MEDIENSPIEGEL 12.1.10
(Online-Archiv: http://www.reitschule.ch/reitschule/mediengruppe/index.html)

Heute im Medienspiegel:
- Reitschule-Tipps (norient, tojo)
- Zbinden-Bashing
- Kinosterben: Splendid + Cinemastar gehen zu
- Nix Autonomer Freiraum in SO
- Autonome Schule ZH im Exil
- Verdingkinder: Bibliothek im Sozialarchiv
- Faschismus im Berlusconi-Land

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REITSCHULE
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Di 12.01.10
20.30 Uhr - Kino - Uncut: The Good American, Jochen Hick, Deutschland 2009

Mi 13.01.10
19.00 Uhr - SousLePont - Indien Spezialitäten
20.30 Uhr - Tojo - "Uns geht's gut!" von Olivier Chiacchiari. 20 Jahre Club 111

Do 14.01.10
20.30 Uhr - Tojo - "Uns geht's gut!" von Olivier Chiacchiari. 20 Jahre Club 111

Infos: http://www.reitschule.ch

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kulturagenda.be 14.1.10

Ungeschminkte Filme

Das international tätige Berner Netzwerk Norient hat sich der Erforschung lokaler und globaler Klanglandschaften verschrieben. Mit dem ersten Norient Musikfilm Festival bringt es Low-Budget-Musikfilme aus aller Welt und die neuesten afrikanischen Beats in die Reitschule.

"Das Einzige, was ich wirklich machen will, ist Rock'n'Roll." Bian Yuan und seine Freundin Su Jing sitzen auf dem Boden ihrer Wohnung in einem Abbruchhaus am Pekinger Stadtrand. Sie hält eine Micky-Maus-Puppe im Arm und lauscht andächtig, wie er, Sänger von Joyside, den Rockstar gibt: "Mein Idol ist Jim Morrison." Joyside ist eine von fünf Bands aus der Pekinger Punkrock- Szene, die die Berliner Filmemacher Susanne Messmer und George Lindt in "Beijing Bubbles" (2006) porträtieren.

Zwischen Globalisierung und Lokalisierung

Und schon steckt man mittendrin in den Fragen, die auch das Netzwerk Norient umtreiben: Unter welchen musikalischkulturellen Einflüssen stehen Musikerinnen und Musiker in ihrem geografischen Umfeld? Ist eine asiatische Band, die sich die Doors zum Vorbild nimmt, hoffnungslos "verwestlicht"? Muss chinesische Musik chinesisch klingen? "Bei unseren Recherchen rund um den Erdball beschwerten sich die ortsansässigen Musiker immer wieder, dass sie im Ausland nur wahrgenommen würden, solange sie die Klischees der sogenannten Weltmusik bedienen", erklären Thomas Burkhalter und Michael Spahr von Norient ihren Standpunkt. Die Weltmusik-Industrie verlangt, dass chinesische Musik gefälligst so klingen soll, wie sich der Europäer das gemeinhin vorstellt? "Genau, und hier wollen wir eine Alternative aufzeigen. Was uns interessiert, sind die Gesichter und Klänge jenseits dieser Maschinerie."
So begibt sich Norient nicht auf die Suche nach möglichst "authentischer" Folklore, sondern spürt vielmehr der Frage nach, inwiefern Lokalisierungs- und Globalisierungsprozesse zusammenspielen. Hinter allem steht die Erkenntnis, dass die Globalisierung nicht eine Einbahnstrasse ist, sondern überall passiert und wirkt. Auf der Webplattform www.norient.com publizieren Journalisten, Wissenschaftlerinnen sowie Kulturschaffende seit 2002 eine Vielzahl von Texten zu dieser Thematik.
Unzählige Filme hätten sie sich angeschaut, erzählt Thomas Burkhalter, bis die Auswahl für das Festival feststand: "Unser Hauptkriterium war die Nähe der Filmmacherinnen zu den Akteuren. Die ausgewählten Filme haben den Anspruch, möglichst ungeschminkt und realitätsnah zu sein."

Sechs Filme und eine Clubnacht

Im Anschluss an die sechs Musikfilme aus Angola, China, Kambodscha, Brasilien, Palästina und Israel sind Diskussionen und - im Falle von "Beijing Bubbles", "É Dreda Ser Angolano" und "Sou feia mas tô na moda" - Gespräche mit den Regisseurinnen und Regisseuren geplant. An der Clubnacht vom Freitag lassen sich Kuduro, Kwaito und andere afrikanische Beats auf ihre Tanzbarkeit prüfen.

Gisela Trost

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Reitschule, Bern
- Do., 14.1., Kino in der Reitschule
20 Uhr: "Sleepwalking Through the
Mekong"
21.30 Uhr: "Beijing Bubbles"
- Fr., 15.1., Kino/Dachstock, Reitschule
20 Uhr: "É Dreda Ser Angolano"
22 Uhr: "Slingshot HipHop"
22 Uhr: Urban African Club Night
mit Radioclit, MC MoLaudi,
DaladalaSoundz, DJ Mpula u.a.
- Sa., 16.1., Kino in der Reitschule
20 Uhr: "Sou feia mas tô na moda"
22 Uhr: "RiP: A Remix Manifesto"
http://www.norient.com

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kulturagenda.be 14.1.10

"Popeye's godda blues" im Tojo Theater

Im Rahmen seines Jubiläums bringt der Club 111 noch einmal seinen Popeye auf die Bühne. Der ungehobelte Seemann, dem Spinat übermenschliche Kräfte verleiht, steht für actiongeladene Slapstick-Comics. Die hat der Club 111 ohne Worte auf die Bühne gebracht, dafür mit Bumm-Zack-Schmackes, Beat-Man in der Hauptrolle und einem Hellraumprojektor.  
Tojo Theater, Bern. Mi., 20.1., bis Fr., 22.1., 20.30 Uhr

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ZBINDEN-BASHING
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Bund 12.1.10

Anti-SVP-Krawall: Entlassung des Gibb-Lehrers war rechtens

 Die Berufsschule Gibb hatte das Recht, den Lehrer Rolf Zbinden zu entlassen, so das Verwaltungsgericht. Zum Verhängnis wurde ihm der Anti-SVP-Krawall von 2007.

Markus Dütschler

 Die Ausschreitungen gegen einen bewilligten SVP-Umzug am 6. Oktober 2007 verschafften der Stadt Bern seltene Aufmerksamkeit in den Weltmedien. Unter den Anti-SVP-Aktivisten war auch PdA-Stadtrat Rolf Zbinden, auf Polizeifotos erkannte man ihn mit einem Transparent mit der Parole "Welcome to Hell".

 Ansehen der Schule leidet

 Im Prozess vor dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, dessen Urteil vom 14. Dezember 2009 dem "Bund" vorliegt, ging es nicht um den Stadtrat Zbinden, sondern um den Lehrer an der Gewerblich-Industriellen Berufsschule (Gibb), an der er ab 1984 unterrichtete. Dem Gibb-Direktor blieb die in den Medien diskutierte Rolle Zbindens bei den Krawallen nicht verborgen. Am 18. April 2008 fasste Zbinden darum einen Verweis: Mit der Teilnahme an unbewilligten Kundgebungen verstosse er gegen die Treuepflicht und schade dem Ansehen der Schule, so die Begründung.

 Dabei blieb es nicht. Am 28. Oktober 2008, ein Jahr nach den Vorgängen in der Berner Altstadt, sprach eine Einzelrichterin des Gerichtskreises Bern-Laupen Zbinden der Gewalt und Drohung gegen Beamte schuldig, ebenso des Landfriedensbruchs und der Nötigung. Für die Gibb-Leitung war es das Signal für einen harten Schritt: Zbindens Entlassung. Es lägen triftige Gründe dafür vor, denn mit dem Urteil seien die strafrechtlichen Konsequenzen seines Verhaltens eingetreten, befand die Gibb.

 Zbinden zog vor Obergericht, wo der damalige Verteidiger Willi Egloff eine Art Widerstandsrecht gegen gefährliche Umtriebe der SVP postulierte. Die Strafkammer des Obergerichts folgte dem nicht. Sie bestätigte das erstinstanzliche Urteil am 19. Mai 2009, reduzierte aber die Geldstrafe. Es sah es auch als erwiesen an, dass Zbinden an einer Aktion vor der dänischen Botschaft am 2. März 2007 einen Polizisten geohrfeigt hatte.
 Zbinden konnte sich äussern

 Vor Verwaltungsgericht focht Zbinden den Verweis und die Kündigung durch die Gibb an. Er hatte die Angelegenheit auch an die Erziehungsdirektion des Kantons Bern (ERZ) weitergezogen, war aber dort abgeblitzt.

 Insbesondere bemängelte Zbinden, ihm sei das rechtliche Gehör nicht gewährt worden. Damit ist gemeint, dass der Betroffene einer Massnahme ausreichend Gelegenheit erhalten muss, seine Sicht darzulegen. Unter Hinweis auf Rechtskommentare kommt das Verwaltungsgericht zur Ansicht, dass Zbinden in mehreren Gesprächen mit dem Gibb-Direktor genügend Gelegenheit gehabt habe, die Gründe für seine Teilnahme an der unbewilligten Kundgebung und seine Appellation gegen das erste Gerichtsurteil zu erläutern. Der Direktor habe Zbinden mehrfach ermahnt, dass weitere Vorfälle ernste Konsequenzen haben würden. Trotzdem nahm Zbinden auch an der Anti-WEF-Demo vom 19. Januar 2008 teil.

 Zbinden habe die Verfehlungen - Teilnahme an der unbewilligten Kundgebung und das Ohrfeigen eines Polizisten - nicht als Lehrer, sondern als Privatperson begangen, legte das Verwaltungsgericht dar. Dennoch könne der Bezug zu seiner Unterrichtstätigkeit nicht ignoriert werden. Eine Schule habe ein grosses Interesse, dass ihre Lehrer ein zweifelsfreies Verhältnis zur Anwendung von Gewalt hätten, so das Verwaltungsgericht. Seine Entlassung sei verhältnismässig gewesen.

 Rolf Zbinden war gestern nicht erreichbar. Sein jetziger Anwalt Hans Keller wollte sich zum Urteil nicht äussern. Die Beschwerdefrist vor Bundesgericht läuft noch bis Mitte Januar.

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BZ 12.1.10

Demo-Nachspiel

 Zbindens Kündigung bestätigt

 Weitere Niederlage für den geschassten Gewerbeschullehrer Rolf Zbinden: Das Verwaltungsgericht hat die Kündigung gegen den straffälligen Berner PdA-Stadtrat bekräftigt. Dieser habe dem Ansehen der Schule geschadet.

 Die Unterschrift unter dem Gerichtsurteil war kaum trocken, da wurde Rolf Zbinden vom nächsten Schlag getroffen. Sein Arbeitgeber kündigte ihm am 29.Oktober 2008 den Job. Wer Polizisten attackiere und an Strassenblockaden teilnehme, könne nicht länger Lehrer sein, hörte Zbinden von Herbert Binggeli, dem Direktor der Gewerblich-Industriellen-Berufsschule Bern (Gibb).

 Zbinden war an diesem Morgen vom Strafeinzelgericht Bern-Laupen zu einer bedingten Geldstrafe von 30 Tagessätzen à 190 Franken verurteilt worden. Die Teilnahme an der SVP-Blockade am 6.Oktober 2007 war laut Gericht Nötigung und Landfriedensbruch. Zudem hatte sich Zbinden an einer Kundgebung vor der dänischen Botschaft im März 2007 der Gewalt und Drohung gegen Beamte schuldig gemacht. Die Urteile wurden im Mai 2009 vom Obergericht bestätigt (wir berichteten).

 "Der Schule geschadet"

 Seither kämpft Zbinden mit einer Beschwerde gegen die Kündigung seines 20-Prozent-Pensums als Lehrer an. Allerdings ohne Erfolg: Nach dem Regierungsstatthalteramt hat nun auch das Verwaltungsgericht des Kantons Bern Zbindens Beschwerde abgewiesen.

 Die Begründung: Mit diesem Vorstrafenregister könne der Beschwerdeführer seine Vorbildfunktion nicht länger wahrnehmen, steht im Verwaltungsgerichtsurteil vom 14.Dezember. "Zudem hat er (Rolf Zbinden) mit seiner Teilnahme an unbewilligten Demonstrationen und der strafrechtlichen Verurteilung in Medien und der Politik einen Wirbel ausgelöst, der sich negativ auf Ruf und Ansehen der Schule auswirkt."

 Gewaltproblem an Schulen

 Zurückgewiesen wurde auch Zbindens Einwand, er habe weder im Schulalltag Gewalt propagiert noch seine politischen Ansichten in den Unterricht getragen. Die Antwort des Gerichts: "Heutzutage sind viele Schulen mit Gewalt innerhalb der Schülerschaft konfrontiert." An die Integrität der Lehrpersonen bestünden hohe Anforderungen. "Sie können ihren Lehrauftrag nur dann glaubwürdig erfüllen, wenn sie selbst ein in jeder Hinsicht unbefangenes Verhältnis zur Gewalt und deren Ausdruckmitteln haben."

 Tobias Habegger

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KINOSTERBEN
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BZ 12.1.10

Drei Kinos stehen vor dem Ende

 2009 brachen die Zuschauerzahlen der Innenstadtkinos ein. Nun droht zwei Splendid-Sälen und dem Cinema Star das Aus.

 Der Zweckoptimismus war fehl am Platz: Als im Oktober 2008 mit dem Westside-Einkaufszentrum auch das erste Multiplexkino in der Region startete, zeigten die Kinobetreiber der Innenstadt keine Furcht vor der neuen Konkurrenz. Doch nun ist klar, dass das Westside den Innenstadtkinos gleich im ersten vollen Betriebsjahr einen massiven Zuschauerrückgang von 15 Prozent beschert hat. Mit bloss einem Drittel aller Säle erreichte das Westside 2009 einen Marktanteil von 41,5 Prozent und avancierte zum Marktführer.

 Dies hat dramatische Folgen: Gemäss Insidern stehen bei der Berner Kinokette Quinnie, welche zehn Säle betreibt, die Kinos Splendid 1 und 2 sowie das Cinema Star inklusive der populären Ciné-Bar vor der Schliessung. Bereits im Sommer hat die andere Innenstadt-Kinokette, die Zürcher Kitag, mit Entlassun-gen und Pensenreduktionen reagiert.
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 Seite 19

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StadtBerner Kinos

Drei Kinos vor der Schliessung

Die Innenstadtkinos leiden unter der Westside-Konkurrenz: Die Besucherzahlen brachen 2009 dramatisch um 15 Prozent ein. Bei der Quinnie-Kette steht die Schliessung der beiden Splendid-Säle und des Cinema Star bevor.

Über eine halbe Million Eintritte 2009 konnte das neue Multiplexkino Pathé Westside letzte Woche vermelden. "Die ganze Stadt Bern profitiert von der Eröffnung des Pathé Westside!", jubelten die Betreiber in einem Communiqué. Tatsächlich gingen 2009 in Bern (inklusive Westside) 295 000 Menschen mehr ins Kino als 2008. Das entspricht einem Plus von 32 Prozent. Die damit erreichten über 1,2 Millionen Eintritte dürften Stadtberner Rekord bedeuten.

Desaströser Rückgang

Trotzdem kann keine Rede davon sein, dass die ganze Kinostadt von den elf Sälen im Westside profitiert - im Gegenteil: Der Pathé-Triumph geht zum Teil auf Kosten der Kinos in der Innenstadt. Diese mussten einen massiven Einbruch hinnehmen: Sie verzeichneten 120 000 Eintritte weniger als im Vorjahr. Das entspricht einem Minus von 15 Prozent. Wie es trotz des Rückgangs zum gesamtstädtischen Rekordergebnis kam, lässt sich leicht erklären: 2009 war das erste volle Betriebsjahr im Westside, 2008 waren die Pathé-Kinos bloss drei Monate in Betrieb und verzeichneten nur 95 000 Eintritte.

Entlassungen bei Kitag

Bereits letzten Sommer hat die Zürcher Kitag-Kette, welche in Bern zwölf Säle betreibt, darauf reagiert: Sie fuhr die Zahl der pro Kino im Einsatz stehenden Mitarbeiter herunter. Es kam es zu Kündigungen und Pensenreduktionen. Dass der Pathé-Multiplex der Kitag schaden würde, wurde in der Branche erwartet: Beide Ketten buhlen mit weitgehend identischen Mainstreamfilmen um das Publikum.

Schliessungen bei Quinnie

Viel überraschender kommt nun, dass offenbar auch die Berner Kinokette Quinnie durch die Pathé-Konkurrenz gebeutelt wurde. Quinnie spricht mit ihrem gehobenen Studiofilmprogramm eigentlich eine andere Klientel an. Trotzdem drohen bei der Quinnie, welche zehn Säle betreibt, drastische Schnitte: Gemäss Insidern stehen die Kinos Splendid 1 und 2 sowie das Cinema Star inklusive der populären Ciné-Bar vor der Schliessung. Schon im Mai soll es so weit sein.

Bei der Quinnie bestreitet man nicht, dass sich das Unternehmen im Lichte der Umwälzungen in der Kinolandschaft neu positionieren muss. Doch: "Wir werden unsere Entscheide erst Ende Januar kommunizieren", sagte gestern Verwaltungsratspräsident Thomas Koerfer. Die Mitarbeitenden wurden bereits letzten Samstag informiert.

In die Jahre gekommen

Dass die Kinos Splendid und Cinema Star vor der Schliessung stehen, hat dem Vernehmen nach auch damit zu tun, dass diese in die Jahre gekommen sind und darum Investitionen nötig wären: Das Duplexkino Splendid wurde 1997 eröffnet und seither nicht mehr umgebaut. Auch das Cinema Star existiert seit 1997 - bis 2002 lief es unter dem Namen Cosmos, nach dem Konkurs der Betreiber wurde es von der Quinnie übernommen.

Adrian Zurbriggen

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Zahlen

 Berner Kinolandschaft

Bis im Oktober 2008 teilten sich das Zürcher Unternehmen Kitag und die Berner Kette Quinnie den kommerziellen Stadtberner Kinokuchen unter sich auf. Mit der Eröffnung des Multiplexkinos im Westside, welches von der französischen Pathé-Gruppe betrieben wird, wuchs die Kapazität auf einen Schlag von 4800 Plätzen in 22 Sälen auf 7200 Plätze in 33 Sälen an.

Im ersten Volljahr 2009 avancierte Pathé gleich zum klaren Marktführer auf dem Platz Bern: Obschon Pathé bloss einen Drittel der kommerziellen Kinosäle (11 Säle/2400 Plätze) bespielt, erreichte sie letztes Jahr einen Marktanteil von 41,5 Prozent. Kitag betreibt mit Gotthard, Royal, Alhambra, Rex, Jura 1+2+3, City 1+2+3 und Capitol 1+2 12 Säle mit insgesamt 2900 Sitzen. Quinnie programmiert mit den Kinos Bubenberg, Club, Splendid 1+2, ABC, Movie 1+2+3, Camera und Cinema Star zehn Leinwände für 1900 Zuschauer.
azu

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Zwischennutzung

"Neue Galerie" am Bollwerk

Direkt neben dem von der Schliessung bedrohten Cinema Star stehen am Berner Bollwerk seit Monaten drei Ladenlokale leer. Den Mietern - unter anderem dem Modegeschäft Fizzen - wurde gekündet, weil der Besitzer ein "grosses Projekt" realisieren wollte. Dieses zerschlug sich aber (wir berichteten). Seither sind die knapp 700 Quadratmeter zur Miete ausgeschrieben. Preis: rund 30000 Franken monatlich für die ganze Fläche. Die Verwaltung Von Graffenried befindet sich laut eigenen Angaben in Verhandlungen mit einem ernsthaften Interessenten. Details könne man aber noch keine bekannt geben.

Bis es so weit ist, werden die Räumlichkeiten zwischengenutzt: Ab 16.Januar bespielt die "Neue Galerie" die zwei grossen Schaufenster mit einer Videoinstallation der australischen Künstlerin Linda Tegg.
azu

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AUTONOMER FREIRAUM SO
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Solothurner Zeitung 12.1.10

Villa Kunterbunt bereits kein Thema mehr

 Biberist. Autonome Freiraum Bewegung fordert ein Jugendzentrum - doch das Gebäude steht nicht zur Verfügung

 Per Flugblatt legen Jugendliche ein Konzept für ein Jugendzentrum an der Auffahrt zur Solothurner Westumfahrung vor. Vergeblich, denn das Gebäude soll demnächst verkauft werden.

Christof Ramser

 Auf vier Seiten brausen Autos und Lastwagen um die Villa Schürch herum. Die Liegenschaft auf Biberister Boden wirkt wie eine Insel zwischen den grauen Bändern der Bürenstrasse, der Autobahnauffahrt und der Brücke der Solothurner Westumfahrung. In diesem Haus, fern von direkten Anwohnern, will die Autonome Freiraum Bewegung (AFB) Konzerte organisieren, eine Bibliothek und Bastelräume einrichten oder einfach nur quatschen. "Villa Kunterbunt" heisst das Konzept für ein Autonomes Jugendzentrum (AJZ), das Jugendliche seit längerem fordern (wir berichteten). Auf einem Flugblatt erklären sie nun, warum gerade die Villa Schürch geeignet sei: Das Gebäude werde seit Jahren nicht genutzt, was schade sei für so ein "grandioses Haus". Dank der neuen Nutzung erhielten Haus und Umgebung wieder Farbe und Ansehen, und der Unterhalt werde gewährleistet. "Selbstverständlich ist ferner der Jugendschutz und das Rauchergesetz zu beachten", heisst es weiter.

 Gebäude steht unter Heimatschutz

 Doch bevor es an die Feinplanung geht, ist die "Villa Kunterbunt" bereits wieder vom Tisch. Die Liegenschaft gehört dem Kanton und soll demnächst verkauft werden, wie Guido Keune auf Anfrage bestätigt. Man sei mit einem Käufer handelseinig, so der kantonale Leiter Immobilien. Im stark renovationsbedürftigen Gebäude war während des Baus der Autobahn A5 das Planungsbüro untergebracht. Das Haus steht in der Landwirtschaftszone und soll für Wohnungen genutzt werden. Interessant: Das Gebäude steht unter Heimatschutz und soll unter Denkmalschutz gestellt werden, wie Keune weiter sagt. Bereits um 1720 stand dort ein Gebäude, und laut seinen Angaben wurde immer wieder an- und umgebaut. Besonders ein blauer Kachelofen, das Cheminée sowie die Treppenhalle seien schützenswert.

 Die AFB hat das Haus noch nicht aufgegeben. "Wir bleiben dran", sagt eine Sprecherin. "Die Villa Schürch wäre aus verschiedenen Gründen der ideale Standort für ein AJZ." Falls es doch nichts wird mit der "Villa Kunterbunt", habe man zumindest ein Konzept, das auf andere Liegenschaften angepasst werden könne. "Doch langsam wird die Auswahl an geeigneten Liegenschaften knapp." Eine Besetzung werde es aber nicht geben. "Das wäre kontraproduktiv."

 Eva Gauch, Betriebsleiterin im Alten Spital, hilft bei der Suche. Auch für sie ist die Villa Schürch keine Option. Mehr ist von ihr zurzeit nicht zu erfahren - denn um das weitere Vorgehen zu diskutieren, ist ein Gespräch zwischen Stadtpräsident Kurt Fluri, Jugendkommission und Jugendförderung, der AFB sowie weiteren Beteiligten anberaumt. Der Zeitpunkt ist noch offen.

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AUTONOME SCHULE ZH
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NZZ 12.1.10

Deutschunterricht im Stall 6

 Sans-Papiers finden in Zürcher Theaterhaus Unterschlupf

 tri. - Nachdem vergangene Woche der von der Gruppierung Autonome Schule Zürich (ASZ) besetzte Schulpavillon Allenmoos II in Unterstrass unter Polizeischutz geräumt worden ist, haben die Organisatoren von Deutschkursen für Sans-Papiers nun im Theaterhaus Gessnerallee eine vorübergehende Bleibe erhalten. Wie Niels Ewerbeck, der künstlerische Leiter und Geschäftsführer des Theaterhauses, auf Anfrage sagte, ist der Kontakt mit dem Verein Bildung für Alle über einen Regisseur zustande gekommen, der mit Flüchtlingen an einer Theateraufführung arbeitet. Der Verein hatte rund hundert Asylbewerbern im besetzten Pavillon Allenmoos II dreimal wöchentlich unentgeltlich Deutschunterricht erteilt. Beim Raum, den das Theaterhaus seit Montag provisorisch zur Verfügung stellt, handelt es sich um das Theaterfoyer Stall 6, in dem jeweils erst am Abend mit Bar und Konzerten Betrieb herrscht. Laut Ewerbeck ist das Angebot vorerst bis Ende Monat befristet und gilt nur für die Deutschkurse und das Theaterprojekt der Flüchtlinge, nicht aber für alle Veranstaltungen, die von der ASZ angeboten worden sind.

 Seit April 2009 waren im Allenmoos II neben dem Deutschunterricht auch Computer-, Philosophie-, Theater- oder Tanzkurse durchgeführt worden. Der Pavillon soll im Sommer in einen Hort umgebaut werden. Grund für die vorzeitige Räumung war laut städtischem Hochbauamt die Gefährdung der Kinder des benachbarten Schulhauses durch unsachgemäss verlegte Stromleitungen. Als Reaktion auf die Räumung besetzten die Aktivisten der ASZ am Donnerstag für wenige Stunden ein Schulhaus im Zürcher Kreis 4. Über das weitere Vorgehen der ASZ soll Ende Woche informiert werden.

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VERDINGKINDER
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20min.ch 12.1.10

Verdingkinder

Sie lebten wie Sklaven

Im Schweizerischen Sozialarchiv in Zürich wird eine Fachbibliothek über Verdingkinder aufgebaut. Die Dokumentation soll ein trübes Kapitel der Schweizer Geschichte vor dem Vergessen bewahren.

Bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts hatten viele Verdingkinder in der Schweiz ein elendes Leben. Viele von ihnen wurden fast wie auf dem Sklavenmarkt den Bauern angeboten, geschlagen und geknechtet, weil die Eltern arm oder ein oder beide Elternteile gestorben waren.

Bis vor wenigen Jahren habe dieses düstere Kapitel Politik und Gesellschaft kaum interessiert, stellte Walter Zwahlen, Co-Präsident des Vereins netzwerk-verdingt, am Dienstag in Zürich vor den Medien fest. Erstaunlicherweise beschäftigten sich nur wenige Historiker damit.

Verein gegründet

Der 2008 von Betroffenen gegründete Verein habe sich deshalb im vergangenen Jahr entschlossen, zusammen mit dem Sozialarchiv eine Fachbibliothek zum Thema Fremdplatzierungen auf die Beine zu stellen. Absicht sei, die Werke Studierenden von Universitäten, Fachhochschulen, Gymnasien, Forschern und weiteren Interessierten auszuleihen.

Die Sammlung umfasst derzeit über 200 Werke in deutscher, 65 in französischer Sprache sowie je zwei italienische und englische Titel. Die Bibliothek "Verdingkinder, Heim- und Pflegekinder" sei weltweit einzigartig, betonte Zwahlen.

Wertvolle Ergänzung des Archivs

Die Fachbibliothek über Verdingkinder passe sehr gut in das Sammelprofil des Sozialarchivs, sagte dessen Vorsteherin Anita Urech. Das Sozialarchiv erhalte damit eine wertvolle Ergänzung und Vertiefung seiner Sammlungen zu Themen wie Fremdplatzierung von Kindern, ausserfamiliäre Erziehung oder zur Geschichte der Kindheit ganz allgemein.

Die Fachbibliothek über Verdingkinder soll laut Urech zu einem wichtigen Instrument für die Bewusstseinsbildung, Bewältigung, Aufarbeitung und weitere Forschung werden. Ergänzt wird die Sammlung im laufenden Jahr durch eine Mediothek mit Bildern, CD und DVD.

Die Fachbibliothek vermittle einen überaus interessanten Einblick in eine verdrängte Geschichte, sagte der Basler Soziologe Ueli Mäder, der sich im Rahmen eines Forschungsprojekte wissenschaftlich mit Verdingkindern befasst. Die Dokumente und Texte liessen Bilder entstehen und regten dazu an, neue Sichtweisen zu entwickeln.
(sda)

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FASCHISMUS ITALIEN
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Süddeutsche Zeitung 12.1.10

Kalkulierte Tabubrüche

 In Italien findet der Faschismus seine Verteidiger längst in der guten Gesellschaft

Von Aram Mattioli

 Silvio Berlusconis Aufstieg zum mächtigsten Mann Italiens wurde durch den korruptionsbedingten Zusammenbruch des alten Parteiensystems und eine "lautlose Kulturrevolution" (Alexander Stille) ermöglicht, die die Gesellschaft seit Mitte der achtziger Jahre grundstürzend veränderte. Kulturell schlug sich die transizione italiana in einem neuen Politikstil der großspurigen Ankündigungen, maßgeschneiderten Gesetze und rechtsstaatlichen Tabubrüche nieder. Immer dreister rücken die dem "Cavaliere" wohlgesinnten Medien Kritik an seinem Regierungsstil in die Nähe von Landesverrat. Selbst Schriftsteller wie Claudio Magris od~r Antonio Tabucchi werden von ihnen inzwischen als "Antiitaliener" und "Exportintellektuelle" geschmäht, wenn sie sich besorgt über den Berlusconismus und die ihm innewohnenden Gefahren äußern. Ein neuer Populismus verwandelte das Land zu einer Demokratie ohne wirkliche Demokratie.

 Im Fahrwasser des soziokulturellen Wandels rückte die Gesellschaft nach rechts, die Themen der Rechten erhielten jetzt einen kaum für möglich erachteten Raum in den öffentlichen Debatten. Dies gilt auch für die in ihrer wirklichen Bedeutung oft unterschätzte Geschichtspolitik. Heute sind Faschismusapologie und "Duce"—Bewunderung in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Im Unterschied zu anderen westeuropäischen Ländern werden revisionistische Thesen in Italien nicht allein von Ewiggestrigen und den typischen Rechtsextremisten vorgetragen, sondern oft auch von bürgerlichen Honoratioren. Spitzenpolitiker, die der Mussolini-Diktatur positive Seiten abgewinnen; Straßen, die nach "Helden" des Regimes benannt werden oder "gute Faschisten", die als Filmhelden in die Wohnstuben der Fernsehnation flimmern, gehören seit 1994 ebenso zum Alltag der Zweiten Republik wie Gesetzesinitiativen, die Mussolinis letztes Aufgebot und die Kollaborateure von Salö den Kämpfern der Resistenza gleichstellen wollen. Besorgt bilanzierte der ehemalige christdemokratische Staatspräsident Oscar Luigi Scalfaro schon 2005: "Heute sehen wir, dass in Italien eine Geschichtspolitik betrieben wird, die im Zeichen der Befriedung auf eine Geschichtsrevision zielt und eine Aufwertung des Faschismus betreibt." Seit Berlusconi 1994 in die politische Arena stieg, erlebte das Land einen Krieg der Erinnerungen. Uber Jahrzehnte hatte die politische Kultur der 1946 gegründeten Republik Italien auf der Uberzeugung beruht, die Italiener hätten den Faschismus aus eigener Kraft überwunden und das von den Deutschen von Herbst 1943 an besetzte Land mit der Waffe in der Hand befreit. Das war eine sympathische Lebenslüge, die mithaif, in Italien nach über 20 Jahren der Diktatur dauerhaft eine Demokratie zu installieren. Die 1948 in Kraft gesetzte Verfassung war und ist dem Geist des republikanischen Antifaschismus verpflichtet.

 Begünstigt durch das Ende des Kalten Krieges und den Korruptionssumpf der Ersten Republik geriet die antifaschistisch geprägte politische Kultur immer stärker in Bedrängnis. Historiker, Publizisten und Filmemacher ebneten einer re— visionistischen Geschichtsdeutung den Weg, die auf Denkfiguren der neofaschistischen Subkultur zurückgriff. Nach Berlusconis drei Wahisiegen erhielt sein Bündnis die Gelegenheit, die Erinnerungskultur aus der Regierungsverantwortung heraus in ihrem Sinn umzubauen, auf der nationalen Ebene genauso wie in den Provinzen und Kommunen.

 Tatsächlich verwandelte sich dieses Politikfeld in der Zweiten Republik zu einem zentralen Ort gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Freilich geht es in diesen Debatten nie nur um die Vergangenheit, sondern stets auch um die kulturelle Deutungshoheit und um künftige Mehrheiten.

 "Es gibt doch gar keine Faschisten in meiner Regierung", meinte Silvio Berlusconi im Juni 1994, wenige Wochen nachdem er die Neofaschisten von Gianfranco Fini und die separatistische Lega Nord von Umberto Bossi erstmals zu Regierungsparteien gemacht hatte. In dieser Reaktion des neuen Premiers zeigte sich ein Grundmuster, das für seinen Umgang mit brisanten erinnerungskulturellen Fragen typisch ist. Die Kritik besorgter Demokraten, dass er mit seiner rechten Regierungskoalition erstmals den antifaschistischen Grundkonsens im Nachkriegseuropa durchbrochen habe, wischte er als unbegründet vom Tisch. Berlusconi trat in den Erinnerungsdebatten, die auf eine revisionistisc1~e Umdeutung der jüngeren Geschichte zielten, allerdings nie als treibende Kraft auf. Doch als Ministerpräsident, der eine solche Re-Interpretation politisch erst möglich machte, war die Rolle des "Cavaliere" entscheidend. Berlusconi ließ die Revisionisten gewähren, wo er sie hätte zurückbinden müssen; und er redete deren Ansichten schön oder hüllte sich in Schweigen, wo er sich deutlich vernehmbar hätte distanzieren müssen.

 Fehlende Berührungsängste gegen-über der harten Rechten charakterisieren Berlusconis ganze Karriere, nicht nur deren Beginn. Nach seinem zweiten Wahlsieg von 2001 machte er nicht, nur den Altfaschisten Mirko Tremaglia, der noch mit der Waffe in der Hand für Mussolini gekämpft hatte, zum Minister ‘für die Auslandsitaliener. Eine freundschaftfiche Beziehung pflegt er seit Jahren zu Alessandra Mussolini. Nach Finis Israel-Reise hatte die Enkelin des Diktators die ultrarechte Alternativa Sociale ins Leben gerufen. Ohne alle historische Sensibilität bot Berlusconi Anfang 2005 der rechtsextremen Politikerin die Präsidentschaft von Kampanien an. Selbst für die Republik Italien handelte es sich um einen unerhörten Vorgang. Um des reinen Machterwerbs willen war Berlusconi bereit, an der Spitze eines großen Rechtsbündnisses eine bekennende Faschistin zu akzeptieren. Alessandra Mussolini dankte für des Premiers pölitische Avancen damit, dass sie diesen als wahren "Leader" lobte.

 Während des Wahlkampfs 2006 kam es bei Berlusconis Auftritten auf den Piazze vor, dass Zuhörer aus Begeisterung in "Duce"-Rufe fielen und ihm gar mit gerecktem Arm die Ehre erwiesen. Bezeichnenderweise trat er solchem Treiben nie entgegen. Nicht genug damit schloss der Führer der Rechtskoalition Casa delle Liberta vor den Parlamentswahlen ein paar zusätzlicher Prozentpunkte wegen Bündnisse mit Kleinparteien am neofaschistischen Rand des politischen Spektrums. Dass ein konservativer Spitzenpolitiker in einem westeuropäischen Land mit ultrarechten Bewegungen paktiert, ist eine Eigentümlichkeit der besonderen Art. In Frankreich und Deutschland wä-re das schlicht undenkbar.

 Seit seinem Einstieg in die Politik verwischte Berlusconi die Grenzen zwisehen bürgerlich-konservativer und neofaschistischer Rechter systemätisch. Für die Parlamentswahlen vom Frühjahr 2008 kandidierten einige Faschismus-Bewunderer für das von Berlusconi angeführte Rechtsbündnis Popolo della libert~: Alessandra Mussolini für das Abgeordnetenhaus und Giuseppe Ciarrapico für den Senat der Republik. Der Fall des Verlegers Ciarrapico war besonders brisant, weil dieser für Berlusconis FI kandidierte. In einem Interview mit dem Corriere della Sera meinte Berlusconi über seinen faschistischen Parteifreund bloß: "Wir sind mitten im Wahlkampf und haben die Aufgabe, zu gewinnen. Der Verleger Ciarrapico besitzt Zeitungen, die uns nicht feindlich gesonnen sind. Es ist absolut wichtig, dass sich das nicht ändert, weil alle anderen großen Zeitungen gegen uns sind." Nach seinem dritten Wahlsieg blieb Berlusconi am 25. April2008 dem Staatsakt zum "Befreiungstag" fern. In einer Geste von hoher Symbolkraft empfing er am Nationalfeiertag lieber den neu gewählten Senator Ciarrapico zu einer Unterredung. Der starke Mann Italiens zeigte sich nicht nur in seinen Kontakten zur extremen Rechten erstaunlich inkorrekt.

 Immer wieder glitt er auch auf dem glatten Parkett unbewältigter Vergangenheit aus, wenn er seine laienhaften, aber stets populären Ansichten zur Geschichte des 20. Jahrhunderts öffentlich kundtat.

 Zentral in Berlusconis revisionistischem Geschichtsbild ist die Behauptung, dass nicht der Nationalsozialismus, sondern der Kommunismus das "unmenschlichste Unternehmen der Geschichte" war. Historisch nicht sonder~-lich bewandert, vertritt Berlusconi seit Jahrzehnten eine krude Variante der Totalitarismustheorie. Er betrachtet es insbesondere als seine moralische Pflicht, die Erinnerung an die Gewaltverbrechen der kommunistischen Regime wachzuhalten. Am 27. Januar 2006, dem Gedenktag für die Opfer der Schoah, bezeichnete er den Massenmord am europäischen Judentum zwar als "Wahnsinn". Doch neben dem Nazismus habe es einen kommunistischen Totalitarismus gegeben, der weit mehr Opfer auf dem Gewissen habe. Dadurch ließ er den Eindruck entstehen, dass der "Rassenmord" des NS-Regimes weniger schlimm gewesen sei als der kommunistische " Klassenmord" Dies war keine einmalige Unbedachtsamkeit, hält der große Vereinfacher den Kommunismus doch für die mit Abstand schrecklichste Tragödie des 20. Jahrhunderts.

 Dass er auf seinem antikommunistischen Kreuzzug gegen eine Fata Morgana kämpft, irritierte Berlusconi nie. Seit er sich in die politische Arena begab, hämmerte er seinen Landsleuten ein, die Gefahr einer kommunistischen Macht-übernahme in Italien sei nicht gebannt.

 Die Lage präsentiere sich noch immer wie 1948, als sich bei den Parlamentswahlen eine linke Volksfront und das Freiheitslager gegenüberstanden. Wenn die Linke hierzulande in die Regierungsverantwortung zurückkehre, orakelte er im Januar 2005, wäre das gleichbedeutend mit "Elend, Tod und Terror" wie überall, wo der Kommunismus regierte. Lange Jahre zeigte er sich geradezu besessen von der Vorstellung, dass es unter seinen Gegnern nur so von erklärten oder verkappten Kommunisten wimmle, ganz gleich, ob es sich um Politiker, Intellektuelle, Medienleute, Komiker oder "rote Richter" handelt. Hemmungslos verunglimpfte er selbst Christdemokraten Romano Prodi als "kathokommunistische Leader", welche in ihrer grenzenlosen Naivität der extremen Linken in die Hände spielen würden.

 Wie andere Politiker, Publizisten und Historiker rückte, auch der "Cavaliere" den bewaffneten Widerstandskampf in die Nähe eines kommunistischen Machtergreifungsversuchs. Das revolutionäre Modell, das die italienischen Kommunisten während der Resistenza inspiriert habe, sei eine Vorstufe zu einer "bolschewistischen Revolution" nach sowjetischem Muster gewesen. Eine moderne demokratische Nation könne sich jedoch nur dann wirklich antitotalitär nennen, wenn sie sich zur selben Zeit antifaschistischen und antikommunistischen Werten verpflichtet wisse.

 Für Silvio Berlusconi, der doch sein antitotalitäres Bekenntnis vor sich her trägt, stellt das faschistische Gesellschaftsexperiment keine verdammungswürdige Diktatur dar. Gegenüber der Washington Post meinte der Premier im Mai 1994 vielmehr: "Für eine gewisse Zeit hat Mussolini gute Dinge in Italien getan — das ist eine durch die Geschichte belegte Tatsache." Freilich sei das Endresultat der faschistischen Diktatur letztlich negativ, weil sie Italien der Freiheit beraubt und das Land in den Zweiten Weltkrieg geführt habe. Für die italienischen Revisiänisten hörte sich dies wie Balsam an. Berlusconi gab damit zu verstehen, dass der Mussolini-Faschismus erst unter dem Einfluss des nationalsozialistischen Deutschland aus dem Ruder gelaufen sei. Dieses weitverbreitete Vorurteil, das die Geschichtsforschung längst widerlegt hat, bediente er in seiner Regierungszeit wiederholt.

 Im Spätsommer 2003 bezeichnete Italiens Premierminister die faschistische Diktatur sogar als "gutartig" und behauptete gegen alle historischen Fakten, dass der "Duce" und seine Schergen nie gemordet und die Antifaschisten bloß in den Urlaub geschickt hätten. Als bei der Opposition und im Ausland daraufhin ein Sturm der Entrüstung losbrach, verteidigte sich Berlusconi damit, dass er als italienischer "Patriot" Mussolini lediglich vor einem unangemessenen Vergleich mit dem Massenmörder Saddam Hussein habe in Schutz nehmen wollen.

 Dass es sich dabei nicht um einen einmali~. gen Ausrutscher handelte, bewies der Herr der Peinlichkeiten im Dezember 2005, nur wenige Monate vor dem Ablauf der Legislaturperiode. Während eines Pressegesprächs gab Berlusconi vor einer Vielzahl von Journalisten zu Protokoll, dass der Faschismus nie "kriminell" gewesen sei: "Es gab die fürchterlichen Rassengesetze, weil man den Krieg zusammen mit Hitler gewinnen wollte.

 Der Faschismus in Italien besitzt einige Makel, aber nichts dem Nazismus oder Kommunismus Vergleichbares." Die Geringschätzung für die antifaschistische Kultur ist eine der Konstanten in Berlusconis Politkarriere. Sie macht selbst vor der seit dem 1. Januar 1948 geltenden Verfassung nicht halt, die für ihn ein "sowjetisches Gepräge" besitzt. Berlusconis Geschichtspolitik bewirkte, dass sich Antifaschisten heute für ihre Haltung rechtfertigen müssen.

 Immer stärker zeichnen sich die Konturen einer anti-antifaschistischen Erinnerungskultur ab, in der ohne Scheu an die angeblich positiven Leistungen von Mussolinis Diktatur und der Kollaboration mit Nazi-Deutschland erinnert wird. Innerhalb von Westeuropa schlug Italien mit seiner Teilrehabiiitierung des Faschismus einen Sonderweg ein. Dies blieb nicht folgenlos für die politische Kultur. "Es tut mir weh", bilanzierte die Christdemokratin Tina Anselmi, die als junge Frau dem antifaschistischen Widerstand angehört hatte, bitter, "dass man heute in Italien wieder Faschist sein kann, ohne dass sich jemand daran stört." Aram Mattioli lehrt Geschichte an der Universität Luzern. Er ist Autor des Buchs "‘Viva Mussolini!‘ Die Aufwer~ tung des Faschismus im Italien Berlusconi", das Mitte März im Ferdinand Schö-ningh Verlag erscheint.