MEDIENSPIEGEL 28.1.10
(Online-Archiv: http://www.reitschule.ch/reitschule/mediengruppe/index.html)

Heute im Medienspiegel:
- Reitschule-Kulturtipps (Tojo)
- Sicherheits-Wahn: Tschäppät und der Kommandant
- Rauchvebot: Beco-Fumoir; Europa vs RaucherInnen
- Repression führt zu mehr Drogentoten
- Randstand Burgdorf: Wieder im Zentrum
- Vermummte SchuhputzerInnen
- Anti-WEF Basel: Das andere Davos
- Anti-WEF Davos: SP dabei; Filme, Zugverkehr
- Public Eye: Schmähpreis für Roche
- Anti-WEF Luzern: Nach der Medienhetze; Polizeikosten
- Sport: von Fankultur und Alkohol
- Stieg Larson: Streit ohne Ende
- Gibt es ein Leben ohne Suchtfaktor Facebook?

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REITSCHULE
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Do 28.01.10
20.30 Uhr - Kino - Belarus Fokus: Music Partisans, Miroslaw Dembinski. Polen 2007
21.00 Uhr- Roessli - Ching Chong Song (USA) / The Wowz (USA) - Support: The Good, The Band and No Ugly - Cabaret feat. Anti-Folk

Fr 29.01.10
20.00 Uhr Grosse Halle - INDIENFORUM: Film "Der lange Weg zum eigenen Land" von Hans-Jürg Pfaff und Kurzfilm-Premiere mit anschliessender Diskussion
20.30 Uhr - Tojo - 3. Secondo Theatertournée 3 prämierte Kurzstücke vom 3. Secondo Theaterfestival
21.00 Uhr - Kino - Belarus Fokus: Kurzfilmprogramm, 78 Min

Sa 30.01.10
20.00 Uhr - Grosse Halle - INDIENFORUM: Bharatanatyam, klassischer südindischer Tempeltanz
20.30 Uhr - Tojo - 3. Secondo Theatertournée: 3 prämierte Kurzstücke vom 3. Secondo Theaterfestival
21.00 Uhr - Kino - Belarus Fokus: 89 Millimeter - Freiheit in der letzten Diktatur Europas, Sebastian Heinzel. Deutschland 2005
23.00 Uhr - Dachstock - The Local Darkside: Axiom (Renegade Hardware/CH), VCA (Biotic Rec/CH), Lockee (Rabass/CH), Lewin (Drumandbass.ch), Romic (Berne City)

Infos: http://www.reitschule.ch

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WoZ 28.1.10

Theater

 Secondo-Festival

 Die dritte Secondo-Theatertournee, die dieses Wochenende im Tojo-Theater in der Berner Reitschule startet, zeigt drei Kurzstücke, die sich mit der Sprache von Secondos und Secondas sowie den Schwierigkeiten von ImmigrantInnen der zweiten Generation im schweizerischen Alltag auseinandersetzen. Alle drei Stücke wurden beim dritten Secondo-Theaterfestival ausgezeichnet.

 Im Stück "Explodierer - zwischen den Welten" des Theaters Maralam, das in Zusammenarbeit mit dem Schweizerisch-Arabischen Kulturzentrum Zürich entstanden ist, stehen zwei männliche Jugendliche im Spannungsfeld von Dazugehörenwollen, Identitätssuche und Verlorenheit. Das Stück "Sprachlos" des Ensembles BBB zeigt Ausschnitte aus dem Alltag der Filipina Helene, die seit zwanzig Jahren in der Schweiz lebt, ein charmantes Churer-Zürcher-Berner-Deutsch spricht und trotzdem noch immer als Ausländerin behandelt wird. Einen weiteren Zugang zum Thema Sprachbarrieren hat die Gruppe Zellstoff mit "Wörtern und anderen Bazillen" gefunden: Darin erlebt ein Schweizer in Kaderposition, was mit einem sozial geschehen kann, wenn man durch einen Schlaganfall die Sprache verliert. adr

 3. Secondo-Theatertournee in: Bern Reitschule, Tojo-Theater, Fr/Sa, 29./30. Januar, 20.30 Uhr. http://www.secondofestival.ch

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Bund 28.1.10

"36 Stunden"

 Die Komik des Tragischen

(reg)

 Die Wirtschaftskrise, die Arbeitslosigkeit, die Liebe: Kein Wunder, dass die Werke des Autors Ödön von Horvath zurzeit wieder auf offene Ohren stossen. Die Theaterwissenschaftlerin Magdalena Nadolska bringt in ihrer ersten Regiearbeit Horvaths Roman "36 Stunden" auf die Bühne, eine tragikomische Liebesgeschichte zweier Arbeitsloser.

 Tojo-Theater Reitschule, Mittwoch, 3. Februar, bis Samstag, 6. Februar, 20.30 Uhr.

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SICHERHEITS-WAHN
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Bund 28.1.10

Tschäppät mobilisiert den Kommandanten

 "Mehr Polizeipräsenz heisst nicht automatisch weniger Kriminalität", sagte Polizeikommandant Stefan Blättler an einer Medienkonferenz des Berner Gemeinderates.
 
Bernhard Ott

 Polizeikommandant Stefan Blättler war für die Medienorientierung des Berner Gemeinderates zur Abstimmung vom 7. März nicht angekündigt. "Die Anwesenheit Herrn Blättlers gibt eine Gelegenheit zur Versachlichung der Diskussion", sagte Stadtpräsident Alexander Tschäppät (sp). Der Abstimmungskampf zur Initiative für eine Erhöhung der Polizeipräsenz sei in den letzten Wochen "sehr einseitig" und sehr emotional gewesen. "Ich könnte jetzt 100 Kioskverkäuferinnen präsentieren, die nicht überfallen wurden - das wäre aber immer noch kein Beweis für eine sichere Stadt", sagte Tschäppät unter Anspielung auf die Präsenz von Gewaltopfern an der Medienkonferenz des Initiativkomitees ("Bund" vom 15. Januar).

 "Objektiv ist Bern sicher"

 Er äussere sich nicht aus politischer, sondern aus "rein fachlicher" Sicht, sagte Blättler. "Objektiv ist Bern eine sichere Stadt." In den letzten Jahren sei die Zahl der Straftaten nicht gestiegen. Eine Zunahme der Gewalt sei aber "qualitativ" feststellbar. Gefühlen der Angst und der Unsicherheit könne man aber nicht mit Statistiken begegnen. Die Erhöhung der Polizeipräsenz scheine für viele Bürgerinnen und Bürger ein Mittel zur Eindämmung der Gewalt zu sein. "Mehr Polizeipräsenz ist gut", sagte Blättler. "Aber das heisst nicht automatisch weniger Kriminalität."

 Stadtpräsident Tschäppät und der Stadtberner Sicherheitsdirektor Reto Nause (cvp) erinnerten in diesem Zusammenhang daran, dass es sich bei Überfällen auf Kioske und Tankstellen oft um organisierte Kriminalität handle, der man nicht mit erhöhter Polizeipräsenz begegnen könne. Beide Politiker äusserten zudem Zweifel an der Finanzierung des Initiativbegehrens, das mit knapp sechs Millionen Franken zu Buche schlüge. Der moderatere Gegenvorschlag des Gemeinderates kostet 2,2 Millionen Franken (siehe Kasten links).

 Braucht die Initiative mehr Zeit?

 Blättler wies darauf hin, dass die Rekrutierung von Polizisten Zeit erfordere. Die im Gegenvorschlag des Gemeinderates vorgesehene Erhöhung der Polizeipräsenz um 20 000 Jahresstunden sei ab 2013 planbar. Bei einer Erhöhung um 45 000 Jahresstunden, wie das die Initiative vorsehe, sei der "Liefertermin" aber unklar. Je grösser die Aufstockung, desto länger dauere es. "Innerhalb zweier Jahre geht das nicht. Es kann drei bis vier Jahre dauern", sagte Blättler.

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 Blättler "suggeriert Falsches"

 "Der Gemeinderat versucht, den Polizeikommandanten vor seinen Karren zu spannen", schreibt das Komitee der Sicherheitsinitiative in einer Mitteilung. Wenn Kommandant Stefan Blättler suggeriere, der Gegenvorschlag des Gemeinderates sei schneller umsetzbar als die Initiative, so sei das "falsch". Im Unterschied zum gemeinderätlichen Gegenvorschlag mache die Initiative "ganz bewusst keine Vorschriften zur Umsetzung". Es sei Aufgabe des Gemeinderates, über das Wann und Wie einer Aufstockung des Polizeikorps zu befinden. Dabei sei auch eine Staffelung denkbar, sagt Komiteepräsident Philippe Müller (fdp). "Die ersten 14 Polizisten sind genau gleich schnell da, egal ob unter dem Titel Initiative oder Gegenvorschlag." Müller findet es "unverschämt", dass ausgerechnet der Berner Gemeinderat mit dem Argument der raschen Umsetzung komme. Schliesslich sei die Polizei in der Bundesstadt seit 27 Jahren nicht mehr aufgestockt worden. Der Gemeinderat habe bis zuletzt alle entsprechenden Begehren im Stadtparlament abgelehnt und schliesslich sogar den Abstimmungstermin für die Sicherheitsinitiative hinausgezögert, sagt Müller. (bob)

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Kommentar

 Im Wechselbad der Emotionen

Bernhard Ott

 Die Initiative "Für eine sichere Stadt Bern" hat es in sich. Initiant Philippe Müller (fdp) versteht es, mit der Präsentation von Gewaltopfern auf der Klaviatur der Emotionen zu spielen. In emotionalen Abstimmungskämpfen kann das Thema einer Initiative durch Ressentiments überdeckt werden. Die Leute stimmen gegen Minarette, bringen damit aber ein Unbehagen gegenüber dem Islam zum Ausdruck.

 Auch bei der Sicherheitsinitiative könnte dieser Effekt eintreten: Die Leute stimmen für die Festschreibung von 110000 Stunden Polizeipräsenz in der Gemeindeordnung, geben damit aber einem Unsicherheitsgefühl Ausdruck. Stadtpräsident Alexander Tschäppät (sp) scheint sich dieser Gefahr bewusst zu sein. So mobilisiert er den kantonalen Polizeikommandanten für einen Medienauftritt und nimmt damit in Kauf, dass dieser in den Abstimmungskampf hineingezogen werden könnte. Tschäppät hat aber auch beim Initiativkomitee interveniert: Dass Gemeinderätin Barbara Hayoz (fdp) dieser Tage das Komitee verlassen hat, dürfte kein Zufall sein. Dabei war das Kollegialitätsprinzip bei städtischen Abstimmungen noch nie sakrosankt. So hat Tschäppät aus seinen Sympathien für das Künstlerprojekt im Progr keinen Hehl gemacht, obwohl er offiziell für ein Gesundheitszentrum eintrat. Auch mutet es seltsam an, Regierungsräten den Einsitz in ein kommunales Initiativkomitee verwehren zu wollen. Bei Wahlen in der Stadt können die SP-Gemeinderäte ja auch auf den Support ihrer Parteikollegen im Regierungsrat zählen.

 Die gewünschte Versachlichung des Abstimmungskampfes wird damit nicht erreicht. Initiant Müller ist es mit seinem Abstimmungskampf gelungen, auch den Gemeinderat zu emotionalisieren.

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Bund 28.1.10

Kriminalstatistik - die "Buchhaltung des Rechtsstaats"

 Kriminalstatistiken werden leicht verfälscht und von Politikern gerne instrumentalisiert.

 Anita Bachmann

 Ein Blick auf die Kriminalstatistik der Stadt Bern zeige, dass seit 2006 ein deutlicher Rückgang bei den statistisch erfassten Straftaten zu verzeichnen sei, steht im Vortrag des Gemeinderats zur Initiative "Für eine sichere Stadt Bern" und zum Gegenvorschlag des Stadtrats. Damit könnten die Berner eigentlich beruhigt sein, und die Initiative samt Gegenvorschlag wäre hinfällig (siehe Kasten). Doch das Initiativkomitee argumentiert - mit statistischen Zahlen - genau andersrum. "Seit 1993 haben sich die Delikte gegen Leib und Leben fast verdreifacht." Angesichts solch unterschiedlicher Schlüsse stellen sich die Fragen: Was taugen Kriminalstatistiken? Warum werden sie erstellt, und welche Gefahren bergen sie?

 Bern ist statistisch bei null

 Grundsätzlich eigneten sich Kriminalstatistiken schlecht für Quervergleiche, etwa zwischen Kantonen oder Staaten, sagt Martin Killias, Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Zürich. Im Längsschnitt, über einen gewissen Zeitraum also, seien Kriminalstatistiken hingegen brauchbar. Dies allerdings bedinge, dass die Zählregel unverändert bleibe. Auf Kanton und Stadt Bern trifft dies aber gerade nicht zu. Nach der Fusion der Stadt- und der Kantonspolizei Anfang 2008 stellte Letztere bereits auf die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) um. Seit einem Jahr zählen nun alle Kantone nach diesem System. Bei der damit verbundenen neuen Zählweise werden im Gegensatz zu früher nicht mehr effektive Fälle gezählt, sondern die einzelnen Straftaten nach Strafgesetzbuch aufgeschlüsselt. Ein Einbruchdiebstahl taucht nun in der Statistik dreimal, als Diebstahl, Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung, auf. "Wir beginnen statistisch bei null und werden erst wieder eine Vergleichsbasis aufbauen müssen", kommentierte die Polizei die Kriminalstatistik 2008.

 Mit der PKS stünden wesentlich detailliertere Zahlen zur Verfügung, die eine Auswertung nach Gemeinden und Regionen ermöglichen würden, sagt Gabriela Maurer, Projektleiterin Einführung PKS vom Bundesamt für Statistik. Das scheinen gute Voraussetzungen zu sein. Denn die Aussage: "Je pauschaler statistische Aussagen sind, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie nicht stimmen", sei korrekt, sagt Maurer. Oftmals werde das Total der Straftaten zwar als Indikator für die Entwicklung der Kriminalität herangezogen, Vergehen wie Velodiebstähle oder Sachbeschädigungen aber, die sehr häufig vorkommen, würden den Trend der Totalzahlen massgeblich beeinflussen. Weniger häufige Straftatbestände wie Tötungsdelikte oder schwere Körperverletzungen gingen dann im Gros der Zahlen unter. Kriminalstatistiken sollten so detailliert wie möglich sein. "Denn die einzelnen Delikte haben unterschiedliche Trends", sagt Killias. Der Straftatbestand Körperverletzung etwa sei zu global gefasst. Es müsste etwa unterschieden werden, ob eine Körperverletzung auf der Strasse oder zu Hause begangen werde.

 Politik und Polizei haben Einfluss

 "Das Hintergrundwissen bezüglich Zustandekommen der Daten ist für eine korrekte Interpretation zwingend", sagt Stefan Lanzrein, Chef Spezialfahndung 2 der Kantonspolizei Bern. So muss laut Maurer das Anzeigeverhalten der Bürger mitberücksichtigt werden. "Die meisten Leute werden nur schon wegen der Versicherung einen Einbruchdiebstahl der Polizei melden. Ob sie auch bei Bedrohung zur Polizei gehen, ist hingegen sehr subjektiv", sagt sie. Eine wichtige Rolle spiele auch die Ressourcenlage der Polizei. Je mehr Polizisten zur Verfügung stünden, desto mehr Kontrollen und Anzeigen gebe es zum Beispiel im Betäubungsmittelbereich. Im Zusammenhang mit der Berner Drogenszene zeigte sich in den 1990er-Jahren ein weiteres Phänomen: Massiv mehr Drogenfälle wurden statistisch registriert, nachdem die Stadt Bern ihre Drogenpolitik geändert hatte. Die offene Drogenszene wurde aufgelöst, und es durfte keine neue entstehen. Das führte zu einer Verdoppelung der Anzeigen.

 Problem: Instrumentalisierung

 Kriminalstatistiken müssten erstellt und veröffentlicht werden. Ansonsten herrschten Zustände wie in der damaligen DDR, wo nur gute Meldungen verbreitet worden seien, sagt Killias. Keine Kriminalstatistiken zu führen, wäre kontraproduktiv, denn die Leute hätten schnell das Gefühl, man wolle ihnen etwas verbergen. "Die Kriminalstatistik ist die Buchhaltung des Rechtsstaats", sagt Maurer. Weil der Staat das Gewaltmonopol ausübe, müsse er ausweisen, was er gemacht habe. Die Instrumentalisierung statistischer Zahlen könne aber nicht ausgeschlossen werden, sagt Maurer. "Wir haben darauf keinen Einfluss." Das Problem dürfte mit jeder Statistik einhergehen, sagt Lanzrein. Trotzdem könne dies kaum bedeuten, bei jeder Veröffentlichung einer Statistik auf deren Zustandekommen und den damit verbundenen beschränkten Erkenntniswert hinzuweisen.

 Unabhängig davon, was die Politiker aus der Kriminalstatistik herauslesen und für ihre Argumentation verwenden: Eine Erhöhung der Polizeipräsenz werde nur wahrgenommen, wenn diese massiv sei, sagt Killias zu Initiative und Gegenvorschlag. "Nur eine massive Erhöhung hat einen Effekt, eine um 10, 20 Prozent jedoch nicht." Solche Wirkung könne die Polizei etwa durch Schwerpunktumlagerungen erreichen.

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 Initiative/Gegenvorschlag

 Die FDP-Initiative "Für eine sichere Stadt Bern" verlangt eine Mindestpräsenz von jährlich 110 000 Stunden uniformierter sichtbarer Polizei. Gegenüber dem heutigen Budget wären dies 45 000 Stunden mehr Polizeipräsenz. Weiter fordert die Initiative jährlich mindestens 25 000 Stunden Gewaltprävention. Beides soll in der Gemeindeordnung verankert sein. Der Gegenvorschlag des Gemeinde- und des Stadtrats Bern will eine gestaffelte Erhöhung der Polizeipräsenz um insgesamt 20 000 Stunden. Dazu soll das Projekt Pinto personell um 240 Stellenprozente aufgestockt werden. (ba)

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BZ 28.1.10

Sicherheitsinitiative: Polizeichef ist skeptisch

 Stefan Blättler, Kommandant der Kantonspolizei, zweifelt an der Umsetzbarkeit der Sicherheitsinitiative innert nützlicher Frist.

 Gestern traten Stadtpräsident Alexander Tschäppät und Sicherheitsdirektor Reto Nause vor die Medien. Sie vertraten den Gegenvorschlag des Gemeinderats zur bürgerlichen Sicherheitsinitiative, die am 7.März zur Abstimmung kommt. Als Überraschungsgast hatten sie Stefan Blättler, den Kommandanten der Kantonspolizei, eingeladen. Tschäppät betonte, dass der Gemeinderat die Sorgen und Nöte der Bevölkerung ernst nehme und deshalb in die Sicherheit investieren wolle. Allerdings seien die 40 zusätzlichen Polizisten, wie sie die Initiative fordert, keine Patentlösung. "Dadurch würde es nicht weniger Kriminalität geben."

 Der Gegenvorschlag des Gemeinderats sei keine Alibiübung, betonte Nause. Dieser sehe vor, beim Kanton 20000 zusätzliche Polizeistunden einzukaufen. "Damit könnten wir an Wochenenden nachts 20 Polizisten mehr patrouillieren lassen", so Nause. Also dann, wenn erfahrungsgemäss die meisten Gewaltdelikte passierten.

 Kapo-Kommandant Blättler, der zwecks Versachlichung der Diskussion eingeladen worden war, äusserte Zweifel an der Umsetzbarkeit der Sicherheitsinitiative: Er könne nicht sagen, wie lange es dauern würde, 40 Polizisten zu rekrutieren. Dafür, dass der Gegenvorschlag des Gemeinderats innerhalb von zwei Jahren umgesetzt werden kann, bot Blättler hingegen Gewähr.

 Im Interview äussert Sicherheitsdirektor Nause Sympathien für die Initiative. Diese habe etwas bewegt. "Doch nun hat sich die finanzpolitische Situation verschlechtert." Die Initiative sei mit knapp sechs Millionen Franken zu teuer. as/azu

 Seite 17

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Sicherheit in der Stadt Bern

 Findet man genug neue Polizisten?

 Stefan Blättler, Kommandant der Kantonspolizei, macht hinter die Umsetzbarkeit der Sicherheitsinitiative ein Fragezeichen.

 Kein Wort gebrauchte Alexander Tschäppät gestern öfter als das Adjektiv "sachlich". Es sei höchste Zeit, dass die Sicherheitsdiskussion versachlicht werde, es brauche sachliche Infos und "eine gewisse Sachlichkeit", referierte der Berner Stadtpräsident vor den Medien im Erlacherhof - und redete sich so gleich ob der Kampagne der Befürworter der Sicherheitsinitiative ziemlich in Rage: Er rege sich auf, dass die Initianten mit überfallenen Kioskbesitzerinnen die Stimmung aufheizten: "Ich könnte 100 Kioskbetreiber präsentieren, die nie überfallen wurden - doch das wäre kein Beweis dafür, dass Bern sicher ist."

 Kaum Zahlen und Fakten

 Zwecks Versachlichung der Diskussion habe er Stefan Blätter, Kommandant der Kantonspolizei, zur Medienorientierung eingeladen, sagte Tschäppät: "Er kann Fragen zur Sache am besten beantworten."

 Blättler sagte denn auch, er wolle "objektivieren, was zu objektivieren ist" - und sich keinesfalls in die politische Debatte einmischen. Fakt sei, dass die Kantonspolizei "klar" zu wenig Leute habe. "Ich begrüsse deshalb alle Vorstösse für mehr Polizei. Wie viel es braucht, muss die Stadt aber selber sagen."

 Auch wenn Blättler sodann kaum objektive Aussagen im Sinne von Zahlen und Fakten lieferte, eine wichtige Aussage machte er doch: Den Gegenvorschlag mit 14 zusätzlichen Polizisten verteilt auf zwei Jahre bezeichnete er als umsetzbar. Hinter die Initiative aber setzte er diesbezüglich ein Fragezeichen: Die Rekrutierung von 40 zusätzlichen Polizisten könne ein Problem werden. Dies, weil bereits 80 bis 100 Polizisten pro Jahr rekrutiert werden müssten, um den Bestand zu halten, und nun der Regierungsrat zwischen 2012 und 2016 bei der Kantonspolizei 139 neue Stellen schaffen will. Er könne nicht sagen, wie lange es dauern würde, der Stadt 40 zusätzliche Polizisten zu "liefern": Das hänge davon ab, was der Arbeitsmarkt in den nächsten Jahren hergibt.

 Blätter dämpfte des Weiteren allzu grosse Hoffnungen: Mehr Polizeipräsenz könne zwar die Sicherheit erhöhen, dies bedeute aber nicht automatisch einen Rückgang der Straftaten. Im Übrigen sei Bern "objektiv betrachtet" eine sichere Stadt. Probleme bereite, dass die Brutalität bei Gewaltdelikten zugenommen habe.
 azu

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 Abstimmung vom 7.März

 Sicherheitsinitiative:

 Mind. 110000 Stunden Polizeipräsenz pro Jahr. Momentan sind 65000 Stunden budgetiert. Keine zeitliche Umsetzungsvorgabe.

 Mind. 25000 Stunden Gewaltprävention pro Jahr.

 Ca. 40 zusätzliche Polizeistellen.

 •Kosten: 5,8 Mio. Franken.

 Gegenvorschlag:

 Fusspatrouillenpräsenz wirdbis 2013 schrittweise um total 20000 Stunden pro Jahr erhöht.

 Ausbau Gassenarbeit von Pinto um 2,4 Stellen auf Mitte 2010.

 14 zusätzliche Polizeistellen ab 2013.

 Kosten: 2,2 Mio. Franken.

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 "Habe Sympathien für die Initiative"

 Der gemeinderätliche Gegenvorschlag zur Sicherheitsinitiative sei keine Alibiübung, kontert Sicherheitsdirektor Reto Nause die Kritik. Damit könnten in den Nächten am Wochenende 20 Polizisten mehr auf der Gasse sein.

 Reto Nause, wagen Sie sich nachts über die Schützenmatte oder die Grosse Schanze?

 Reto Nause: Ich fühle mich in Bern sicher. Klar, wir haben gewisse Probleme im Sicherheitsbereich. Doch die lassen sich zeitlich und geografisch relativ präzise eingrenzen.

 Der Gegenvorschlag sei eine Alibiübung und gehe viel zu wenig weit, kritisiert Philippe Müller, Wortführer der Initianten.

 Für mich ist ganz klar: Nichts machen geht nicht, wir müssen in die Sicherheit investieren. Aber der Abstimmungskampf ist in eine Richtung abgedriftet, die mir missfällt: Da wird überzeichnet. Wenn die Initianten die jüngsten Serien von Überfällen auf Kiosks oder Tankstellen bemühen, zielt das in die falsche Richtung: Das sind meist Fälle von organisierter Kriminalität, die sich auch mit 1000 Polizisten nicht immer verhindern lassen. Hier ist letztlich eine erfolgreiche Fahndung entscheidend.

 Bei der Lancierung 2008 haben Sie die Initiative unterstützt, nun sind Sie dagegen. Wieso?

 Ich habe durchaus Sympathien für die Initiative, sie hat etwas bewegt. Doch mittlerweile hat sich die finanzpolitische Situation verschlechtert. Und ich wurde Gemeinderat. Mein Engagement gilt dem Gegenvorschlag.

 Laut Gemeinderat sprechen vorab die hohen Kosten gegen die Initiative. Die Polizeikosten würden von 28,3 auf 34,1 Millionen Franken erhöht - also von 2,8 auf 3,3 Prozent des aktuellen Budgets von 1028 Millionen. Ist das wirklich zu viel?

 Diese Zahlen sind nicht die ganze Wahrheit. Die Stadt investiert auch in anderen Bereichen in die Sicherheit: etwa beim Einsatz von Securitas, bei der Gassenarbeit von Pinto oder bei den kommunalen Sicherheitskräften wie der Gewerbe- und der Fremdenpolizei, die jüngst aufgestockt wurde. Bauliche Massnahmen können die Sicherheit ebenfalls erhöhen. Die Probleme etwa auf der Grossen Schanze kann man alleine mit mehr Polizei nicht lösen. Es braucht eine Belebung.

 Momentan ist laut den Initianten pro Nacht eine Eingreiftruppe von 6 Polizisten unterwegs. Mit der Initiative wären es fünfmal mehr. Wie wäre es beim Gegenvorschlag?

 Das sind Milchbüchlirechnungen, die den betrieblichen Anforderungen nicht gerecht werden. Aber lassen Sie mich trotzdem eine machen: Wir kaufen 20000 zusätzliche Stunden Fusspatrouillen ein. Davon wird nichts im Büro abgesessen oder im Auto abgefahren. Angenommen, die zusätzlichen Polizisten würden in den Nächten von Donnerstagabend bis Sonntagmorgen je 6½ Stunden eingesetzt, dann ergäbe dies in den prekären Zeitfenstern immerhin 20 Polizisten mehr auf der Gasse.

 Der Gemeinderat wirft der Initiative Systemwidrigkeit vor, weil die Präsenzstunden in der Gemeindeordnung verankert würden. Doch die Initianten können ihr Ziel anders gar nicht erreichen.

 Das Argument ist für mich auch nicht schlagend. Zentral finde ich vielmehr, dass wir mit dem Gegenvorschlag Fusspatrouillen einkaufen würden. Also Polizisten, die wirklich auf der Gasse sind. Die Initiative spricht bloss von "Patrouillenpräsenz" - die kann auch im Auto erfolgen.

 Einen Vorteil hat die Systemwidrigkeit der Initiative: Die Erhöhung wäre "gemeisselt" und könnte nicht bei einer Sparrunde rückgängig gemacht werden.

 Weder Regierung noch Parlament könnten sich um einen entsprechenden Volksentscheid foutieren. Zudem wird der Ausbau ja mit der Kantonspolizei vertraglich fixiert. Diese muss dafür Personal rekrutieren. Da wird sie kaum einen Vertrag mit der Stadt eingehen, der auf ein Dreivierteljahr befristet ist.

 Die Stadt Bern hat mit Abstand die höchsten Polizeikosten pro Kopf im Kanton. Warum kämpft der Gemeinderat nicht auf Kantonsebene für mehr Polizei?

 Der Kanton stellt in den nächsten Jahren zusätzliche Polizisten an. Das kommt auch der Stadt zugute. Aber man müsste sich grundsätzlich überlegen, ob Sicherheit eine kommunale Aufgabe ist. Über den ganzen Kanton betrachtet, besteht ein Ungleichgewicht, es gibt Trittbrettfahrer. Das ist kein Zustand für die Ewigkeit. Im Jahr 2 nach der Fusion von Stadt- und Kantonspolizei kommt diese Diskussion aber zu früh.

 Interview: Adrian Zurbriggen

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Kommentar

Absurd

Andrea Sommer

 Ein seltsamer Auftritt, den Kapo-Kommandant Stefan Blättler an der Pressekonferenz des Gemeinderats bot. Eigentlich hätte er mit Fakten zur Versachlichung der Sicherheitsdiskussion beitragen sollen. Tatsächlich betonte Blättler aber vor allem eins: Falls die Sicherheitsinitiative angenommen würde, werde es schwierig, die zusätzlichen 40 Polizisten für die Stadt Bern zu rekrutieren.

 Damit widerspricht sich Blättler selbst. Noch im Oktober forderte er 200 zusätzliche Polizisten. Am Jahresrapport erklärte er vor seinem Korps, dass die Personaldecke zu dünn sei.

 Dass Blättler nun, da ihm die Politik mehr Polizisten geben will, vor Rekrutierungsproblemen warnt, ist absurd. Der Verdacht liegt nahe, dass er keine Polizisten will, die er nur in der Stadt Bern einsetzen kann. Dass er sich vom Gemeinderat hat vor den Karren spannen lassen, könnte der Sache auf Kantonsebene schaden. Wer gibt schon jemandem Geld, der über die Schwierigkeit klagt, es auszugeben.

 andrea.sommer@bernerzeitung.ch

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20 Minuten 28.1.10

Blättler landete einen Blattschuss

 BERN. Erstaunliches war gestern vom Berner Kapo-Kommandanten Stefan Blättler zu hören: Mehr Polizeipräsenz in der Stadt führe nicht automatisch zu weniger Straftaten. Mit diesem Blattschuss gab Blättler dem Berner Gemeinderat nicht nur Schützenhilfe gegen die Sicherheitsinitiative, sondern streckte deren Hauptargument für 45 000 Stunden zusätzliche Polizeipräsenz glatt nieder. Es sei nicht seine Aufgabe, Position für den Gegenvorschlag des Gemeinderats zu beziehen, betonte Blättler, er müsse aber gewisse Dinge relativieren. Auf der Gegenseite unterstützen die Regierungsräte Christoph Neuhaus und Urs Gasche die Initiative. Stapi Alexander Tschäppät hat sie dafür scharf gerügt.  MAR

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Blick am Abend 27.1.10

"Initiative belastet Stadtkasse"

 Abstimmung

 Am 7. März entscheidet Bern über mehr Polizeipräsenz. Reicht dafür das Geld?

 markus.ehinger@ringier.ch

 Das könnte ein heisser Abstimmungskampf werden. Weil sich viele Berner nicht mehr sicher fühlen, fordern bürgerliche Parteien mit der Initiative "Für eine sichere Stadt Bern" eine Erhöhung der Polizeipräsenz von heute 65 000 auf 110 000 Stunden. Das entspricht etwa 40 neuen Polizisten. Bern stimmt am 7. März über die Vorlage ab. Sowohl Parlament als auch Stadtregierung lehnen die Initiative ab. Heute präsentierte der Gemeinderat seinen Gegenvorschlag. Dieser umfasst unter anderem die Erhöhung der polizeilichen Fusspatrouillen um 20 000 Stunden pro Jahr. "Eine Annahme der Initiative würde die Stadtfi nanzen jährlich zusätzlich um 5,8 Millionen Franken belasten", sagt Stadtpräsident Alexander Tschäppät (SP). Dem widerspricht Philippe Müller (FDP), Co-Präsident des Initiativkomitees. "Durch die Fusion von Stadt- und Kantonspolizei spart die Stadt über 6 Millionen Franken pro Jahr", sagt Müller. "Das Geld ist also vorhanden. Man soll es in die Sicherheit investieren."

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bern.ch 27.1.10

Gemeinderat wirbt für Gegenvorschlag und Feuerwehr-Vorlage

Am 7. März 2010 werden die Berner Stimmberechtigten gleich über drei Vorlagen zum Thema Sicherheit abstimmen: über den Baukredit für den neuen Feuerwehrstützpunkt Forsthaus West, die Initiative "Für eine sichere Stadt Bern" und den entsprechenden Gegenvorschlag. Stadtpräsident Alexander Tschäppät und Sicherheitsdirektor Reto Nause erläuterten heute an-lässlich eines Mediengesprächs, welche Bedeutung die beiden Vorlagen für die Stadt haben.

Am 7. März kommt die Initiative "Für eine sichere Stadt Bern" zur Abstimmung. Sie verlangt, dass in der Gemeindeordnung eine fixe Stundenzahl für sichtbare Polizeipräsenz und polizeiliche Gewaltprävention festgeschrieben wird. Konkret soll die Kantonspolizei künftig mindestens 110'000 Stunden Polizeipräsenz und mindestens 25'000 Stunden im Bereich Gewaltprävention leisten.

Der Gemeinderat lehnt die Initiative ab. Er ist der Ansicht, dass das Begehren hohe Mehrkosten verursacht, ohne dass die Sicherheit gezielt und nachhaltig verbessert werden könne. Daher hat er einen seiner Ansicht nach pragmatischen und bezahlbaren Gegenvorschlag erarbeitet. Dieser umfasst unter anderem die Erhöhung der polizeilichen Fusspatrouillen um 20'000 Stunden pro Jahr sowie die Aufstockung der Interventionstruppe PINTO um 240 Stellenprozente.

Berner zahlen heute schon am meisten für die Polizei

In der Gegenüberstellung von Initiative und Gegenvorschlag weist der Gemeinderat darauf hin, dass eine Annahme der Initiative die Stadtfinanzen zusätzlich um 5,8 Millionen Franken jährlich belasten würden. Mit 28,3 Millionen Franken haben die Bernerinnen und Berner bereits heute die höchsten Sicherheitskosten im Kanton zu tragen. Der Gegenvorschlag garantiert ebenfalls mehr Sicherheitsleistungen, dies jedoch zu bedeutend tieferen Mehrkosten von 2,2 Millionen Franken pro Jahr.

Weiter ist der Gemeinderat überzeugt, dass es einen ganzheitlichen Ansatz braucht, um die Sicherheit im öffentlichen Raum zu optimieren. Dazu gehört für ihn der Ausbau der polizeilichen Fusspatrouillen, was er in den vergangenen Jahren immer wieder deutlich gemacht hat. Mit mehr Polizeipräsenz allein ist es aus seiner Sicht jedoch nicht getan. Die Stadt setzt deshalb auf eine breit abgestützte Sicherheitsstrategie, die unter anderem bauliche Massnahmen, Verbesserung von Beleuchtungen sowie Quartier- und Präventionsprojekte umfasst.

Hier setzt auch der Gegenvorschlag an: Durch den Ausbau der polizeilichen Fusspatrouillen und die Aufstockung von PINTO können Interventionen gezielt verstärkt werden, insbesondere an neuralgischen Orten, in den Aussenquartieren sowie in den Abend- und Nachtstunden. Der Gemeinderat plädiert in diesem Zusammenhang auch für eine Versachlichung der Debatte: Wohl bestehe in gewissen Bereichen Handlungsbedarf, doch könne aufgrund der vorhandenen Datenlage nach wie vor von einer sehr sicheren Stadt Bern gesprochen werden.

Idealer Standort im Forsthaus West

Die zweite Vorlage, die am 7. März zur Abstimmung kommt, betrifft den Baukredit für den Neubau des Feuerwehrstützpunkts Forsthaus West in der Höhe von 53,9 Millionen Franken. Der Gemeinderat bedauert, dass der Betrag deutlich über den ursprünglich geschätzten Kosten liegt. Dies ändert für ihn aber nichts an der Notwendigkeit des Neubaus für die Berufsfeuerwehr und die Stadt Bern. Die heutige Kaserne an der Viktoriastrasse entspricht aufgrund ihrer Lage, der engen Platzverhältnisse und der veralteten Infrastruktur nicht mehr den Anforderungen einer zeitgemässen Feuerwehr. Der neue Standort in unmittelbarer Nähe der Autobahn ist dagegen ideal, weil die Feuerwehr von dort das gesamte Stadtgebiet innerhalb der zeitlichen Vorgaben erreichen kann. Heute ist dies namentlich im Westen von Bern nicht immer möglich.

Mit der Verlagerung der Feuerwehrkaserne nach Forsthaus West würde nicht nur der städtebaulichen Entwicklung im Westen Berns Rechnung getragen, sondern auch das Wohnquartier im Breitenrain stark entlastet. Der Gemeinderat ist vom Nutzen und der Wichtigkeit des Projekts denn auch voll überzeugt.
 
Informationsdienst der Stadt Bern

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RAUCHVERBOT
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BZ 28.1.10

Beco hat Probleme mit Fumoir

 Ausgerechnet im Haus, wo das Berner Rauchverbot ausgeheckt wurde, gibts ein nicht eben vorbildliches Fumoir.

 An der Münstergasse 3 in Bern ist die Verordnung entstanden. Hier muss das Beco, das Berner Amt für Wirtschaft, dafür sorgen, dass das Rauchverbot korrekt umgesetzt wird. Aber ausgerechnet hier gibt das neben der Cafeteria im zweiten Untergeschoss eingerichtete Fumoir zu Klagen Anlass: Die Lösung sei "nicht haltbar", wehrte sich die Personalgruppe Ende 2009 mit einem Brief an die Geschäftsleitung. "Schon aus Gründen der Glaubwürdigkeit", finde eine "nicht unwesentliche Anzahl" Mitarbeitender, müssten an der Münstergasse 3 "vorbildliche Zustände herrschen".

 Zugang durch Fumoir

 Heute ist das nicht der Fall: Wer - aus welchen Gründen auch immer - auf den Lift angewiesen ist, kann nur durch das Fumoir in die Cafeteria gelangen. Über die Treppe gibt es zwar einen anderen Zugang. Aber: Würde es sich bei der Cafeteria um ein öffentliches Restaurant handeln, könnte das Beco die getroffene Lösung nicht tolerieren. In der Verordnung steht: "Fumoirs sind so anzulegen, dass sie nicht als Durchgang zu anderen Betriebsräumen dienen."

 "Nicht ideal"

 "Das Fumoir entspricht nicht unserer Idealvorstellung", räumt Stefan Reichen ein. Er ist Mitglied der Beco-Geschäftsleitung und er ist es, der die Verordnung erarbeitet hat. "Ich würde auch lieber mit geschwellter Brust mit einer Vorzeigelösung dastehen", sagt er. "Aber ich kann das verantworten."

 Reichen verweist einerseits auf die rechtliche Situation: An Arbeitsstätten, wo ab dem 1.Mai dieses Jahres das Bundesgesetz greifen werde, gälten nicht die gleich strengen Regelungen wie in öffentlichen Restaurants. Zudem gibt Reichen zu bedenken, dass die Cafeteria über einen zweiten Zugang verfüge und dass im Fumoir ohnehin nicht dauernd geraucht werden dürfe. Dies ist den Mitarbeitenden nur von 7 bis 8.30, von 10 bis 11.30, von 13 bis 14 und von 16 bis 17 Uhr gestattet.

 Patentlösung gesucht

 Trotzdem: Stefan Reichen weiss, dass den Beco-Mitarbeitenden heute keine "Patentlösung" geboten wird. Diese sei bisher aber einfach noch nicht gefunden worden. "Wir suchen weiter nach einer besseren Lösung", verspricht er.

 André Sopranetti als Leiter der Personalgruppe ist froh, dass die Geschäftsleitung das Problem nicht negiert. Die Personalgruppe werde nun das weitere Vorgehen besprechen.
 
Susanne Graf

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Newsnetz 28.1.10

Europa

 Mit voller Kraft gegen die Raucher

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 Aschenbecherverbot, Geldstrafen, Raucher-Jäger und öffentliche Prozesse gegen Prominente: Die EU will im Kampf gegen den blauen Dunst rabiat und flächendeckend durchgreifen.

 Wie die Zeitungen FAZ, "Bild" und andere Medien auf ihren Webseiten berichten, enthält das Dossier zahlreiche Empfehlungen, denen nicht nur die zuständigen Minister der Mitgliedsstaaten zugestimmt haben, sondern jüngst auch das Europäische Parlament. Ziel der Vorschriften, die von den einzelnen Nationen umgesetzt werden sollen, sei eine "zu 100 Prozent rauchfreie Umgebung", wie es heisst.

 Verstösse gegen das Rauchverbot in öffentlichen Räumen sollen mit Geldstrafen geahndet werden, die laut der EU hoch genug sein sollten, um eine abschreckende Wirkung zu entfalten. Unternehmen, die den Vorschriften nicht folgen, soll neben solchen Bussen sogar der Entzug der Geschäftserlaubnis drohen.

 Hinaus mit allen Aschenbechern

 Um die Einhaltung der Gesetze zu gewährleisten, empfiehlt die EU sogenannte lokale Inspektoren oder Durchsetzungsbeauftragte, deren Kontrollen nicht nur flächendeckend erfolgen sollen, sondern auch unangemeldet. Neben den eigentlichen Glimmstengel-Konsumenten könnte diese "Raucherpolizei" auch Firmen und Behörden ins Visier nehmen, die nicht sämtliche Aschenbecher aus ihren Gebäuden entfernen.

 Schauprozesse gegen Prominente?

 Um der Öffentlichkeit den politischen Willen der EU zu demonstrieren, wird sogar erwogen, speziell Prominente ins Visier zu nehmen. Für den Fall, dass Schauspieler, Musiker oder Politiker trotz des Verbots rauchen, sollen die Behörden "ihre Entschlossenheit und die Ernsthaftigkeit der Rechtsvorschriften unter Beweis stellen", zitiert die Webseite des "Expresses" die EU. Nämlich, "indem sie mit rigorosen und zügigen Massnahmen reagieren und dabei die grösstmögliche öffentliche Aufmerksamkeit erregen".

 Rauch soll nicht messbar sein

 Ziel der geplanten Vorschriften ist laut der EU, dass alle Arbeitsplätze in geschlossenen Räumen rauchfrei sind, ebenso geschlossene öffentliche Räume - und auch solche Orte, die teilweise im Freien liegen. Die Atemluft soll laut der "Bild"-Zeitung künftig so beschaffen sein, dass Tabakrauch weder gerochen noch gesehen, gespürt oder gemessen werden kann.

 Für Raucher, die von ihrer Sucht nicht lassen können, bietet das Dokument nur einen winzig kleinen Trost: Die strenge und öffentlichkeitswirksame Strafverfolgung soll erst erfolgen, nachdem eine "sanfte Einführungsphase" der Anti-Raucher-Gesetze abgeschlossen ist.

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REPRESSION
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tagesschau.sf.tv 27.1.10
http://www.tagesschau.sf.tv/Nachrichten/Archiv/2010/01/27/Schweiz/Studie-Repression-fuehrte-zu-mehr-Drogentoten

Studie: Repression führte zu mehr Drogentoten

Je grösser die polizeiliche Repression gegen Heroinkonsumenten, desto mehr Drogentote: Zu diesem Schluss kommt eine Studie der Universität Zürich, welche die Entwicklung der Todesfälle seit 1975 genauer unter die Lupe nahm.

Untersucht wurde die Statistik der Drogentoten in der Schweiz zwischen 1975 und 2007. Die Anzahl Drogentoter lag anfänglich bei 35, stieg dann immer mehr an, bis 1992 mit 419 Opfern ein Höhepunkt erreicht wurde. Seit 1998 liegt diese Zahl zwischen 150 und 210 Fällen.

Carlos Nordt und Rudolf Stohler, zwei Forscher der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, fanden heraus, dass in den 90er-Jahren die polizeiliche Repression gegen Heroinkonsumenten doppelt so hoch war wie in der Zeit davor und danach. In diesen Jahren gab es gemessen an der Anzahl Heroinsüchtiger 30 Prozent mehr Drogentote.
zitat     

Stress wegen Polizei?

Polizeiliche Repression wurde von den Autoren aufgrund der Anzahl der jährlichen Verzeigungen wegen Heroinkonsums bezogen auf die jeweilig geschätzte Anzahl von Heroinkonsumenten definiert. "So haben wir die Aktivität der Polizei gemessen für jedes Jahr zwischen 1975 bis 2007", sagte Carlos Nordt. "In Jahren, wo mehr verzeigt wurde, gab es mehr Drogentote."

Bis jetzt habe es keine diesbezüglichen Untersuchungen gegeben. Befürworter polizeilicher Repression vermuten, dass eine erhöhte Polizeipräsenz den Handel und somit auch den Konsum erschwert. Andere dagegen behaupten, dass eine höhere Polizeipräsenz bei Heroinkonsumenten Stress auslöse, was die Anzahl Drogentoter erhöhe.

Die Zürcher Autoren haben nun erstmals eine Methode entwickelt, um diese Vermutung mit Zahlen zu überprüfen. Diese Art, die Repression zu messen, hätten er und sein Studienkollege als erste angewendet, sagte Nordt. Die Studie wurde in der Zeitschrift "Drug and Alcohol Review" publiziert.

Therapie-Erfolge mit und ohne Repression

Das Behandlungsangebot mit Methadon und Heroin reduzierte die Anzahl Drogentoter auf einen Viertel, so wie dies bereits aus anderen Studien bekannt war. Trotzdem sank diese Zahl mit dem Beginn dieser Therapien in den neunziger Jahren nicht sofort. "Dies hängt in unseren Augen mit der damals immer noch erhöhten Repression zusammen", sagte der Forscher.

Die Autoren weisen in ihrer Studie ausserdem darauf hin, dass die Zahl der Verzeigungen wegen Heroinkonsums eines jeweiligen Jahres wesentlich durch die Zahl der Drogentoten zwei Jahre zuvor bestimmt wird. "Steigt die Zahl der Drogentoten, gibt es ein mediales Echo und der Druck der Öffentlichkeit auf die Polizei nimmt zu", begründete dies Nordt.

Link zu UZH und Zeitschrift "Drug an alcohol reviw"
http://www.uzh.ch/news/articles/2010/fataler-kreislauf.html

(sda/gmue)

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Pressetext 27.1.10

Polizeiliche Repression führt zu mehr Drogentoten

 Höhepunkt des Heroinproblems in den 90ern von hartem Vorgehen begleitet

 Zürich (pte/27.01.2010/16:52) - In den 90er Jahren erreichten Heroinkonsum und Drogenmortalität in der Schweiz ihren bisherigen Höhepunkt. Eine der Ursachen für die vergleichsweise hohe Anzahl an Drogentoten liegt in der polizeilichen Repression, wie Carlos Nordt und Rudolf Stohler von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich aufzeigen. Angesichts des damals intensiven Vorgehens gegen offene Drogenszenen und Heroinkonsumenten wurden 30 Prozent mehr Todesfälle registriert. Behandlungsmethoden mit Methadon und Heroin hätten die Rate schließlich um den Faktor vier gesenkt.

 "Im Zusammenhang zwischen polizeilicher Repression und Drogenmortalität besteht ein Teufelskreislauf", erklärt Nordt im Gespräch mit pressetext. Dem Experten zufolge ist die Anzahl der Drogentoten unmittelbar mit der Anzahl polizeilicher Verzeigungen verknüpft. "Daran wird der Druck deutlich, der auf Drogenkonsumenten ausgeübt wird", meint Nordt. Der Behandlungseffekt sei jedoch erwartungsgemäß groß, so Nordt gegenüber pressetext. Anders als etwa in den 90ern befänden sich mittlerweile mehr als 50 Prozent der Konsumenten in Behandlung.

 Mehr Drogentote führen zu polizeilicher Repression

 Die Beziehung zwischen Polizeirepression und Drogenmortalität kann den Experten zufolge zumindest zum Teil kausal sein. Ihren Berechnungen nach war das Vorgehen der Behörden gegen Heroinkonsumenten in den 90ern doppelt so intensiv wie in der Zeit davor und danach. Gleichzeitig stieg die Zahl der Drogentoten auf Rekordniveau. Allein 1992 wurden nach einem deutlichen Anstieg seit 1975 über 400 Opfer registriert. Seit 1998 schwanke die Zahl um rund 190 Fälle. Behandlungsmethoden hätten die Anzahl der Drogentoten etwa um den Faktor vier reduziert. In anderen Ländern sei man zu ähnlichen Ergebnissen gekommen.

 Den Experten zufolge beeinflusst die Zahl der Drogentoten ebenso die Arbeit der Polizei wie umgekehrt. Die Zahl der Verzeigungen wegen Heroinkonsums eines jeweiligen Jahres werde durch die Zahl der Drogentoten zwei Jahre zuvor bestimmt. Drogenmortalität sei somit ausschlaggebend für den Grad des gesellschaftlichen und politischen Drucks auf die Polizei, das Drogenproblem zu bekämpfen. Das Ziel, offene Drogenszenen zu beseitigen, sei zwar erreicht worden. Andere Ziele der Repression - etwa die Verfügbarkeit von Heroin zu minimieren oder den Preis dafür hoch zu halten - blieben hingegen unerreicht.

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RANDSTAND BURGDORF
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BZ 28.1.10

Burgdorf

 Die Szene kehrt ins Zentrum zurück

 Kaum verscheucht, schon wieder da: Die Burgdorfer Süchtigenszene macht sich erneut mitten im Bahnhofquartier breit.

 "Die Alkiszene soll aus dem Stadtbild verschwinden." Das teilte der Burgdorfer Gemeinderat im Oktober mit. Stadtpräsidentin Elisabeth Zäch nannte die Süchtigen in der Innenstadt "eine Zumutung". Und sprach damit all jenen Passanten und Geschäftsleuten aus dem Herzen, welche sich von den Billigbiertrinkern zunehmend belästigt fühlten.

 Anfang November stellte die Stadt der Gruppe einen Unterstand bei der Markthalle zur Verfügung. Und gab ihr den Tarif durch: "Ansammlungen der Szene im Bahnhofquartier" würden "ab sofort aufgelöst".

 Dieselben wie vorher

 Zwei Monate später: Im ehemaligen Buswartehäuschen vor dem Coop an der Bahnhofstrasse stehen sich Alkis und Kiffer plaudernd auf den Füssen herum. Erstaunt bemerken Umstehende, dass es sich um dieselben Personen handelt, die die Stadt vor Kurzem von diesem Treffpunkt verbannt hatte.

 Doch das Comeback der Vertriebenen überrascht nur bedingt. Den Alternativstandort bei der Markthalle haben die Süchtigen nie akzeptiert. Grund: Er liegt zu weit entfernt vom nächsten Alkoholanbieter, wie ein Mitglied der Gruppe beim ersten Augenschein monierte.

 Promilletanken beim Coop

 Also dislozierten die Männer und Frauen nicht auf den Viehmarktplatz, sondern zu der promilletechnisch viel günstiger gelegenen Coop-Tankstelle an der Kirchbergstrasse. Und nun kehrt die Szene nach und nach ins Bahnhofquartier zurück.

 Der Burgdorfer Gemeinderat denke nicht daran, an seiner Politik etwas zu ändern: "Wir halten an unserer harten Haltung fest", sagt Elisabeth Zäch. Eine Ausweitung der Gruppierung in der Innenstadt werde weiterhin nicht geduldet. "Selbstverständlich haben wir nicht die Illusion, dass diese Menschen irgendwann ganz aus dem Stadtbild verschwinden. Uns ist aber wichtig, dass sie dem Bahnhofquartier fernbleiben."

 Rundum registriert

 Dafür sorgen sollen die städtischen Ordnungshüter. Sie schauen laut Zäch täglich bei den Süchtigen vorbei und registrieren jede Veränderung. Die Polizei sorge auch für regelmässige Standortwechsel der Leute. Das klappe ganz gut: "Sie ziehen meist ohne zu murren weiter." Die Suchtkranken richterlich wegweisen zu lassen wäre laut Zäch "unverhältnismässig". Immerhin sei "sitzen und trinken auf öffentlichem Boden" erlaubt. Erst wenn es, wie letztes Jahr mehrfach geschehen, zu Gewalt innerhalb der Gruppe kommen sollte oder die Süchtigen eine Bedrohung für die Passantinnen und Passanten darstellen würden, wären Wegweisungen eine Option.

 Als Schutz vor Wind und Wetter diene den Alkis das Wartehäuschen beim Coop sowieso nicht mehr lange: "Sobald es die Temperaturen zulassen, wird das Häuschen auf die andere Strassenseite verlegt, wo es dann nur noch den Busfahrgästen zur Verfügung steht", verspricht Elisabeth Zäch.

 Johannes Hofstetter

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SCHUHPUTZ
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Bund 28.1.10

Die Männer hinter den Roger-Staub-Mützen

 Hélène und Daniel Lüthi haben Schuhputzer in La Paz porträtiert. Nun wollen die Gassenarbeiterin und der Journalist die Dienstleistung in Bern einführen.

 Simon Jäggi

 Die Schuhputzer in La Paz tragen eine Roger-Staub-Mütze, diese Kappe, die nur die Augen freilässt und nach ihrem Erfinder benannt ist: dem ehemaligen Schweizer Skirennfahrer Roger Staub.

 Die Schuhputzer tragen die Hauben nicht nur der starken Sonne in der bolivianischen Andenstadt wegen - La Paz rankt sich hoch bis El Alto auf 4100 Meter über Meer. Und auch nicht nur wegen der ätzenden Abgase des 2-Millionen-Molochs. Die Schuhputzer tragen die Mützen vor allem, weil sie sich schämen, Schuhputzer zu sein.

 Als Alkis und Drögeler verschrien

 "Nicht einmal die eigenen Ehefrauen wissen manchmal, dass ihr Mann als Schuhputzer arbeitet", erzählt Hélène Lüthi. Die Bernerin hat in La Paz zwei Jahre lang ein Hilfsprojekt mit Schuhputzern begleitet. Für ein Hilfswerk beurteilte sie, wie weit vorhandene Vorurteile tatsächlich der Realität entsprechen. Für viele Bolivianer ist klar: Schuhputzer sind Drogenabhängige, Alkoholiker, Abschaum. Rund 3600 Schuhputzer soll es in La Paz geben.

 Hélène Lüthi hat Hunderte Schuhputzer aufgesucht. Und sie hat gänzlich andere Männer und Jugendliche kennengelernt, als die Vorurteile besagen. Unter den Roger-Staub-Mützen verstecken sich Familienväter oder etwa auch viele Studenten, die am Morgen Schuhe putzen und am Nachmittag im Hörsaal sitzen, erzählt Hélène Lüthi, die in Bern jahrelang bei der Berner Gassenarbeit gearbeitet hat. Ursprünglich wollten Hélène und Daniel Lüthi nicht nach Bolivien, als sie entschieden haben, Bern den Rücken zu kehren und temporär auszuwandern. Denn Südamerika kannten die zwei Globetrotter schon gut. Doch dann war da ein Jobangebot aus La Paz für Daniel - und er nahm es an. An der Universität konnte er junge Journalisten weiterbilden. Zuvor arbeitete Daniel Lüthi unter anderem jahrelang als Redaktor bei Schweizer Radio DRS. Die Arbeit beim Schuhputzer-Projekt fand Hélène vor Ort.

 Mit den grossen Tieren im Kino

 Dieser Konstellation ist die Idee entsprungen, einen Dokfilm zu drehen. "Wir wollten den Schuhputzern eine Stimme geben", sagt Daniel Lüthi. Und dies ist den zwei Bernern gelungen: Die Premiere hat letzten Herbst in La Paz in einem der grössten Kinos stattgefunden, das 30-minütige Werk "Hinter den Masken" lief eine Woche im regulären Programm. An der Premiere sassen Schuhputzer, Gutbegüterte und Politiker nebeneinander in den Kinorängen - ein ungewohntes Bild. Gefreut hat die Lüthis, dass die Schuhputzer plötzlich von "unserem Film" sprachen. Dass sich jemand für sie interessiert habe, sei für sie eine neue Erfahrung gewesen.

 Mit ihrer Idee haben sich die zwei Filmlaien aber auch ziemlich viel Arbeit eingebrockt. Sie suchten nach Geldgebern. Sie engagierten Daniels Arbeitskollegen als Filmcrew und mussten merken, dass diese andere Vorstellungen vom Filmen hegten. Die Zusammenarbeit sei debakulös gewesen: Gefilmt hätten diese stets mit Stativ - und Klappe. Ein Prozedere, das die Protagonisten so eingeschüchtert habe, dass keine vertrauliche Atmosphäre aufkommen konnte. Eine zweite angeheuerte Truppe bewies dann weit mehr ästhetisches Flair und Fingerspitzengefühl.

 Hauptprotagonist des Films ist Louis, ein 51-jähriger alleinerziehender Vater. Als seine Frau eines Morgens tot im Bett lag, stand er alleine da mit seinen zwei Söhnen, die damals eineinhalb und sechs Jahre alt waren. Louis musste seine Arbeit als Elektriker aufgeben, da er sonst wochenlang abwesend gewesen wäre. Mit dem Schuhputzen bringt er seine kleine Familie über die Runden. Pro Klient erhält ein Schuhputzer einen Boliviano (rund 15 Rappen). An einem schlechten Tag verdient er fünfzehn Bolivianos, an einem sehr guten auch mal fünfzig. Zum Vergleich: Ein Mittagessen kostet fünf Bolivianos, ein Schulbuch sechzig.

 Hélène Lüthi hat die meisten Schuhputzer nur mit Maske gekannt. Sie habe sich daher seitenlang Notizen gemacht, wer wo stehe, damit sie sich die Namen habe merken können. Im Laufe der Zeit seien enge Vertrauensverhältnisse entstanden. Im Film zieht ein junger Student seine Maske aus, steht zu seinem verrufenen Job - ein ergreifender Moment für die zwei gesetzten Jungfilmer.

 Ein Arbeitslosenprojekt in Bern?

 Hélène und Daniel Lüthi sind vor drei Monaten nicht nur mit einem Dokfilm im Gepäck zurück nach Bern gekommen, sondern auch mit einer neuen Idee. Sie möchten die Dienstleistung Schuhputzen auch in Bern einführen - etwa im Rahmen eines Arbeitslosenprojektes. Das Bedürfnis wäre auch hier vorhanden, sind die beiden überzeugt. Im Gegensatz etwa zum Reinigen von Tramhaltestellen kämen beim Schuhputzen Arbeitslose in Kontakt mit Leuten. "So kommen sie aus der Anonymität heraus", sagt Hélène Lüthi, so entstünden Kontakte, ergäbe sich vielleicht auch eine Anstellung. Daniel Lüthi hat vor einiger Zeit mal einen Versuch gestartet und ist in Genf als Schuhputzer auf die Strasse gegangen: "Es brauchte einen, der das Eis bricht - aber danach hat man plötzlich ziemlich viele Kunden."

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ANTI-WEF BASEL
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WoZ 28.1.10

Gegen das WEF

 Das andere Davos

 Unter dem Titel "Das Andere Davos" findet auch dieses Jahr wieder eine Gegenveranstaltung zum Davoser Weltwirtschaftsforum (Wef) statt. Sie beginnt mit zwei Konferenzen: Die erste heisst "Kritische Universität - Uni von unten". Hier geht es darum, akademisches Denken mit Erfahrungen von autonomen Bildungsprojekten von Frauen, MigrantInnen und Lohnabhängigen zu verbinden. Daran werden teilnehmen: Der Soziologieprofessor Franz Schult heis ("Welche Verbindung zwischen den kritischen Sozialwissenschaften und den sozialen Kämpfen?"), Soziologieprofessor Ueli Mäder ("Warum findet das Andere Davos an der Universität Basel statt?"), Claudia Nogueira, Professorin an der Universidade Federal de Santa Catarina, Brasilien ("Erfahrungen autonomer Bildung"), Avji Sirmoglu von "Planet 13", Basel ("Die Bildung der Prekären"), Felipe Polania, Verein Bildung für alle an der Autonomen Schule Zürich ("Schule als politische Aktion in der Flüchtlingsbewegung").

 Chomsky per Video

 Danach ist die eigentliche Eröffnungskonferenz: "Von der Absage an die Barbarei zur Notwendigkeit einer anderen Welt" mit einem Videointerview mit Noam Chomsky, Tariq Ali, Buchautor und Mitarbeiter der "New Left Review" ("Der Imperialismus zu Zeiten Obamas"), Silvia Lazarte, Expräsidentin der konstituierenden Versammlung Boliviens ("Die indianische Rebellion in Bolivien"), Franco Cavalli, alt Nationalrat der SP ("Die kapita listischen Globalisierungen gegen ein öffentliches Gut: das Recht auf Gesundheit für alle"), Christa Wichterich, ­Autorin von "Gleich, gleicher, ungleich" ("Die Frauenkämpfe im Kontext der kapitalistischen Globalisierung"), N. A. Bat chu Siddique, Präsident der Vereinigung der bengalischen, indischen und pakistanischen ArbeiterInnen in Italien, Dhuumcatu ("Die Mobilisierung der MigrantInnen und die Einheit der Lohnabhängigen"), Dirceu Travesso, nationaler Sekretär des brasilianischen Gewerkschaftsverbands Conlutas ("Die Lohnabhängigen des formellen und informellen Sektors vereinigen").

 Die Abschlusskonferenz

 An der Abschlusskonferenz sprechen Gianni Frizzo, Animator des Streikkomitees der Officine, Bellinzona ("Eine neue Gewerkschaftsbewegung in der Schweiz"), Lee Sustar, Redaktor von "Socialist Worker", USA ("Arbeitslosigkeit und soziale Krise unter Obama"), Ricardo Antunes, Professor an der UNICAMP, Brasilien, Mitarbeiter der Landlosenbewegung MST und der Redaktion der linken Wochenzeitung "Brasil do fato" ("Die strukturelle Prekarisierung der Arbeit und die sozialen Kämpfe in Brasilien"), Giorgio Cremas chi, Sekretär der italienischen Metallarbeitergewerkschaft FIOM ("Welche Wiederbelebung der sozialen Kämpfe in Italien?"), Cristina Hernandez, Gewerkschaft Service Employees International Union, Los Angeles ("Welche Zukunft für die MigrantInnenkämpfe?"), Gilbert Achcar, Professor am SOAS, London ("Die Islamophobie bekämpfen - die Hauptform des aktuellen Rassimus im Westen"), Soziologieprofessor Ueli Mäder ("Die soziale Krise in der Schweiz: Einige Orientierungspunkte für den Widerstand").

 Zwischen den Konferenzen gibt es zahlreiche Workshops.

Basel Fr, 29. Januar, 16-18 h: "Kritische Universität - Uni von unten"; 19.30 h: Eröffnungskonferenz; Sa, 30. Januar, 9.30-12.30 h / 14-16.30 h: Workshops; 17-19.30 h: Abschlusskonferenz. Kolle gienhaus der Universität, Petersplatz 1, Konferenzen in der Aula, Workshops in den Räumen des 1. Stocks. Simultanübersetzung Französisch, Deutsch, Italienisch. http://www.otherdavos.net

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ANTI-WEF DAVOS
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Südostschweiz 28.1.10

SP unterstützt Anti-WEF-Aktionen

 Davos. - Die SP Graubünden begrüsst die Bewegung gegen das World Economic Forum (WEF) in Davos, wie sie in einer Medienmitteilung schreibt. Die von der Juso Graubünden organisierte Informations- und Aktionswoche als friedliche Form von Kritik wird von der Mutterpartei unterstützt. Weiter beteiligt sie sich an der WEF-Demonstration am Samstag, an der unter anderen SP-Kantonalpräsident Jon Pult eine Rede halten wird. (so)

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Südostschweiz 28.1.10

Zeitkritische Filme während des WEF

 Davos. - Das Davoser Forschungsinstitut Global Risk Forum zeigt diese Woche im Kino Arkaden Davos drei Filme zu den Themen Umwelt, Klimawandel, Armut und umweltbedingte Flüchtlingsströme. Nach den Filmen beantworten Filmemacher, Experten und Politiker Publikumsfragen. Heute um 16 Uhr können sich Interessierte den Naturfilm "Home" von Yann Arthus-Bertrand ansehen. Morgen Freitag um 16 Uhr wird "Beyond A Dollar A Day" gezeigt, dabei wird über die Rolle der Entwicklungshilfe im Kampf gegen die Armut berichtet. Am Samstag um 10 Uhr wird schliesslich das Thema umweltbedingter Flüchtlingsströme im Film "Climate Refugees" aufgegriffen. (so)

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Südostschweiz 28.1.10

WEF: Am Samstag verspäten sich Züge

 Die Züge der SBB und der RhB verkehren während des World Economic Forum gemäss Fahrplan. Nur am Samstag könnte es zu Verzögerungen kommen.

 Davos. - Die Züge der SBB von und nach Graubünden verkehren während des World Economic Forum (WEF) 2010 fahrplanmässig. Hingegen kann es am Samstag auf dem Netz der Rhätischen Bahn (RhB) zu kurzfristigen Anpassungen des Fahrplans kommen, wie es in einer Mitteilung heisst. Je nach Situation findet für Reisende nach Davos in Fideris eine Personenkontrolle statt. Dazu muss der Zug verlassen, die Kontrolle passiert und ein Weg von rund 300 Metern zum Anschlusszug zu Fuss zurückgelegt werden. Die Reisezeit von Landquart nach Davos verlängert sich dadurch um rund 40 Minuten. Die Zugreise nach Davos via Filisur ist laut RhB nur sehr beschränkt möglich.

 Keine Einschränkungen am Vereina

 Die Vereina-Züge dagegen verkehren fahrplanmässig. Je nach Entwicklung der Lage ist mit Behinderungen oder Umleitungen via Albula zu rechnen, wie es weiter heisst. Die RhB empfiehlt allen Fahrgästen vom und ins Engadin, die Reisezeit auf den frühen Morgen oder späteren Nachmittag zu verlegen oder die Züge via Albula zu benutzen. Der Autoverlad am Vereina erfährt keine Einschränkungen und wird gemäss offiziellem Fahrplan betrieben. (so)

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PUBLIC EYE
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Bund 28.1.10

Schmähpreis für Roche

 Public Eye Awards

 Der Basler Pharmakonzern Roche und die nichtstaatliche Royal Bank of Canada haben am Rande des Weltwirtschaftsforums WEF in Davos die diesjährigen Public Eye Awards erhalten. Die Erklärung von Bern (EvB) und Greenpeace prämierten sie als die sozial und ökologisch skrupellosesten Firmen. Roche erhielt den Schmähpreis wegen undurchsichtiger Studien zum Medikament Cell Cept, das die Organabstossung verhindern soll, teilten die Organisatoren mit. Roche führe die Studien in China durch, obwohl dort mehr als 90 Prozent aller transplantierten Organe von hingerichteten Gefangenen stammten. Der Konzern wolle oder könne nicht sagen, woher die Organe für seine Studien kommen. Die Royal Bank of Canada gewann die ungeliebte Auszeichnung wegen ihrer Rolle als weltweit führender Financier der Ölsandkonzerne. Diese fördern in der Provinz Alberta auf einer Fläche grösser als die Schweiz und Österreich zusammen das "dreckigste Rohöl der Welt", lautet der Vorwurf. (sda/ddp)

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Basler Zeitung 28.1.10

Public Eye Award für Roche

Die UNO erhält den neuen Greenwash Award
 
Andreas Schwander, Davos

 Der Basler Pharmakonzern Roche und die Royal Bank of Canada haben in Davos den Schmähpreis Public Eye erhalten. Auch der über eine Internet-Abstimmung ermittelte "Peoples Award" ging an Roche.

 Es ist eine andere Welt im Hotel Montana in Davos Dorf. Keine Badges, keine Kontrollen, keine Anzüge, dafür Schwaden von filterlosen Gauloises, Rastalocken und der schäbig-pompöse Charme eines vernachlässigten Jugendstilhotels. Nobelpreisträger Joseph Stieglitz war eingeladen, kam aber nur per Videobotschaft - und auch die Preisträger kamen nicht, denn diesen Preis will man nicht.

 Der Basler Pharmakonzern Roche erhielt den Public Eye wegen undurchsichtiger Studien zum Medikament Cell Cept, das die Organabstossung verhindern soll. Die Studien wurden in China durchgeführt, obwohl dort laut Public Eye mehr als 90 Prozent aller Organe von hingerichteten Gefangenen stammen. Roche könne oder wolle nicht sagen, woher die Organe für ihre Studien kommen. Neben dem von einer Jury vergebenen Preis ging auch der sogenannte Public Award an Roche. Er wurde über eine Internetabstimmung ermittelt, welche die Organisatoren Greenpeace und Erklärung von Bern als grossen Erfolg bezeichneten - über 20 000 Menschen hatten daran teilgenommen.

Gebrandmarkt

Einen weiteren Public Eye Award erhielt die Royal Bank of Canada, welche für das "dreckigste Rohöl der Welt" gebrandmarkt wurde, weil sie die Ölgewinnung aus Ölsand in Kanada finanziert. Der erstmals verliehene Greenwash Award ging an die UNO für das CEO-Watermandate, in dem sich die Chefs grosser Konzerne mit hohem Wasserverbrauch zur nachhaltigen Nutzung von Wasser bekennen. In Tat und Wahrheit gingen die Firmen aber keine Verpflichtungen ein, so die Jury. Die UNO solle sich deshalb auf ihre Aufgabe konzentrieren, allen Menschen Wasser zugänglich zu machen und nicht fragwürdige Ökolabels als Deckmäntel für Grosskonzerne schneidern.

 Der Applaus für die flammenden Laudatia im übervollen "Montana"-Saal war den Rednern sicher - sie sprachen vor Heimpublikum. Und auch wenn ein gros-ses Plakat am Hotel Montana allen Vorbeifahrenden verkündet: "Global Players, Public Eye is watching you", ist fraglich, ob diese es wahrnehmen oder gar zu einer Diskussion bereit sind. Da liegt die andere Welt des Hotels Montana doch unendlich viel weiter weg vom Kongresshaus als die geografischen 800 Meter.

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WoZ 28.1.10

Der dreckigste Geldautomat

 Kanadas Rohöl-Das Ölsandgeschäft macht eine riesige Wald- und Moorlandschaft zur Wüste, vergiftet das Wasser und setzt Unmengen von CO2 in die Luft: Am Mittwoch hat die Royal Bank of Canada für die Finanzierung des Abbaus in Davos einen Schmähpreis erhalten.

 Von Daniel Stern

 Das ganze Ausmass der Zerstörung lässt sich nur von oben erfassen. Deshalb ist Peter Mettler in den Helikopter gestiegen. Der kanadisch-schweizerische Regisseur hat den monumentalen Ölsandabbau in der kanadischen Provinz Alberta mit Luftaufnahmen dokumentiert und daraus den Film "Petropolis" geschnitten.

 "Ich wollte einfach nur zeigen, was aus der Luft zu sehen ist", sagt Mettler im Gespräch mit der WOZ. Es habe bislang kaum solche Bilder zum Thema Ölsand gegeben. Von der Strasse aus zu filmen, sei ihnen von privaten Sicherheitsleuten oft verboten worden. Mettler drehte im Auftrag der Umweltorganisation Greenpeace. Doch er stellt klar: "‹Petropolis› ist kein Propagandafilm. Er soll zur Diskussion anregen."

 Tatsächlich kommt Mettlers Film fast ohne Kommentare aus. Die Bilder zeigen, wie eine Landschaft aussieht, in der Bäume und Büsche systematisch gerodet, Humus und Moor abgetragen und bis dreissig Meter tief Ölsand ausgebaggert wurde. Man sieht monströse Lastwagen, die den Ölsand in riesige Fabrikanlagen transportieren, wo das Rohöl aus dem Material extrahiert wird. Dazu wird täglich so viel Wasser aus dem angrenzenden Athabasca-Fluss gepumpt, wie eine Millionenstadt verbraucht. Während das gewonnene Rohöl in Pipelines vorab in die USA exportiert wird, karren die Laster den Sand zurück an seinen Ursprungsort. Das mit Ölresten verschmutze und mit Giften kontaminierte Wasser wird in Stauseeen geleitet. Doch diese lecken, und so gelangt das vergiftete Wasser zurück in den Fluss.

 "Es ist schockierend, so viel kaputte Landschaft zu sehen", antwortet Mettler auf die Frage, was ihm beim Blick von oben durch den Kopf gegangen ist. "Es fehlen einem die Worte." Mettlers Film wurde vergangenes Wochenende am Filmfestival in Solothurn gezeigt. Verschiedene Fernsehstationen haben ihn bereits ausgestrahlt. "In Europa sind die Zuschauer meist schockierter als in Kanada", sagt Mettler. "Viele haben bislang noch nichts vom Ölsandabbau gehört und glaubten, Kanada sei ein Land der Wildnis mit einer unberührten Natur." In Kanada hingegen werde längst intensiv über den Ölsandabbau diskutiert.

 Ein Waldgebiet, gross wie England

 Dass der Ölsandabbau in Kanada auch hierzulande ein Thema wird, dar an arbeitet auch das PublicEye von Davos. Die konzernkritische Veranstaltung von Greenpeace und der Erklärung von Bern am Rande des Weltwirtschaftsforums (Wef) hat am Mittwoch der Royal Bank of Canada (RBC) den von einer Fachjury ausgewählten Schmähpreis für das international verantwortungsloseste Unternehmen verliehen. Die grösste Bank Kanadas hat in den letzten zwei Jahren den Ölsandabbau mit zwanzig Milliarden US-Dollar finanziert. Und das ist erst der Anfang: Innerhalb der nächsten zehn Jahre sollen weitere sechzig Milliarden US-Dollar investiert werden. Insgesamt soll ein Waldgebiet so gross wie England gerodet und umgebaggert werden. Kanada ist auf dem Weg, der bedeutendste Erdölstaat der Welt zu werden.

 Die PublicEye-VeranstalterInnen nennen RBC den "dreckigsten Geld automaten der Welt". Aus Ölsand Rohöl zu gewinnen, ist sehr energieaufwendig, da der Ölsand erhitzt werden muss. Für die Gewinnung von zwei Fass Rohöl aus Ölsand wird ein Fass Gas verbrannt. Allein dieser Prozess ist heute schon für fünf Prozent des ganzen CO2-Ausstosses Kanadas verantwortlich. Mit der Produktion gelangen zudem jährlich über vier Milliarden Liter kontaminiertes Wasser zurück in die Umwelt.

 Wildtiere weisen hohe Konzentrationen an Arsen in ihrem Fleisch auf, Flussfische verkrüppeln, ungewöhnliche Krebserkrankungen breiten sich bei AnwohnerInnen aus. Am meisten unter der Naturzerstörung in Alberta leiden die UreinwohnerInnen des Landes, weil sie sich von den Fischen im Fluss ernähren und das Wild in den Wäldern jagen. Verschiedene Stämme fordern ein Moratorium für den Ölsandabbau.

 Bisher ist jede Kritik an der RBC abgeperlt. Die Firma rühmt sich auf seiner Homepage, eines der grünsten Unternehmen Kanadas zu sein. Unter dem Stichwort Umwelt ist zu lesen: "Wir glauben, dass die Erhaltung der Umwelt entscheidend für die Nachhaltigkeit unserer Gemeinden, Kunden und unserer Firma ist." Zur Imagepflege von RBC gehört auch, dass die Firma an den kommenden Olympischen Spielen im kanadischen Vancouver einer der Hauptsponsoren ist.

 Shell krebst zurück

 Allerdings scheint der politische Druck der UmweltschützerInnen und UreinwohnerInnen nicht nutzlos zu sein. Zumindest der Ölkonzern Shell bewegt sich: Das britisch-niederländische Unternehmen ist von allen Ölkonzernen am stärksten in der Ölsandgewinnung engagiert. Die Firma fördert in Alberta ab nächstem Jahr täglich 255 000 Fass Rohöl. Geplant war, dieses Volumen schrittweise auf bis zu 700 000 Fass zu erhöhen. Doch daraus wird jetzt wahrscheinlich nichts. Shells neuer Konzernchef, der Schweizer Peter Voser, hat am Montag in der "Financial Times" bekannt gegeben, dass man die weitere Expansion in dem Geschäft "sehr viel langsamer" angehen wolle. Voser begründet die strategische Neupositionierung mit den hohen Kosten beim Ölsandabbau. Es gebe genug andere Wachstumsmöglichkeiten.

 Hinter dem angekündigten Kurswechsel steckt womöglich noch ein anderer Grund: Für die Generalversammlung des Konzerns im Mai haben kritische AktionärInnen einen Antrag zum Thema Ölsandgeschäft gestellt. Pensionskassen und nachhaltige Investor Innen fordern eine Überprüfung der Aktivitäten, bevor neue Investitionen getätigt würden. Die "Risiken des Abbaus" sollen eingehend untersucht werden. Andernfalls fürchte man um den langfristigen Erfolg der Firma.

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Tagesanzeiger 28.1.10

Anti-WEF-Gipfel: Organhandel und Krieg der Ideen

 Am Anti-WEF-Gipfel wurde Roche angeklagt: wegen Studien an transplantierten Organen Hingerichteter.

 "Scheiss-Swiss!", knirschte der Organisator von Public Eye, Oliver Classen, zwischen seinen Zähnen. In der Tat hatte die Swiss die Hauptrede am Anti-WEF-Gipfel sabotiert. Ihr Flugzeug blieb mit technischem Defekt in New York. Und damit der Hauptredner, der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz.

 Stiglitz schickte zum Trost eine Videobotschaft: Schuld an der Finanzkrise, sagte er, seien in erster Linie die Banken. Dann die zahnlosen Regulatoren. Und in letzter Instanz die falschen Ideen: der Aberglaube, dass der Markt alles von selbst regle. Dagegen rief er auf zur "Schlacht der Ideen".

 Im zweiten Teil verteilte die Schauspielerin Julia Jentsch drei Schmähpreise für unverantwortliche Unternehmen. Den Hauptpreis erhielt der Schweizer Pharmakonzern Roche. Deswegen: Roche lässt CellCept, sein Medikament für Organtransplantationen, in China testen. Dort aber kommen 90 Prozent der Organe von Hingerichteten. Alle anderen Unternehmen stoppten ihre Studien in China. Roche nicht - mit der Begründung, "nicht für die Herkunft der Organe verantwortlich zu sein".

 Als speziell skrupellos wertete man an Public Eye, dass CellCept weitere Studien gar nicht nötig hat: Es ist bereits überall zugelassen. Somit erscheinen die Tests vor allem als Marketingmassnahme für den chinesischen Markt. China ist der führende Anbieter für Organtourismus in der Welt (Mit Preisen für 85 000 Franken für eine Leber.), weil China mehr Leute hinrichtet als alle anderen Länder der Erde zusammen. Besonders viel Organe sind jeweils um den Nationalfeiertag, den 1. Oktober, herum zu haben. Dieser wird "zur Stabilisierung der Gesellschaft" mit Massenhinrichtungen geehrt.

 Und sonst? Es blieb die Frage an Stiglitz zum Kampf der Ideen. Fürchtete er nicht dasselbe Schicksal wie Nobelpreiskollege Paul Krugman? Dieser schrieb, eine seiner grössten Naivitäten habe darin bestanden, zu glauben, Bosse in Banken und Politik änderten ihre Haltung, wenn sich ihre Ideen als falsch erwiesen. Und der dazu den Schriftsteller Upton Sinclair zitierte: "Es ist schwierig, einem Mann etwas beizubringen, wenn sein Gehalt davon abhängt, diese Sache nicht zu verstehen."

 Aber Stiglitz sass in New York fest.

 Constantin Seibt

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Bund 28.1.10

Kritiker Vor zehn Jahren wurde die Globalisierungskritik in Rauch und Tränengas geboren. Heute herrscht Ruhe.
 
Der Protest fährt nun in der Limousine vor

Constantin Seibt

 Es waren 350 Leute, die letzten Sonntag in Luzern gegen die Globalisierung und das Weltwirtschaftsforum (WEF) demonstrierten - und nicht einmal eine Planke der Kapellbrücke ging zu Bruch. Dafür tun manikürte Hände jetzt ihre Arbeit. Etwa die gepflegten von Lord Adair Turner, einem stocksteifen Technokraten der britischen Bankenaufsicht: Er beschreibt das Bankensystem als "unnütz für die Gesellschaft" und fordert die Tobin-Steuer - eine Promilleabgabe auf alle Finanztransaktionen, welche die Spekulation verteuern. Noch vor zehn Jahren hätte man Worte wie von Lord Turner nur auf Flugblättern gelesen. Heute teilen seine Meinung die Leute, die früher Städte belagert haben, um gegen Treffen von Merkel, Brown und Sarkozy zu protestieren. Die Globalisierungskritik findet nicht mehr auf der Strasse statt, sie fährt in der gepanzerten Limousine vor.

 Die Geburt eines Gespenstes

 Am 30. November 1999 in Seattle tauchte die globalisierungskritische Bewegung wie aus dem Nichts auf: 50 000 gut vorbereitete Demonstranten blockierten das Kongresszentrum der Welthandelsorganisation (WTO), die überrumpelte Polizei griff zu Knüppel und Tränengas, drei Tage Chaos und Brutalitäten folgten. Am Ende reisten die WTO-Delegierten frustriert ab - ohne sich auch nur auf eine Abschlusserklärung geeinigt zu haben.

 Die Geburt in Chaos, Triumph und Widersprüchen war typisch für die junge Bewegung: Die 50 000 Protestierenden waren nämlich nicht aus dem Nichts gekommen, sondern aus Hunderten von kleinen und kleinsten Politgruppen, die sich über das brandneue Internet vernetzt hatten. Erstmals in der Geschichte drehten in Seattle Digitalkameras, alles wurde auf einer Webseite publiziert, indymedia.org, die in jener Woche mehr Hits verbuchte als cnn.com.

 Der Aufruhr galt der WTO - 1995 mit dem Ziel gegründet, durch den freien Handel die Armut zu lindern, dazu benützt, die geschützten Märkte der einzelnen Länder für internationale Konzerne zu knacken. Die WTO hatte im Jahr zuvor ihre erste grosse Blamage erlitten: Sie hatte die an sich stabilen Schwellenländer Asiens dazu überredet, ihre Kapitalmärkte zu öffnen. Worauf die Finanzgemeinde Unsummen investierte - ein Tsunami aus Geld mit Immobilienblase und hektischen Konzernübernahmen folgte. Dann, als der Profit stagnierte, zog das Kapital in Panik ab. Und liess wie jede Springflut Zerstörung zurück - mit fast bankrotten Ex-Tigerstaaten und einer weltweiten Börsenkrise.

 Der spektakuläre Erfolg der Protestbewegung, das Platzen der WTO-Konferenz, war jedoch nicht auf die Einsicht der Delegierten zurückzuführen. Und auch nicht auf den Protest. Sondern darauf, dass US-Präsident Bill Clinton Minimalstandards für Arbeiterrechte durchsetzen wollte - weniger aus Idealismus, als um die US-Unternehmen vor Billigkonkurrenz zu schützen. Drittweltländer, und zwar eher diktatorische, deren einziger Wettbewerbsvorteil die Hungerlöhne waren, liessen die Konferenz in der Folge abstürzen. Es war ein grosser Sieg - mit Widersprüchen, aber mit Schwung. Zwei Monate später eskalierte eine fröhliche Strassenschlacht am WEF - und seither war die Bewegung in der begeisterten Weltpresse ein frisches Phänomen: faszinierend heterogen, idealistisch, gewaltig und gewalttätig sowie internetbasiert: "Eine andere Welt ist möglich."

 2001 fand zum ersten Mal ein Weltsozialforum (WSF) statt. Gedacht als Gegenveranstaltung zu den Gipfeln der WTO, des WEF und den Treffen der Regierungschefs der G8-Staaten kamen die Kritiker der Globalisierung im brasilianischen Porto Alegre zusammen. Dieses Jahr, zum zehnjährigen Jubiläum, ist das Weltsozialforum nach Porto Alegre zurückgekehrt.

 Das grosse Auftauen

 Die Bewegung war zersplittert, aber bunt, ein Kind ihrer Zeit: Ihre Mutter war die Revolution des Internets und der New-Economy-Blase. Ihr Vater die Enttäuschung: "Wo sind die Individualhubschrauber geblieben, die man uns immer versprochen hat?", fragte der Schriftsteller William S. Burroughs. Und die Bewegung fragte: "Wo ist die freundliche Welt geblieben, die man uns nach dem Fall des Eisernen Vorhangs versprochen hat?"

 Die Kapitalismuskritik artikulierte sonst Ungesagtes: zur Schockliberalisierung des Ostblocks, zu den Strudeln der Finanzmärkte, zur Politik, die den Konzernen gab, was sie verlangten. Nur so konnte ein derart umständlicher Schreiber wie Ignatio Ramonet so enormen Erfolg haben: Ein einziger schwerfälliger Artikel über ein exotisches Thema wie die Tobin-Steuer rief eine Begeisterung hervor, dass sich europaweit Zehntausende zu einem Klub zusammenschlossen, der diese Steuer forderte: Attac.

 Bezaubert waren auch die Medien: Digital- und TV-Kameras verbrüderten sich. Immer mehr Leute marschierten gegen das WEF und die G8-Gipfel auf, die sich in militärische Sperrgebiete verwandelten: Die Macht brachte Stacheldraht, Hubschrauber, Sondergesetze hervor. Als die Demonstranten 2001 von Davos nach Zürich verschoben wurden - und die Stadt brannte, titelte der "Blick": "Polizeiterror!" 2002 floh das WEF aus Angst vor den Demonstrationen und aus Ärger über die angeblich zu nachsichtigen Behörden nach New York.

 Es war der Moment, als die Anti-Globalisierungs-Bewegung ihr Erpressungspotenzial verlor. Zum G8-Gipfel im Juli 2001 in Genua kamen über 100 000 Menschen. Die Polizei griff an, prügelte, verhaftete, folterte, der Demonstrant Carlo Giuliani wurde erschossen. Die Panik in den Strassen zeigte, dass die Massendemonstration nicht mehr zu steuern waren. Dann, nach dem 11. September, fiel auch noch der Motor aus: die amerikanischen Polit-NGOs. Sie hatten in der patriotischen Stimmung nach dem Attentat keine Chance mehr, mit ihrer Kritik anzukommen.

 Am Ende: Die Profis

 Was blieb, waren die Profis, Tausende NGOs vom Einprotestbüro bis zu konzernähnlichen Organisationen, die weiter ihren Job taten: Konzerne und Regierungen einzuschüchtern, Skandal zu machen und so Spenden zu erhalten. Sie waren wieder allein. Die wahre Melancholie aber ergriff die Profis in der letzten Zeit: die Melancholie des Déjà-vu. Wieder brandete der Tsunami der unregulierten Finanzmärkte an, wieder hinterliess er Verwüstung. Doch diesmal nicht in Brasilien, Thailand, Russland, sondern im Zentrum der Business-Welt: in den Banken Europas und der USA.

 Nun ist die ehemals kühne Kritik an Deregulierung, Finanzströmen und falschen Anreizen Banalität geworden; der Plan einer weltweiten Tobin-Steuer kommt nun aus den Regierungspalästen - nicht, um, wie einst erträumt, die Länder des Südens zu stützen, sondern um die enormen Summen zu decken, die man den eigenen Banken in den Rachen schaufeln musste.

 Kurz: Die Globalisierungskritik ist nun, da nicht mehr die Unterschicht, sondern die Oberklasse betroffen ist, zum Gemeingut geworden. Doch auf der Reise zum Establishment verloren die Ideen das, was man auf dieser Reise immer verliert: Naivität und Hoffnung.

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ANTI-WEF LU
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WoZ 28.1.10

Anti-Wef-Panik-Wie Luzerns Lokalpresse einen Krawall herbeizuschreiben versuchte und ein Menschenrecht forderte.

 Mediale Krawallerie

 Von Dinu Gautier

 Januar. Schmierenkomödienzeit. Anti-Wef-Demo-Zeit. Jedes Jahr, an mindes tens einem Ort der Schweiz, darf die Lokalpresse Krawalle befürchten (und insgeheim herbeisehnen). Sie darf Randalebilder aus dem Archiv holen und mit hyperventilierenden Gewerbe- und Politiktreibenden das Januarloch stopfen.

 Am Samstag war es in Luzern so weit. In Bewegung gesetzt hatte sich die media le Krawallerie aber schon am 6.   Januar. "Es gab bisher noch keine Anti-Wef-Demo ohne Ausschreitungen", gab "Sicherheitsexperte" und CVP-Gardist Pius Segmüller im morgendlichen Gratisblatt bekannt. Unwidersprochen. Dabei gäbe es Dutzende Beispiele gesetzeskonformer Anti-Wef-Demos.

 Heitere Panik

 Ähnlich kompetent das Gratisblatt am Abend, ein paar Tage später: "Angst vor Anti-Wef-Demo". Dazu ein Bild mit Wasserwerfern und martialischen Polizisten. Legende: "Schlimme Szenen:Anti-Wef-Demo in Bern am 19. Januar 2008." Wäre darunter nicht noch ein als Artikel getarntes Communiqué der lokalen SVP gestanden, das Arrangement hätte an Subversion gegrenzt (an jener Demo hatte es keine Sachschäden gegeben. Wenn jemand für schlimme Szenen gesorgt hatte, dann die Berner Polizei mit zahlreichen Präventivfestnahmen.)

 Der Präsident der Stadtluzerner SVP befürchtete nun keine Ausschreitungen mehr, sondern prognostizierte sie. In der bezahlten (Monopol-)Presse ging die heitere Panik munter weiter. Gewerbetreibende rechneten mit Gewalt und Umsatzeinbussen. Am Schluss war man dankbar, als die Polizeidirektorin (Ursula Stämmer, Law-and-order-Flügel der SP) einer Journalistin geduldig erklärte, dass eine Demo nicht nur durch Industriequartiere führen kann, da sie ja gerade bezweckt, gesehen zu werden.

 Arme Kundschaft

 Am Samstag ist es so weit. Etwa 400 DemonstrantInnen ziehen auf einer mühsam ausgehandelten Route ("Güterabwägung!") durch halbbelebte Strassen, umringt von Zivilpolizisten und Bürgern, die gerne Zivilpolizisten wären (und deshalb fleissig knipsen).

 Es bleibt ruhig. Happy End? Nein. Zugabe: Schon am Montag fordert die SVP rückwirkend, die Polizei hätte eingreifen müssen (es hatte ein paar Vermummte). Jetzt ist also die für einmal recht diskrete Polizei schuld daran, dass es keine Ausschreitungen gab und sich die Prognose des SVP-Präsidenten nicht bewahrheitet hat. Die morgendliche Gratiszeitung outet die Tochter der Polizeidirektorin, laut dem SVP-Präsidenten hat sie sich an der Demo beteiligt (sie hätte sich vermummen sollen). Als Finale der Kommentar in der sonntäglichen Bezahlzeitung der Zentralschweiz: "Vom friedlich verlaufenen Anlass darf man sich nicht blenden lassen. (...) Eine Demonstration mitten in der Stadt und zur besten Einkaufszeit hält viele Kunden ab, (...) in die Stadt zu gehen." Und Zeitungsartikel? Kein Wort davon, dass auch die einen davon abhalten können.

 Dann, gegen Ende des Kommentars, die Sensation: "Es besteht nicht nur ein Recht zu demonstrieren, sondern auch ein Menschenrecht auf Arbeit." Und das ist jetzt höchst subversiv: klammheimlich die Forderung nach Vollbeschäftigung einschmuggeln. Bravo! Applaus! Fertig Schmierenkomödie.

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NLZ 28.1.10

Polizeikosten-Überwälzung

 Demo führt zu Rechtsproblem

Interview von Tobias Weibel

 Das Parlament will, dass Demo-Veranstalter zur Kasse gebeten werden. Das ist rechtlich problematisch, sagt der Rechtsprofessor.

 Am Dienstag beauftragte der Kantonsrat die Regierung, griffigere Instrumente zu schaffen: Künftig sollen nicht nur kommerzielle Veranstalter, sondern auch Organisatoren politischer Kundgebungen an die Polizeikosten zahlen.

 Markus Müller, verstösst die Überwälzung von Polizeikosten auf Demo-Veranstalter gegen das Grundrecht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit?

 Markus Müller*: Eine schwierige Frage. Eine Kostentragungspflicht berührt in jedem Fall die Grundrechte. Ein Grundrecht ist aber nicht in Stein gemeisselt, sondern kann eingeschränkt werden. Dafür braucht es aber erstens eine gesetzliche Grundlage, welche die Voraussetzungen für eine solche Kostenüberwälzung möglichst klar regelt. Zweitens muss eine solche Massnahme einem öffentlichen Interesse dienen. Drittens hat sie das Verhältnismässigkeitsprinzip zu beachten.

 Wie merkt man, dass ein solches öffentliches Interesse besteht?

 Müller: Das Postulat, das der Luzerner Kantonsrat am Dienstag überwiesen hat, ist bereits ein Indiz dafür. Ferner kann das öffentliche Interesse darin bestehen, das Verantwortungsbewusstsein der Veranstalter zu schärfen oder Demonstrationen mit hohem Ausschreitungspotenzial generell zu verhindern. Denn der Steuerzahler hat ein grosses Interesse daran, die Kosten eines Polizeieinsatzes zu begrenzen.

 Darf man eine Demo verhindern, indem man die Organisatoren zur Kasse bittet?

 Müller: Nein. Demonstrationen ideeller Natur sind verfassungsrechtlich geschützt. Einer Gruppierung darf das Recht auf eine Kundgebung nicht prinzipiell verweigert werden. Darauf würde es im Ergebnis aber meistens hinauslaufen, wenn ihr die gesamten Sicherheitskosten übertragen würden.

 Konkretes Beispiel: Eine politische Splittergruppe mit niedrigem Organisationsgrad macht eine Demo. Wie soll sie Geld für den Polizeieinsatz aufbringen?

 Müller: Natürlich hat diese Gruppierung nicht die Möglichkeit, die entstehenden Kosten auf die Kundgebungsteilnehmer abzuwälzen. Deshalb muss die gesetzliche Grundlage flexibel ausgestaltet sein und dem Organisationsgrad beziehungsweise der Finanzkraft des Veranstalters Rechnung tragen.

 Die Kantonspolizei darf bereits Gebühren für ihre Einsätze verlangen. Ist ein neues Gesetz überhaupt notwendig?

 Müller: Das bestehende Gesetz deckt schon sehr vieles ab. In meinen Augen ist es sogar eine sehr schlaue Norm, weil sie eine flexible Handhabung erlaubt. Die Möglichkeit, Kosten auf Veranstalter von Kundgebungen zu überwälzen, gibt es schon jetzt. Allerdings könnte man dies, in Erfüllung des Postulats, in der bestehenden Verordnung noch etwas präziser regeln.

 Würde es das heutige Gesetz erlauben, auch für Grossereignisse wie die Fasnacht eine beteiligung an den Sicherheitskosten zu fordern?

 Müller: Absolut! Es wäre grundsätzlich möglich, alle Veranstaltungen auf öffentlichem Grund kostenpflichtig zu erklären. Allerdings ist das öffentliche Interesse an der Fasnacht gross. Deshalb wäre es denkbar, sie von der Gebührenpflicht auszunehmen.

 Hinweis: * Markus Müller, 50, ist Professor für öffentliches Recht an der Universität Bern

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 Polizeikosten

 Umsetzung diffizil

 Kann man den Willen der Luzerner Parlamentsmehrheit - die weitgehende Überwälzung der Polizeikosten an Veranstalter politischer Demos - überhaupt verfassungsverträglich umsetzen? "Wir prüfen jetzt, ob eine solche Möglichkeit besteht", sagt auf Anfrage Reto Ruhstaller, juristischer Mitarbeiter im Justiz- und Sicherheitsdepartement. "Aber weil die Grundrechte, also die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, garantiert bleiben müssen, ist das tatsächlich problematisch."

 Randalierer bezahlen

 Anders sehe es aus, wenn eine Kundgebung eskaliere. Dann darf die Polizei die vollen Einsatzkosten den einzelnen Randalierern und den Veranstaltern verrechnen.

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20 Minuten 28.1.10

Demo-Vorstoss: SVP krebst zurück

 LUZERN. Die SVP der Stadt Luzern macht in ihrem Vorstoss zur Anti-Wef-Demo einen Rückzieher. In einer ersten Version wollte sie vom Stadtrat noch wissen, wie er zur Demo-Teilnahme der Tochter von Sicherheitsdirektorin Ursula Stämmer stehe (20 Minuten berichtete). Am Dienstag dann der Rückzug: Die Partei reichte eine zweite, entschärfte Version ein - diesmal allerdings nicht öffentlich. Die Frage zu Stämmers Tochter flog raus. "Wir machen innerhalb der Fraktion immer eine Vernehmlassung", erklärt Grossstadtrat Urs Wollenmann. "Wenn jemand unzufrieden ist mit einem Punkt, so wird er gestrichen." Man habe sich im Vorstoss auf die wichtigen Punkte konzentrieren wollen.  dag

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SPORT
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WoZ 28.1.10

Fankultur

 Gewalt im Fussball - Mit Alkoholverboten und einem falschen Hooliganbegriff ist der Fansubkultur nicht beizukommen.

 Tagebuch der Ratlosigkeit

 Mit einem ultrarepressiven Kurs wollen sie den "Ultrasumpf" austrocknen - dabei verstehen die kantonalen Justiz- und PolizeidirektorInnen die Jugendkultur der Fans gar nicht. An einem "Runden Tisch gegen Gewalt im Sport" wurden sie letzte Woche zwar von PraktikerInnen der Sportverbände und der Fanarbeit gebremst, dennoch müssen sie mit Gegendruck engagierter Fans rechnen - und vielleicht auch dem anderer ZuschauerInnen, die im Stadion zur Bratwurst gerne ein richtiges Bier trinken.

 Von Pascal Claude

 Er war mit Spannung erwartet worden, nun zucken die Fans mit den Achseln: Der siebte "Runde Tisch gegen Gewalt im und um den Sport" brachte keine Ausdehnung des ultrarepressiven Kurses, den die Konferenz der kantonalen Justiz- und PolizeidirektorInnen unter Führung von Karin Keller-Sutter im vergangenen Jahr eingeschlagen hatte. Im Gegenteil: Der am letzten Freitag verabschiedete Massnahmenplan liest sich mit wenigen Ausnahmen wie eine weitere Seite im Tagebuch der Ratlosigkeit, das Verbände, Ligen, Bund, Kantone und Städte führen, seit sie der Fangewalt den Kampf angesagt haben. Es habe sich "die Vernunft durchgesetzt", sagt Marc Furrer, der Präsident des Eishockeyverbandes (vgl. Interview).

 Als eine der am lautesten diskutierten Massnahmen, die der Runde Tisch "mittelfristig" für Fussballstadien vorsieht, soll an den Spielen nur noch Leicht- statt Normalbier ausgeschenkt werden, an "Hochrisikospielen" (hauptsächlich Partien zwischen den Vereinen YB Bern, FC Zürich, GC Zürich und FC Basel) würde gar nur alkoholfreies gezapft. Diese Art oraler Bevormundung ist vielerorts aber längst bekannt, genau wie die Konsequenz: Bei internationalen Spielen, an denen seit Jahren Alkoholverbot herrscht, türmen sich vor den Eingängen Berge aus zertretenen Bierdosen. Wer trinken will und es im Stadion nicht kann, tut es davor, so, dass es bis Spielschluss reicht. Selbst Sicherheitsinspizienten der Liga greifen, wie vor dem Meisterschaftsfinale FCB-YB im Frühling 2008 beobachtet, zur Dose, wenn drinnen Trockenheit verordnet wird. Den Alkohol bringt nur aus dem Stadion, wer die Trinkenden aussperrt. Das erfordert Eingangskontrollen, die die bisherige Mühsal beim Anstehen um ein Vielfaches übersteigen. Vor allem, weil - einmal mehr - auch der Kampf gegen Pyrotechnik intensiviert werden soll.

 Das Pyroverbot als Problem

 Die Gleichsetzung von Feuerwerk mit "gewalttätigem Verhalten" im Hooligangesetz (BWIS II) entpuppt sich als unüberwindbares Hindernis auf dem Weg zu einer Annäherung zwischen Ligen, Vereinen und Fans in den Kurven. Selbst Sicherheitsverantwortliche moderner Stadien wie die in Bern oder Basel halten es für einen grossen Fehler, die Pyrozünder zu Hooligans hochzustilisieren (wie eine im FC-Basel-Forum publizierte Bachelorarbeit der Uni Freiburg zeigt). Nicht nur machen sich VerfechterInnen der Pyrokultur einen Sport daraus, die Petarden und Fackeln trotz immer rigoroserer Kontrollen ins Stadion zu schmuggeln - es wird mehr gezündet denn je. Die öffentliche und mediale Verteufelung als Folge einer kompletten Umdeutung des Stimmungsmittels Pyrotechnik innert zehn Jahren führt auch zu einer unheiligen Allianz aller als Hooligans Verschriener: Steinewerfer, Bierduscher, Fackelträger, Schläger. So heterogen Fanszenen auch sein mögen: Gegen Druck von aussen wehren sie sich kompakt. Gegebenenfalls auch über die Vereinsfarben hinaus, wie die erfolgreichen Aktionen im Sommer 2006 zeigten, als der erste Versuch, einen Fanpass einzuführen, scheiterte.

 Zieh dich aus, Fan!

 Auch der Plan einer Leibesvisitation bis auf die Unterhose, wie sie Sportminister Ueli Maurer und SFV-Präsident Peter Gilliéron verbreiten, ist nicht neu: Der Autor selbst hatte sich 2001 für die WOZ ausgezogen, um als Servette-Fan getarnt in den Gästeblock des Espenmoos zu gelangen. Der berüchtigte "St. Galler Container" wurde jedoch wieder entfernt, die Massnahme ging selbst der Liga zu weit. Der Text über den Strip schaffte es 2004 immerhin in den Band "Die 100 schönsten Schikanen gegen Fussballfans".

 Pius Valier, Kommandant der Stadtpolizei St. Gallen und Oberleiter der nationalen Projektgruppe Sicherheit im Sport, sprach 2009 in der "Sportlounge" des Schweizer Fernsehens von den Fans als "Jugendkultur". Das waren neue Töne, gerade von Polizeiseite. Tatsächlich entsteht eine Vielzahl jener Phänomene, die der Runde Tisch als Probleme bekämpfen will, allein durch die Masse Jugendlicher und junger Erwachsener, die sich jedes Wochenende als Fans eines Vereins gut gelaunt quer durch die Schweiz bewegen. Erst das geballte Auftreten von Auswärtsfahrenden führt dazu, dass PassantInnen an den Bahnhöfen erschrecken, dass die Polizei zur Trennung der Lager aufmarschiert und dass Extrazüge eingesetzt werden, die die Fahrt nicht immer heil überstehen. Dass Fans zu Hunderten Auswärtsspiele besuchen, ist in der Schweiz ein vergleichsweise neues Phänomen. Es ist bezeichnend, dass kaum jemand diesen subkulturellen Trend erforscht, sich aber Runde Tische formieren, die über dessen Zähmung oder Erstickung beraten und PolizeidirektorInnen zur Repressionsschulung durch halb Europa reisen.

 Gelassene Ultras

 Im Gespräch mit engagierten Fans verschiedener Lager wird deutlich, dass sie sich in einer Position der Stärke wähnen und entsprechend gelassen auf die angekündigten Massnahmen reagieren. Sie werden sich per Fancard kaum als "Jugendkulturelle" registrieren und überwachen lassen - und denken auch nicht daran, künftig vielleicht Busse oder Züge zu chartern, wie das die SBB gerne hätte. Den bürokratischen und finanziellen Aufwand und das Haftungsrisiko als Charterkunde tragen: Das macht ein Fandachverband vielleicht für ein Europacupspiel in Italien, nicht aber alle zwei Wochen für ein Schweizer Meis terschaftsspiel. Dann bieten sich schon die Regelzüge an, die die SBB doch um jeden Preis frei von Fans halten möchte.

 Wenn Kantone und Städte, gestützt auf ein Bundesgerichtsurteil, künftig bis zu achtzig Prozent der Kosten eines Polizeieinsatzes auf die Klubs überwälzen - es sei denn, diese kooperieren, dann gibts Rabatt -, werden die Vereine den Druck auf ihre Basis erhöhen, um die Zielvorgaben zu erfüllen: Stadionverbote werden noch schneller ausgesprochen und noch seltener aufgehoben, Daten noch freizügiger den Behörden weitergegeben. Dies führt, wie die KKJPD am Beispiel Freiburg im Breisgau bestaunte, zur "Trockenlegung des Ultrasumpfs". Oder zu noch mehr Gegendruck.

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Fankultur

 Marc Furrer-Der Verwaltungsrat des Eishockeyverbands will strengere Kontrollen.

 "Richtiges Bier gehört dazu"

 WOZ: Noch im November verkündete die Konferenz der Kantonalen Jus tiz- und Polizeidirektoren (KKJPD) eine Reihe umstrittener Massnahmen gegen Gewalt im Sport. Darunter ein allgemeines Stehplatzverbot, ein Alkoholverbot in Stadien und eine obligatorische gemeinsame Anreise von Gästefans. Diese drei Punkte sind nun vom Tisch (vgl. Kasten). Ist die KKJPD gescheitert?

 Marc Furrer: Ich glaube nicht, dass man von Scheitern sprechen muss, vielmehr hat sich die Vernunft durchgesetzt. Es sollten nur Massnahmen ergriffen werden, die wirklich etwas bringen und nicht den ganzen Sport kaputt machen. Insofern ist es zu begrüssen, dass gewisse Massnahmen fallen gelassen wurden. Überhaupt wird die Sicherheitsdiskussion viel zu allgemein geführt. Klar kann eine Liga koordinieren und gewisse Vorschriften erlassen, Sicherheitsfragen müssen Sie aber immer punktuell lösen.

 Ein Kompromiss sieht vor, dass in Fussball- und Eishockeystadien künftig nur noch alkoholreduziertes Bier ausgeschenkt werden soll ...

 Es gehört zu einem Eishockeyspiel, dass man eine Bratwurst und ein richtiges Bier konsumiert. Dass man jetzt alle Leute bestraft, nur weil draussen ein paar Leute randalieren, das verstehe ich ehrlich gesagt nicht. Zudem bieten viele Brauereien gar kein Leichtbier an. An Heimspielen der Langnau Tigers wird etwa Bier von Egger ausgeschenkt - die brauen kein Leichtbier. Die Rapperswil-Jona-Lakers haben einen Vertrag mit Heineken - auch unter dieser Marke gibt es kein Leichtbier. Im Eishockey gibt es zudem innerhalb der Stadien selten Probleme. Auch das spricht gegen Restriktionen beim Alkoholkonsum.

 Ein Thema bleibt die sogenannte Fancard. Werden sich die Fans künftig registrieren lassen müssen?

 Nein. Es wird auch künftig Leute geben, die nur ab und zu einen Match besuchen. Denen können wir den Zutritt doch nicht verwehren, nur weil sie keine Fankarte besitzen. Was wir planen, ist eher eine Mitgliedskarte, mit der man Fanartikel billiger einkaufen oder im Restaurant günstiger essen kann. Mit Sicherheit hat die Karte direkt aber kaum etwas zu tun.

 Wer keine Karte hat, soll sich stattdessen am Eingang ausweisen müssen.

 Da sind wir ganz klar dafür, geht es doch um die Einhaltung der Stadionverbote. Die Kontrollen müssen noch strenger werden. Auch Betrunkene sollen nicht eingelassen werden. Das sind Massnahmen, die etwas bringen.

 Der Runde Tisch wünscht sich Leibesvisitationen. Sportminister Ueli Maurer und Peter Gilliéron, der Präsident des Fussballverbandes, schliessen nicht aus, dass sich Fans künftig am Stadioneingang werden ausziehen müssen. Indem sie ein Ticket kaufen, würden sie dazu die Einwiligung geben.

 Dass sich jemand nackt ausziehen müsste, das kann ich mir nicht vorstellen. So etwas wollen wir nicht. Diese Pläne beziehen sich wohl eher auf den Fussball, im Eishockey werden viel weniger Pyros gezündet als im Fussball.

 Die Eishockeyliga investiert kein Geld in die Fanarbeit. Und auch die Clubs sind nicht spendierfreudig. Nur gerade der SC Bern verfügt über bezahlte FanarbeiterInnen ...

 Wir überprüfen das gerade. Wir haben eine Studie in Auftrag gegeben, die uns einen Überblick zur Fanarbeit Schweiz geben soll und die im Februar vorliegen wird. Uns interessiert nicht nur, wo Fanarbeit betrieben wird, sondern auch, wie sie gemacht wird und wie wirksam sie ist. Dann werden wir entscheiden, was wir künftig machen und ob wir als Liga Gelder sprechen. Wir stellen gerade bei Sicherheitsleuten fest, dass manchmal die Freiwilligen gerade so gute Arbeit leisten wie die Professionellen. Es kann auch gute Fanarbeit geben, ohne dass Sie viel Geld dafür ausgeben.

 Was versprechen Sie sich von Fanarbeit?

 Es ist wichtig, dass die Clubs einen guten Kontakt zu den Fans haben. Wenn eine Fangruppe ausrastet, braucht es einen Fandelegierten, der hingehen und sagen kann: ‹Wenn ihr weiter Radau macht, schadet ihr dem Club, und ihr kriegt Schwierigkeiten.› In der Regel klappt das schon heute sehr gut. Das Ziel der Fanarbeit ist, dass man die Fans unter Kontrolle hat.

Interview: Dinu Gautier

 Marc Furrer (58) ist Präsident des Aufsichtsrats der Eishockey-Nationalliga und Verwaltungsrat des Eishockey verbandesund Präsident der eidgenössischen Kommunikationskommission ComCom.

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 Der runde Tisch

 Letzte Woche fand in Bern der siebte "Runde Tisch gegen Gewalt im und um den Sport" statt. Eingeladen hatte Bundesrat Ueli Maurer, gekommen waren VertreterInnen der kantonalen PolizeidirektorInnen und -kommandantInnen, Delegierte der Städte, Beamte aus den Bundesämtern für Sport und Polizei, Vertreter von Swiss Olympic und der Fussball- und Eishockeyverbände. Auch die Fanarbeit Schweiz durfte sich "konstruktiv-kritisch" einbringen. Der Runde Tisch kann formell keine Entscheidungen fällen. Seine Beschlüsse sollen durch die TeilnehmerInnen umgesetzt werden.

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STIEG LARSON
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Bund 28.1.10

Hat Stieg Larsson seine Bestseller selber geschrieben?

 Bruno Kaufmann, Stockholm

 Bald sechs Jahre sind vergangen, seit der schwedische Journalist Stieg Larsson an einem Hirnschlag starb. Wenige Tage zuvor hatte der 50-Jährige drei Manuskripte beim Stockholmer Verlag Norstedts eingereicht. Was damals weder Stieg Larsson noch sein Verleger ahnen konnten: Die drei "Millennium"-Krimis "Verblendung", "Verdammnis" und "Vergebung" sollten zu Bestsellern werden. Allein im letzten Jahr verkauften sie sich weltweit über 20 Millionen Mal.

 Das viele Geld hat öffentlich ausgetragene Streitigkeiten zwischen jenen Personen ausgelöst, die sich als Erben des genialen Geschichtenerzählers verstehen: Dazu gehören die langjährige Lebensgefährtin Larssons, die Architektin Eva Gabrielsson, sein Vater, sein Bruder und schliesslich eine kleine trotzkistische Gruppierung in Nordschweden, der Larsson länger als Mitglied angehört hatte.

 In dieser Woche wird nun ein weiteres Kampffeld eröffnet: Morgen erscheint beim Norstedts-Verlag die erste Larsson-Biografie. Verfasst hat sie ein langjähriger journalistischer Weggefährte, Kurdo Baksi. In "Mein Freund Stieg Larsson" beschreibt Baksi den Journalisten Larsson als Workaholic, dem der politische Kampf gegen die Rechten wichtiger war als das Befolgen journalistischer Grundregeln. In der Zeitung "Dagens Nyheter" behauptet ein anderer Arbeitskollege, Anders Hellberg, sogar: "Stieg Larsson konnte gar nicht schreiben." Die Norstedts-Verlegerin Eva Gedin hält dagegen: "Die Manuskripte, die er uns ablieferte, waren brillant." Und wie beim Streit um das Erbe spielt auch in der neuesten Larsson-Debatte Eva Gabrielsson wieder eine wichtige Rolle.

 "Ich war mehr als die Korrekturleserin von Stiegs Büchern", erklärte die Lebensgefährtin gegenüber der dänischen Zeitung "Politiken" und fügte hinzu, "dass es schwierig ist, zu bestimmen, wer in den ,Millennium-Romanen genau was geschrieben hat". Damit nährt Larssons Witwe die These, dass sie es war, die dem "schlechten Schreiber" Larsson stilistisch auf die Sprünge half. Gleichzeitig bereitet sie damit die Lancierung ihrer eigenen, bald erscheinenden Larsson-Biografie vor. Kaum anzunehmen, dass dieses Buch alle Fragen um Larsson beantworten wird.

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FACEBOOK
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20 Minuten 28.1.10

Ohne Facebook ausgegrenzt?

 Zürich. Laut einer Studie fühlen sich viele Schweizer ohne Facebook- Zugang sozial isoliert. Experten warnen vor einer hohen Suchtgefahr.

 Ein Leben ohne Facebook? Für viele undenkbar: "Ich verspüre einen konstanten Drang, auf Facebook zu gehen und zu checken, was passiert ist." Wie der 21-jährigen Teilnehmerin einer Studie zum Thema ergeht es vielen - beinahe eine Million Schweizer loggt sich täglich auf der Internetcommunity-Site ein.

 Das Experiment von Rod Kommunikation, bei dem 50 intensive Facebooknutzer während 30 Tagen auf Entzug gesetzt wurden, zeigt: Trotz anfänglicher Entzugserscheinungen zogen die meisten Teilnehmer eine positive Bilanz. Statt Stunden auf Facebook zu verbringen, gingen viele wieder einem vernachlässigten Hobby nach. Viele fühlten sich aber sozial ausgegrenzt. Sie wurden nicht mehr zu Partys eingeladen und konnten beim Klatsch im Freundeskreis nicht mehr mitreden. Trotzdem nahmen sich 70 Prozent der Befragten vor, ihren Facebookkonsum zu reduzieren, denn: "Der Kontakt zu Leuten, die ich mag, wurde hochwertiger - die Qualität gesteigert, die Quantität gemindert."

 Fachleute warnen denn auch vor einer Facebook-Abhängigkeit: "Neben Online-Games und Sexsites haben Community-Plattformen ein hohes Suchtpotential", weiss Psychologe und Internetsuchtexperte Franz Eidenbenz. Das Paradoxe an der Facebooksucht: "Abhängige fühlen sich sozial bestens vernetzt, dabei vernachlässigen sie in der Realität persönliche Kontakte."

 Wie stark diese Abhängigkeit sein kann, zeigt die Aussage einer 27-Jährigen bei Antritt des Experiments: "Ich hab gerade das Gefühl, dass ich ein Drogenentzugsprogramm starte, soeben habe ich meine Seele verkauft."  

Deborah Rast

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 Schwierige Probandensuche

 ZÜRICH. Die 50 Teilnehmer für die Studie zu finden war nicht einfach, obwohl 300 Franken Belohnung winkten: "Für weniger als 10 000 Franken pro Tag mach ich da nicht mit", hiess es etwa. Viele begründeten ihre Absage auch damit, dass sie im Moment auf Jobsuche seien und Facebook deswegen unverzichtbar sei. Ähnlich klang es bei den angefragten Promis: " Ich bekomme über Facebook geschäftliche Anfragen, deshalb lieber nicht", meinte etwa Sängerin Nubya.

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 Könntest du ohne Facebook leben?

 "Facebook ist zwar eine super Sache, trotzdem brauche ich es nicht zum Überleben."

 Nora Hoxha (16) Thürnen BL

 "Ja, denn ich habe auch ohne Facebook Freunde und könnte deshalb gut darauf verzichten."

 Dominik Christe (20) Winterthur

 "Ja, ich kann problemlos auf Facebook verzichten. Meistens schaue ich sowieso nur am Abend kurz rein."

 Daniel Müller (18) Stettfurt TG

 "Ja, ich bin nur dreimal pro Monat online. Aber meine Schwester überlebt keinen Tag ohne Facebook."

 Fabienne Christen (18) Stans