Videoüberwachung will.

Das wäre eine Massnahme, die Sie sehen würden?

Ja. Es geht um diejenigen Leute, die straffällig werden. Wenn wir diese Leute der Strafverfolgung zuführen wollen, müssen wir sie packen können. Dafür wäre die Videoüberwachung ein geeignetes Mittel.

Sie haben einmal erklärt, Sanktionen müssten schmerzen, die Leute müssten eingesperrt werden und Bussen wehtun.

So ist es. Wenn in England einer, der ein Stadionverbot hat, in einem Stadion erwischt wird, zahlt er beim ersten Mal 15000 Franken Busse. Wir haben nur Bussen im Hunderterbereich.

Braucht es eine Verschärfung der gesetzlichen Grundlagen?

Davon bin ich überzeugt. Es geht um vielleicht ein Prozent der Matchbesucher. Ich habe sehr viele Sympathien für die Grundrechte in diesem Land, aber wenn die Grundrechte vor allem für das Prozent gilt, das sich nicht an unsere Regeln hält und die anderen 99 Prozent zu Opfern werden, ist für mich das Verhältnis ver-rückt.

Das Bundesgericht hat entschieden, dass Sportveranstalter 60 bis 80 Prozent der Sicherheitskosten übernehmen müssen. Sehen Sie das als möglichen Massstab?

Das Urteil stützt sich auf Vorfälle im Kanton Neuenburg und kann nicht 1:1 in andere Kantone übertragen werden. Das Urteil zeigt mir aber doch, dass die Sportveranstalter einen Teil der Verantwortung und namentlich der Kosten für die Sicherheit übernehmen müssen.

Wären die 30 bis 50 Prozent Übernahme der Sicherheitskosten durch die Vereine, wie jetzt ein Vorstoss im Berner Stadtrat fordert, eine gute Möglichkeit?

Es ist zu früh, jetzt über Grössenordnungen zu reden. Es ist aber sicher so, dass die Sicherheitsverantwortlichen der Klubs, die gemäss den Satzungen der Swiss Football League für die Sicherheit inner- und ausserhalb des Stadions zuständig sind, vermehrt einbezogen werden müssen. Das wird die Klubs etwas kosten.

Zum ersten Mal in Bern sind nach den Ausschreitungen nach dem Cupfinal Fotos von mutmasslichen Tätern ins Internet gestellt worden. War das richtig?

Ja. Die entsprechenden Untersuchungsbehörden haben dem Gesuch der Kantonspolizei entsprochen.

Ihre schärfsten Gegner in dieser Sache sind wohl die Datenschützer.

Für mich ist der Datenschutz ein wichtiges Element im Rechtsstaat. Aber wenn er in solchen Fällen zum Täterschutz wird, ist das nicht der Sinn des Datenschutzes. Im Fall des Spiels Zürich - Basel durfte die Polizei die Daten der Randalierer, die sie auf dem Bahnhof Altstätten festgenommen hat, nicht an den Stadionbetreiber weiterleiten. Diese Randalierer kommen beim nächsten Spiel wieder. Das kann nicht im Sinn des Gesetzgebers sein.

Die Videoüberwachung ist im Kanton Bern zwar erlaubt, aber zwei Artikel der entsprechenden Verordnung sind im Grossen Rat attackiert worden.

Wir werden diese Vorstösse im September im Grossen Rat behandeln. Die Regierung hat am Mittwoch beschlossen, dass die Verordnung am 1. Juli in Kraft tritt - mit Ausnahme dieser zwei Artikel (siehe auch den Beitrag auf Seite 23, die Red.).

Der "Bund" hat in einem Kommentar geschrieben: "Ein Jahr vor den Wahlen will sich der Polizeidirektor als sicherheitspolitischer Hardliner profilieren."

Wir machen nur unsere Aufgabe. Die Revision des Polizeigesetzes ist im Grossen Rat klar angenommen worden. Da kann keine Rede sein von einem "Hardliner-Polizeidirektor". Es geht darum, dass eine absolute Minderheit, die sich schlecht aufführt, wirkungsvoll gepackt und ihrer Strafe zugeführt werden kann.

Wie läuft die Integration der städtischen Polizeikorps in die Kantonspolizei?

Wir sind auf Kurs. Es ist ein anspruchsvolles Projekt, ein Korps von 600 Leuten in ein Korps von 1500 Leuten zu integrieren.

Herr Nause, Polizeidirektor der Stadt Bern, redet ja schon wieder von einer Ortspolizei.

Sicher, aber 65 Prozent der Bevölkerung haben sich für eine Einheitspolizei ausgesprochen, in der Stadt Bern war die Zustimmungsquote sogar noch höher.

Anders ausgedrückt: Was Herr Nause vorgebracht hat, war eine Schnapsidee?

Ausserhalb der Kantonspolizei gibt es keine uniformierte Polizei mehr.

Sie haben einmal erklärt, Sie brauchten 200 zusätzliche Polizisten. Ist das angesichts der zusätzlichen Kosten von 30 bis 40 Millionen nicht eine Illusion ?

Das ist keine Illusion, sondern eine Notwendigkeit. Das subjektive Sicherheitsempfinden ist in der Bevölkerung deutlich gesunken. Weiter muss die Polizei gestützt auf das neue Strafgesetz bei Straftaten immer mehr und immer vertieftere Abklärungen machen. Dazu kommen Internetkriminalität, Wirtschaftskriminalität, Menschenhandel und häusliche Gewalt. Diese zusätzlichen Aufgaben kann die Polizei nicht mit dem stets gleichen Personalbestand leisten.

Irgendwo im Kantonsbudget müssten aber die zusätzlichen Millionen gespart werden.

Wie gesagt: Für die Verstärkung der öffentlichen Sicherheit braucht es mehr Geld und mehr Personal. Es kommt heute schon vor, dass jüngere Polizisten, die im Ordnungsdienst eingesetzt werden, im Monat vielleicht noch an einem Wochenende frei haben. Das geht an die Substanz.

Nochmals: Woher sollen die zusätzlichen Mittel herkommen? Eine Steuererhöhung liegt ja wohl nicht drin.

Nein. Wir werden die Vorlage voraussichtlich in den Grossen Rat bringen. Dem Grundsatz haben alle Fraktionen, von links bis rechts, bereits zugestimmt. Ich halte an dieser Vorlage fest, weil sie nötig ist.

Die Vorlage stammt aus den Zeiten vor der Wirtschaftskrise. Jetzt sieht es vielleicht etwas anders aus.

Nein. Das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung hat sich mit der Wirtschaftskrise nicht zum Positiven gewendet, im Gegenteil.

Das subjektive Sicherheitsempfinden sei gesunken, sagen Sie. Wie aber sehen die tatsächlichen Zahlen aus?

Die Zahl der Straftaten ist etwa gleich geblieben. Die neuen statistischen Erhebungen lassen Vergleiche zu früheren Jahren etwas schwierig erscheinen. Tendenziell haben aber die Delikte gegen Leib und Leben zugenommen, und die Täter sind immer jünger geworden. Es gibt immer mehr Minderjährige, die Delikte gegen Leib und Leben begehen. Das ist für die Gesellschaft ein grosses Problem.

Was läuft in unserer Gesellschaft falsch?

Seit der 68er-Bewegung geht man mit jungen Menschen anders um. Mit den Resultaten dieser Entwicklung werden wir jetzt konfrontiert. In manchen Bereichen hat die 68er-Bewegung viel Positives gebracht, man geht unverkrampfter mit der Macht um, es gibt weniger grosse Hürden . . .

. . .  aber jetzt kommt das "Aber".

Ja. Alle Leute mit Kindern wissen, das Kinder Leitplanken, Regeln und Grenzen brauchen. Wenn das fehlt, werden Grenzen ausgereizt, bis es zum Eklat kommt.

Als eine Ursache der Probleme mit Jungen werden Gewaltvideos und Gewaltvideospiele gesehen. Es gibt Vorstösse, das zu verbieten.

In dieser Gesellschaft ist man skeptisch gegen staatliche Gewalt, skeptisch gegenüber der Polizei. Aber im Grossen Rat werden viele gesellschaftliche Probleme in einen Vorstoss gegossen, der Verbote fordert. Ein Bekannter von mir war 32 Jahre in den USA und kam dann zurück in den Kanton Bern. Er sagt, es sei Wahnsinn, alles sei reglementiert, und was nicht reglementiert sei, sei verboten. Ich glaube nicht, dass man jedes Problem mit einem Verbot lösen kann.

Dann sind Sie gegen ein Verbot für Gewaltvideos und Gewaltvideospiele.

So generell möchte ich das nicht sagen. Aber wer setzt ein solches Verbot durch, wer kontrolliert, ob es eingehalten wird?

Sie mit Ihrer Polizei.

Das ist genau das Problem: Es kommt immer mehr auf die Polizei zu, aber wenn sie sagt, sie sei am Anschlag, sie brauche mehr Personal, fehlt es an Geld.

Ein Verbot, das demnächst in Kraft tritt, am 1. Juli, ist das Rauchverbot in Restaurants. Für Sie als Pfeifenraucher wird das nicht ganz einfach sein.

Ich hätte eine Lösung vorgezogen, bei der man ohne Gesetz allein auf der Toleranzschiene gefahren wäre. Aber das Rauchverbot ist ein Megatrend, gegen den man sich nicht stellen kann.

Sie werden in nächster Zeit viel über den Kanton Bern reden müssen. Machen Sie einen kurzen Werbespot.

Der Kanton Bern ist eine kleine Schweiz. Er hat fast eine Million Einwohner, ist Sitz der Bundesregierung, ist landschaftlich wunderschön und wirtschaftlich viel besser, als er gemacht wird. Ich habe den Eindruck, der Grossteil der Bewohnerinnen und Bewohner lebt gerne im Kanton Bern.

Er besteuert aber seine Bürger enorm hoch, Rang 20 unter 26 Kantonen.

Keine Frage, in Bezug auf die natürlichen Personen sind wir schlecht positioniert, bei den juristischen Personen stehen wir recht gut da. Aber wir sind halt ein richtiger Kanton, nicht eine grössere Gemeinde, die im Stade de Suisse Platz hat. Wir bieten bis in die entlegensten Täler entsprechende Infrastrukturen. Das ist eine andere Ausgangslage als etwa für den Kanton Zug.

Wer so vom Kanton Bern schwärmt, macht auch im Kanton Bern Ferien.

Für den Sommer habe ich keine Auslanddestination gebucht, ich werde sicher einzelne Tage an einem schönen Ort im Kanton Bern verbringen.

Wo wäre ein solcher Ort?

Zum Beispiel im Saanenland oder im Gebiet Brienz und Brienzersee.

------------------------------
BIG BROTHER DAP
------------------------------

Tagesanzeiger 6.6.09

Geheimdienst gibt Politikerdaten weiter

Der Dienst für Analyse und Prävention (DAP) stellte einem ausländischen Geheimdienst delikate Angaben zu mindestens einem Basler Volksvertreter zu.

Von Thomas Knellwolf, Basel

Eigentlich war es eine gute Kunde für Mustafa Atici, den Lokalpolitiker, Ingenieur und Unternehmer aus Basel. Eigentlich. Der Schweizer Inlandgeheimdienst teilte dem SP-Grossrat, der in der Türkei aufgewachsen ist, vergangene Woche mit, dass Angaben zu seiner Person aus dem "Informatisierten Staatsschutz-Informations-System (ISIS)" gelöscht worden seien. Im Anschluss an die Meldung, welche die Harmlosigkeit der Fichierung Aticis bestätigt, legte der Dienst für Analyse und Prävention aber Beunruhigendes offen. In einem Brief an den Parlamentarier schreibt der DAP, er habe vor zwei Jahren einen "ausländischen Nachrichtendienst" auf "nicht bestätigte, jedoch mögliche Verbindungen" Aticis "zu einer staatsschutzrelevanten Organisation" aufmerksam gemacht. Das Schreiben, das Ad-interim-Direktor Jürg Bühler zeichnet, liegt dem TA vor.

Der DAP will nicht sagen, an welchen Geheimdienst er die Informationen weitergegeben hat, die sich nun als so irrelevant erwiesen haben, dass er sie im eigenen System löschte. Sprecher Sebastian Hueber lässt sich immerhin entlocken: "Es handelt sich nicht um den türkischen Nachrichtendienst." Und weiter: Der "Partnerdienst" sei über die Löschung unterrichtet worden. Auf die Frage, ob weitere Daten zu Politikern ins Ausland weitergegeben wurden, heisst es nur: "Der DAP macht keinen Unterschied zwischen Politikern und Nichtpolitikern." Fest steht, dass der Inlandgeheimdienst mindestens sieben weitere Basler Parlamentarier fichiert und die Einträge wieder gelöscht hat. Und dass der DAP weitergegebene Daten nicht mehr unter Kontrolle hat. Auf Umwegen - so fürchten die betroffenen Basler Parlamentarier - könnten die Angaben auch nach Ankara gelangen. Die Türkei gilt bekanntlich in Sachen Menschen- und Minderheitenrechte nicht als leuchtendes Vorbild. Die Fichierung in der Schweiz könnte für die Lokalpolitiker trotz Löschung unangenehme Spätfolgen haben - gerade für den kurdischen Alewiten Atici, der sich oft am Bosporus aufhält.

Aus dem DAP-Brief geht hervor, wie der Inlandgeheimdienst seine Informationen über Atici gewann: vermutlich von einem Wahlflyer und aus der Presse. Erwähnt wird "ein Polizeibericht vom Oktober 2004 über Aktivitäten einer staatsschutzrelevanten Organisation, die für eine Veranstaltung warb". Aticis Name habe auf einem "Werbemittel" gestanden.

Daneben erwähnt ist ein Bericht über den Einzug von "populären politischen Repräsentanten Kurdistans" in den Basler Grossen Rat. Ende Oktober 2004 freuten sich türkische wie kurdische Medien über die Wahl von gleich fünf türkischen und kurdischen Baslern ins Parlament des Stadtkantons. Grund genug für den - wie sich nun zeigt - übereifrigen DAP, die erwähnten Frischgewählten allesamt in seine Datenbank mit mittlerweile mehr als 100 000 Einträgen aufzunehmen.

In der Schweiz ist es dem Geheimdienst zwar untersagt, Politiker zu bespitzeln, wenn kein Verdacht auf "terroristische, nachrichtendienstliche oder gewalttätig extremistische Tätigkeiten" besteht. Das zuständige Verteidigungsdepartement beteuert, es habe sich ans Gesetz gehalten.

---

Basler Zeitung 6.6.09

Fichen endlich gelöscht

Basel. Ein Jahr, nachdem die Geschäftsprüfungskommission des Grossen Rats die Existenz von Staatsschutz-Fichen der SP-Grossrätin Tanja Soland und des SP-Grossrats Mustafa Atici publik gemacht hat, scheint die sogenannte Basler Fichen-Affäre endlich eine Wende zu nehmen, teilt die SP Basel-Stadt mit. Während Solands Eintrag - wegen eines Bewilligungsgesuchs für eine Demonstration - kurz nach Bekanntgabe wieder gelöscht werden konnte, musste Atici bis Ende Mai 2009 warten. Bei ihm handelte der Eintrag von Aticis Engagement in Migrationsorganisationen.

---

Basellandschaftliche Zeitung 6.6.09

Staatsschutz: SP stellt Forderungen

Die SP Basel-Stadt fordert die kantonalen und nationalen Behörden eindringlich auf, "ihre Aufsichtspflicht über die Recht- und Verhältnismässigkeit staatsschützerischer Aktivitäten endlich konsequent wahrzunehmen". Mit dieser Forderung teilt die SP mit, dass Grossrat Mustafa Atici bis Ende Mai habe warten müssen, bis er vom Dienst für Analyse und Prävention DAP in Bern über die Löschung seines Staatsschutzeintrags in Kenntnis gesetzt wurde. Vor einem Jahr wurde publik, dass Atici und Parteikollegin Tanja Soland von den eidg. Staatsschützern zu Unrecht fichiert worden waren. (bz)

--------------------
DIE KRISE
--------------------

Mail Gewerkschaftsbund Stadt Bern und Umgebung 5.6.09

Betreff: Veranstaltungszyklus zur Krise

heute: 5. Juni: Hotel Kreuz, 19.30 Uhr
Gianni Frizzo:
Der Kampf in den Officine
Als Antwort auf die Restrukturierung und die drohende Schliessung der
SBB-Werkstätten in Bellinzona mobilisierten sich neben den Angestell-
ten auch weite Kreise der Bevölkerung. Dieser exemplarische Kampf
gegen neoliberale Managementstrategien zeigt eindrücklich, dass es
sich lohnt, die Auseinandersetzungen zu führen und eigene Vorstellun-
gen zu entwickeln und umzusetzen. Im Anschluss an das Referat von
Gianni Frizzo, einem der Streikführenden in den Officine, zeigen wir den
Dokumentarfilm "Giù le mani" von Danilo Catti.

weiter mit:
26. Juni: Hotel Bern, 19.30 Uhr
Karl-Heinz Roth:
ArbeiterInnenbewegung und globale Strategien
Zusammensetzung und Stärke der weltweiten ArbeiterInnenklasse
ändern sich permanent. Damit erhalten globale Enteignungs- und Ver-
armungsprozesse spezifische Ausprägungen und auch neue Dimensio-
nen. Ausgehend von einem operaistischen Ansatz untersucht der deut-
sche Arzt und Historiker Karl-Heinz Roth die Entwicklungen seit 1945
und legt Gegenstrategien in der aktuellen Weltwirtschaftskrise mit ihren
vielfältigen globalen Verwerfungen dar.

26. August: Hotel Bern, 19.30 Uhr
Carlo Knöpfel:
Krise und Reform der
Sozialversicherungssysteme
Die Widersprüche im schweizerischen Sozialversicherungssystem sind
gross und sie verschärfen sich laufend. Ein flexibles Rentenalter ist wei-
terhin nur unter grossen Einbussen möglich, die Leistungen der Arbeits-
losenversicherung sollen gekürzt werden, die Krankenkassen künden
zehnprozentige Prämienerhöhungen an und nicht zuletzt soll die Sozial-
hilfe alles Weitere ausbaden. Die Krise wird den Druck auf die Sozialver-
sicherungen erhöhen und weitere Abbaumassnahmen bringen. Diesen
Tendenzen müssen wir Alternativen entgegensetzen. Carlo Knöpfel ist
Ökonom der Caritas Schweiz.

16. September: Hotel Bern, 19.30 Uhr
Peter Niggli:
Veränderte globale Herausforderungen
Weil die derzeitige Finanz- und Wirtschaftskrise ein globales Ausmass
erreicht hat, werden sich auch globale Veränderungen ergeben. Wie
die weltweiten Beziehungen umgewälzt werden, welche Auswirkungen
auf die Länder des Südens zu erwarten sind und welche politischen
Einflussmöglichkeiten bestehen, behandelt Peter Niggli, Publizist und
Geschäftsleiter der Alliance Sud.

19. Oktober: Hotel Bern, 19.30 Uhr
Gian Trepp:
Die Re-Regulierung der Finanzmärkte
Der globale Finanzsektor und die verschiedenen Finanzplätze haben
sich in den letzten Jahren staatlichen Regulierungen weitgehend ent-
zogen. An der Spitze dieses fatalen, globalisierten Laisser-faire stand
die US-Notenbank unter Alan Greenspan. Die fehlende Regulierung der
Finanzmärkte gilt als eine der Ursachen der aktuellen globalen Wirt-
schaftskrise. Der Bankenspezialist Gian Trepp untersucht, welche Mög-
lichkeiten zur Re-Regulierung des Finanzektors bestehen und welche
neuen Widersprüche sich daraus ergeben können.

19. November: Hotel Bern, 19.30 Uhr
Mascha Madörin:
Staatliche und gesellschaftliche
Regulierung nach dem Epochenbruch
Nachdem die staatliche Nachfragesteuerung für längere Zeit als über-
holt gegolten hat, erhalten die auf den britischen Ökonomen John May-
nard Keynes zurückgehenden Rezepte zur Wirtschaftsankurbelung neu-
en Aufschwung. Die feministische Ökonomin Mascha Madörin stellt die
Frage, ob diese Interventionen unter aktuellen ökonomischen Verhält-
nissen noch funktionieren oder ob nicht neue Ansätze zu suchen sind.

3. Dezember: Unia Sekretariat, 19.30 Uhr
Roland Herzog:
Krise und (Steuer)Staat
Da der Staat die herrschenden wirtschaftlichen Verhältnisse - also das
kapitalistische System - stützt, neigt er dazu, die Profiteure und Profi-
teurinnen des wirtschaftlichen Systems auch zu begünstigen. Dies zeigt
die Steuerpolitik der letzten zwanzig Jahre. Roland Herzog, Leiter der
Sektion Bern der Unia, analysiert in seinem Referat die Umverteilung
von unten nach oben und die Steuergeschenke für die Besitzenden.
Diskutiert werden steuerliche Massnahmen und neue Instrumente, mit
denen die Gerechtigkeit in der Gesellschaft verbessert wird.

-------------------
OFFPRIDE
-------------------

tagesanzeiger.ch 5.6.09

Offpride: Transmänner sprechen über lesbische Liebe

Interview: Tina Fassbind

Während sich am Wochenende die Gayszene in der Zürcher City zur Europride trifft, findet am Rande die Offpride statt. Dort tauschen sich auch Transmänner und -frauen über ihre Erfahrungen mit der schwullesbischen Liebe aus.

Alecs Recher, sie bezeichnen sich selbst als Transmann. Was macht einen Transmann aus?

Transmänner und Transfrauen definieren sich nicht über ihr biologisches Geschlecht. Ein Transmann kommt beispielsweise als biologische Frau auf die Welt, führt aber ein Leben als Mann. Einige nehmen Hormone oder / und lassen Operationen machen. Andere ändern körperlich nichts an sich. Eine Transfrau ist entsprechend mit dem Körper eines Jungen geboren, ist aber eine Frau.

Und wie kann man als Frau das Leben eines Mannes führen?

Wer wie lebt, welche Bausteine verwendet, entscheidet jeder selbst. Viele geben sich einen männlichen Vornamen, leben sozial die Rolle des Mannes aus - meist auch in der Beziehung, teils auch auf der Arbeit. Es sind kurz gesagt Frauen, die ihre biologische Weiblichkeit mit männlichen Attributen überdecken, weil sie nicht ihrem Wesen entspricht. Damit können leider nicht alle in unseren verschiedenen Lebensumfeldern gleich gut umgehen.

Ist die Gay-Szene den Transmännern und Transfrauen gegenüber nicht offen genug?

Doch, aber bei uns an der Offpride werden solche Themen intensiver angegangen und diskutiert. In der Mainstream-Gay-Szene sind Schwule eben Männer, die auf Männer stehen. Sie sind und bleiben aber biologisch männlich. Die Beziehungsformen zwischen den Geschlechter können jedoch viel weiter gehen. Viele von uns, z.B. Transmänner und -frauen, leben noch weniger nah an der gesellschaftlichen Norm als "durchschnittliche" Lesben und Schwule.

Die Offpride will sich von den "gemainstreamten Vorzeigehomos" absondern. Herrscht Krieg in der Gayszene?

Wir sind keine Anti-Veranstaltung und haben auch keine Probleme mit der Europride. Wir finden uns lediglich nicht wieder im Programm der Veranstaltung und wollten mit der Offpride andere Themen setzen.

Wer steht hinter dem Namen Offpride?

Wir sind eine Gruppe von Menschen, die Lust hatten, ein Queerfestival auf die Beine zu stellen, haben keine Grossponsoren und kein grosses Budget. Ausserdem wollen wir uns mehr über queere gesellschaftspolitische Themen unterhalten und nicht nur Party machen. Unter anderem stellen wir grundsätzlich das Zweigeschlechtermodell in Frage.

Die Europride will auch Heteros anlocken und versucht es mit Bierausschank. Womit ködert Ihr die Heteros?

Müssen wir die Heteros ködern? Wer sich mit der ganzen Thematik auseinandersetzen will, ist herzlich willkommen. Aber ködern müssen wir niemanden. (Tagesanzeiger.ch/Newsnetz)

--

Links
* Mehr zur Offpride
http://www.offpride.ch/
* Mehr zur Europride
http://www.europride09.eu/

Alecs Recher
Alecs Recher bezeichnet sich selbst als Transmann und ist Mitorganisator der Offparade.
http://www.recheralecs.ch/default.htm

---------------------
SQUAT ZUG
---------------------

Indymedia 5.6.09

Rückblick auf die Besetzung in der Bleichistrasse 12 (Zug) ::

AutorIn : Kollektiv Aktiv Wohnen         

Nun ist auch unser zweiter Versuch zu Ende, einen etwas anderen Wohn- und Freiraum in Zug zu erkämpfen. Die Bleichistrasse 12 wurde am Donnerstag 4. Juni fristgerecht und aufgeräumt wieder verlassen. Wir konnten vielseitige Erfahrungen sammeln und täglich statteten uns viele solidarische Menschen einen Besuch ab, die das Haus mit kulinarischen und kulturellen Beiträgen zu neuem Leben erweckten.
    
Nach dem Einzug am Freitag 29. Mai wurden wir eine Nacht lang durch übereifrige PolizistInnen schikaniert, die es für nötig hielten, in Quartierstrassen und Gebüschen auf zusätzliche BesucherInnen zu lauern. Insgesamt wurden drei Personen auf den Polizeiposten mitgenommen, bei zahlreichen weiteren Personen wurden Rayonverbote für ganze Stadtteile ausgesprochen.

Am Samstagmorgen besuchte uns ein Vertreter der MZ-Immobilien, der das Haus gehört. Er unterrichtete uns darüber, dass Anzeige erstattet wurde, diese aber beim Einhalten einiger Punkte (keine Lärmstörungen, keine Transparente, keine Parties) und Auszug bis am folgenden Dienstag Mittag zurückgezogen würde. Nach unserer Einwilligung liess uns die Polizei in Ruhe und zog ihr übertriebenes Aufgebot langsam ab.

Am Dienstagmorgen nahmen wir das Angebot zum Verhandeln an und gingen bei der Immobilienfirma vorbei. Die MZ-Immobilien freute sich über unseren sorgfältigen Umgang mit Haus und Nachbarschaft. Dann wurde uns eröffnet, dass das besetzte Haus sowie die ebenfalls leer stehende Liegenschaft nebenan ab nächste Woche wieder genutzt würde. Sie wollen in den Liegenschaften BauarbeiterInnen sowie Gastronomie-ArbeiterInnen einquartieren, die vorübergehend in Zug wohnen müssen. Da wir für das Haus höchstens eine symbolische Miete zahlen wollten, wollte die Immobilienfirma an ihrer Nutzung festhalten. Es erscheint uns aber ein wenig anmassend, den ArbeiterInnen ein Abbruchhaus in diesem schlechten Zustand als Unterkunft zu geben.

Mit Bedauern haben wir uns somit dazu entschlossen, das Haus wieder zu verlassen. Die grundsätzliche Verhandlungsbereitschaft der Besitzer hat uns gefreut, auch wenn nichts dabei zustande gekommen ist. Wir sind immer noch nicht bereit aus Zug wegzuziehen, weil sich die Mietpreisspirale kontinuierlich in die Höhe schraubt. Wir wollen leer stehende Bauten am Leben erhalten bis klar ist was mit ihnen passiert.

Es grüsst W. Irbleiben vom Kollektiv Aktiv Wohnen

---------------------------------------
RUHE + ORDNUNG VISP
---------------------------------------

Indymedia 5.6.09

Visp, das Städtchen mit der Polizeistadt-Note ::

AutorIn : blackstar (info-wallis)

Nach der Annahme in Visp, des wohl schärfsten Polizeigesetzes der der Schweiz an der Urversammlung (!), erzürnt der Gemeinderat die Einwohner mit weiteren Massnahmen. Wie sie in der Visper allgemeinen Zeitung unter dem Titel "Bekämpfung von Vandalismus" mitteilen, sind per sofort alle Feiern ab 24.00 zu beenden.     

Ausser natürlich ‚ihre‘ Powermesse, dort dürfe aber niemand raus während der Feier. Wer an die frische Luft wolle müsse das Bändeli abgeschreckt und bei Wiedereintritt ein neues gelöst werden. Es werden nur noch eine gewisse Anzahl Feste bewilligt, vorallem die Visper Vereine sollen natürlich berücksichtigt werden, wie sie schreiben. Feiern an ihren heiligen Ostern und während der Weihnachtszeit sind nun auch Geschichte. Weiter teilen sie mit das sogleich die ersten Videokameras aufgestellt werden.
Der von den Jugendlichen früher viel genutzte Skaterplatz wird weiterhin vom Schulhausplatz verbannt bleiben (wegen "Lärm")

Die regierenden C-Parteien (CVP und CSP) setzen ihre Verbotsorgie damit unbeirrt fest. In der Visper allgemeinen Zeitung teilen sie mit: "Visp muss als… …Oberwalliser Wirtschaftsmetropole seine Vorbildfunktion wahrnehmen." Die anderen Parteien (FDP und SP) lehnten schon das Polizeigesetz komplett ab, kritisierten das Polizeigesetz wie auch die jugendfeindlichen Massnahmen auf's Schärfste. Beide Parteien fordern seit längerem und nun verstärkt endlich Freiräume für Jugendliche in Visp.

Was wir in Visp zurzeit erleben ist skandalös. Doch in welche Richtung sie wollen, das hat man schon bei ihrem ersten (abgelehnten) Polizeigesetz zu verstehen bekommen: Polizeistadt.

---

Gemeinderatsbeschlüsse der Sitzungen vom April und Mai 2009, publiziert 3.6.09
http://www.visp.ch/admin/files/UpTables/news/gr_april_und_mai_2009.pdf

(...)

Massnahmen zur Bekämpfung von Vandalismus

An seiner Sitzung vom 14. April 2009 hat der Gemeinderat zur Bekämpfung von Vandalismus folgende Massnahmen und Richtlinien beschlossen:
- Es werden seitens der Gemeinde nur eine gewisse Anzahl Feste im Jahr bewilligt. Dabei sollen Vereine von Visp berücksichtigt werden. Die übrigen Gesuche sind von Fall zu Fall zu begutachten.
- Konzerte/Anlässe von privaten Organisationen sind nur für die Dauer des Konzertes, max. bis 24.00 Uhr zu bewilligen, ohne anschliessendes Rahmenprogramm.
- Die Festanlässe in Hallen sind nur analog der Powermesse zu bewilligen d.h. es gibt lediglich einen Eintritt. Wenn der Besucher somit den Anlass verlässt und wieder kommt muss erneut Eintritt bezahlt werden (gleichzeitige Abgabe von Bändli bezüglich Alkoholausschank).
- Keine Fest-Partys an Ostern (Karwoche) und Weihnachten (15. - 25. Dezember).
- Punktuelle Videoüberwachungen, sofern das Polizeireglement angenommen wird.
- Videoüberwachung in den Parkhäusern im Sinne einer Sofortmassnahme optimieren.
- Sicherheitsleute einsetzen (punktuell).
- Keine Graffiti-Kurse und Wandbilder bewilligen.

(...)

-----------------------------------
NPD GOES AMAZON
-----------------------------------

handelsblatt.com 5.6.09
http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/bei-amazon-verdient-die-npd-mit;2329728

Partnerprogramm

Bei Amazon verdient die NPD mit

von Frank Jansen und Florian Kneist (Tagesspiegel)

Amazon hat die NPD in sein sogenanntes Partnerprogramm aufgenommen - und zahlt der Partei Provisionen für verkaufte Bücher. Politiker fordern, die Kooperation aufzukündigen. Bei Amazon sieht man das Ganze unaufgeregt: "Es gibt eine Nachfrage dafür, die wollen wir befriedigen."
Die NPD als Partner: Bei Amazon wird rechtsradikale Literatur verkauft - und die Partei verdient mit. Foto: dpa

Die NPD als Partner: Bei Amazon wird rechtsradikale Literatur verkauft - und die Partei verdient mit. Foto: dpa

BERLIN. Die NPD sucht verzweifelt nach Geldquellen. Da darf sie nicht wählerisch sein, und so wurde man beim geschmähten US-Kapitalismus fündig: Das Internet-Versandhaus Amazon führt die Homepage des Kreisverbands Barnim-Uckermark der rechtsextremen Partei in einem "Partnerprogramm", das der NPD stetigen Zufluss von Einnahmen bietet. Auf der Homepage "Nationales Netztagebuch" ist eine Rubrik unter dem Titel "Kaufen & Helfen" eingerichtet, die mit Amazon.de verlinkt ist. Geworben wird in der Rubrik für einschlägige Literatur zu "Judenfragen" und zu Rudolf Heß, die über Amazon zum Kauf angeboten wird. Die NPD verdient einige Prozente mit, wenn ein Käufer über den Link zu Amazon gelangt und sich dann mit rechtem Lesestoff eindeckt. Und nicht nur das: Es fließt auch Geld in die Kasse der Partei, wenn über den Link der Kauf eines anderen, unverdächtigen Produkts zustande kommt. Die NPD freut sich: In der Rubrik steht "Vielen Dank dafür".

Die seltsame Geschäftsbeziehung von NPD und Amazon hat der Brandenburger Verfassungsschutz entdeckt. "Amazon nennt das Werbekostenerstattung", heißt es auf der Webseite der Verfassungsschützer, "andere könnten das eine wirtschaftliche Partnerschaft mit verfassungsfeindlichen Extremisten nennen". Auch der Berliner Verfassungsschutz hält die Partnerschaft zwischen Amazon und der NPD für "absolut problematisch". Härtere Worte noch sind in allen demokratischen Parteien zu hören - bis hin zur Drohung mit einem Aufruf zum Boykott von Amazon. Es sei "unmöglich", dass sich der Internetkonzern mit Rechtsextremisten einlasse, sagt der Präsident des Abgeordnetenhauses, Walter Momper (SPD). Und er droht, "wenn Amazon die Partnerschaft mit der NPD nicht kündigt, muss man die Firma boykottieren". Nahezu wortgleich äußert sich der Chef der Grünenfraktion, Volker Ratzmann. Außerdem müsse Amazon "sein Sortiment auf rechtsextremes Material durchforsten und das sofort rausschmeißen".

Der Zentralrat der Juden forderte Amazon auf, seine Kooperation mit der rechtsextremen NPD unverzüglich zu beenden. "Dass es eine derartige Geschäftsbeziehung gibt, ist eine richtige Schande, bei Amazon sollte man sich dafür in Grund und Boden schämen", sagte der Vizepräsident des Zentralrats, Dieter Graumann, am Freitag im Gespräch mit Handelsblatt.com. "Denn wirtschaftliche Partnerschaft bedeutet hier zwangsläufig auch faktische politische Komplizenschaft mit den Faschisten." Die Neonazis investierten ihre zusätzlichen "Amazon-Euros" nämlich sofort in politische Hetze und in braune aggressive Propaganda.

Das sieht Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linke) genauso. Und sie erwartet, "dass Amazon auf der Stelle die Geschäftsbeziehung zur NPD beendet". Sollte das nicht passieren, will Pau "alle Demokraten aufrufen, nicht mehr bei Amazon zu kaufen". Solange Amazon die Partnerschaft mit der NPD nicht beende, "werde ich bei Amazon nicht kaufen", sagt der Chef der Berliner FDP, Markus Löning. Der Fraktions- und Landesvorsitzende der Berliner CDU, Frank Henkel, hofft auf Einsicht bei Amazon: "Wenn die Firma sich und ihre Geschäftsbedingungen ernst nimmt, sollte sie den Vertrag umgehend kündigen".

Amazon prüft Partnerprogramm

In den "Teilnahmebedingungen" des Partnerprogramms von Amazon.de steht, das Unternehmen sei jederzeit berechtigt, eine Anmeldung zurückzuweisen, "wenn wir nach unserem eigenen Ermessen feststellen, dass die Partner-Website sich nicht für die Teilnahme am Amazon.de Partnerprogramm eignet". Als Kriterien werden unter anderem "diskriminierende Inhalte, basierend auf Rasse, Geschlecht, Religion, Nationalität, Invalidität, sexueller Orientierung oder Alter" genannt. Rassistische Diskriminierung findet sich auf der Website "Nationales Netztagebuch" schnell: Unter der Überschrift "Einwanderungswahnsinn - gab es das wirklich schon immer?" verkündet die NPD-Pressestelle, "kulturell und ethnisch Fremden" sei "niemals eine Einbürgerung zu gestatten".

Amazon selbst reagiert auf eine Anfrage des Tagesspiegels so: "Wir prüfen derzeit die Einhaltung der Teilnahmebedingungen unseres Partnerprogramms durch die Website und werden nach Abschluss der Prüfung adäquate Maßnahmen treffen". Im Mai hatte die Firma dem Brandenburger Verfassungsschutz mitgeteilt, sollte "ein offizielles Verbot" zu den im "Nationalen Netztagebuch" beworbenen Artikeln "oder zu der Seite selbst geschehen, werden wir diese selbstverständlich umgehend aus dem Angebot beziehungsweise aus dem Partnerprogramm entfernen". So geschah nichts. Und auf die Frage des Tagesspiegels, warum Amazon überhaupt rechtsextremistische Schriften anbietet, antwortet die Firma, sie übernehme "stets die Einschätzung" von Gerichten, Staatsanwaltschaften und der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien. Ansonsten nehme man "bei der Beantwortung der Frage, ob ein Produkt vertrieben werden sollte, keine eigene Wertung vor". Auch am Kundentelefon sieht man kein Problem. Auf Nachfrage heißt es dort seelenruhig: "Es gibt eine Nachfrage dafür, die wollen wir befriedigen."

Quelle: Tagesspiegel

--

http://www.handelsblatt.com/politik/handelsblatt-kommentar/mit-amazon-zum-ss-sturmbataillon;2329907

Kommentar

NPD

Mit Amazon zum SS-Sturmbataillon

von Thomas Hanke

Der Onlineversandhändler Amazon ist nicht bereit, seine Zusammenarbeit mit der NPD und die Verbreitung neonazistischen Schrifttums zu beenden. Auch nachdem der "Tagesspiegel" die skandalöse Kooperation veröffentlicht hatte, verteidigte eine Sprecherin des Unternehmens sie gegenüber dem Handelsblatt: Man verkaufe ja keine verbotenen Bücher, und alles andere käme einer "dem Recht auf freie Meinungsäußerung widersprechenden Zensur" gleich. Die Zusammenarbeit mit dem "Nationalen Netztagebuch - hier spricht die NPD" werde auf Einhaltung der Bedingungen für das Partnerschaftsprogramm geprüft. Diese billige Ausflucht wurde schon am Donnerstag dem Tagesspiegel mitgeteilt, dabei müsste die Prüfung schnell beendet sein, denn es handelt sich um eine offizielle Webseite der NPD.

Aber offenbar ist Amazon nicht der Ansicht, dass die Neonazis "diskriminierende Inhalte, basierend auf Rasse, Geschlecht, Religion, Nationalität, Invalidität, sexueller Orientierung, oder Alter" (so die Ausschlusskriterien der Amazon-Bedingungen für das Partnerschaftsprogramm) verbreiten - sonst hätte die Kooperation nie begonnen und schon längst eingestellt werden müssen.

Spätestens jetzt ist klar: Amazon ist kein Flüchtigkeitsfehler unterlaufen, sondern das Unternehmen weiß genau, was es tut: "Unser Ziel ist es, unseren Kunden die größtmögliche Auswahl an verschiedenen Titeln bereitzustellen", so Amazon-Sprecherin Christine Höger. Das sind dann Titel wie "Rudolf Heß - Märtyrer für den Frieden", "SS-Sturmbataillon 500 am Feind" oder "Wir wolln das Wort nicht brechen - die Waffen-SS 1935-1945". Aktuell zum 65.Jahrestag der Landung in der Normandie geht bestimmt auch sehr gut "Verrat in der Normandie - Eisenhowers heimliche Helfer". Das sind Bücher, die offen die übelsten Einsatzverbände der Nazis verteidigen - für Amazon Ausdruck der Meinungsfreiheit.

Amazons Rechtfertigungsversuch ist eine Steilvorlage für die NPD, die deshalb von ihrer Homepage aus fleißig auf Amazon verlinkt und damit gutes Geld verdient. Amazon trägt zur Finanzierung der Neonazis bei, und zwar bewusst und wohlüberlegt: Auch das ist schließlich ein Markt, der bedient werden will. Denn so gut wie alle anderen deutschen Buchhändler bieten ja aus ethischen Gründen keine Nazi-verharmlosenden oder verherrlichenden Titel an. Amazon springt in die Bresche - ein Kalkül, das atemberaubend niederträchtig ist. Zum Glück ist niemand gezwungen, bei diesem Unternehmen zu kaufen, das Umsatz mit der SS-Rune macht.

Aufschlussreich ist, was die weniger im Vernebeln geschulten Kundenberater über die Geschäftspolitik sagen. Auf die Frage, ob Amazon auch antisemitische Literatur anbieten würde, denn auch dafür gebe es ja eine Nachfrage, kommt wie selbstverständlich die Antwort: Das würde man rechtlich prüfen und eventuell ins Angebot aufnehmen.

Wie sagte Max Liebermann: "Ich kann gar nicht soviel essen, wie ich kotzen möchte."

---

handelsblatt.com 5.6.09
http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/kritik-an-amazons-komplizenschaft-mit-faschisten;2330057

Zentralrat der Juden

Kritik an Amazons "Komplizenschaft mit Faschisten"

von Dietmar Neuerer

Der Zentralrat der Juden hat das Internet-Versandhaus Amazon aufgefordert, seine Kooperation mit der rechtsextremen NPD unverzüglich zu beenden. "Dass es eine derartige Geschäftsbeziehung gibt, ist eine richtige Schande, bei Amazon sollte man sich dafür in Grund und Boden schämen", sagte der Vizepräsident des Zentralrats, Dieter Graumann, am Freitag im Gespräch mit Handelsblatt.com.

DÜSSELDORF. "Denn wirtschaftliche Partnerschaft bedeutet hier zwangsläufig auch faktische politische Komplizenschaft mit den Faschisten." Die Neonazis investierten ihre zusätzlichen "Amazon-Euros" nämlich sofort in politische Hetze und in braune aggressive Propaganda.

Graumann geht, wie er sagte, fest davon aus, dass es sich hier bei Amazon um ein Versehen handele. Er forderte aber zugleich: "Dieser Irrtum und diese Verirrung müssen aber sofort korrigiert werden. Mit Faschisten darf kein Unternehmen, das überhaupt etwas auf sich hält, jemals kooperieren - oder: kollaborieren." Hier gehe es darum, dass auch für andere Unternehmen "nicht die falschen Signale gesetzt" werden dürften. "Die Faschisten müssen ausgegrenzt bleiben und dürfen nicht salonfähig gemacht werden", betonte Graumann. Er gehe daher davon aus, dass Amazon "unverzüglich glasklare Konsequenzen" ziehe.

Das Online-Versandhaus Amazon war in die Kritik geraten, weil eine Internetseite der rechtsextremen NPD in seinem Partnerprogramm auftaucht. Darin verknüpfen die Partner ihre Seiten im Netz mit Amazon und können mitverdienen, wenn ihre Nutzer bei dem Versandhaus einkaufen.

Der Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses, Walter Momper (SPD), rief im "Tagesspiegel" dazu auf, Amazon zu boykottieren, sollte das Handelshaus die Partnerschaft nicht aufkündigen. Ähnlich äußerten sich Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linke) und mehrere Berliner Landespolitiker. Ein Amazon-Sprecher sagte laut "Tagesspiegel": "Wir prüfen derzeit die Einhaltung der Teilnahmebedingungen unseres Partnerprogramms durch die Website und werden nach Abschluss der Prüfung adäquate Maßnahmen treffen." Das Versandhaus stand bereits Anfang dieses Jahres in der Kritik, da sich im Sortiment auch rechtsradikale Literatur befand. Laut Amazon seien diese Titel jedoch nicht auf dem Index und daher der Vertrieb rechtlich in Ordnung.

In diesem Zusammenhang forderte Graumann den Online-Händler auf, "auch gleich das gesamte rechtsradikale, antisemitische und faschistische Sortiment, das man außerdem noch im Angebot hat, gründlich" zu entsorgen. "Bei Amazon muss offenbar doch manches ausgeräumt und aufgeräumt werden. Spätestens jetzt - und wann, wenn nicht sofort?", sagte Graumann.

---

tagesspiegel.de 4.6.09
http://www.tagesspiegel.de/politik/deutschland/Rechtsextremismus-Amazon;art122,2814745

Partnerprogramm mit NPD

Politiker drohen Amazon mit Boykott

Das US-amerikanische Internet-Versandhaus Amazon führt eine Homepage der NPD in einem "Partnerprogramm", das der rechtsextremen Partei einen stetigen Geldzufluss bietet. Politiker von SPD, Grünen und Linkspartei drohen dem Internet-Versandhaus nun mit Boykott.

Von Frank Jansen und Florian Kneist

Berlin  -  Die NPD steckt im Finanzchaos und sucht verzweifelt nach neuen Geldquellen. Da darf man nicht wählerisch sein, und so wurde die Partei fündig beim sonst so geschmähten US-amerikanischen Kapitalismus: Das Internet-Versandhaus Amazon führt die Homepage des Kreisverbands Barnim-Uckermark der rechtsextremen Partei in einem "Partnerprogramm", das der NPD einen stetigen Zufluss von Einnahmen bietet. Auf der Homepage "Nationales Netztagebuch" ist eine Rubrik unter dem Titel "Kaufen & Helfen" eingerichtet, die mit Amazon.de verlinkt ist. Geworben wird in der Rubrik für einschlägige Literatur zu "Judenfragen" und zu Rudolf Heß, die über Amazon zum Kauf angeboten wird. Die NPD verdient einige Prozente mit, wenn ein Käufer über den Link zu Amazon gelangt und sich dann mit rechtem Lesestoff eindeckt. Und nicht nur das: Es fließt auch Geld in die Kasse der Partei, wenn über den Link der Kauf eines anderen, unverdächtigen Produkts zustande kommt. Die NPD freut sich: In der Rubrik steht "Vielen Dank dafür".

Die seltsame Geschäftsbeziehung hat der Brandenburger Verfassungsschutz entdeckt. "Amazon nennt das Werbekostenerstattung", schreibt der Nachrichtendienst auf seiner Homepage, "andere könnten das eine wirtschaftliche Partnerschaft mit verfassungsfeindlichen Extremisten nennen". Auch der Berliner Verfassungsschutz hält die Partnerschaft zwischen Amazon und der NPD für "absolut problematisch". Härtere Worte noch sind in allen demokratischen Parteien zu hören - bis hin zur Drohung mit einem Aufruf zum Boykott von Amazon. Es sei "unmöglich", dass sich der Internetkonzern mit Rechtsextremisten einlasse, sagt der Präsident des Abgeordnetenhauses, Walter Momper (SPD). Und er droht, "wenn Amazon die Partnerschaft mit der NPD nicht kündigt, muss man die Firma boykottieren". Nahezu wortgleich äußert sich der Chef der Grünenfraktion, Volker Ratzmann. Außerdem müsse Amazon "sein Sortiment auf rechtsextremes Material durchforsten und das sofort rausschmeißen".

Das sieht Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linke) genauso. Und sie erwartet, "dass Amazon auf der Stelle die Geschäftsbeziehung zur NPD beendet". Sollte das nicht passieren, will Pau "alle Demokraten aufrufen, nicht mehr bei Amazon zu kaufen". Solange Amazon die Partnerschaft mit der NPD nicht beende, "werde ich bei Amazon nicht kaufen", sagt der Chef der Berliner FDP, Markus Löning. Der Fraktions- und Landesvorsitzende der Berliner CDU, Frank Henkel, hofft auf Einsicht bei Amazon: "Wenn die Firma sich und ihre Geschäftsbedingungen ernst nimmt, sollte sie den Vertrag umgehend kündigen".

Amazon prüft Partnerprogramm

In den "Teilnahmebedingungen" des Partnerprogramms von Amazon.de steht, das Unternehmen sei jederzeit berechtigt, eine Anmeldung zurückzuweisen, "wenn wir nach unserem eigenen Ermessen feststellen, dass die Partner-Website sich nicht für die Teilnahme am Amazon.de Partnerprogramm eignet". Als Kriterien werden unter anderem "diskriminierende Inhalte, basierend auf Rasse, Geschlecht, Religion, Nationalität, Invalidität, sexueller Orientierung oder Alter" genannt. Rassistische Diskriminierung findet sich auf der Website "Nationales Netztagebuch" schnell: Unter der Überschrift "Einwanderungswahnsinn - gab es das wirklich schon immer?" verkündet die NPD-Pressestelle, "kulturell und ethnisch Fremden" sei "niemals eine Einbürgerung zu gestatten".

Amazon selbst reagiert auf eine Anfrage des Tagesspiegels so: "Wir prüfen derzeit die Einhaltung der Teilnahmebedingungen unseres Partnerprogramms durch die Website und werden nach Abschluss der Prüfung adäquate Maßnahmen treffen". Im Mai hatte die Firma dem Brandenburger Verfassungsschutz mitgeteilt, sollte "ein offizielles Verbot" zu den im "Nationalen Netztagebuch" beworbenen Artikeln "oder zu der Seite selbst geschehen, werden wir diese selbstverständlich umgehend aus dem Angebot beziehungsweise aus dem Partnerprogramm entfernen". So geschah nichts. Und auf die Frage des Tagesspiegels, warum Amazon überhaupt rechtsextremistische Schriften anbietet, antwortet die Firma, sie übernehme "stets die Einschätzung" von Gerichten, Staatsanwaltschaften und der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien. Ansonsten nehme man "bei der Beantwortung der Frage, ob ein Produkt vertrieben werden sollte, keine eigene Wertung vor".

---------------------------
NEONAZIS BRD
---------------------------

NZZ 6.6.09

Die deutschen Neonazis im Wandel?

Anatomie einer undurchsichtigen Szene

 Angesichts der leidvollen deutschen Vergangenheit erregen Aktivitäten tatsächlicher oder vermeintlicher Neo-Nationalsozialisten grosses Aufsehen und sorgen immer wieder für breite Proteste. Dabei kommt mitunter eine ruhige Bestandsaufnahme zu kurz. Eine solche hat der Politologe Martin Thein von der Technischen Universität Dresden vorgelegt. Seine empirische Feldstudie basiert auf 34 Interviews mit zum Teil führenden Personen aus dem neonationalsozialistischen Spektrum. Gewiss gibt es Tendenzen zu Konspirationen, ebenso aber auch Profilierungssucht. In jedem Fall sind die gewonnenen Erkenntnisse aufschlussreich.

 Vielschichtiges Milieu

 Das Milieu der deutschen Neo-Nationalsozialisten ist heterogener und vielschichtiger, als dies manch vordergründiges Urteil nahelegt. Thein untersucht organisatorische, ideologische und strategische Veränderungsprozesse in der "Szene". Durch das Verbot neonationalsozialistischer Organisationen haben sich "freie Kameradschaften" herausgebildet, die unabhängig voneinander auftreten. Diese Ideologie ist weniger durch Imitation des historischen Nationalsozialismus und nicht durch eine Kampfansage an den Linksextremismus geprägt, sondern mehr durch Fremdenfeindlichkeit sowie durch radikale Globalisierungs- und Kapitalismuskritik. Aufgrund einer strategischen Partnerschaft mit der rechtsextremistischen NPD ist es den Neonazis gelungen, gewissen Einfluss zu gewinnen. Dazu gehören ebenso die Abkehr von den "Braunhemden" wie auch propere Kleidung und die Nutzung moderner Medien.

 Licht in eine Schattenwelt

 Zwar neigt Thein nicht zu Alarmismus, aber der von ihm immer wieder behauptete "Attraktivitätszuwachs" des Neo-Nationalsozialismus fällt bescheiden aus. Wie der Autor zu Recht herausarbeitet, sind neonationalsozialistische Strukturen im Osten Deutschlands stärker entwickelt. Er spricht von einem Neo-Nationalsozialismus neuen Typs. Dieser organisiere sich überwiegend in regionalen Kleingruppen und habe die primär nationalsozialistische Orientierung durch Antikapitalismus ergänzt. Ist dies nicht eher ein generelles Phänomen, keineswegs nur ein ostdeutsches? Und sollte die Wissenschaft nicht noch genauer überprüfen, ob für die "nationalen Sozialisten" der Begriff Neo-Nationalsozialismus überhaupt angemessen ist? Wie auch immer: Thein hat eine obskure Schattenwelt gut ausgeleuchtet. Angesichts der Last der Vergangenheit wird jede Variante des deutschen Neo-Nationalsozialismus im "Wettlauf mit dem Zeitgeist" weiterhin ein Schattendasein fristen.

 Eckhard Jesse

 Martin Thein: Wettlauf mit dem Zeitgeist - Der Neonazismus im Wandel. Eine Feldstudie. Cuvillier, Göttingen 2009. 467 S., € 39.80.

------------------
LIBANON
------------------

a-films.blogspot.com 5.6.09

Libanon: Nahr al-Bareds isolierte Ökonomie

Mohammad und Mahmoud sitzen auf einer brachliegenden Wiese am Rande des palästinensischen Flüchtlingslagers Nahr al-Bared in Nordlibanon. Während Mahmoud auf seinem Mobiltelefon Lieder anhört und mitsingt, spielt Mohammad auf seinem Telefon. Irgendwann löst sich Mohammads Blick vom Bildschirm und er sagt mit ruhiger Stimme: "Wir verbringen unseren Alltag mit Nichtstun. Nach dem Aufstehen sitze ich zwei Stunden lang im Café. Dann gehe ich nach Hause essen, treffe mich mit meinen Freunden und wir kehren ins Café zurück. Dort sitzen wir bis zum Abend, bevor wir heimgehen, Tee trinken und schlafen. Und so geht das jeden Tag."

Die zwei jungen Erwachsenen sind nicht die einzigen arbeitslosen Flüchtlinge in Nahr al-Bared. Eine von der UNRWA im September 2008 durchgeführte und im November veröffentlichte Untersuchung schätzt die Arbeitslosigkeit unter den damals rund 10.000 nach Nahr al-Bared zurückgekehrten Personen auf 40 Prozent. Diese Zahl basiert allerdings auf Aussagen der Befragten. Sie verschleiert eine beträchtliche Dunkelziffer an Temporär- und Teilzeitbeschäftigten. Der Anteil der TagelöhnerInnen an der Zahl der Beschäftigten im Camp ist sehr hoch - viele der Betroffenen arbeiten bloss wenige Tage pro Woche und oft wochenlang gar nicht.

Auch Mohammads Vater Zeyad ist arbeitslos. Einen beträchtlichen Teil seines Lebens verbrachte er mit dem Bau von Pipelines zwischen dem Kaukasus und der Golfregion. Vergangenen Sommer kam er bei einer libanesischen Firma in al-Koura unter, aber nicht für lange: "Als wir zu wenig Arbeit hatten, war ich der erste, der gehen musste. Weil ich Palästinenser bin und leicht entlassen werden kann." Seither hält Zeyad sich und seine Familie mit Fischen und einem einfach zu übersehenden Café am Rande der temporären Metalbaracken halbwegs über Wasser.

Laut eine Studie des norwegischen FAFO-Instituts aus dem Jahr 2007 arbeiteten vor dem Krieg 63% der werktätigen Bevölkerung innerhalb des Camps. Nahr al-Bared war einst der lebendigste Handelsplatz zwischen Trablous und der syrischen Grenze. In der UNRWA-Umfrage beklagten drei Viertel der ehemaligen Geschäftsinhaber die totale Zerstörung ihres Unternehmens. Während und nach des Krieges, als das Camp unter alleiniger Kontrolle der libanesischen Armee stand, wurden aus den restlichen Unternehmen Maschinen, Werkzeug und Lagerbestände geplündert und die Geschäfte angezündet oder andersweitig zerstört. Nahr al-Bareds Wirtschaft wurde physisch eliminiert.

Zeyad hat Zeit zum Fischen. Jeden Morgen geht er zwischen 5 und 7 Uhr ans Meer und versucht ein paar Stunden lang sein Glück. "Es hängt vom Wind ab", sagt er. "Vorgestern habe ich soviel gefangen, dass ich Fisch für 14.000 LBP (knapp 10 US$) verkaufen konnte. Gestern war gar nichts." Wenn der Wind gut ist, kehrt er am späten Nachmittag ans Meer zurück. Ein Lastwagen entsorgt dort gerade eine weitere Ladung Schutt aus dem alten Camp. Entlang Nahr al-Bareds Küste wurde in den letzten Monaten ein rund 10 Meter breiter Streifen aufgeschüttet. Zeyad steht auf seinem ehemaligen Camp, als er seine Angel auswirft. Unter seinen Füssen liegen zerbrochene Kinderspielzeuge, ein Schuh, Küchenbesteck und Überreste von Backsteinen.

Zeyads Familie, die in zwei der engen, tagsüber unerträglich heissen Metallbaracken wohnt, hat sich mittlerweile daran gewöhnen müssen, beinahe täglich Fisch zu essen. Für Fleisch reicht das Geld selten aus. Mitte Mai beschloss Zeyad, das Wellblech-Café wieder zu öffnen. Er zeigt auf eine Kiste mit Süssgetränken: "Schau, diese Kiste enthält 24 Flaschen. Wenn ich alles verkaufe, mache ich 1.000 LBP Gewinn, also der Preis von vier Flaschen. Am Ende des Tages erwirtschafte ich mit dem Café ein paar Dollar, wenn ich Glück habe."

Ähnlich, aber ein wenig besser geht es Mohammad, einem jungen Metzger. Er hat 5.000 Dollar in eine Metzgerei investiert, wo er auch Sandwiches und Snacks verkauft. Ein Kunde packt gerade sein Sandwich ein und reicht ihm 1.000 LBP. Mohammad dreht sich um und meint: "In Trablous verkauft man dasselbe Sandwich für den dreifachen Preis. An diesen 1.000 LBP hängt beinahe kein Gewinn. Zudem kriegt er diese 1.000 in ein paar Tagen gleich wieder zurück, wenn ich bei ihm Gemüse kaufen gehe." Ein paar Strassen weiter erhält Salim, ein junger Schuhmacher, ebenfalls gerade 1.000 LBP von einem Kunden. Als jener weggelaufen ist, spottet Salim: "Die wirtschaftliche Situation in Nahr al-Bared ist so, dass du auf diesen Geldschein deinen Namen schreiben könntest, er eine Runde durch das Camp macht und am Ende der Woche bringt ihn dir ein Kunde wieder."

Der Hauptgrund für diesen beinahe geschlossenen Kreislauf ist die Abschottung des Flüchtlingslagers durch die libanesische Armee. Im UNRWA-Survey bestätigten die befragten GeschäftsinhaberInnen aus dem Camp, dass vor dem Krieg rund die Hälfte ihrer Kunden LibanesInnen gewesen seien. Der Vorsitzende des Händlerkomitees Nahr al-Bareds, Abu Ali, schimpft: "Das Camp ist eine geschlossene Militärzone. Unsere libanesischen Nachbarn dürfen es nicht betreten. Wie kann sich unter diesen Bedingungen die Wirtschaft Nahr al-Bareds entwickeln?" Das Kaffeehaus El-Saadi und weitere Unternehmen haben nun ausserhalb der Checkpoints kleine Filialen eröffnet. Ein anonymer UNRWA-Mitarbeiter weist auf das Dilemma hin: "Den Unternehmern Starthilfe für den Aufbau von Läden ausserhalb des Camps zu geben ist äusserst problematisch. Andererseits haben sie gegenwärtig im Camp drin kaum Überlebenschancen."

Einer dieser hoffnungslosen Fälle gehört Ahmad, einem jungen Mann aus den Eisenbaracken. Nachdem er sich monatelang mit Tagesjobs herumgeschlagen und es nie auf einen grünen Zweig geschafft hat, eröffnete er Mitte Mai ein kleines Internetcafé. Nach wenigen Tagen allerdings war dieses wieder geschlossen: Zu wenig Kunden, kaum Ertrag. Er verkaufte die Computer wieder und schaffte einen Billardtisch und eine Saftpresse an. Trotzdem verbringt er den Grossteil des Tages mit verschränkten Armen auf einem Plastikstuhl vor seinem Lokal.

Ähnlich erging es Zeyads Sohn Mahmoud. Letzten Herbst betrieb er ein paar Monate lang ein Internetcafé in der Wellblechkonstruktion neben den Baracken. Mittlerweile hat er die Computer wieder verkauft. "Mehr als ein paar Dollar pro Tag habe ich damit nicht verdient, obwohl die Arbeitsplätze ständig besetzt waren. Langfristig lohnte sich das nicht", sagt er. Er arbeitet nun wieder in Beirut. Jeden Morgen verlässt er das Camp zwischen 5 und 6 Uhr und kommt abends zwischen 19 und 21 Uhr wieder heim. Seine beiden Söhne sieht er meist nur schlafend, knapp die Hälfte seines Tageslohnes gibt er für den langen Arbeitsweg und die Verpflegung aus.

In Nahr al-Bared scheint es viel zu viele Cafés, Manaqish-Bäcker, Sandwich-Verkäufer, Kleider-, Krämer- und Gemüseläden zu geben. Sie streiten sich um die wenigen KundenInnen und erarbeiten einen Ertrag, für den sich der Aufwand kaum lohnt. Dementsprechend kurzlebig sind diese Unternehmen denn auch oft. Zu schwach ist die Kaufkraft der Kundschaft und aufgrund der Isolation des Camps sind auch Investitionsanreize klein. Abu Ali deutet aber auch auf mangelnde Investitionsmittel hin: "Nahr al-Bareds wirtschaftlicher Erfolg vor dem Krieg basierte unter anderem auf  Schuldenwirtschaft. Libanesische KundInnen konnten ihre Güter in Raten bezahlen. Bis heute haben viele Leute aus der Region Akkar ihre Schulden bei den ehemaligen LadenbesitzerInnen nicht beglichen. Nicht nur ging im Krieg viel Kapital verloren, sondern auch viele Schuldbücher."

Die gegenwärtige ökonomische Misere in Nahr al-Bared verleitet den ehemaligen Besitzer mehrerer Kleiderläden, die fundamentale Frage nach dem Kriegsgrund zu stellen: "War etwa die Zerstörung der Wirtschaft Nahr al-Bareds das Ziel?" Er weist auf die letztjährige Auseinandersetzung zwischen den Alawiten vom Jabal Mohsen und den Sunniten aus dem Bab at-Tabbaneh Quartier in Trablous hin: "Die Armee hat dort Soldaten und Panzer positioniert, aber das Gebiet ist nicht abgeschottet. Also können sie doch auch Nahr al-Bared öffnen! Wir verlangen von den libanesischen Verantwortlichen die sofortige Aufhebung der Abschottung des Camps!"

Seit Ende Mai verkauft Zeyad in seinem Café nun auch Orangen- und Karottensaft. Das Geschäft läuft gut: Täglich verbraucht er je einen 15kg-Sack Orangen bzw. Karotten. Ein grosses Glas Saft verkauft er bei minimalem Gewinn für 500 LBP. An den billigen Saftständen in Trablous bezahlt man dafür das Doppelte. Zeyad zuckt mit den Schultern und lacht bitter: "Ich verdiene daran zwar kaum was, aber es ist besser als gar nichts."


Der Artikel online:
http://linksunten.indymedia.org/en/node/7688


Unsere Berichte aus Nahr al-Bared Camp:
Mai 2009 / http://linksunten.indymedia.org/de/node/7245
März 2009 / http://linksunten.indymedia.org/node/1151
Februar 2009 / http://linksunten.indymedia.org/node/68
Mai 2008 / http://de.indymedia.org/2008/05/216487.shtml
November 2007 / http://de.indymedia.org/2007/11/198741.shtml
November 2007 / http://de.indymedia.org/2007/11/198641.shtml
November 2007 / http://de.indymedia.org/2007/11/198638.shtml


Unsere Filme aus Nahr al-Bared Camp:
http://a-films.blogspot.com/search/label/fl%C3%BCchtlingslager%20nahr%20al-bared


Mit besten Grüssen,

a-films
http://a-films.blogspot.com

----------------------
ANTI-ATOM
-----------------------

St. Galler Tagblatt 6.6.09

Wie Zürich Atomausstieg plant

Die SP will, dass die Stadt St. Gallen ihre Atomstrom-Verträge nicht mehr erneuert. Der Stadtrat lehnt die Initiative ab. Anders in Zürich: Dort hat das Stimmvolk mit 76 Prozent Ja gesagt zu einer Stadtratsvorlage zum Atomausstieg.

Daniel Klingenberg

St. Gallen. Die Stadt St. Gallen bekommt viel Lob für ihre Energiepolitik. Ziel des Energiekonzepts ist, die Wärmeversorgung der Stadt in den kommenden Jahrzehnten radikal umzubauen: weg von fossilen Brennstoffen, hin zu neuen Energiequellen wie Geothermie. Das sorgt schweizweit für Aufmerksamkeit. Auch die Stromversorgung ist Thema des Energiekonzepts. Hier soll aber kein vergleichbar revolutionärer Weg beschritten werden. Zwar will man die Stromproduktion aus erneuerbaren Energien fördern, die Grundlast sollen aber weiterhin Wasserkraft und Kernenergie tragen.

Vorlage mit ähnlichem Wortlaut

Aufgrund dieser Feststellung ist klar, dass der Stadtrat die SP-Initiative "Stadt ohne Atomstrom" ablehnt (Ausgabe vom 26. Mai). Diese verlangt, dass die Stadt "direkt und indirekt auf die Beteiligung an neuen Atomkraftwerken" verzichtet. Der zuständige Stadtrat Fredy Brunner sieht aber "innert nützlicher Frist" keine Alternative zum Atomstrom.

Anders ist dies in der Stadt Zürich. Die Stimmbürger der Limmatstadt haben im vergangenen November eine in der Schweiz bisher einzigartige energiepolitische Weichenstellung vorgenommen. Als erste Gemeinde hat Zürich den mittelfristigen Atomausstieg in der Gemeindeordnung festgeschrieben - mit einem Ja-Stimmen-Anteil von über 76 Prozent. Zürich verpflichtet sich mit der Annahme der Abstimmungsvorlage - ein Gegenvorschlag des Stadtrates zu einer Initiative der Grünen - zu einem ähnlichen Wortlaut, wie die St. Galler Initiative dies will: Sämtliche Beteiligungen an Kernkraftwerken dürfen nicht mehr erneuert werden. Diese laufen zwischen 2018 und 2044 aus. Wichtiges Datum ist das Jahr 2039: Dann wird die grösste Beteiligung, jene am AKW Gösgen, beendigt.

28 Prozent Atomstrom

Bis dahin hat das Elektrizitätswerk der Stadt Zürich (EWZ) Zeit, eine Abdeckung des Atomstromanteils mit erneuerbaren Energiequellen aufzugleisen. Denn Bestandteil der Vorlage ist auch die Senkung der CO2-Emissionen.

Die Stadt Zürich hat einen Bedarf von rund 3000 Gigawattstunden (GWh) Strom pro Jahr, etwas mehr als sechsmal so viel wie die Stadt St. Gallen. Der Strom für Zürich für das Jahr 2008 stammt zu über 65 Prozent aus Wasserkraft, der Atomstrom beläuft sich auf knapp 28 Prozent. Die Tendenz ist sinkend: Ein Jahr zuvor waren es noch etwas mehr als 31 Prozent. Erneuerbare Energien - Sonnen- und Windenergie sowie Biomasse - steuerten im letzten Jahr 2,5 Prozent an den Zürcher Strommix bei.

200 Millionen für Windkraft

Das soll sich ändern. Die EWZ- Atomausstiegs-Strategie setzt als erstes auf Windkraft. Am 17. Mai sagte das Zürcher Stimmvolk Ja zu einem Kredit über 200 Millionen Franken zum Bau oder Kauf von Windenergieanlagen. Mit 80,4 Prozent war die Zustimmung wiederum sehr deutlich. Nach Auskunft von EWZ-Mediensprecher Harry Graf sollen nun jährlich Anlagen mit einer Leistung von fünf bis zehn Megawatt Strom gebaut oder erworben werden. Bis 2018 wolle das EWZ die Produktion so weit ausbauen, dass jährlich drei bis sechs Prozent des Zürcher Strombedarfs aus Windenergie gedeckt werden. Zugleich treibe man den Bau von Kleinwasserkraftwerken und Solarstromanlagen voran, sagte Graf weiter. Auch andere Energiequellen behalte man im Auge: So bezieht das EWZ Ökostrom von einem Herisauer Biomasse-Stromproduzenten.

--

Abstimmung Ende November?

Die Initiative "Stadt ohne Atomstrom" kommt frühestens am 29. November zur Abstimmung. Dies sagte Stadtschreiber Manfred Linke auf Anfrage. Dies ist möglich, wenn das Stadtparlament die Vorlage in seiner ersten Sitzung nach den Sommerferien - vorher ist dies aus zeitlichen Gründen nicht möglich - bespricht. Verschiebt sich aber die Behandlung dieses Traktandums, wird die Abstimmung erst im kommenden Jahr stattfinden. Der erste mögliche Termin wäre der 7. März.

Der Strom für St. Gallen stammte im Jahr 2007 zu etwas über 54 Prozent aus Atomkraftwerken. Die Tendenz ist leicht steigend: 2005 waren es noch knapp zwei Prozent weniger. Die SN Energie AG, der städtische Stromlieferant, bezieht Elektrizität aus vier Kernkraftwerken: Gösgen, Leibstadt sowie Bugey und Cattenom in Frankreich. Hinzu kommt - über eine weiteren Lieferanten - Strom aus verschiedenen französischen AKW. Nach Auskunft von Clemens Hasler von der SN Energie AG laufen die Verträge mit den Atomstrom-Lieferanten zwischen 2017 und 2040 aus. Wenn die Stimmbürger die SP-Initiative annehmen, würde der Atomstrom-Bezug ab 2017 stufenweise zurückgehen. Anders gesagt: Man müsste bis im Jahr 2040 schrittweise über 50 Prozent des heutigen Stromverbrauchs aus anderen Quellen abdecken. Das hiesse: Die Stadt müsste die Verträge mit der SN Energie, bei der sie die grösste von sieben Aktionären ist, neu aushandeln. Oder sie müsste den Strom anderswo beziehen. (kl)

-------------------------------------------
GIPFEL-SOLI-NEWS 6.6.09
-------------------------------------------

gipfelsoli.org/Newsletter 6.6.09

6.6.2009 L'Aquila -- London -- Strasbourg/ Baden-Baden

- Die Solidarität stärkt die Einheit und das gegenseitige Vertrauen. Danke für die Unterstützung
- Manifest für den Gegengipfel zum Wirtschafts-G8 in Lecce vom 12. bis zum 13. Juni 2009
- NO G8 Economia* - Aufruf zur Beteiligung und Mobilisierung
- G8, 5000 gegen die Innen- und Justizminister auf der Straße
- G8 in L' Aquila - Maroni: Schengener Abkommen aussetzen
- Was sich seit Genua 2001 in der Bewegung geändert hat
- New evaluations of G20 protests available
- Improving exchange of information on persons disturbing the public order and/or endangering public security by using SIS
Mehr: http://www.gipfelsoli.org/Newsletter/7221.html