MEDIENSPIEGEL 11.3.10
(Online-Archiv: http://www.reitschule.ch/reitschule/mediengruppe/index.html)

Heute im Medienspiegel:
- Reitschule-Programm
- SVP-Fuchs will Stadttauben-Wagenplatz vor die Reitschule abschieben
- WG Werkstrasse vor dem Ende
- RaBe-Info 10.+11.3.10
- Police BE: Defizit
- Zwischengeschlecht: Petition gegen IOC-Diskriminierung
- Kulturschaffende pro ERK
- PNOS: Lützhard an Neonazi-Party
- Law & Order: Wochenendarrest für junge Randalierer?
- Asyl/SansPapiers ZH: Nothilfe + Demoflyer
- Squat ZH: Film + Villa
- Schnüffelstaat: Big Brother versteckt 70 Jahre lang Brief
- Gipfel-Soli: Sanfte Strafen für Prügelorgie Genua 2001
- Anti-Atom: Endlager Nagra + AKW-Pläne Russland

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REITSCHULE
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Do 11.03.10
19.30 Uhr - Grosse Halle - Blinde Insel Küche: dampfzentrale, Text: Pedro Lenz "Was wotter für morn?"
20.00 Uhr - Frauenraum - BarOmeter Special: "Far Rockaway" CD-Taufe von Tina Kohler
21.00 Uhr - Rössli-Bar - K-Tharsis. Style: Urban Funk
20.30 Uhr - Tojo - "Bunbury" von Oscar Wilde. Berner StudentInnentheater BeST.

Fr 12.03.10
19.30 Uhr - Grosse Halle - Blinde Insel Küche: dampfzentrale, Text: Pedro Lenz "Was wotter für morn?"
20.30 Uhr - Tojo - "Bunbury" von Oscar Wilde. Berner StudentInnentheater BeST.
21.00 Uhr - Kino - Migration - Leben in der Fremde: Wanakam, Thomas Isler, CH 2005
23.00 Uhr - Dachstock - Groovebox: Riccardo Ferri (live) (Alchemy Records/I), Flavio Diaz (live) (AnalyticTrail, Loose/I), Mastra (live) (Modular Club/be), Racker (Midilux, Festmacher/be). Style: Minimal, Techno, House

Sa 13.03.10
14.00 Uhr - Frauenraum - AMIE - Frauenkleidertauschbörse bis 16.00 Uhr. Women only.
17.00 Uhr - Frauenraum - Frauendemo-Party: Lounge mit Barbetrieb
19.00 Uhr - Frauenraum - Frauendemo-Party: Feministische Filme im Backstage
19.30 Uhr - Grosse Halle - Blinde Insel Küche: dampfzentrale, Text: Pedro Lenz "Was wotter für morn?"
20.30 Uhr - Tojo - "Bunbury" von Oscar Wilde. Berner StudentInnentheater BeST.Sa 13.03.10 - 21.00 Uhr - Kino - Migration - Leben in der Fremde: Por Amor, Isabelle Stüssi, CH 2009
21.30 Uhr - Frauenraum - Frauendemo-Party: Disco von Pop bis Elektro mit DJanes Schultze und Schultze (Trash-Pop) und DJanes Agnetta und Matilda (Elektrodääntspopnrollrock)
23.00 Uhr - Dachstock - Liquid Session: Makoto & Deeizm MC (Human Elements). Support: Lockee (Rabass 95.6), TS Zodiac (Liquid Sessions), Badboy MC (FMI). Style: Drumnbass

So 14.03.10
17.00 Uhr - Tojo - "Bunbury" von Oscar Wilde. Berner StudentInnentheater BeST.

Infos: http://www.reitschule.ch

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STADTTAUBEN
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Bund 11.3.10

Besetztes Areal in der Lorraine: Was ist nach der Räumung?

(bob)

 Stadt Bern - Die städtische Liegenschaftsverwaltung sucht nun doch noch Ideen für die Zwischennutzung des besetzten Areals in der Lorraine. Sie hat den Breitenrain-Lorraine-Leist und die Quartierkommission Dialog Nordquartier zu einer Sitzung eingeladen. Für Leist-Vizepräsident Edwin Stämpfli ist klar, was nottäte: "Die Stadt soll das Terrain wieder der Garage Alcadis zurückgeben, damit sie es als Ausstellungsfläche brauchen kann." Gemeinderätin Barbara Hayoz (fdp) hat bekannt gegeben, dass sie bei der Polizei die Räumung des Geländes in Auftrag gegeben habe ("Bund" von gestern). Stämpfli kündigt nun Klagen von benachbarten Hauseigentümern an, falls das Gelände bis in zwei Wochen nicht frei ist.

 Der Dialog Nordquartier ist für eine Offenhaltung des Geländes. "Die Umzäunung hat sich nicht bewährt", sagt Sekretär Max Singer. Die Geschäftsleitung des Dialogs habe noch nicht über das Thema gesprochen. "Es dürfte aber schwierig sein, für kurze Zeit eine finanzierbare Lösung zu finden", sagt Singer. Das Gelände am Centralweg ist letzten Samstag von der Wohnwagen-Gruppe Stadttauben besetzt worden. Es steht seit Sommer 2009 leer, nachdem die Stadt die Gebäude der Garage abgerissen hat, um ein Wohnhaus zu errichten. Der Neubau lässt auf sich warten, weil Liegenschaftsverwaltung und Betriebskommission des stadteigenen Fonds für Boden- und Wohnbaupolitik uneins über das Wettbewerbsverfahren waren.

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Telebärn 10.3.10

Stadttauben am Centralweg
http://www.kyte.tv/ch/telebaern/stadttauben-am-centralweg/c=84713&s=828923

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bernerzeitung.ch 10.3.10
http://www.bernerzeitung.ch/region/bern/Thomas-Fuchs-besucht-die-Stadttauben/story/10960990 (mit lustigem Video)

Thomas Fuchs besucht die "Stadttauben"

Von Aenea Wasmer

Für den Berner Grossrat Thomas Fuchs sind die "Stadttauben" am Centralweg ein Dorn im Auge. Beim Besuch von Fuchs im besetzten Areal am Mittwoch wollte niemand der Besetzer mit ihm vor der Kamera über die angespannte Situation reden.

Die Ideallösung für Thomas Fuchs wäre eine Züglete der "Stadttauben" vor die Reithalle. "Dort sind wahrscheinlich auch ihre Kollegen", sagte Fuchs im Videointerview mit bernerzeitung.ch. "Von der Stadt Bern war es nicht klug, das Haus abzureissen ohne eine Zwischennutzung der Zone einzuplanen. So wäre das Gebiet niemals besetzt worden", begründet Fuchs die entstandene Situation.

Die Quartierbevölkerung soll an einer Petition teilnehmen

Um die Wagenburg von der Lorraine zu verbannen, will Fuchs eine Petition im Quartier lancieren: "Die Quartierbevölkerung muss sich nun dazu äussern und wir werden sehen, ob die 'Stadttauben' wirklich so willkommen sind wie sie meinen".

Der Verein Läbigi Lorraine und AG Wohnen haben sich bereits positiv zu den "Stadttauben" geäussert und akzeptieren die Stadtnomaden und ihren Standort. "Wir sind davon überzeugt, dass sie das Quartier weder stören noch belasten", schreiben beide Organisationen in einem Communiqué. (Bernerzeitung.ch/Newsnetz)

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kulturstattbern.derbund.ch 10.3.10

Christian Pauli am Mittwoch den 10. März 2010 um 14:25 Uhr

Alte Wagen: Wohnen on the floor

Im Nordquartier werden nicht nur teure und schöne Wohnungen mit super Aussicht gebaut, sondern weiter unten, keine 400 Meter davon entfernt, ist vor ein paar Tagen günstiger Wohnraum entstanden.

Das Projekt der Stadttauben ist möglicherweise nicht unumstritten. Wie auch immer: Die Lorraine lebt!

Veröffentlicht in Wüsten & Oasen | 6 Kommentare "

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Junge Alternative 10.3.10

Stadttauben sollen nicht geräumt werden

Nach der Besetzung eines Grundstücks am Centralweg, sollen die "Stadttauben" nun polizeilich geräumt werden. Doch die Stadt hat mit ihrer Weigerung, einen nahtlosen Übergang zwischen Abbruch der alten Gebäude und Neubau zu ermöglichen, die Voraussetzungen für eine solche Besetzung selber geschaffen. Nun wird voraussichtlich bis 2012 nicht gebaut, wie der Verein Läbige Lorraine (VLL) heute in einer Medienmitteilung schreibt.

Trotz mehrfacher Aufforderung unter anderem von Seiten der Jungen Alternative JA!, fehlt es in der Stadt Bern immer noch an genügend Raum für alternative Wohnprojekte, wie die Stadttauben eines sind. So ist es nicht verwunderlich, dass diese sich ihren Platz selber nehmen. Der Vorfall zeigt einmal mehr, dass der Gemeinderat bezüglich alternative Wohnprojekte keine Gesamtstrategie verfolgt, sondern sich vom jeweiligen Gemütszustand leiten lässt. Die Junge Alternative JA! hat bereits im August 2009 den Gemeinderat mit einer Motion aufgefordert, ein Zwischennutzungen von leerstehenden Wohnungen einheitlich zu regeln. In diesem Zusammenhang könnte auch der Umgang mit vorübergehend leerstehenden Grundstücken wie am Centralweg geregelt werden.

Die Junge Alternative JA! fordert den Gemeinderat auf, die geplante Räumung unverzüglich zu stoppen. Die Stadt soll mit den Stadttauben Verhandlungen aufnehmen um eine gemeinsame Lösung zu finden, welche eine Zwischennutzung durch die Gruppe ermöglicht.

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WERKSTRASSE
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BZ 11.3.10

Wabern

 Abgesang auf die Musiker-WG

 Fast 30 Jahre lang diente ein altes Lagergebäude an der Werkstrasse in Wabern als Ort für alternatives Wohnen. Auch Berner Kulturgrössen wie Züri West gingen dort ein und aus. Jetzt steht die Wohngemeinschaft vor dem Aus.

 Der alte Holztisch ist rund. Und ein Kaffee steht rasch bereit. Doch wer sich hinsetzt, sitzt alles andere als in der Schweizer Durchschnittswohnung. Der Holzboden ist abgewetzt. Bad hat es für sieben Leute nur eines. Und warm wird es nur, wenn tüchtig in den Holzofen eingefeuert wird.

 "Ich wollte immer hierherziehen", erklärt Beryll Ryder. Vor kurzem ist die Tontechnikerin ins alte Lagergebäude an der Werkstrasse 20 in Wabern gezügelt. Lange wird sie nicht bleiben können. Ende März ist Schluss. Dann muss die Wohngemeinschaft ausziehen, und das Gebäude wird abgerissen (siehe Kasten).

 Fast 30 Jahre lang war die Werkstrasse ein Ort, an dem alternatives Wohnen möglich war. "Es ist ein Haus mit Geschichte", sagt Beryll Ryder. Kultur sei hier immer grossgeschrieben worden. Es gibt auch eine einfache Bühne: In einer Ecke des Gebäudes ist der Boden mit Holzplatten um ein paar Zentimeter erhöht.

 Als Theater gedacht

 Francesco Muzio hat in den 1980er-Jahren den Start der Wohngemeinschaft miterlebt. Er gehört zu deren Mitbegründern. "Wir wollten in Wabern ein eigenes Theater aufziehen", erzählt er. Doch das sei an den Auflagen gescheitert. Zu viert startete man das Projekt. "Weil aus dem Theater nichts wurde, haben wir dann mehr Leute gesucht", erinnert sich Muzio.

 Auch heutige Berner Kulturgrössen gingen an der Werkstrasse ein und aus. "Züri West gehörten zu unserem Freundeskreis. Sie haben ab und zu Hauskonzerte gegeben", erzählt Francesco Muzio. Wenn sich das herumgesprochen habe, sei das Haus jeweils voll gewesen. Auch Endo Anaconda oder Stop the Shoppers waren manchmal dort. "Es war ein sensationeller Ort", sagt Muzio. Und doch nimmt er das Ende der Werkstrasse-WG ziemlich emotionslos zur Kenntnis. "Alles hat ein Ende. Punkt." Dafür werde wieder Neues entstehen.

 Noch das alte Körbchen

 Wie viele Leute in all den Jahren an der Werkstrasse gewohnt haben, weiss niemand so genau. Manche reden von 50, andere von 250 WG-Bewohnerinnen und -Bewohnern. Manchmal waren es bis zu 14 aufs Mal.

 "Es herrscht ein freier Geist bei uns", sagt Gärtnerin und WG-Bewohnerin Noëmi Aeberhard. Hier sei halt alles etwas anders, findet der 39-jährige Patrick Knuchel, der seit sieben Jahren an der Werkstrasse lebt. Man lerne viel Toleranz im Umgang miteinander. Und für den Filmer und Tontechniker Florian Wyss ist klar: "Ein TV wäre bei uns überflüssig. Es gibt immer etwas zu tun - denn für jedes bisschen Luxus müssen wir selbst sorgen." Überhaupt. "Oft sitzen wir einfach gemeinsam am WG-Tisch." Der steht praktisch seit den Anfängen da. "Vieles ist seit langem gleich geblieben", weiss Noëmi Aeberhard. Das Duschkörbchen zum Beispiel stamme noch aus den 90er-Jahren. Der Beweis dafür: Auch auf einem alten Film, den frühere WG-Mitglieder vor kurzem zeigten, war es bereits zu sehen. Gerade jetzt in den letzten Tagen schauen ab und zu frühere WG-Bewohner vorbei. "Wer kommt, fühlt sich hier wieder wie daheim", meinen die heutigen Bewohner dazu.
 
Lucia Probst

 Die letzten kulturellen Anlässe in der WG an der Werkstrasse: "Zeit zu gehen" (Fest mit Konzert und DJ), 26.März Konzert mit Itchy Couch und DJs Fernweh und Till&Struppi. Am 27.März: Copy&Paste und noch unbekannte Band.

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Guggisberg Dachtechnik

 "Wir brauchen Platz"

 Das alte Lagergebäude an der Werkstrasse 20 in Wabern muss einem Neubau weichen. Jürg Guggisberg will seine Firma für Dachtechnik ausbauen. "Wir brauchen unbedingt mehr Platz", sagt Guggisberg. Vor vier Jahren hat er deshalb das Nachbargebäude gekauft. Auch neue Büroräume entstehen. Diese will Guggisberg vermieten. Geplant ist ein vierstöckiger Neubau mit einer Tiefgarage. Die Baubewilligung lag bereits öffentlich auf, diesen Frühling sollen die Arbeiten beginnen. Guggisberg hofft, dass das Gebäude im Herbst 2011 bezugsbereit ist. Rund 6 Millionen Franken will er investieren.
 lp

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 "Es herrschte ein freundliches Chaos"

 Prominente Musiker lebten an der Werkstrasse: Bassist Mich Gerber ebenso wie Disu Gmünder, Gitarrist von Patent Ochsner.

 Der Berner Bassist und Komponist Mich Gerber war in den 1980ern für ein paar Jahre WG-Mitglied. "Ich hatte Lust, andere Lebensformen auszuprobieren", sagt er heute dazu. Er habe das Industriegebäude und sein riesiges Zimmer sehr geschätzt. "Das war ein Raum mit Zuganschluss." Am Haus führt die Bahnlinie vorbei. "Anstatt einen Balkon hatten wir ein Perron." Viel sei man draussen gesessen. "Und auf einem stillgelegten Gleis haben wir Feuer gemacht und grilliert." Es sei eine sehr freie Gemeinschaft ohne Hausordnung gewesen. "Ich habe gar nicht gewusst, dass dieses Experiment bis heute anhielt."

 Erst nach Mich Gerber zog 1990 Patent-Ochsner-Gitarrist Disu Gmünder in die WG ein. "Es war eine Brutstätte nonkonformer Lebensentwürfe", schreibt er in einem Mail zu seiner Zeit in Wabern. "Es herrschte das Chaos. Aber eben kein kaputtes und lebensfeindliches, sondern ein freundliches Chaos, aus dem heraus wunderbare Ideen den Weg in die Welt fanden." Viele Leute habe er über die Werkstrasse kennen gelernt. "Auch meine heutige Partnerin und Mutter meiner Söhne, Nicole Wiederkehr, war WG-Bewohnerin." Oft habe man sich an der Grenze des Legalen bewegt. "Dorfpolizist Hänni war regelmässiger Gast", so Gmünder. Unter anderem wegen der Hanfanbauten. Für manche Eltern der Bewohner sei die WG eine "Räuberhöhle" gewesen, für ihn selber aber ein Ort mit enorm viel Freiraum. Gmünders Wunsch: "Möge der Geist der Werkstrasse weiterleben!"
 lp

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RABE-INFO
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Do. 11. März 2010
http://www.rabe.ch/uploads/tx_mcpodcast/RaBe-_Info_11._Maerz_2010.mp3
- 10 Jahre Bologna- Bildungsreform: Bildungsminister feiern und Studenten protestieren
- 30 Jahre Fraw- Beratung: Bewegte Geschichte einer Frauenberatungsstelle
- 4 weitere Jahre Regieren: Justizdirekt Christiph Neuhaus wünscht sich Bürgerliche Wende

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Mi. 10. März 2010
http://www.rabe.ch/uploads/tx_mcpodcast/RaBe-_Info_10._Maerz_2010.mp3
- Ein Spielfilm über das Den Haager Kriegsverbrecher- Tribunal durchleuchtet die Arbeit beim Gericht
- Eine Ausstellung setzt sich mit der Marke Schweiz und einer dazugehörigen Gesetzesrevision auseinander
- Volkswirtschaftsdirektor Andreas Rickenbacher will für weitere vier Jahre im Regierungsrat sitzen

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POLICE BE
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BZ 11.3.10

Kantonspolizei

 Budget überschritten

 Die bernische Kantonspolizei hat ihr Budget überschritten. Sie braucht einen Nachkredit von 2 Millionen Franken.

 Die Polizei war 2009 teurer als geplant. Bereits in der Hochrechnung hat sich laut Regierungsrat ein Defizit von 11 Millionen Franken abgezeichnet. Als Gründe gibt er vorab folgende Faktoren an: vermehrte Einsätze im Polizeikonkordat Nordwestschweiz, höhere Kosten für die Suche nach neuen Polizisten sowie höhere Spesen. Letzteres wird primär damit erklärt, dass die Instruktoren in die neue, weiter entfernte Polizeischule Hitzkirch reisen müssen.

 Bis auf 2,1 Millionen Franken kann die Polizei die Überschreitung intern kompensieren. Für den Rest liegt dem Grossen Rat in der Märzsession nun ein Nachkredit vor.

 Interessant ist ein Teil der Kompensation: Die Projektkosten für die Umsetzung der grossen Polizeifusion - des Zusammenschlusses der Kantonspolizei mit allen kommunalen Korps ("Police Bern") - liegen rund 800000 Franken unter Budget.

 "Teure" Bieler Polizisten

 Bemerkenswert ist aber auch eine Mehrbelastung, die sich aus der Integration der Stadtpolizei Biel in die Kantonspolizei ergab und die zu höheren Personalkosten führte: Der Kanton hat den Bieler Polizisten eine Garantie für die Leistungen der Pensionskasse abgegeben. Der Kanton muss nun 1,2 Millionen Franken aufwerfen, weil die Pensionskasse Biels zum Zeitpunkt des Austritts der Polizisten nur einen Deckungsgrad von 90 Prozent hatte. Mit anderen Worten: Der Kanton übernahm mit den Polizisten auch deren "Anteil" an der Unterdeckung.
 fab

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ZWISCHENGESCHLECHT
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Rundmail 10.3.10

Petition gegen Diskriminierung von Zwittern durch IOC

zwischengeschlecht.org
Menschenrechte auch für Zwitter!

R U N D M A I L

Liebe Freund_innen der Zwitterbewegung

Organisation Intersex International (OII) hat eine unterstützenswerte >>> Online-Petition an das Internationale Olympische Komitee (http://www.intersexualite.org/IOC-petition.html) aufgeschaltet, verfasst von Hida Viloria, worin gefordert wird:

1. Das IOC soll seine Forderungen zurücknehmen, wonach zwischengeschlechtliche Sportlerinnen ihre körperlichen Besonderheiten ("intersex variations") diagnostizieren und "behandeln" lassen müssen [Zwischengeschlecht.info berichtete].

2. Das IOC soll den erwähnten Athletinnen, bekannt als zwischengeschlechtliche Frauen ("intersex women"), erlauben, als Frauen an Wettkämpfen teilzunehmen, ohne ihre körperlichen Besonderheiten ("intersex variations") zuerst diagnostizieren und "behandeln" lassen zu müssen.

3. Das IOC, die Presse und Mediziner sollen diese Frauen mit körperlichen Besonderheiten ("intersex variations") als "Intersex Frauen" bezeichnen, und nicht als "Frauen mit einer Störung der geschlechtlichen Entwicklung".

Kommentar: Nach dem unterstützenden Statement vom 17.2.10 (siehe hier --> 7) zur Kampagne gegen Dexamethason-Zwangsbehandlungen ergreift die Organisation Intersex International (OII) nun schon zum 2. Mal im neuen Jahr konkrete Schritte gegen ZwangsbehandlerInnen von Zwittern und ihre Handlanger und Helfershelfer (statt der sonst eher üblichen Aktivitäten betreffend "internen Grabenkämpfen" sowie zu den Themenkreisen "Identität" und "(Trans-)Gender").

Wir gratulieren! Und fordern alle auf: >>> Unterschreibt auch!

Siehe auch:
- Zwitter im Sport: IOC und IAAF leugnen Verantwortung
- Pressemitteilung Zwischengeschlecht.org von 22.01.2010
- Diskriminierung von Zwittern im Sport weltweit

Die Menschenrechtsgruppe Zwischengeschlecht.org fordert ein Verbot von kosmetischen Zwangsoperationen an Kindern und "Menschenrechte auch für Zwitter!". Betroffene sollen später selber darüber entscheiden, ob sie Operationen wollen oder nicht, und wenn ja, welche.


Liebe Grüsse

n e l l a
Daniela Truffer
Gründungsmitglied Menschenrechtsgruppe Zwischengeschlecht.org
Gründungsmitglied Schweizerische Selbsthilfegruppe Intersex.ch
Mitglied Intersexuelle Menschen e.V.
Mitglied XY-Frauen
Mobile +41 (0) 76 398 06 50
presse@zwischengeschlecht.info

http://zwischengeschlecht.org
Regelmässige Updates: http://zwischengeschlecht.info

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ANTIRASSIMUS
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WoZ 11.3.10

Gemeinsam gegen die Vergiftung

 Kultur und Gesellschaft - Kulturschaffende aus der Schweiz wehren sich gegen eine weitere "Vergiftung des sozialen und kulturellen Klimas". Ihr Aufruf "für eine funktionsfähige Antirassismuskommission" wurde bislang von rund 660 Personen unterzeichnet und dieser Tage an die ParlamentarierInnen geschickt.

 Von Adrian Riklin, Bern

 "Der soziale und kulturelle Zusammenhalt der Schweiz ist zunehmend bedroht. Die unterzeichnenden Künstlerinnen und Künstler rufen die Parlamentarierinnen und Parlamentarier deshalb auf, sich sowohl innerhalb ihrer Fraktionen und Parteien als auch gegenüber der Öffentlichkeit klar gegen fremdenfeindliche und rassistische Vorstösse zu stellen und sich zur Tätigkeit der Anti rassismuskommission zu bekennen."

 So beginnt der "Aufruf von Künstlerinnen und Künstlern gegen die weitere Vergiftung des sozialen und kulturellen Klimas", den die SchriftstellerInnen Ruth Schweikert, Martin R. Dean, Johanna Lier und Guy Krneta vergangene Woche in Bern den Medien vorstellten. Unterstützt wurden sie von Hans Läubli, Geschäftsführer von Suisseculture, dem Dachverband der professionellen Kulturschaffenden.

 Anlass zum Aufruf gab eine Motion des Berner FDP-Nationalrats Christian Wasserfallen im Dezember vergangenen Jahres, der die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus einer Revision unterziehen und so in ihrer Wirkung schwächen möchte. Wasserfallen hatte die Motion mit Unterstützung rechtsfreisinniger und -konservativer Kolleg Innen (Filippo Leutenegger, Philipp Müller, Doris Fiala, Thomas Müller, Toni Brunner, Christoph Mörgeli und andere) aus allen bürgerlichen Parteien eingereicht. Sie reagierten damit auf eine Aussage von Georg Kreis, dem Präsidenten der Antirassismuskommission, der nach der Minarettabstimmung den Begriff "Islamisierung" mit dem Begriff "Verjudung" verglichen hatte und sagte, eine SVP hätte in den dreissiger Jahren unter Umständen mit einer Initiative "gegen die Verjudung" Erfolg gehabt.

 Kulturelle Vielfalt sichern

 In seiner Antwort auf die Wasserfallen-Motion hat sich der Bundesrat am 3. Februar hinter die Antirassismuskommission gestellt. Die Kulturschaffenden verlangen nun von den Räten, "dass sie sich ebenso deutlich zu dieser Motion verhalten und die Funktionsfähigkeit der Antirassismuskommission stärken".

 Der Aufruf, den bis zum Redaktionsschluss dieser WOZ rund 660 Personen unterzeichnet haben, wurde dieser Tage per Mail an die ParlamentarierInnen beider Räte geschickt. Dass er von VertreterInnen der schreibenden Zunft lanciert wurde, ist kein Zufall: Antirassismus und Fremdenfeindlichkeit zementieren sich nicht zuletzt durch Sprache. Die Frage nach dem Umgang einer Gesellschaft mit dem "Fremdartigen" und die Auseinandersetzung mit dem "Eigen-Artigen" seien aber seit jeher Themen der Kunst, betonte Krneta. Er wies zudem darauf hin, "dass die Schweizer Künste von sogenannten Migrantinnen und Migranten und deren Nachkommen zentrale Impulse erfahren haben und immer wieder erfahren". Von anderen gesellschaftlichen Bereichen lasse sich Gleiches sagen. Das Schweizbild, das noch immer viele politische Debatten bestimme, habe jedenfalls wenig mit der sozialen Realität zu tun.

 Die Schweiz habe mit ihrer Rücksicht auf Minderheiten ein "demokratisches Korrektiv entwickelt, das kulturelle Vielfalt und sozialen Frieden möglich macht". In Zeiten "klimatischer Verschärfung, zunehmender Partikularisierung und Polarisierung" gelte es, diese Instrumente weiter zu verfeinern und nicht "wahltaktischer Stimmungsmache oder Sparwut zu opfern". Gerade die Antirassismuskommission erfülle dabei eine unverzichtbare Funktion: "Sie ist keine Justizbehörde und kein Zensurorgan, doch trägt sie durch Massnahmen, Vorschläge und eine aktive Öffentlichkeitsarbeit zum sozialen und kulturellen Frieden bei."

 Plattformen entwickeln

 Wenn es nach den InitiantInnen geht, soll es nicht beim einmaligen Ausruf bleiben: "Es muss heute darum gehen, dass sich die verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte zusammenfinden, um gemeinsam gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit anzugehen und kulturelle Vielfalt zu sichern", so Krneta. Die Kulturschaffenden wollen deshalb geeignete Plattformen entwickeln, um sich in gemeinsamen Auftritten vermehrt in die gesellschaftspolitische Diskussion einzubringen. Ein entsprechender Vorschlag soll Ende Mai an einer Tagung des Club Helvétique in Solothurn ausgearbeitet werden.

 Bis bekannt ist, wann die Motion Wasserfallen im Parlament behandelt wird, soll der Aufruf von weiteren Kulturschaffenden unterzeichnet werden können. Dann wollen die InitiantInnen erneut an die Räte treten - und auch an die Öffentlichkeit. Zur Medienkonferenz im Kornhaus-Forum allerdings erschienen ausser dem Schreibenden keine MedienvertreterInnen. Just da sich Kulturschaffende aller Sparten zu einer politisch relevanten Position zusammengefunden haben, nehmen die Medien kaum Notiz davon.

 Der Text des Aufrufs und die Liste der bisherigen Unterzeichnenden: http://appel.lemmata.ch/page.php

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PNOS
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BZ 11.3.10

Pnos

 Lüthard am Neonazi-Fest

 "Patriotisch" nennt Pnos-Grossratskandidat Dominic Lüthard seine Musik - und mischt weiter in der rechtsextremen Szene mit.

 Gross auf die Fahne geschrieben hat sich die Partei national orientierter Schweizer (Pnos) den Kampf gegen "kulturfremde Ausländer". Wie es ums eigene Kulturverständnis steht, hat Dominic Lüthard, Chef der Pnos Oberaargau und Grossratskandidat, nun einmal mehr gezeigt: Mit seiner nach eigenen Aussagen "patriotischen" Band Indiziert stand er am letzten Wochenende auf dem Programm des No-Surrender-Festivals, zu dem gemäss einer Mitteilung der Antifa Bern das internationale - und in der Schweiz verbotene - Neonazinetzwerk Blood& Honour aufgerufen hatte.

 Das Konzert hätte eigentlich in Belgien stattfinden sollen, wurde dann aber nach Deutschland verlegt, nachdem die belgischen Behörden den Anlass verhindert hatten. Rund 200 statt der erwarteten 1000 Besucher fanden sich schliesslich am neuen Standort ein. Zum Auftritt von Indiziert kam es aber auch dort nicht: Der Konzertabend wurde gemäss Einträgen auf einem rechtsextremen Internetforum nach den Auftritten der ersten drei Neonazibands durch die Polizei beendet.

 Seit die Pnos einen Sitz im Langenthaler Parlament innehat, streitet sie direkte Verbindung zur Neonaziszene ab. Ihre Exponenten beweisen aber immer wieder das Gegenteil. Auch bei Raphael Würgler, der wie Lüthard für die Pnos Oberaargau für den Grossen Rat kandidiert, hat die Polizei gemäss einem Artikel in der "Wochenzeitung" bereits rechtsextremes Propagandamaterial sichergestellt.
 pd/khl

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LAW & ORDER
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20 Minuten 11.3.10

Wochenendarrest für junge Randalierer gefordert

 BERN. Politiker fordern: Jugendliche, die kleinere Straftaten begehen, sollen ihr Wochenende in Arrestzentren verbringen.

 Zerschlagene Fensterscheiben, zerkratzte Autos, Sprayereien: Kleinere Vandalenakte gehören schon längst zum Alltag. Für SVP-Nationalrätin und Polizistin Andrea Geissbühler ist es höchste Zeit, junge Randalierer in die Schranken zu weisen. In einer Motion fordert sie Wochenendarreste für 14- bis 18-Jährige: "Es ist für einen Jugendlichen viel schlimmer, das ganze Wochenende von seiner Clique getrennt zu sein, als im Rahmen einer Sozialstrafe Aufräumarbeiten im Wald zu erledigen", sagt Geissbühler. Vorteil des Wochenendarrestes sei es, dass die Jugendlichen weiterhin die Schule besuchen oder die Lehre absolvieren könnten.

 Laut Geissbühler sollten die Strafen in einem im Gefängnis integrierten Arrestzentrum abgesessen werden, "wo es weder lustig noch spannend ist". Das Konzept des Jugendarrests gibt es in Deutschland bereits seit 1990. Schon 40 Parteikollegen haben Geissbühlers Motion unterschrieben, darunter auch Parteipräsiden Toni Brunner. FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen findet den Wochenendknast "als präventive Massnahme" ebenfalls "eine Überlegung wert". Die SP dagegen steht der Motion nicht wohlwollend gegenüber: "Es ergibt keinen Sinn, dass Jugendliche aus ihrem gesellschaftlichen Kontext gerissen werden", sagt Sprecher Andreas Käsermann. Laut Philipp Frei, Jugendgewaltexperte und Projektleiter bei Wertikal, können Wochenendarreste bei gewissen Jugendlichen "durchaus heilsam" sein. Allerdings nicht bei allen: "Knasterfahrung kann in bestimmten Cliquen durchaus das Image aufwerten."  
Désirée Pomper

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ASYL/SANS-PAPIERS ZH
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WoZ 11.3.10

Flüchtlinge

 Elend und abweisend

 "Siebzehn Monate sass ich in Ausschaffungshaft", sagt Bob. "Dann noch einmal fast ein Jahr im Gefängnis wegen illegalen Aufenthalts." Der Westafrikaner ist einer von denen, die weder bleiben noch gehen können: Asylgesuch abgelehnt, Ausreise nicht möglich. Er lebt von Nothilfe - zehn Franken pro Tag in Form von Migros-Gutscheinen. Das reicht nicht, vor allem nicht in diesem kalten Winter: "Ich bin angewiesen auf Geschenke. Dabei würde ich so gern für mich selber sorgen", sagt Bob. An diesem Dienstag ziehen knapp hundert Menschen im eisigen Wind vom Helvetiaplatz bis nach Oerlikon, um wieder einmal die Abschaffung des Nothilfesys tems zu fordern. "Die Nothilfe wurde eingeführt, damit die Leute ausreisen", sagt René, ein Aktivist des Zürcher Flüchtlingscafés. "Aber sie bleiben, unter elenden Umständen."

 Nach eineinhalb Stunden langt die Gruppe vor dem Migrationsamt an - einem abweisenden Bau aus Metall und Glas. "Aus Sicherheitsgründen" ist er heute seit 14.30 Uhr geschlossen. Ein finster dreinblickender Sicherheitsmann steht hinter der Glastür. Davor geht es fröhlicher zu. "Wir sind für Integra tion!", ruft ein Flüchtling. Und beginnt auf seiner Mundharmonika zu spielen: "Trittst im Morgenrot daher". dyt

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Indymedia 10.3.10

Bis die Welt der Papiere in Flammen aufgeht!

AutorIn : gegen staat und grenzen         

Dieser Flyer wurde am 9. März in Zürich an der Demonstration von Sans-Papiers und "Unterstützern" verteilt; sowohl nach innen wie auch an die Passanten. Die Demo richtete sich gegen das Nothilfe-Programm und die Notunterkünfte. Ein Versuch, um jenseits einer blossen "Unterstützer"-Position Wege für eine gemeinsame Revolte gegen das zu finden, was uns letztendlich alle betrifft: Eine erdrückende Welt voller Grenzen und Mauern.

PDF:  http://andiewaisendesexistierenden.noblogs.org/album/09-03-2010-_-bis-die-welt-der-papiere-in-flammen-aufgeht     

Bis die Welt der Papiere in Flammen aufgeht!

Schon wieder Bullen, schon wieder Identitätskontrolle. Eine falsche Bewegung im falschen Moment, eine falsche Hautfarbe im falschen Land, ein falsches Verlangen in einer Welt, die uns am Liebsten alle resigniert sehen will; es braucht nicht viel, um "verdächtig" zu erscheinen. Für viele endet die Begegnung mit den Wachhunden dieser erdrückenden Normalität in Knästen und Ausschaffungszentren. Auf wenigen Quadratmetern eingesperrt, kontrolliert, überwacht und erniedrigt, warten sie darauf, in das Elend zurückgestossen zu werden, vor dem sie flüchteten. Immer wieder laufen wir an Situationen heran, wo eben dieser Leidensweg beginnt: Bullen umstellen Leute auf der Strasse, um sie anschliessend abzuführen. Irgendwohin. Sei es in den Knast, in die Psychiatrie, in das nächste Charterflugzeug oder nur ein paar Stunden auf den Posten; niemandem soll dies wiederfahren! In einer solchen Situation auf der Strasse, bei den verantwortlichen Betrieben und Personen oder sonstwo in dieser untragbaren Ordnung:
Lasst uns die Kontroll- und Ausschaffungsmaschinerie sabotieren!

Zunächst sind wir Menschen, ein Wesen aus Fleisch und Blut.

Das Leben erlaubt uns, aus diesem Wesen alles mögliche zu machen, in beständiger Suche nach individueller und sozialer Entfaltung. Doch die Welt, die wir bewohnen, zwingt unzählige Menschen, eingeschlossen in Zellen ihre Tage zu fristen, oft aus dem schlichten Grund, keine Papiere zu besitzen. Es reicht in diesen Zeiten also nicht aus, Mensch zu sein, um frei mit seinem Leben zu experimentieren. Wir benötigen zunächst Papiere, eine Identität, eine Zugriffsmöglichkeit, die uns verwaltbar macht. Erst dann haben wir die bescheidene Wahl, uns hier oder dort ausbeuten zu lassen, uns dieser oder jener Autorität zu unterstellen, diese oder jene Ware zu kaufen, diesen oder jenen Politiker über unser Leben walten zu lassen. Freiheit? Niemals...

Seit den Ausbeutungsfeldzügen der Kolonialmächte im Süden, dem Zusammenbruch der "kommunistischen" Regime im Osten und im Allgemeinen aufgrund des Elends, das der globalisierte Kapitalismus produziert, ziehen Millionen von Migranten auf der Suche nach einem etwas erträglicheren Leben in der Welt umher. Während etliche dieser unerwünschten Kinder des Kapitals vom Schutzwall Europas aufgehalten werden oder beim Versuch, diesen zu überwinden sterben, wartet auf jene, denen es gelingt gewiss nicht das El Dorado, von dem sie träumten: Ausbeutungsumstände, die jenen gleichen, vor denen sie geflüchtet sind, ein latenter Rassismus, der die Unzufriedenheit anderer Unterdrückter zu kanalisieren versucht, und die permanente Angst eingesperrt und wieder ausgeschafft zu werden gestalten nun den Alltag. Stetig umherziehend und zusammengepfercht in Notunterkünften teilen sie mit den anderen Ausgebeuteten, auf deren Buckel diese Welt erbaut und erhalten wird, eine Prekarität, die sich als soziale Bedingung zu generalisieren scheint. Die Temporärarbeit als Werkzeug des modernen Kapitalismus lässt die Machtverhältnisse verschwimmen und die Arbeiter voneinander isolieren, während man sie dem ökonomischen Wandel ausliefert. Deren groteske Natur wird dann offensichtlich, wenn arme Leute als Stadtreiniger arme Leute verjagen, wenn Unterdrückte die Büros ihrer Unterdrücker reinigen, wenn Migranten die Mauern jener Knäste bauen, in denen sie schliesslich eingesperrt werden. In einer restlos ökonomisierten Welt ist auch das "Problem" der Migration vor allem ein ökonomisches. Zur Verwaltung der Migrationsströme* dienen dem Staat Identitätskontrollen, Asylzentren und Ausschaffungsknäste ebenso, wie die Integrationshilfen (Anpassung an die kapitalistische Nationalökonomie) und humanitären Organisationen wie das Rote Kreuz (Mitverwalter von Gefängnissen [z.B. im Transit, Kloten] und stets die ersten, die zur Beschwichtigung von Revolten herbeieilen). Trotzdem hat der industrialisierte Staat keineswegs Interesse daran, alle Sans-Papiers auszuschaffen, ihre Lage macht sie zu billigen und flexiblen Arbeitskräften (das weiss selbst die SVP). Ausserdem dienen sie als bequemer Sündenbock, um soziale Spannungen zu entladen, bevor sich die Ausgebeuteten noch selbst als solche erkennen, und sich gemeinsam gegen die Herrschenden wenden; bevor sie noch die Unsinnigkeit religiöser und ethnischer Konflikte verstehen, und den Klassenkonflikt entfachen. In dem Umherziehen der Migranten verdeutlicht sich schliesslich dasselbe Fremdwerden, das uns allen widerfährt: Der Imperialismus der Ware, der uns alle dazu zwingt, denselben leblosen Traum zu träumen, hat uns der Welt und uns selbst gegenüber völlig fremd gemacht.

Wir wollen weder Diskurse über die rechtswidrige Unterdrückung von "Sans-Papiers" lancieren und "bessere" Haftbedingungen oder Rechte einfordern, noch eine per se gutmütige Gattung Mensch aus ihnen machen, wie es schon genug humanitäre Samariter, heuchlerische Demokraten und legalistische Anti-Rassisten tun. Die autoritären, religiösen, nationalistischen und patriarchalen Strukturen sind unter ihnen gewiss gleichermassen präsent, wie in dieser Gesellschaft im Allgemeinen. In den vergangenen Jahren haben wir jedoch weltweit vermehrt Ausschaffungsknäste in Flammen aufgehen und Gefangene ausbrechen sehen, wir haben gesehen, wie die Sans-Papiers bei Ceuta und Melilla (Spanische Enklaven in Marokko) den Ansturm auf die stacheldrahtbespickten Zäune Europas autonom organisierten und wie sie (wie küzlich in Rosarno, Italien) auf den Strassen gegen ihre Versklavung revoltierten. All dies sind Gesten, in denen wir uns wiedererkennen. Handlungen, die zumindest in einer Situation und für einen Moment mit dem Zugriff der Herrschenden auf unsere Leben brechen; mit jener erdrückenden Normalität, die uns so alltäglich umgibt. Der Kampf gegen die Ausschaffungsmaschinerie ist nicht vom Kampf gegen jegliche Form von Herrschaft und Einschliessung zu trennen, denn das "Problem" der Papiere wird sich erst mit dem Ende aller Staaten und Grenzen auflösen. Solange noch irgendein Ausschaffungsknast aufrecht steht, wird dieser stets mit Migranten gefüllt sein - ob nun einige regularisiert wurden oder nicht. Und solange noch irgendeine Autorität die Freiheit der Menschen knechtet, wollen wir für das Ende all dessen kämpfen, was das freie Umherziehen und Entfalten der Individuen unterdrückt.

Was uns mit der Situation der Migranten verbinden mag, ist nicht das allgemeine Elend, sondern der Wille, es zu bekämpfen. Wir stehen den Unerwünschten nicht beiseite, wir sind sie.

Es ist noch immer Zeit, die Ketten der Angst und Resignation
zu durchbrechen...


*In verschiedenen Ländern existieren nationale Quoten, welche die Anzahl von Aufenthaltsbewilligungen genau regeln und Migration und Arbeit eng miteinander verbinden. Für das Jahr 2007 wurden in Italien z.B. 252‘000 ausländischen Arbeitskräfte (Je nach Land und Immigrationsabkommen) per Dekret festgelegt.

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Chronik:

Trotz polizeilicher und medialer Bemühungen gelangten einige Nachrichten über die schweigsamen Mauern der Knäste und Zentren für Migranten.

Wir erinnern an den Aufstand im Flughafengefängnis Kloten im März 08 und an jenen vom Sept. 07 im Bässlergut bei Basel, wobei zeitgleich mehrere Zellen in Brand gesteckt und ein beträchtlicher Teil des Knastes unbenutzbar gemacht wurde.

Leider halten weniger erfreuliche Nachrichten die Oberhand.

Immer wieder finden Ausschaffungsversuche mittels Prügel und Narkose statt (wie bei A. Konneth im März 09).

In der Polizeistation Kaserne (Zürich) versuchten sich zwischen März und Mai 09 drei abgewiesene Asylbewerber umzubringen, wobei sich einer von ihnen selbst anzündete.

Nachdem 2008 schon 2 Ausschaffungshäftlinge an Nichtbehandlung schwerer Tuberkulose starben, konnte im Feb. 09 der Tod eines 17 Jährigen Afrikaners durch tagelanges ignorieren einer Hirninfektion im Flughafengefängnis Kloten nur durch die Rebellion seiner Mitgefangenen verhindert werden.

Am 03. Okt. 09 wird in Bern ein 19 jähriger Gambianer von Polizisten unter rassistischen Beleidigungen verhaftet, blutiggeprügelt und nach 3 Tagen Notfallstation wieder freigelassen. Nur wenige solcher
Geschichten gelangen ans Licht.

Ein Asylsuchender ertrinkt im Basler Rhein, genau ein Jahr darauf (30.05.09) kommt ein Jugendlicher in Biel unter einen Zug, etwas später springt ein abgewiesener Ausländer im Tessin mehrere Stockwerke tief aus einem Parkhaus, in Winterthur wird jemand angeschossen, in Zürich ertrinkt ein Mann, sie alle flüchteten vor einer Polizeikontrolle.

Einige scheinen sich jedoch den Drang zu verspühren, sich gegen die Zustände zu wehren. Eine Liste von Ereignissen in diesem Zusammenhang:

01. April 2009 - Zürich
Die Scheiben einer Manpowerfiliale werden eingeschlagen. "Revolte!" steht an der Wand.

13. April 2009 - Zürich
Der Hauptsitz von Randstad (ebenfals eine Temporärarbeitsagentur) wird entglast.

1. Mai 2009 - Zürich
Die Scheiben der Manpowerfiliale gehen erneut zu Bruch.

03. Mai 2009 - Luzern
Securitas-Autos werden eingefärbt und ihre Pneus zerstochen.

Mai/Juni 2009 - Biel
Als Reaktion auf den auf der Flucht vor der Polizei verstorbenen Jugendlichen finden in Zürich und Biel drei spontane Demonstrationen statt. Polizeiposten werden mit Farbe beschädigt.

04. Juni 2009, Zürich
Die Scheiben eines Securiton-Autos [Kontroll- und Überwachungsfirma] werden eingeschlagen.

04. Juli 2009, Zürich
Ca. 100 Personen ziehen aus Reaktion über den in Biel verstorbenen durch den Kreis 4. Mit Farbe, Hämmern, Steinen und Feuer wird das Amt für Justizvollzug, ein Polizeiposten, Zivilbullen- und Luxusautos, eine ZKB und eine UBS Bank sowie der Securitas Hauptsitz angegriffen. Diese letzteren beteiligen sich umfänglich in Gefängnissen und Zentren für Migranten und an deren Ausschaffungen. "Wir haben uns diesen Tag genommen um einiges zurückzuzahlen [...]. Für all die Betroffenen der Polizeigewalt. Für all die Unterdrückten dieser sozialen Ordnung. Für die Kämpfenden und Gefangenen des sozialen Krieges."

08.Juli 2009 - Zürich
Das ORS-Büro wird mit Farbe beworfen. Ein Privatunternehmen das Zentren und Knäste für Migranten verwaltet.

16. Juli 2009
Das Migrationsamt von Luzern wird eingefärbt. und bei jenem in Zürich werden die Scheiben eingeschlagen. "Pour un monde sans papiers!" steht gross auf der Wand.

09.Sept. 2009 - Zürich
Die Scheiben des Büros vom Roten Kreuz werden eingeschlagen: "Gegen die Ausschaffungsmaschinerie und ihre Handlanger" steht am Boden.

29. Sept. 2009 - Zürich
Ein Protectas-Auto [Überwachungsfirma] wird in Brand gesteckt.

20. Okt. 2009- Zürich
Ein Brandsatz entfacht beim ORS-Gebäude und beschädigt den Eingangsbereich.

20. Okt. 2009 - Zürich
Erneut gehen mehrere Scheiben des Migrationsamtes zu Bruch. "Das Illegalisieren von Menschen kommt euch teuer zu stehen", ist zu lesen.

07. Dez. 2009 - Winterthur
Unter 2 SBB-Autos wird Feuer gelegt und "No JailTrain! no Jails!" hinterlassen. JailTrain ist ein von SBB und Securitas verwalteter Spezialzug für den Transport von Flüchtlingen und anderen Gefangenen.

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SQUAT ZH
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WoZ 11.3.10

Film

 Häuserbewegung

 Unter dem Titel "Allein machen sie dich ein" sind in der Zürcher Roten Fabrik an vier aufeinanderfolgenden Donnerstagen Filme und Dokumente zu sehen, die die wichtigsten Stationen der HausbesetzerInnenbewegung in der Stadt zeigen. Diese Aktivitäten waren eng an die Forderung nach einem selbstverwalteten Jugendhaus gekoppelt. Die Reise beginnt in den fünfziger Jahren, geht über das Globus-Provisorium beim Bahnhof, die Autonome Republik Bunker, die besetzten Häuser an der Venedigstrasse bis zu den Aktionen der Gruppe "Luft und Lärm" in den siebziger Jahren. Anfang der achtziger Jahre folgten das AJZ an der Limmatstrasse und die Krawalle um das Opernhaus, die auch die Umwandlung der Roten Fabrik in ein Kulturzentrum beschleunigten. Bald kamen die Forderungen nach günstigen Wohnungen und Räumen für alternative Lebensentwürfe dazu, wie sie sich etwa im Karthago am Stauffacher herauskristallisierten.

 Mischa Brutschin hat filmische und andere Materialien, die zwischen 1979 und 1994 - bis zu den Zeiten von Wohlgroth und Dreieck - geschaffen wurden, zu einem achtteiligen Zyklus gefügt, der auch als DVD-Box vorliegt. Inzwischen hat sich die Wohnungsnot in "Zureich" enorm verschärft, der Zyklus bietet also auch Anschauungsmaterial und Anregungen für zukünftige Aktionen. ibo

 "Allein machen sie dich ein" in: Zürich Rote Fabrik, Do, 11./18./25. März und 1. April, jeweils 20 Uhr. http://www.zureich.ch

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20 Minuten 11.3.10

Haus am edlen Zürichberg besetzt

 ZÜRICH. Am Zürichberg ist ein Haus an der Sonnenbergstrasse 83 besetzt: Seit zwei Wochen lebt dort eine Gruppe von rund 20 Zürchern im Alter von 2 bis 49 Jahren. "Günstiger Wohnraum ist knapp - wir finden es deshalb schlecht, wenn Wohnungen oder ganze Häuser einfach leer stehen", so Besetzer Sven. "Vor allem, wenn sie verfallen wie das besetzte ehemalige Bürogebäude am Zürichberg." Der Hauseigentümer hat den Besetzern ein Ultimatum gesetzt: Am Sonntag müssen sie die Liegenschaft verlassen. "Sonst drohen uns unangenehme Konsequenzen", sagt Sven.

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SCHNÜFFELSTAAT
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WoZ 11.3.10

Spanischer Bürgerkrieg

 Ein Brief, der nie ankam

Charles Fischer - Er war einer von 800 Freiwilligen aus der Schweiz, die gegen die drohende Diktatur von General Franco kämpften. Kurz vor seinem Tod 1937 hatte Fischer seiner Frau einen Brief geschrieben. Dieser landete direkt bei der Bundespolizei. Siebzig Jahre später entdeckt ihn die WOZ im Bundesarchiv.

 Von Ralph Hug

 "In dem Tal dort am Rio Jarama   / Schlugen wir unsre blutigste Schlacht. / Doch wir haben, auf Tod und Verderben, / Die Faschisten zum Stehen gebracht."
 "Jarama-Valley-Song"

 "Mein Vater ist gestorben, als ich 4 Jahre alt war", erzählt Charlotte Schärer-Fischer, die heute 77 Jahre alt ist und in Basel lebt. Sie hat nur ein undeutliches Bild von ihm im Gedächtnis. Klar war nur, dass er 1937 im Spanischen Bürgerkrieg umgekommen ist. Ihre Mutter Gertrud sprach nicht über seinen Tod. Sie hatte alle Hände voll zu tun, um als Alleinerziehende die drei Kinder durchzubringen. Es war Krise, viele waren arbeitslos, und am Horizont drohte bereits der Zweite Weltkrieg. Die Familie Fischer wohnte im aargauischen Dottikon, war arm und musste von der Fürsorge unterstützt werden.

 Der Tag, an dem er verschwand

 Es ist Samstag, der 9. Januar 1937, vormittags. Charles sagt, er gehe nach Zürich, um ein Velo zu kaufen. An der Bahnstation Dottikon löste er ein Billett "Zürich einfach". Als er am Abend nicht heimkehrt, stellt Gertrud fest, dass er einen Koffer mit Wäsche mitgenommen hat. Am Dienstag, als Charles immer noch nicht aufgetaucht ist, spricht Gertrud verzweifelt bei der Gemeindekanzlei vor: Ihr Mann sei weg, sie wisse nicht wohin. Er habe ihr vor dem Weggang noch fünf Franken gegeben. "Jetzt habe sie aber keinen Rappen mehr und sollte doch etwas haben für die Familie": So ist es im Rapport des Polizeibeamten Thut zu lesen, der den Vorfall untersuchen musste.

 Für den Polizisten war der Fall klar: Fischer war ein Kommunist, der "nicht arbeiten, dagegen gut leben wollte, beständig über Behörden u. Vorschriften schimpfte". Er sei "verduftet, um in Spanien an den Feindseligkeiten teilnehmen zu können". In Thuts Rapport spiegelt sich das negative Bild der SpanienkämpferInnen, die im Süden gegen General Francos Militärputsch antraten, um den Vormarsch des Faschismus zu stop pen - ein Bild, das in der schweizerischen Gesellschaft Jahrzehnte überdauern sollte.

Polizei und Strafverfolgern galt die anti faschistische Solidaritätsbewegung für die spanische Republik als gefährlicher Hort von StaatsfeindInnen. Die Bundesanwaltschaft setzte alles daran, Spanienfreiwillige an der Abreise zu hindern. Dies aufgrund von bundesrätlichen Erlassen, welche die Teilnahme an der Rettung der spanischen Republik aus Neutralitätsgründen verboten. Da sich vor allem die Kommunistische Partei (KP) und linke GewerkschafterInnen für Spanien engagierten, schien die Gelegenheit günstig, in diesem Hort der Unruhe aufzuräumen. Im Herbst 1936 nahm die Polizei auf Geheiss der Bundespolizei (Bupo) in Zürich und Basel zahlreiche Verdächtige fest, es kam zu Hausdurchsuchungen. Auch bei der Familie Fischer in Dottikon, wo die Polizei am 28. November 1936 anklopfte. Sie musste jedoch ohne Resultat wieder abziehen. Man habe keine Waffen und keine Munition gefunden, hiess es später nicht ohne Enttäuschung im Rapport. Die Polizei war tatsächlich im Glauben, es mit gefährlichen Umstürzler Innen zu tun zu haben.

 Charles Fischer war ein Kommunist. Ob er auch ein Parteimitglied war, ist nicht erwiesen. Jedenfalls glaubte er daran, dass eine Welt ohne Ausbeutung der ArbeiterInnen möglich sei. An jenem Samstag, als er die Familie verliess, ging er nicht zum Velohändler, sondern zu ParteigenossInnen, die sich wie er entschieden hatten, trotz Verbot am Spanischen Bürgerkrieg teilzunehmen. Wir wissen nicht, ob er in sich eine antifaschistische Pflicht fühlte wie manche, die in jenen Tagen nach Süden reisten. Oder ob er einfach dem Rat von KollegInnen folgte, denen er vertraute. Sicherlich aber stellte sich Charles Spanien als von der Natur gesegnetes Land vor, das ihm nach einem Sieg über Franco eine Chance auf eine neue, bessere Existenz bieten würde. Und das war es schliesslich, was im Leben zählt. Er sah seine Zukunft in einem utopischen Sehnsuchtsraum, für dessen Verwirklichung er bereit war, notfalls auch sein Leben einzusetzen.

 Tod am Rio Jarama

 Die Reise nach Süden führte Charles Fischer nicht ins Paradies, sondern in die Hölle des Bürgerkriegs. Im Januar/Februar 1937 tobte die Schlacht um Madrid. Nachdem Franco die Eroberung der Hauptstadt im ersten Ansturm misslungen war, suchte er den militärischen Erfolg durch eine Umklammerungstaktik. Dabei konnte er auf eine massive militärische Unterstützung durch seine faschistischen Verbündeten Mussolini und Hitler zählen. Es kam zu einer Reihe von berühmten Schlachten, deren Namen mit der Erinnerung an diesen Konflikt untrennbar verbunden sind: Jarama, Guadalajara, Brunete. "¡No "pasarán!" hiess die Parole - "Sie werden nicht durchkommen!" -, und sie schien sich im Wunder von Madrid, das während des ganzen Kriegs nie fiel, zu bestätigen.

 Charles kam am 18. Januar 1937 in Albacete an, dem Hauptquartier der Internationalen Brigaden. Wenig später wurde er an die Front abkommandiert, möglicherweise im reorganisierten Thälmann-Bataillon oder auch im Bataillon André Marty der XI. Internationalen Brigade. Vermutlich sah Charles die Front nur wenige Tage. Am 12. Februar 1937 traf ihn die tödliche Kugel am Rio Jarama, südöstlich von Madrid. Diese drei Wochen dauernde Schlacht war eine der mörderischsten im ganzen Bürgerkrieg. Sie kostete auf beiden Seiten das Leben Tausender und endete in einem militärischen Patt. Ein Hügel in exponierter Stellung bekam von englischen Brigadist Innen den Namen "Suicide Hill", weil er nur unter grössten Verlusten hatte erobert werden können. Eines der bekanntesten Lieder des Spanischen Bürgerkriegs, der "Jarama-Valley-Song", nimmt darauf Bezug.

 Charles war einer der rund sechzig Schweizer BrigadistInnen, die sich im Jarama-Tal den Francotruppen entgegenstellten. Und er war einer der rund 180 Landsleute, die nicht mehr in die Schweiz zurückkehrten und in spanischer Erde begraben wurden. Gertrud Fischer, Charles' Ehefrau, wusste, dass ihr Mann am Jarama das Leben verloren hatte. BrigadistInnen, die Ende 1938 heimkehrten, hatten es ihr berichtet. Ein unendliches Jahr lang lebte sie in der schrecklichen Ungewissheit, was mit Charles geschehen war. Sie hatte kein Lebenszeichen und keine Nachricht von ihm erhalten. Insgeheim hatte sie seinen Tod wohl geahnt. Vermutlich hatte sie in den Nächten nach seinem Weggang kaum geschlafen, gequält von Fragen und Zweifeln, weshalb Charles die Familie verlassen hatte, einfach so, ohne etwas zu sagen.

 Der Brief, den Charles aus Figueras an sie geschrieben hatte, hätte ihr Klarheit über seine Motive und sicher auch Erlösung von der quälenden Ungewissheit verschafft. Im Brief erklärt Charles seinen Entschluss, wegzugehen, sein Schweigen, seine innere Zerrissenheit und seine grosse Hoffnung auf eine neue Zukunft in einem von Ausbeutung befreiten Spanien (vgl. den Brief auf der rechten Seite). Er erzählt, wie er überwältigt war vom begeisterten Empfang durch die spanische Bevölkerung, welche die Brigadisten als Befreier feierte und ihnen überall zujubelte. Viele Freiwillige aus der Arbeiter Innenschicht hatten überhaupt das erste Mal in ihrem Leben das Gefühl, gebraucht und geschätzt zu werden. Möglicherweise hätte dies Gertruds Wut, Trauer und Verzweiflung etwas gemildert. Doch dies alles war nicht möglich, weil Gertrud den Brief gar nie in Händen hielt.

 Otto Gloor, der "Kommunistenfresser"

 Und das kam so: Charles hatte gleichzeitig einem Freund in Dottikon, dem Maler und Sozialisten Rinaldo Campi, eine Postkarte mit dem Text "Mein letzter Gruss, Charles" geschickt. Gertrud wusste davon und erzählte es auch dem Polizeibeamten Thut. Ein Fehler, wie sich bald herausstellen sollte: Der Polizei gelang es, Fischers Brief abzufangen. Er landete nicht bei der Empfängerin, sondern in den Akten des Zürcher Untersuchungsrichters Otto Gloor, und zwar im Original, in Handschrift und mit Bleistift geschrieben.

 Gloor war in Linkskreisen als fanatischer Ermittler und "Kommunistenfresser" bekannt. Er führte zahlreiche Ermittlungsverfahren gegen SpanienkämpferInnen. Damals glaubte er sich einer illegalen kommunistischen "Werbezentrale" auf der Spur, mit deren Hilfe viele Spanienfreiwillige nach Paris und Lyon geschleust würden. Er sah die einzigartige Gelegenheit gekommen, gleich die ganze KP-Spitze hinter Gitter zu bringen. Entsprechend gross waren der Aufwand und der Eifer, mit dem er die Ermittlungen im Auftrag der Bundesanwaltschaft vornahm. Gloors Anklageschrift gegen zahlreiche KP-Funktionäre, angeführt von Edgar Woog, ist über hundert Seiten lang. Nicht nur Gloor war scharf auf Post aus Spanien, sondern sämtliche Untersuchungsrichter, denn Postkarten und Briefe waren das beste Beweismittel, um SpanienkämpferInnen wegen verbotenen fremden Militärdiensts überführen zu können.

 Der Brief, den Gertrud nie zu Gesicht bekam, blieb in den Untersuchungsakten und lagert seither in einer Kartonbox im Schweizerischen Bundesarchiv in Bern. Charles Fischer wurde nie von der Militärjustiz angeklagt, vermutlich weil bekannt wurde, dass er in Spanien gefallen war. Doch niemandem kam es in den Sinn, den Brief nachträglich der Familie Fischer auszuhändigen oder wenigstens eine Kopie davon herzustellen, auch den Richtern des Divisionsgerichts 6 nicht. In vielen Spanienkämpferdossiers sind beschlagnahmte Originalbriefe oder Abschriften zu finden, die nie an die Empfänger Innen retourniert wurden. So skandalös dieser Umstand für die Betroffenen teils anmutet, so günstig wirkte er sich für die historische Forschung aus, denn diese Briefe sind wertvolle Quellen zur Rekonstruktion der Geschichte der Schweizer Spanienfreiwilligen.

 Die Tochter erinnert sich

 Bis vor einem Jahr lebte Charlotte Schärer-Fischer im Ungewissen über die genauen Motive ihres Vaters, am Spanischen Bürgerkrieg teilzunehmen. Im Zuge der Rehabilitierung der Schweizer SpanienkämpferInnen erfuhr sie schliesslich, dass ihr Vater der Familie noch einen Brief geschrieben hatte, und sie erkundigte sich dann bei der IG Spanienfreiwillige danach. Noch gut erinnert sie sich an das Engagement ihres Vaters für Benachteiligte, für die er sein letztes Hemd weggegeben hätte, und an die negativen Reaktionen auf seine politische Einstellung: "Die Nachbarn sagten uns, sie müssten sich ja schämen, dass unser Vater ein Kommunist war." Zu Hause in der Stube hing ein Porträt von Lenin. Als kleines Mädchen wusste sie nicht, wer das war.

 Charles Fischer wurde 1908 im französischen Nancy geboren, sein Vater war beruflich als Monteur von Webstühlen tätig und in dieser Funktion viel unterwegs. Das war wohl auch der Grund ­dafür, dass Charles nicht in der Schweiz zur Welt kam. Später trennten sich die Eltern, und Charles kam in die Heimatgemeinde Dottikon zu Pflege eltern, bei denen er aufwuchs. Er absolvierte eine Schreinerlehre, doch sagte ihm dieser Beruf nicht zu. Er, der in der Schule gute Noten hatte, hätte viel lieber stu dieren wollen, doch das war für jemanden aus der ArbeiterInnenschicht zu jener Zeit kaum möglich. Er war eingesperrt im proletarischen Milieu, blieb Hilfsarbeiter und unzufrieden. Schliesslich hörte er in Zürich von den Versprechungen der KP für eine bessere Zukunft der ­ArbeiterInnen. Das zog ihn an und weckte in ihm grosse Hoffnungen. Im Kreis der KommunistInnen fand er Kolleginnen und Freunde, sass mit ihnen zusammen und sprach abends beim Bier über seine Sorgen - zu dieser Zeit wohnte er an der Zurlindenstrasse in Wiedikon, einem damals bekannten KP-Quartier. Spanien war an den Stammtischen das politische Thema Nummer eins. Schon im August 1936, einen Monat nach Ausbruch des Bürgerkriegs, waren die ersten Zürcher KP-Leute nach Paris aufgebrochen. Bupo-Spitzel fingen sie jedoch am ­Bahnhof in Basel ab und steckten sie in das Lohnhof-Gefängnis. Später versuchten sie es wieder und kamen dann durch.

 Basler KP-Leute organisierten in den folgenden Monaten den heimlichen Transit von Hunderten von Freiwilligen aus Mittel- und Osteuropa, die von der Komintern mobilisiert worden waren, über die Grenze. Man traf sich mit Code worten an vereinbarten Treffpunkten, und ortskundige FührerInnen schleusten sie nachts über die grüne Grenze. Manchmal wurde auch ganz einfach das Tram nach Saint-Louis benutzt, eingeweihte Kondukteure schauten weg. Charles Fischer hatte dank eines Passes keine Grenzprobleme und benutzte den Zug via Lyon nach Südfrankreich, wo ganze Waggonladungen mit Brigadist Innen in Perpignan gesammelt und dann mit Camions oder zu Fuss über die Pyrenäengrenze ins spanische Figueras gebracht wurden. Dort wurden sie in der Festung Sant Ferran gemustert und dann weiter per Bahn ins Hauptquartier nach Albacete gebracht. Aus Figueras stammte die Karte, die Charles an seinen italienischen Freund Rinaldo Campi gesandt hatte. Und auch der Brief an Gertrud, seine Frau, die er nie mehr wiedersehen sollte.

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 Ralph Hug ist zusammen mit Peter Huber Autor des Handbuchs "Die Schweizer Spanienfreiwilligen", das im März 2009 im Rotpunktverlag erschienen ist - kurz bevor die Schweizer Spanienfreiwilligen endlich rehabilitiert wurden (siehe WOZ Nr. 11/09). In 700 Kurzbiografien wird anhand des um-fangreichen Aktenmaterials aus Moskauer und Schweizer Archiven das soziale und politische Profil der rund 800 freiwilligen KämpferInnen rekonstruiert. www.rotpunktverlag.ch

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 Meine liebe Frau u. liebe Kinder!

 Nun bin ich seit gestern abend in Spanien. Wir sind sehr viele neue Freiwillige aus allen Ländern. Von der Schweiz ist einer noch von Basel u. einer von Lau­sanne u. einer vom Tessin hier. Ich habe am Samstag in Basel die Grenze via Mühlhausen mit der Bahn passiert u. bin dann von dort nach Lyon gefahren mit dem Nachtzug. Von dort sind wir dann ein Tag später weitergefahren bis bereits an die Grenze. Von dort aus sind wir in Auto-Cars über die Grenze bis hier etwa 60 km von der Grenze geführt worden. Diese Ortschaft gehört zu Katalonien. Hier sind wir in der Festung und haben bis morgen frei, dann gehen wir weiter an die Front nach Barcelona oder Madrid. Du hättest diese Begeisterung sehen sollen, als wir unter dem Gesang der Internationale durch die Dörfer u. Städte gefahren sind. Die Kinder u. Erwachsene begrüssten uns mit erhobener Faust u. mit einem Lärm u. mit Rufen. Wenn du dies gesehen hättest, dann könntest du auch unsere Begeisterung begreifen u. dann bist auch du überzeugt von unserem Siege über die Francos. [...]

 Es reut mich gar nicht, dass ich diesen Schritt getan habe. Im Gegen teil, meine Überzeugung u. mein Kampfesmut ist ins unermessliche gestiegen. Es hat noch viele verheiratete Familienväter hier, u. alle denken gleich wie ich.

 Nun meine liebe Frau will ich dir schreiben, warum ich von Dir fort ging. Ich weiss, dass Du noch zu ehrlich bist u. Dir u. meinen Kindern zuliebe habe ich so gehandelt. Bestimmt hättest du der Polizei Und wenn ich Dich gesehen hätte weinen, so hätte dies mich an meinem Vorhaben geschwächt. Begreife mich also u. weine nicht nach mir. Es geht mir gut u. noch nie war ich so glücklich - Ich bleibe Dir treu u. vergesse auch nicht, dass ich verheiratet bin. Ich werde das Versprechen, das ich Dir gegeben habe, halten. Das heisst, Du kannst nach dem Siege zu mir kommen, wenn ich nicht für die Sache falle. [...]

 Ich küsse Dich, küsse mir die kl. Kinder

 Charli

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GIPFEL-SOLI
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WoZ 11.3.10

Italien

 Sanfte Strafen

 Der G8-Gipfel vom Juli 2001 in Genua blieb vor allem wegen der schweren Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Globalisierungskritikerinnen in der Erinnerung haften. Mehr als 250 Gipfelgegner wurden damals mindestens drei Tage in der Haftanstalt Bolzaneto festgehalten und dabei nach eigenen Aussagen sys tematisch misshandelt. Polizistinnen und Gefängniswärter prügelten unter anderem mit Schlagstöcken auf die Verhafteten ein und liessen sie stundenlang mit erhobenen Händen an der Wand stehen. Auch das Sanitätspersonal beteiligte sich an den Misshandlungen und vernachlässigte die ärztliche Versorgung.

 Am letzten Freitag, fast neun Jahre später, hat ein Berufungsgericht in Genua in zweiter Instanz die Vorwürfe der Verhafteten als korrekt angesehen und die Schuld von 44 Angeklagten festgestellt. Dennoch verurteilte das Gericht nur 7 Angeklagte zu Haftstrafen zwischen zwölf Monaten und drei Jahren. Die Straftaten der übrigen gelten mittlerweile als verjährt. Die Entschädigungssumme an die Opfer (die Tageszeitung "La Repubblica" spricht von fünfzehn Millionen Euro) übernimmt der Staat.  
Jan Jirát

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ANTI-ATOM
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WoZ 11.3.10

Atommüll

 Aggressives Wasser

 Die Nationale Genossenschaft für die Endlagerung radioaktiver Abfälle (Nag ra) hat zwischen Olten und Schaffhausen vier Gebiete ausgewählt, die sie für geeignet hält, um dort Atommüll zu vergraben. Das Eidgenössische Nuklear sicherheitsinspektorat (Ensi) hat Ende Februar ein Gutachten zu den Nagra-Vorschlägen publiziert und die Auswahl der Standorte als "fachlich fundiert" bezeichnet. Auch die Kommission für nukleare Entsorgung (KNE) hat die Nagra-Vorschläge begutachtet und erteilt ihr ebenfalls gute Noten, macht aber einige kritische Anmerkungen. So hält die KNE zum Beispiel fest, das Ausbaukonzept des geplanten Lagers müsse noch genauer spezifiziert werden.

 Welche Unannehmlichkeiten auftauchen, wenn man beginnt, sich das Endlager konkret vorzustellen, lässt sich im Felslabor Mont Terri verfolgen. Da erfährt man zum Beispiel, dass das Tongestein Salzwasser enthält. Das Salzwasser wird die stählernen Atommüllbehälter zerfressen, und dabei entsteht hochexplosives Gas. Noch weiss niemand, wie dieses Problem zu lösen ist. sb

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Atommüll

Der Berg tut nie, was man von ihm erwartet

 Endlagersuche in der Schweiz-Die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) möchte den strahlenden Müll im Mittelland in einer Tonschicht vergraben. Theoretisch eine nachvollziehbare Idee - praktisch eine Lösung, die viele unangenehme Überraschungen bereithält. Ein Besuch im Versuchslabor Mont Terri.

 Von Susan Boos (Text) und Ursula Häne (Fotos)

 In diesem Gestein, das aussieht wie Schiefer und im Hügel hinter Saint- Ursanne zu finden ist, lebt es: ein kleines Bakterium, wild entschlossen, zu existieren - auch ohne Luft und ohne Licht. Ein französischer Wissenschaftler hat die Spezies im Felslabor Mont Terri entdeckt. Das Labor widmet sich exklusiv dem weichen, grauschwarzen Opalinuston, in den man den Schweizer Atommüll versenken möchte. Allerdings nicht in den Hügeln des Kantons Jura, da wird der Ton nur erkundet.

 Eigentlich waren die Wissenschaftler Innen überzeugt, im Opalinuston kein Leben zu finden. Bakterien sind zwar klein, aber die Poren des Opalinustons sind noch viel kleiner. Bakterien haben gar keinen Platz, um darin zu überleben, sagten sich die WissenschaftlerInnen.

 Trotzdem behaupten sich diese Bakterien seit Jahrmillionen am garstigen Ort, der entstanden ist, als die Gegend noch flach war und auf dem Grund eines Meeres lag. Zu jener Zeit war es kühl und feucht. Der Regen schwemmte Gesteinsschlamm ins Meer, wo er liegen blieb. Mit ihm Ammoniten, kleine Kraken, die wie Schnecken ein Haus herumtrugen. Noch heute findet man die Häuser der filigranen Kopffüssler im Gestein, und sie erzählen, wie alt der Ton ist: 180 Millionen Jahre, auf eine Million Jahre genau.

 Der Fund der Bakterien war eine Sensation. So ist die Welt unter unseren Füssen, immer gut für eine Überraschung. Derweil man in diesem Gestein auf Sensationen gerne verzichten würde. Der Opalinuston sollte berechenbar und zuverlässig sein wie der Sternenhimmel, immer gleich für Tausende von Jahren, damit man getrost den lange strahlenden Atommüll darin versorgen kann. Doch welches Ungemach in der Praxis droht, lässt sich im Mont Terri beobachten.

 Swisstopo statt Nagra

 Paul Bossart empfängt in der alten Kalkfabrik, gleich neben dem Bahnhof von Saint-Ursanne. Bossart ist Geologe und Direktor des Mont-Terri-Projekts. Fast als Erstes sagt er: "Wir sind neutral!" Er ist bei Swisstopo angestellt, dem Bundesamt, das unter anderem die wunderbaren Schweizer Wanderkarten produziert. Bossarts Lohn kommt also vom Bund, nicht von der Nationalen Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra).

 Der Mont Terri gehört dem Kanton Jura, und damit gehört ihm auch das Versuchslabor im Berg. Die Nagra hätte es gerne übernommen, doch das wollte die jurassische Regierung nicht. Sie verlangte, eine unabhängige Instanz müsse das Labor leiten, und deshalb hat jetzt Swiss topo dort das Sagen. Es koordiniert die rund vierzig Projekte, die die verschiedenen Organisationen im Mont Terri am Laufen haben - mit dabei die Nagra, die französischen, spanischen und kanadischen Pendants der Nagra sowie verschiedene in- und ausländische Atomaufsichts­behörden oder Forschungsinstitute.

 Bossart ist schon lange dabei und kennt den Berg. Opalinuston sei im Mittelland und im nördlichen Teil der Schweiz, aber auch im Süden Deutschlands zu finden, sagt Bossart - nur ist er nicht überall so leicht zugänglich wie im Mont Terri. Es gebe ihn auch in Bern, sagt Bossart: "Dort liegt er in etwa 3000 Metern Tiefe, wo man eine Temperatur von annähernd hundert Grad hat - da lässt sich kein Endlager bauen."

 Bossart nimmt Bohrkerne vom Gestell, graue Steinzylinder, die zeigen, was den Opalinuston ausmacht: Er hat die Fähigkeit, Risse wieder selber zu verschliessen. Anders als Granit, wo ein Riss ewig ein Riss bleibt. Risse sind unangenehm in einem Endlager, denn wo sich Risse öffnen, dringt Wasser ein. Und das ist schlecht, sehr schlecht, weil das Wasser die Radionuklide nach draussen tragen kann.

 Meerwasser im Berg

 Doch der Opalinuston ist dicht, da geht kein Wasser durch. Deshalb scheint er perfekt für Atommüll. Die Idealvorstellung sieht wie folgt aus: Man packt den strahlenden Abfall in weichen Ton, der schmiegt sich lückenlos um die radio aktive Fracht, packt sie wasserdicht ab und hält sie über Jahrmillionen von der Umwelt fern.

 So viel zur Theorie. Das Unangenehme ist nur: Der Ton enthält selber Wasser, 180 Millionen Jahre altes, salziges Meerwasser. Das Wasser ist noch da, doch die Hälfte der Stoffe, die im Meerwasser drin waren, sind weg. "Hinausdiffundiert", sagt Bossart. Simpel ausgedrückt, die Stoffe sind rausgewandert. Am Mont Terri hat dieser Prozess vor zirka sechs Millionen Jahren begonnen, als das Juragebirge aufgefaltet wurde.

 Die Radionuklide würden auch irgendwann rausdiffundieren, sagt Bossart, "nach spätestens 100 000 Jahren, wenn die Behälter durchgerostet sind, dürfte dies beginnen".

 100 000 Jahre sind eine lange Zeit. Doch die Stoffe, die in einem Atommülllager enden, sind für die Ewigkeit gemacht. Das bekannte, hochgiftige Plutonium-239 hat eine Halbwertszeit von 24 000 Jahren. Plutonium kommt aber nicht weit, weil es an den Tonpartikeln hängen bleibt. Anders ist es mit Jod-129, das irgendwann reichlich im Endlager zu finden sein wird und eine Halbwertszeit von fünfzehn Millionen Jahren hat. Ein Stoff, der sehr reisefreudig ist, weil er sich nicht gern mit dem Ton verbindet.

 Die Partizipationsmaschine

 Der Bund will diesmal nicht dieselben Fehler machen wie am Wellenberg (vgl. Text "Die Nagra und der Entsorgungsnachweis"). Heute nimmt man die Bevölkerung ernst, was es nicht einfacher macht. Das Bundesamt für Energie (BFE) hat ein breit angelegtes Partizipationsverfahren entwickelt. Alle Gemeinden, die in den auserwählten Standortgebieten liegen, sollen einbezogen werden. Das sind über 160 Gemeinden, auch die deutschen Grenzgemeinden dürfen mitmachen.

 In den sechs Standortregionen sind zudem Geschäftsstellen geplant, welche die Partizipation organisieren werden. Man ist darauf bedacht, alle relevanten Gruppierungen zu involvieren und anzuhören - die Bäuerinnen genauso wie die Kleingewerbler oder die EndlagergegnerInnen.

 Es ist ein höchst komplexes Gebilde, das da heranwächst. Der Prozess dürfte   - so rechnet das BFE - in den ers ten beiden Etappen, bis zur definitiven Auswahl des Lagerstandortes, etwa 28 Millio nen Franken kosten. Das meiste davon werde man der Nagra verrechnen, sagt Michael Aeber sold, der beim BFE für das Verfahren zuständig ist. Noch nie habe es irgendwo auf der Welt bei der Suche nach einem Endlagerstandort ein so breites Partizipationsverfahren gegeben.

 Jean-Jacques Fasnacht, Arzt in Benken, nennt das Partizipationsverfahren "Scheindemokratie". Seit den neunziger Jahren kämpft Fasnacht gegen die Nagra-Pläne im Zürcher Weinland. "Wir müssen uns wirklich sehr gut überlegen, ob wir bei diesem Verfahren überhaupt mitmachen wollen", sagt er. Fasnacht fürchtet, der Widerstand könnte vereinnahmt und pulverisiert werden. Vor allem kritisiert er, dass "das Verfahren nicht ergebnisoffen" sei: "Sie kommen mit einem Endlagermodell, das nicht mehr zeitgemäss ist. Doch das Modell selbst steht gar nicht mehr zur Debatte."

 Damit hat er recht, die Maschine läuft: Das Auswahlverfahren dürfte etwa zehn Jahre dauern. Danach wird der Bund der Nagra eine Rahmenbewilligung erteilen. Dagegen kann das Referendum ergriffen werden. Allerdings wird die ganze Schweiz darüber abstimmen - die betroffene Region hat, so sieht es das Kernenergiegesetz vor, heute kein Vetorecht mehr. Den ZürcherInnen wird es nichts nützen, wenn sie das Lager ablehnen, aber alle andern im Land glauben, im Weinland sei der Atommüll gut aufgehoben.

 Das Gas im Fels

 Frühestens 2030 dürfte das Lager für die schwach- und mittelaktiven Abfälle bereitstehen, frühestes 2040 wird das Hochaktivlager den Betrieb aufnehmen. Nach fünfzig oder hundert Jahren werden dann die Lager verschlossen und sich selber überlassen. So ist der Plan.

 Unten im Tal glitzert der Doubs. Oben, an den Abhängen des Mont Terri, klaffen grosse Löcher. Sie zeugen von der Zeit, als Kalk abgebaut wurde. Später fand man, die Kavernen wären ein praktischer Ort, um Müll verschwinden zu lassen. Nach turbulenten Protesten von UmweltschützerInnen liess der Kanton Jura die Deponie Ende der neunziger Jahre sanieren. 8000 Tonnen Sondermüll mussten rausgeholt werden, ein teures Unterfangen.

 Das letzte Loch am Hang führt indes in den Jurahügel hinein, rein ins Felslabor. Drinnen sind die Stollen hell ausgeleuchtet. In den Nischen stehen technische Utensilien für die unterschiedlichsten Versuche. Zwei junge Männer montieren an der Decke eine Art Schlauch, der in den Fels hineingeht. Hier werde untersucht, wie sich das Gas im Ton verhalte, sagt Bossart. Denn das Gas macht Sorgen, obwohl es eigentlich gar kein Gas hat im Opalinuston.

 Die Nagra möchte den Atommüll einmal in grossen Stahlbehältern im Ton einlagern. Das Meerwasser im Ton ist jedoch nicht nur salzig, sondern auch aggressiv. Früher oder später wird es mit den Stahltanks in Berührung kommen. Der Stahl wird oxidieren, dabei entsteht Wasserstoff, ein hochexplosives Gas. Paul Bossart sagt, Wasserstoff sei ein seltsames Gas, "wenn es sich ausdehnt, wird es wärmer, anders als bei allen anderen Gasen".

 Vor diesem Gas hat man Respekt. Wie verhält es sich? Wird der Gasdruck den Ton aufsprengen? Werden Risse entstehen, die das Lager undicht machen? Es wäre klüger, keine Stahlbehälter im Ton einzulagern, sagt Bossart. Kupfer sei auch nicht viel besser. Manche würden Keramikschäume empfehlen: "Doch bei einem Erdbeben kann das Keramik zerbrechen, und die Radionuklide würden austreten." Da brauche es noch viel Materialforschung, um den geeigneten Behälter zu finden. Er sei gar nicht sicher, ob es das richtige Material überhaupt gebe, sagt Bossart nachdenklich.

 Die fehlende Glaubwürdigkeit

 Marcos Buser ist ein alter Profi. Ende der achtziger Jahre schrieb der Geologe für die Schweizerische Energie-Stiftung das legendäre Buch "Mythos Gewähr". Detailliert hat Buser darin aufgezeigt, wie der Bund seine eigenen Rechtsgrundlagen zurechtbog, um kein Atomkraftwerk abstellen zu müssen, obgleich die Atommüllfrage nicht gelöst war.

 Heute schaut Buser im Auftrag der jurassischen Regierung im Mont Terri zum Rechten. Er kam zu dieser Aufgabe, weil er für den Kanton Jura die Sondermülldeponien von Saint-Ursanne und von Bonfol (für welche die Basler Chemie verantwortlich war) saniert hat.

 Zudem sitzt er in der Kommission für nukleare Sicherheit (KNS), die den Bundesrat in Atomfragen berät.

 Buser sagt, geologisch gesehen sei der Opalinuston sicher der beste Ort, um in der Schweiz ein Endlager zu bauen. Er sagt aber auch, dass am Projekt der Nagra noch vieles unklar und nicht zu Ende gedacht sei. Zum Beispiel will die Nagra eine etwa fünf Kilometer lange Rampe bauen, um mit grossen Fahrzeugen ins Endlager zu fahren. Buser hält das für eine höchst problematische Idee. Dadurch würden diverse Wasser führende Gesteinsschichten durchquert, womit ein Wasserpfad direkt ins Endlager gelangen werde. Das Letzte, was man brauchen kann.

 Viel klüger wäre es, senkrechte Schächte zu bauen, um den Untergrund möglichst nicht zu stören. Die Nagra gedenke, fünf Meter lange und bis zu dreissig Tonnen schwere abgebrannte Brenn elemente in den Stollen einzulagern. "Das wird nie funktionieren!", prognostiziert Buser, "so grosse, schwere Kanis­ter bekommt man ohne Sicherheitsprobleme nie in das Endlager rein. Da muss man über die Bücher."

 Das Hauptproblem sei jedoch ein ganz anderes: "Die Nagra ist zuständig für die Forschung. Sie ist finan ziell von den AKW-Betreibern abhängig. Diese müssen zwar regelmässig Geld in den Stilllegungs- und Entsorgungsfonds einlegen - dieser Fonds wird aber erst für den Bau und den Betrieb des Endlagers eingesetzt." Forschung, die heute vielleicht sinnvoll, aber teuer sei, werde verpasst, weil die Betreiber kein Interesse haben, mehr Geld als unbedingt nötig auszugeben. "Das Verursacherprinzip ist bei radioaktiven Abfällen ein fundamentaler Konstruktionsfehler: Es geht um Gefahren zeiträume von Tausenden von Jahren - da müsste eine unabhängige Instanz für die Entwicklung des End lagerkonzeptes zuständig sein. Und nicht Werke, die in erster Linie Strom für die Gegenwart produzieren müssen, aber eben auch langlebigen Abfall hinterlassen. In hundert Jahren sind die Verursacher nicht mehr da."

 Am Ende sagt er noch: "Wir stecken in einem ausserordentlichen Experiment. Einem Experiment, das es noch nie gegeben hat - und die Experimentatoren, die es in Gang setzen, werden nie erfahren, wie es ausgeht."

 Der Ton mag keinen Beton

 Bossart steht mitten im Mont-Terri-Felslabor und sagt wie Buser: Man dürfe den Ton möglichst nicht stören, wenn man sichergehen wolle, dass er die Radio nuklide einmal über lange Zeit sicher verwahre. Doch schon Zement reicht, um den Ton aus dem Gleichgewicht zu bringen.

 "Opalinuston mag keinen Beton", sagt Bossart. Beton enthält Zement und ist viel basischer als der Ton. Die Wände des Felslabors sind mit Spritzbeton abgedeckt, um sie stabiler zu machen. Denn jede Öffnung im Opalinuston wächst langsam zu. Die Tunnels im Felslabor wären nach hundert Jahren verschwunden, würde man die Wände nicht verstärken. Teile des Endlagers sollen einmal über Jahrzehnte offen bleiben, man wird also auch dort die Wände verstärken müssen.

 In einer der Nischen im Mont-Terri-Stollen läuft ein Betonversuch. Hier würden sie ausprobieren, ob es Betonsorten gebe, die weniger basisch seien und sich besser mit dem Ton vertragen würden, sagt Bossart. Aber er zweifelt, ob sich ein solcher Beton finden lässt.

 Beton würde die Chemie im Endlager für immer verändern. Das sei riskant, sagt Bossart, weil sich manche Radio nuklide in einer anderen chemischen Umgebung anders verhalten würden. Manche, die nicht wasserlöslich waren, werden es plötzlich. Eine ungemütliche Vorstellung in einem Endlager.

 Deshalb wird man im Endlager keinen Beton einsetzen dürfen. Es braucht eine andere Lösung, vielleicht mit Eisengittern, die man an den Wänden verankern könne, sagt Bossart. Bevor das Lager verschlossen würde, müsse aber alles Eisen aus den Stollen entfernt werden, wegen des Gases, das sonst entstehe.

 Und da sind sie wieder, die Unwegbarkeiten, die der Untergrund stets bereithält. Bislang hat die real existierende Geo logie am Ende noch jede hübsch gedachte Endlagerlösung vermasselt. Jüngstes Beispiel ist das Prestigeprojekt Yucca Mountain, das die US-Regierung Anfang Februar definitiv aufgeben musste, weil sich der Berg nicht an die Vorstellungen der Endlagersucher gehalten hat und nass war, wo er trocken sein sollte.

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 Die Nagra und der Entsorgungsnachweis

 Seit 1972 sucht die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) nach einem geeigneten Lagerstandort. Die Nagra gehört den AKW-Betreibern, weil diese laut Kernenergiegesetz verpflichtet sind, die "radioaktiven Abfälle auf eigene Kosten sicher zu entsorgen", und zwar in einem "geologischen Tiefenlager", also irgendwo im Untergrund.

 Die Nagra ging am Anfang dilettantisch vor, suchte vor allem im Granit, stiess überall auf Widerstand. Sie war wegen des "Projekts Gewähr" unter Druck, das verlangte, bis 1985 müsse nachgewiesen sein, dass sich der Atommüll sicher entsorgen lasse, sonst würden die bestehenden Atomkraftwerke vom Netz genommen. Den Entsorgungsnachweis blieb die Nagra schuldig, doch kein AKW wurde abgestellt.

 1986 favorisierte die Nagra den Wellenberg im Kanton Nidwalden als Standort für schwach- und mittelaktiven Abfall. Die Bevölkerung wehrte sich und lehnte im Jahr 2000 das Projekt an der Urne definitiv ab.

 Parallel dazu hatte die Nagra im Zürcher Weinland das "Projekt Opalinuston" vorangetrieben. Hier gedachte sie, ein Lager für hochaktiven Müll zu bauen. Sie reichte beim Bund ein entsprechendes Projekt ein. Dieser entschied, damit sei nun der Entsorgungsnachweis erbracht. Aber er verlangte, die Nagra müsse noch weitere Standorte evaluieren. So stehen heute sechs Standorte zur Diskussion: Neben dem Zürcher Weinland das Gebiet nördliche Lägern und der Bözberg - die drei sollen geeignet sein für ein Hoch- wie für ein S ch wach- und Mittelaktiv-Lager, alle drei kämen im Opalinuston zu liegen. Daneben gibt es noch drei Standorte, die sich lediglich für ein Schwach- und Mittelaktiv- Lager eignen sollen: der Jurasüdfuss, der südliche Randen (beide im Opalinuston) sowie der Wellenberg (im Mergel).

 Der sogenannte Entsorgungsnachweis besagt, theoretisch lasse sich im Opalinuston ein Endlager bauen - die Forschung im Mont Terri zeigt aber, dass es in der praktischen Umsetzung noch viele schwerwiegende Probleme gibt, bei denen es noch völlig unklar ist, ob sie sich überhaupt lösen lassen. sb

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WoZ 11.3.10

Neue AKWs - Die russische Atomindustrie will massiv expandieren - nach Europa, in den Fernen Osten und in die Arktis. Das in Kaliningrad geplante AKW ist ein erster Schritt.

 Putins Atomoffensive

 Von Ulrich Heyden, Moskau

 Neman ist eine Kleinstadt in der russischen Ostsee-Exklave Kaliningrad. Bisher lag der 12 000-EinwohnerInnen-Ort am Südufer der Memel abseits der internationalen Politik. Doch das könnte sich nun ändern. Denn vor zwei Wochen legte man hier den Grundstein für ein neues russisches Atomkraftwerk, für das Rosatom - der staatliche russische Atomkonzern - europäische ­Unternehmen als Investoren gewinnen will. Im Gespräch ist dabei vor allem der deutsche Siemens-Konzern.

 Das "baltische Atomkraftwerk" - so der offizielle Arbeitstitel für den neuen Atommeiler - soll ab dem Jahr 2016 die baltischen Staaten sowie Schweden, Polen und Deutschland mit Strom versorgen. Geplant sind zwei WWER-Druckwasserreaktoren mit einer Gesamtleistung von 2300 Megawatt. Ausschlaggebend für die Standortwahl waren zwei Überlegungen: Einerseits unterstreicht der Kreml bei jeder Gelegenheit die Zugehörigkeit des von den EU-Staaten Polen und Litauen umgebenen Kaliningrad zur Russischen Föderation und hat im dortigen Hafen einen Teil der russischen Ostseeflotte stationiert. Andererseits aber will Russ land die Exklave verstärkt als Brückenkopf für Stromlieferungen nach Europa nutzen.

 Ein Geheimpapier

Durch die Abschaltung des litauischen Atomkraftwerks Ignalina Ende 2009 - ein AKW vom Tschernobyl-Typ - sei in der Region eine Energie lücke entstanden. Mit diesen Worten begründete Rosatom-Chef Sergei Kirijenko den Bau des neuen Meilers. Die Regierung in Vilnius plant zwar mit Polen und den baltischen Nachbarstaaten Lettland und Estland ein neues AKW. Doch momentan fehlt den Regierungen das Geld dafür. Nach Meinung von ExpertInnen wird es jedenfalls frühestens 2020 fertig sein. Und so prescht Russland nun vor.

 Rosatom, das das Neman-Projekt zu 51 Prozent kontrollieren wird, plant sogar schon Stromleitungen in die europäischen Nachbarländer. Das geht aus einem Geheimpapier des russischen Stromexporteurs Inter Rao Ees - eine Rosatom-Tochter - hervor, das der russischen Umweltorganisation Ekosaschita aus der Gebietsregierung von Kaliningrad zugespielt wurde.

 Kaliningrads Gouverneur Georgi Boos verspricht sich vom AKW-Projekt einen Prestigezuwachs. Er stellt neue Arbeitsplätze in Aussicht und mehr Steuereinnahmen für die wirtschaftlich vernachlässigte Region. Ob die Hoffnungen des Gouverneurs in Erfüllung gehen, ist jedoch zu bezweifeln - nach einer Umfrage des Soziologischen Zentrums von Kaliningrad lehnen 67 Prozent der lokalen Bevölkerung das AKW-Projekt ab. Im Herbst letzten Jahres kam es in der Stadt Sowjetsk, nicht weit vom Bauplatz, zu einer ersten Kundgebung von AtomkaftgegnerInnen. Das Energiedefizit des Gebiets könne auch mit dem Neubau von Gas- und Torfkraftwerken gedeckt werden, sagen die KritikerInnen.

 Siemens drängt nach Osten

 Boos ist auf Erfolge dringend angewiesen. In Kaliningrad reissen Grossdemonstrationen gegen die soziale Not nicht ab. Ende Januar demonstrierten Zehntausende gegen Steuererhöhungen und steigende Wohnkosten. Anfang März gab es eine zweite Demonstration in der Stadt Tschernjachowska mit 5000 TeilnehmerInnen, und für den 20. März ist in Kaliningrad schon die nächs te Grosskundgebung geplant.

 Sollte Siemens zum Zug kommen, hätte zum ersten Mal seit Ende des Zweiten Weltkriegs ein deutsches Unternehmen Einfluss im ehemals deutschen Ostpreussen gewonnen. Siemens drängt seit langem auf die osteuropäischen Märkte. Anfang 2009 hatte der Konzern seinen Ausstieg aus dem deutsch-französischen Atomkraftkonzern Areva bekannt gegeben und eine Kooperation mit Rosatom angekündigt. Der Kreml ist schon länger in Kontakt mit dem Grossunternehmen: Nach einem Treffen zwischen Ministerpräsident Wladimir Putin und Siemens-Chef Peter Löscher unterzeichneten Ros a tom und Siemens im März 2009 eine Absichtserklärung über die Gründung eines Gemeinschaftsunternehmens. Es soll "die Entwicklung der russischen Druckwasserreaktor-Technologie weiter vorantreiben", hiess es in einer Pressemitteilung. Besonders verlockend für Siemens sind Rosatoms Erfahrungen auf dem Gebiet des Brennstoffkreislaufs. Mit diesem Partner will Siemens den Weltmarkt erschliessen. Bis 2030 müssten weltweit 400 neue AKWs gebaut werden, argumentierten die beiden Konzerne in einer gemeinsamen Erklärung. Allein 26 davon will Rosatom in Russland errichten; sieben Reaktoren sind zurzeit im Bau.

 Schwimmende AKWs

 Momentan arbeiten in Russland zehn Atomkraftwerke mit insgesamt dreissig Reaktoren. Nach der Tschernobyl-Katastrophe und wegen des Wirtschaftschaos unter Boris Jelzin wurde in Russ land bis 2001 kein neues AKW gebaut. Das änderte sich unter Putin, der den Atomstromanteil von 16 auf 25 Prozent erhöhen will. Seither wurden zwei neue Reaktorblöcke der Atomkraftwerke Wolgodonsk (Rostow) und Kalininskaja (bei Moskau) in Betrieb genommen.

 Das Staatsunternehmen Rosatom plant nicht nur herkömmliche AKWs. 2013 soll das erste schwimmende AKW vor Kamtschatka ganz im Osten Russ lands in Betrieb gehen. Die schwimmende Plattform von 144 Metern Länge und 30 Metern Breite, auf der zwei 35-Megawatt-Reaktoren installiert werden, liegt zurzeit in der St. Petersburger Werft Baltiskij Sawod auf Kiel.

 China, Thailand, Südkorea und Indonesien haben bereits Interesse an Russlands schwimmenden AKW bekundet. Für den russischen Bedarf will Rosatom-Chef Kirijenko zehn solcher AKWs ordern. Sie sollen entlang der russischen Nordküste stationiert werden und den Strom für die Ausbeutung arktischer Rohstoffe (vor allem Öl und Gas) liefern.