MEDIENSPIEGEL 12.5.10
(Online-Archiv: http://www.reitschule.ch/reitschule/mediengruppe/index.html)

Heute im Medienspiegel:
- Reitschule-Kulturtipps (DS, Kino)
- Neues Rössli im Kulturkarussel
- Demorecht BE: Gegen den Entfernungsartikel
- Stadttauben: Bürgerliche Kampagne gegen Parzelle 313
- Lärmklagen: FDP will runden Tisch für "National"
- RaBe-Info 12.5.10
- Libertäre Buchmesse Biel 14.-16.5.10
- Kulturoffensive LU: Volksmotionen eingereicht
- 1. Mai Zug: Tamilischen Jugendverein ausgeschossen
- Zureich: 22 Häuser besetzt
- Autonome Schule ZH: Demo gegen Verhaftung Kursleiter
- Gefangene ZH: 1 frei, 2 noch drin
- Knast VD: Skander Vogts Tod beschäftigt Behörden
- Bäckeranlage ZH: Pingpong für alle, sonst...
- YB-Ultras: Der "Bund" in der D-Kurve; Keine Auffahrt-Freinacht
- Big Brother Sport: 860 Einträge in Hoogan
- Vor der WM: Repression in Südafrika
- Zwischengeschlecht: Portrait eines/-r Intersexuellen
- Nationalsozialismus: Biographie Sophie Scholl; Adolf Eichmann

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REITSCHULE
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Mi 12.05.10
19.00 Uhr - SousLePont - Was der Bauer nicht kennt... Spezialitäten
21.00 Uhr - Rössli - Bill Ayers feat. Daniel Ryser und Goran: "Flüchtige Tage".
22.00 Uhr - Dachstock - DAAU - Die Anarchistische Abend Unterhaltung (Radical Duke/B)

Do 13.05.10
20.00 Uhr - Frauenraum - BarOmeter mit DJ Xylophee, DJ Dunch, DJ FRATZ, Isabelle, Mike, Nadja & DJ ELfERich
20.30 Uhr - Kino - A Road not Taken, Christina Hemauer, Roman Keller, CH 2010
21.00 Uhr - Rössli - Navel & Lombego surfers

Fr 14.05.10
19.30 Uhr - Frauenraum - "FLEURT" - Die Buchvernissage
21.00 Uhr - Kino - A Road not Taken, Christina Hemauer, Roman Keller, CH 2010
22.00 Uhr - Frauenraum - "FLEURT" - Die Party mit The Agentur. (Querbeet-Disko)
23.00 Uhr - Dachstock - Cool & Deadly: Moya (More Fire/BE) ls. Boss Hi-Fi(ZH) ls. Nick Widmer (Our Sound/ZH)

Sa 15.05.10
13.00 Uhr - Frauenraum - "FLEURT" - Die Ausstellung (bis 18.00 )
21.00 Uhr - Kino - Empire St. Pauli - von Perlenketten und Platzverweisen, Irene Bude und Olaf Sobczak, Mini-DV, 2009
22.00 Uhr - Dachstock - Wild Wild East: Besh O Drom (HUN) & Mad Manoush - The Gypsy R-Evolution (A/CH), DJ Rane

So 16.05.10
13.00 Uhr - Frauenraum - "FLEURT" - Die Ausstellung (bis 18.00 )
20.00 Uhr - Rössli - Unbunny (USA). - Konkret

Infos:
http://www.reitschule.ch
http://www.reitschulebietetmehr.ch

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Bund 12.5.10

DAAU

 Kammermusik mit Format

 Die anarchistische Abendunterhaltung, kurz DAAU, heisst ein Quartett aus Belgien; eine Band, die sich nach einer zentralen Stelle in Hermann Hesses "Steppenwolf" benennt, muss Ungewöhnliches im Sinn haben: DAAU machen Kunstmusik irgendwo zwischen osteuropäischer Folklore, Dub, träumerischen Filmsoundtracks und poetischen Kammermusik-Etüden im 15-Minuten-Format. (reg)

 Reitschule Dachstock Mi, 12. Mai, 21 Uhr.

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WoZ 13.5.10

Neue Dokumentarfilme

 Wie vielfältig das aktuelle Dokumentarfilmschaffen ist, zeigt das Kino in der Reitschule Bern mit seiner Filmreihe "Neue Dokumentarfilme", die Werken mit sozialen und politischen Themen gewidmet ist - etwa "A Road Not Taken" von Christina Hemauer und Roman Keller über die Geschichte der Sonnenkollektoren oder "Empire St. Pauli - Von Perlenketten und Platzverweisen" von Irene Bude und Olaf Sobczak. Im Programm ist auch "L'encerclement" von Richard Brouillette, der letztes Jahr am Dokumentarfilmfestival in Nyon den Grossen Preis erhalten hat. süs

 "A Road Not Taken" in: Bern Kino in der Reitschule, Do, 13. Mai, 20.30 Uhr, Fr, 14.   Mai, 21 Uhr. "Empire St. Pauli - Von Perlenketten und Platzverweisen", Sa, 15. Mai, 21 Uhr, Do, 20. Mai, 20.30 Uhr. www.reitschule.ch

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RÖSSLI
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Bund 12.5.10

Sounds Rössli in der Reitschule

 Neues Rössli im Kulturkarussell

 Das Rössli in der Reitschule hat sich zu einer wichtigen Spielstätte des Berner Nachtlebens entwickelt. Ein Augenschein.

 Es klingt nach Stumpenrauch und Lotto im Säli, doch das Rössli unter dem Dach der Berner Reitschule hat in dem einen Jahr seiner Existenz eine ganz andere Art der Zerstreuung etabliert. Langsam, aber unaufhaltsam hat sich das Rössli zu einer geschmackssicher programmierten neuen Berner Spielstätte gemausert, der Konzerteintritt kostet faire 10 Franken, und die Qualität der auftretenden Bands nimmt stetig zu. Stilistisch festzurren mag Christian Trunz aus dem Veranstalterkollektiv das Programm des Rössli nicht: "Wir sind daran interessiert, wesentliche Musik ins Rössli zu bringen", sagt er, "tendenziell konzentrieren wir uns auf Musik, die in Bern bisher noch keine Heimat gefunden hat - am ehesten ist unser Programm wohl mit jenem vom Bad Bonn in Düdingen zu vergleichen."

 Neben aufstrebenden Garagen-Bands gehört der ungeläufige Hip-Hop zu einem der Schwerpunkte des Rössli, für dessen Programmierung das Team der Hip-Hop-Aficionados undergroundhiphop.ch beratend zur Seite steht. Es komme, gerade bei kleineren Konzerten, durchaus auch vor, dass das Rössli auch zusammen mit den Veranstaltern des Dachstocks bespielt werde, erklärt Sabine Ruch, die Haupt-Bookerin des Dachstocks. Bei einer Kapazität von 150 Personen sei das Rössli eine perfekte räumliche Alternative zum 800 Zuschauer fassenden Dachstock.

 Welche stilistische Vielfalt im Rössli herrscht, davon zeugt ein Blick auf das Programm der nächsten sieben Tage. Das beginnt mit der Lesung des Underground-Literaten Bill Ayers (Mi, 12. Mai). Zu den Bewunderern des einstigen Bombenlegers gehört ein gewisser Barack Obama, was diesem im Wahlkampf den Vorwurf der Terrorismus-Nähe einbrockte. Am Tag darauf gastiert die Schweizer Indie-Institution Navel zusammen mit den Lombego Surfers im Rössli. Am Sonntag, 16. Mai, verquicken Unbunny aus Seattle die Schlauheit des Folks mit der Schwerblütigkeit des Grunge, Baby Monster aus Portland lassen am Montag (17. Mai) neckischen Elektropop durch die Baulichkeit schallen, und am Mittwoch, 19. Mai, stellt das kanadische Hip-Hop-Label Takaba vier seiner Acts vor. (ane)

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DEMO-RECHT
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Bund 12.5.10

"Unpraktikabel, unnötig, nicht verhältnismässig"

 Das Komitee "Nein zum Entfernungsartikel" bringt sich in Stellung vor der städtischen Abstimmung vom 13. Juni.

 Christian Brönnimann

 Drei Mal in den letzten fünf Jahren hat sich der Berner Stadtrat gegen einen Entfernungsartikel im Kundgebungsreglement ausgesprochen. In einem Monat kann nun das Stimmvolk entscheiden, ob der Polizei ein neues Mittel zur Auflösung von Demonstrationen in die Hand gegeben werden soll. Eine bürgerliche Volksinitiative sieht eine Ergänzung des Reglements vor, wonach sich Demonstrierende "unverzüglich von einer Kundgebung zu entfernen" haben, wenn die Polizei die Demo auflösen will. Wer der Aufforderung nicht nachkommt, könnte mit bis zu 5000 Franken gebüsst werden.

 Gestern hat das Gegnerkomitee vor den Medien seine Position präsentiert. Dem Komitee gehören Grünes Bündnis, SP, Juso, Junge Alternative, Grüne Partei Bern, Partei der Arbeit, Gewerkschaftsbund der Stadt Bern und Umgebung (GSB) und Demokratische Juristinnen und Juristen Schweiz (DJS) an. Der Entfernungsartikel sei unnötig, unpraktikabel und unverhältnismässig, sagte GB-Stadträtin Christine Michel einleitend.

 Willkür befürchtet

 Die Initiative sei unter den Eindrücken der Krawalle bei der Anti-SVP-Demo vom 6. Oktober 2007 entstanden, führte Stadträtin Corinne Mathieu (SP) aus. Damals sei aber alles schiefgelaufen, was schieflaufen könne. Auch ein Entfernungsartikel hätte daran nichts geändert. Die Deeskalationsstrategie sei bei Kundgebungen nach wie vor der einzig gangbare Weg, so Mathieu. Und: "Die Polizei verfügt bereits jetzt über genügend Instrumente, um eine Demonstration aufzulösen." Nach geltendem kantonalem Recht kann sie dies tatsächlich tun, jedoch braucht es dazu eine Verfügung.

 JA-Stadträtin Rahel Ruch stellte die Umsetzbarkeit des Entfernungsartikels infrage. Weder könne vorausgesetzt werden, dass alle Demonstrierenden eine allfällige Aufforderung, sich zu entfernen, verstünden, noch könne die Polizei eine klare Unterscheidung zwischen Demonstranten und Passanten machen. Deshalb laufe die Anwendung des Artikels auf Willkür hinaus. Zudem verunmögliche der Entfernungsartikel demointerne Deeskalationsbemühungen, so Ruch.

 Gewalt und Prügelpolizisten

 Johannes Wartenweiler, GSB-Sekretär, kritisierte, dass mit der Gesetzesänderung die Polizei zum Handeln gezwungen würde, auch wenn dies eigentlich nicht angezeigt wäre. Ein "defensiver Ermessensspielraum" sei besser, sagte Wartenweiler. Denn werde das geltende Gesetz nicht angewandt, verliere es an Glaubwürdigkeit, analog dem Vermummungsverbot.

 In das gleiche Horn stiess DJS-Geschäftsführerin Catherine Weber. Der Artikel setze die Polizei unnötig unter Druck, hart durchzugreifen. Dies führe zu einer "Gewaltspirale" und zu "Prügelpolizisten". Insgesamt beurteilte Weber den Entfernungsartikel als "einschneidenden Eingriff in die Versammlungs- und Meinungsfreiheit". Dass festgenommene Demonstrierende mit bis zu 5000 Franken gebüsst werden könnten, sei eine neue, unverhältnismässige Qualität am Ganzen. Zudem müsse man bedenken, dass eine Verschärfung des Berner Kundgebungsreglements schweizweite Folgen habe, so Weber.

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BZ 12.5.10

Demo-Reglement

 "Pure Willkür"

 Die Initiative "Keine gewalttätigen Demonstranten" setze die Polizei unter Druck und löse das Problem nicht, sagen die Gegner.

 Artet eine Kundgebung aus, kann die Polizei alle Anwesenden auffordern, sich zu entfernen. Wer nicht geht, macht sich strafbar. Ihm droht eine Busse bis zu 5000 Franken. Dies würde der Entfernungsartikel, den die Initiative "Keine gewalttätigen Demonstranten" ins Kundgebungsreglement einbauen möchte, ermöglichen.

 Das öffne "purer Willkür" Tür und Tor, befürchtet ein links-grünes Komitee. Es bekämpft deshalb das bürgerliche Volksbegehren, über das am 13.Juni das Stimmvolk abstimmen wird. "Bei einer grossen Demonstration ist es schlicht nicht möglich, Passanten von Demonstranten zu unterscheiden", sagte gestern Rahel Ruch, Stadträtin der Jungen Alternative. Entweder verzichte die Polizei auf die Anwendung des Artikels, oder zumindest auf Bussen. Dann verlöre das Instrument aber schnell seine abschreckende Wirkung, welche die Befürworter "beschwörten". Büsse die Polizei aber tatsächlich alle, so wäre dies nicht verhältnismässig.

 Polizei gerät unter Druck

 "Demos bleiben dann friedlich, wenn die Zusammenarbeit mit den Behörden und der Polizei klappt", betonte Johannes Wartenweiler vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund. Er schlug den Bogen zum Vermummungsverbot. Würde die Polizei dieses umsetzen, käme es "regelmässig zu einem Puff". In der Schweiz handle die Polizei aber nach dem Gebot der Verhältnismässigkeit, ergänzte Catherine Weber von den demokratischen Juristen der Schweiz. Genau dies müsse auch in Zukunft der Weg sein. Ein Entfernungsartikel würde den Druck auf die Polizei erhöhen: "Polizisten würden zu Prügelpolizisten", befürchtet sie. In der vorberatenden Kommission habe der anwesende Vertreter der Polizei seinerseits nicht allzu viele Hoffnungen in dieses Instrument gesetzt, führte SP-Stadträtin Corinne Mathieu aus: "Das Polizeigesetz ermöglicht schon heute eine Auflösung von Demos."

 Schatten des 6.Oktobers

 Der rot-grüne Gemeinderat setzt sich aber im Gegensatz zum Parlament für den Entfernungsartikel ein. Für das Gegnerkomitee ist klar, dass die Regierung nach den eskalierten SVP- und Schwarzes-Schaf-Demonstrationen vom 6.Oktober 2007 unter Zugzwang steht. "Offenbar will der Gemeinderat noch mehr Verantwortung an die Polizei delegieren", vermutete Weber. Dabei sei das Gegenteil nötig: Die Regierung müsse wieder mehr politische Verantwortung übernehmen. Für das Grüne Bündnis ist der Entfernungsartikel nicht nur "unnötig"; er würde die Meinungs- und Versammlungsfreiheit unzulässig einschränken.
 cab

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Bund 12.5.10

EDU sagt Ja zum Entfernungsartikel

 Die Eidgenössisch-Demokratische Union der Stadt Bern hat für die Initiative "Keine gewalttätigen Demonstrationen" die Ja-Parole gefasst. Bei gewalttätigen Demonstrationen erhalte die Polizei mit dem Entfernungsartikel ein wichtiges Mittel, um die Situation in den Griff zu kriegen, teilt die Partei mit. Es sei auch richtig, dass Kundgebungsteilnehmer, welche den Anweisungen der Polizei keine Folge leisten, gebüsst werden könnten. Die EDU empfiehlt den Stimmberechtigten am 13. Juni auch die Teilrevision der Gemeindeordnung und die damit verbundene Übertragung von zusätzlichen Aufgaben an die Regionalkonferenz sowie den Zonenplan Mingerstrasse anzunehmen. (pd)

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grundrechte.ch 6.5.10

Demo-Recht unter Druck

6. Mai 2010

In vielen Städten kommt das verfassungsmässige Recht auf Versammlungsfreiheit unter Druck

Bern

Kaum sind die Bürgerlichen mit ihren Plänen in der Stadt Bern, grundsätzlich nur noch Platzkundgebungen zuzulassen, vor dem Verwaltungsgericht abgeblitzt, soll das Berner Kundgebungsreglement erneut verschärft werden. Teilnehmende einer Kundgebung - bewilligt oder unbewilligt - müssten sich nach diesem neuen Artikel "unverzüglich... entfernen, wenn sie von der Polizei darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Kundgebung zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung aufgelöst werden muss". Wer diesem staatlichen Befehl nicht umgehend Folge leistet riskiert eine Busse von bis zu Fr. 5000. Im Herbst erfolgt die Abstimmung über den "Entfernungsartikel".

Luzern

In Luzern hat der Stadtrat eine Motion der SVP, Demonstrationen an Samstagen erst nach 17 Uhr zu erlauben, abgelehnt. Begründung: "Die Meinungs- und Versammlungsfreiheit ist höher zu gewichten als die Wirtschaftsfreiheit, wenn bei einer Kundgebung nicht ernsthaft mit Ausschreitungen zu rechnen ist". Trotzdem ist damit zu rechnen, dass weiterhin Druck auf Demoveranstalter gemacht wird.

Zürich

Nach dem 1. Mai wurde im Kantonsrat eine Einzelinitiative eingereicht, welche das Polizeigesetz abändern will. Bei bewilligten Veranstaltungen haben die Organisatoren gemäss diesem Vorschlag nur dann keine Kosten zu tragen, wenn es "bei Nachdemonstrationen nicht zu Sachschäden oder zu einem massiven Polizeieinsatz kommt". Das wäre das Ende des 1.-Mai-Fests.

Basel

Nach den Sommerferien werden in der ganzen City hochauflösende Kameras aufgestellt. Jede Demo in der Innenstadt kann vollständig live verfolgt werden.

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STADTTAUBEN
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BZ 12.5.10

"Stadttauben" in Bümpliz

 Das Spiel geht weiter

 Der Gemeinderat will, dass ab 1. Juni alle Wohnwagengruppen auf ein gemeinsames Gelände ziehen. Ein frommer Wunsch.

 Seit drei Jahren sucht die Stadt eine Lösung für illegale Wohnwagensiedlungen. Nachdem 2008 Wohnwagengruppen mit Behörden und Grundbesitzern monatelang Katz und Maus gespielt hatten, berief Stadtpräsident Alexander Tschäppät einen runden Tisch ein. Tschäppät konnte eine vermeintliche Lösung präsentieren: Den Gruppen werde jeweils für drei Monate im Rotationsprinzip ein Terrain zur Verfügung gestellt.

 Untaugliche Lösung

 Drei Jahre später funktioniert die "Lösung" immer noch nicht. Während die "Stadtnomaden" bereits im Februar 2009 das Rotationsprinzip akzeptierten und seither praktizieren, sorgen die "Stadttauben" regelmässig mit Besetzungen für Ärger: aktuell in Bümpliz, davor in der Lorraine. Da nützten bislang alle Vermittlungsversuche von Regula Mader nichts: 2008 wurde die damalige Regierungsstatthalterin als "neutrale Vermittlerin" beigezogen, letzten März bekräftigte der Gemeinderat das "Verhandlungsmandat".

 Ende Monat läuft dieses Mandat aus. Das Hauptziel sei, so erklärte die zuständige Gemeinderätin Barbara Hayoz (FDP) gestern in dieser Zeitung, "dass sich die verschiedenen Gruppierungen, die in Wagen leben, zu den Beschlüssen des runden Tischs bekennen und ab 1. Juni auf ein gemeinsames Gelände ziehen".

 Hüttendorfzone ist Ziel

 Daran glauben nur beinharte Optimisten: Zwar wollten weder Hayoz noch Mader zu den Verhandlungen Stellung nehmen. Die "Stadttauben" haben indes stets klargemacht, dass sie das Rotationsprinzip ablehnen. Demonstrativ foutierten sie sich im März um das Angebot der Stadt, sich auf dem Gelände von Wankdorf City niederzulassen. Die "Tauben" wollen keine temporäre Bleibe, sondern einen dauerhaften Standplatz.

 Auch hier ist ihnen der Gemeinderat weit, sehr weit entgegengekommen: Während die Regierung noch 2007 mehrfach verkündete, es sei nicht Aufgabe der Stadt, Raum für alternative Wohnformen zur Verfügung zu stellen, formuliert heute der Gemeinderat die Schaffung einer Hüttendorfzone als Endziel. Doch dafür braucht es eine Volksabstimmung. 1996 sagten die Stimmbürger bereits einmal Nein dazu. Momentan treffen die Behörden für verschiedene mögliche Standorte "vertiefte Abklärungen".

 So wird das Katz-und-Maus-Spiel wohl noch eine Weile weitergehen. Wie gewohnt werden die "Stadttauben" ihren Platz vor Ablauf der Räumungsfrist Ende Mai verlassen und eine andere Brache widerrechtlich in Beschlag nehmen - aus Prinzip.

 Adrian Zurbriggen

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 Hunde jagen Kindern Angst ein

 Seitdem der Leistpräsident von "Stadttauben"-Hunden in Bümpliz gebissen wurde, fürchten sich die Kids auf dem Schulweg.

 "Es ist höchste Zeit, dass die ‹Stadttauben› mit ihren Hunden von der Winterholzstrasse wegziehen", sagt Nachbarin Katja Jakob. Denn: "Die herumstreunenden Hunde der Stadttauben sind für unsere drei Kinder auf dem Schulweg bedrohlich, weil sie halt im Rudel ihr Revier verteidigen und dabei die Kinder auf dem Schulweg anbellen." Es dürfe doch nicht sein, dass die schlecht erzogenen Hunde der "Stadttauben" frei herumstreunen und unseren Kindern Angst einjagen, klagt die Mutter von Fabienne (10), Levin (8) und Laurin (5) gegenüber dieser Zeitung.

 Für die Mutter sind nicht die Hunde das Problem, sondern die Besitzer, welche ihre Tiere überhaupt nicht im Griff haben, meint sie.

 "Seitdem Martin Reist von den ‹Stadttauben›-Hunden gebissen wurde, haben unsere Kinder noch mehr Angst vor den Hunden", sagt Katja Jakob. Die drei Kinder von Katja und Thomas Jakob sind in ihrer Bewegungsfreiheit nicht nur auf dem Schulweg, sondern auch in der Freizeit eingeschränkt: "Unsere Kinder können nicht mehr auf der nahen Hofstatt Fussball spielen, weil sie sonst von den Hunden im Rudel angegriffen würden", sagt Katja Jakob.

 "Dieses Problem besteht bereits seit bald drei Jahren, weil seit dieser Zeit ein anderer illegaler Bewohner mit vier Hunden auf dieser Parzelle lebt", sagt Katja Jakob. "Unsere drei Kinder mussten schon mehrmals vor seinen Hunden flüchten."

 Auch Brigitta Geiser, die mit ihren zwei Kindern im nahen Westside wohnt, ist froh, wenn die "Stadttauben" endlich wegziehen. "Es ist einfach nicht richtig, wenn das herrenlose ‹Stadttauben›-Hunderudel unseren Kindern auf dem Schulweg Angst einjagt", sagt Brigitta Geiser. Und sie betont: "Mein Mann, ich und unsere Kinder sind keine Hundehasser, wir haben selber einen 13 Jahre alten Mischling."

 Jürg Spori

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Bund 12.5.10

QBB will Stadttauben weg haben

 Die Quartierkommission Bümpliz-Bethlehem QBB diskutierte anlässlich ihrer Forumssitzung am Montag über das weitere Vorgehen im Zusammenhang mit der mobilen Wohngruppe "Stadttauben". Wie einer Mitteilung zu entnehmen ist, nimmt die QBB den Vorfall vom letzten Donnerstag mit Bedauern zur Kenntnis. An jenem Tag ist es zu einem tätlichen Übergriff eines Mitglieds der Stadttauben auf den Präsidenten des Nordquartierleists gekommen (der "Bund" berichtete). Die illegale Besetzung der Parzelle 6/313 werde in keiner Weise gebilligt, so die QBB weiter. Die Quartierkommission verlangt nach dem Vorfall nun ein möglichst rasches Handeln vom Gemeinderat. (pd)

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LÄRMKLAGEN
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Bund 12.5.10

FDP will dringliche Debatte zum National

 "Wie gedenkt der Gemeinderat das Hotel-Restaurant National künftig zu unterstützen?" Diese Frage will die FDP-Fraktion im Berner Stadtrat nächstens diskutieren. Da Nachbarn des National-Theatersaals seit Jahren Lärmimmissionen beklagen und den Rechtsweg eingeschlagen haben, ist laut der Besitzerfamilie Grünenwald der Fortbestand des ganzen Betriebs gefährdet ("Bund" von gestern). Stadtrat Bernhard Eicher will wissen, ob der Gemeinderat eine Vermittlerperson einsetzen wolle, um den Nachbarschaftskonflikt zu entschärfen. Er mache dies jeweils "bei Querschlägergruppierungen wie den Stadttauben", nun könnte er es anstatt bei Besetzergruppen auch bei einem guten Steuerzahler und Arbeitgeber tun, so Eicher.

 Der Anwalt des Nachbarn an der Effingerstrasse sagte gestern auf Anfrage, er wolle sich zum Konflikt mit dem Hotel National nicht äussern. Der Handel kommt vors Verwaltungsgericht. (mdü)

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BZ 12.5.10

Hotel National

 FDP fordert Vermittlung

 Im Lärmkonflikt zwischen dem Hotel-Restaurant National und dem Eigentümer einer angrenzenden Liegenschaft an der Effingerstrasse soll der Gemeinderat vermitteln. Dies fordert die FDP-Fraktion des Stadtrates. In einer Interpellation will die Partei vom Gemeinderat wissen, wie er das traditionsreiche Hotel im Kampf um seinen Theatersaal unterstützten will. Der Streit entbrannte, weil sich die Mieter der angrenzenden Liegenschaft über den Lärm aus dem Theatersaal beschwerten (Ausgabe von gestern). Sie bedaure den Konflikt und wolle verhindern, dass das National Bern verloren gehe, schreibt die FDP weiter.
 pd/as

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RABE-INFO
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Mi. 12. Mai 2010
http://www.rabe.ch/uploads/tx_mcpodcast/RaBe-_Info_12._Mai_2010.mp3
- Compasito: Handbuch zur Menschenrechtsbildung für Kinder
  http://www.compasito-zmrb.ch/
- Visa- Freiheit: Beschränkter EU Zutritt für Menschen aus Bosnien
- Arbeitsrechte: Wunderwerke der Technik und der Alltag der Billiglohnarbeitenden

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@-BUCHMESSE BIEL
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WoZ 13.5.10

Libertäre Buchmesse

 In den frühen achtziger Jahren entstand unter AnarchistInnen in London - unter dem Eindruck einer sozialistisch genannten, teuren und von grossen Verlagshäusern frequentierten Buch­messe - der Wunsch, einen eigenen Anlass zu organisieren.

 Inzwischen haben anarchistische Buchmessen in vielen Städten Tradition - etwa in São Paulo, Zagreb, Barcelona oder Dublin. In der Schweiz fand ein solcher Anlass erstmals im Februar 2009 in Winterthur statt. Zur Fortsetzung kommt es nun in Biel. Als grösste zweisprachige Stadt der Schweiz ist Biel/Bienne bestens geeignet, nicht nur Deutsch, sondern auch lateinische Sprachen sprechende Menschen einzuladen, die sich für Themen rund um Anarchie interessieren. Biel hat auch eine libertäre Tradition: Das AJZ im ehemaligen Gaskessel ist das älteste in der Schweiz, das Chat Noir einer der wenigen anarchistischen Infoläden hierzulande. Dar über hinaus gibt es in der Stadt noch immer ein erstaunliches Netz mit autonomen Betrieben.

 An der Libertären Buchmesse stellen rund dreissig AusstellerInnen anarchis tische Medien aus. Die Messe wird erweitert durch Lesungen, Ausstellun gen, Workshops, Diskussionsrunden, Filmvorführungen, Kleinkunstdarbietun gen, Referate, Volksküche, ein "Literattentat" und Konzerte im Gaskessel. adr

 Libertäre Buchmesse in: Biel/Bienne Gaskessel und weitere Orte in der Stadt, Fr, 14., bis So, 16. Mai.
http://www.buechermesse.ch

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buechermesse.ch

Anarchistische Buchmesse 2010

Warum eine libertäre Buchmesse in Biel/Bienne?

Während anarchistische Buchmessen in der ganzen Welt stark am Kommen sind, blieb es in den Deutschsprachigen Ländern bislang auffällig ruhig. Im Februar 2009 fand zum ersten mal ein solcher Anlass in Winterthur in der Schweiz statt. Der Erfolg der Buchmesse machte eine Fortsetzung fast zwingend, doch konnte in Winterthur ein Ziel schlecht realisiert werden: Der Anlass sollte nicht nur für Deutsch sprechende BesucherInnen und AnbieterInnen interessant sein, sondern auch für solche aus Französisch- und Italienischsprachigen Regionen. Als grösste zweisprachige Stadt der Schweiz ist Biel/Bienne daher bestens dafür geeignet. Und damit noch nicht genug: Beinahe in den Stammlanden der legendären Fédération Jurassienne gelegen, lebt auch heute noch in Biel die libertäre Tradition fort: Trotz der lediglich 50'000 EinwohnerInnen gibt es hier besetzte Häuser, ein autonomes Jugendzentrum mit mehr als vierzigjähriger Geschichte, den "Chat Noir" als einer der ganz wenigen anarchistischen Infoläden in der Schweiz, eine selbstverwaltete Gassenküche mit täglichen warmen Mahlzeiten, eine autonome Druckerei... Darüber hinaus ist die Stadt dank ihrer günstigen geographischen Lage schon seit langem beliebter Treffpunkt für Anarch@s aus dem ganzen Land. Kurz und bündig: Ein idealer Ort für eine libertäre Buchmesse!

Was geboten wird

Die Buchmesse findet am Samstag, 15., und Sonntag, 16. Mai 2010 im "Chessu" statt. In Winterthur waren gut 30 AnbieterInnen anarchistischer Medien anwesend, dieses Mal hoffen wir noch auf einige mehr. Eine laufend erweiterte Liste der Teilnehmenden findest du hier. Zudem besteht an verschiedenen Orten in Biel/Bienne Platz für weitere Veranstaltungen: Austellungen, Diskussionsrunden, Filmvorführungen, Kleinkunst, Lesungen, Podiumsgespräche, Referate, Workshops,... Ein Teil davon wird von uns organisiert, wir sind aber auch auf die Eigeninitiative von BesucherInnen angewiesen. Wenn du eine Idee hast, melde dich doch bitte hier. Das vollständige Programm wird Anfang April veröffentlicht werden. Schliesslich wird es am Samstagabend im "Chessu" ein Konzert geben. Das Line-Up wird Anfang Jahr bekannt gegeben.

Was ist eine libertäre Buchmesse?

Anfang der 1980er-Jahre entstand bei ein paar Londoner AnarchistInnen unter dem Eindruck einer sozialistisch genannten, doch stinklangweiligen, teuren und von vielen grossen Verlagshäusern frequentierten Buchmesse der Wunsch, einen eigenen solchen Anlass durchzuführen. Das Attribut "anarchistisch" oder "libertär" in der rasch auf die Beine gestellten "Anarchist Bookfair" bezog sich einerseits auf die angebotenen Verlagsprogramme und anderseits auf eine bestimmte Auffassung, wie der Anlass auszusehen habe. Es ging nicht nur darum, möglichst viele Bücher zu verkaufen und viele Menschen für den Anarchismus zu interessieren, sondern auch darum, eine Plattform für AktivistInnen und eine Vielfalt an weiteren kulturellen Veranstaltungen zu bieten. Spezifisch anarchistische Auffassungen, die viel Wert auf die individuelle Freiheit legen, sollten zudem an der Buchmesse gelebt werden: Rassismus, Sexismus, Homophobie usw. hatten am Anlass nichts verloren, dagegen wurde viel Wert auf die "do-it-yourself"-Haltung von BesucherInnen und AnbieterInnen, Solidarität und Strukturen zur basisdemokratischen Entscheidungsfindung gelegt.
Der "Anarchist Bookfair" war das erste Mal kein Glück beschieden: Gerade einmal ein halbes Dutzend AnbieterInnen nahmen an dem Anlass teil, und nachdem sich kaum eine BesucherIn blicken liess, entschieden sich die Anwesenden kurzum, aus der Buchmesse ein Pool-Turnier zu machen. Doch der Enthusiasmus blieb, und der Anlass wurde Jahr für Jahr prominenter, konnte mehr libertäre Verlage und Interessierte anziehen und grössere Veranstaltungen durchführen. Die Buchmesse wurde im Laufe der Jahre so beliebt, dass sie dieses Jahr bereits zum 28. Mal durchgeführt wird. Ganz unbescheiden meinen die Veranstalterinnen und Veranstalter denn auch, dass sie der grösste und wichtigste regelmässig stattfindende anarchistische Anlass der Welt sei. Die Zahlen sind tatsächlich auch ziemlich eindrücklich: 100 Bücherstände, 40 Veranstaltungen und rund 3000 BesucherInnen - und das jeweils an nur einem Messetag. Doch längstens ist die "Anarchist Bookfair" nicht mehr die einzige ihrer Art, so dass ihre Organisatorinnen und Organisatoren dazu übergegangen sind, die Betonung auf "von London" zu legen. Alleine in Grossbritannien sind im Laufe der letzten Jahre zahlreiche anarchistische Buchmessen begründet worden. In Kanada und in den USA hat mensch als literarisch interessierteR AnarchistIn schon fast die Qual der Wahl - zwischen Frühling und Herbst gibt es kaum ein Wochenende, an dem nicht irgendwo eine libertäre Buchmesse stattfindet. Auch in Lateinamerika, wo anarchistische Buchläden und Bibliotheken eine lange Tradition haben, gab es in den vergangenen Jahren einige Versuche, so zum Beispiel in Monterrey (Mexiko) und São Paulo (Brasilien).
Schliesslich tut sich auch auf dem Europäischen Festland in den letzten Jahren einiges in dieser Sache: Seit 2003 findet alle paar Jahre die "Balkan Anarchist Bookfair" statt (2003 in Ljubljana (Slowenien), 2005 in Zagreb (Kroatien), 2008 in Sofia (Bulgarien)); ebenfalls in Osteuropa gibt es seit 2006 die jährlich stattfindende "Anarhistički sajam knjiga" in Zagreb und eine anarchistische Buchmesse in Poznan (Polen). In Westeuropa fallen vor allem die Spanischen Genossinnen und Genossen auf, die in verschiedenen Städten (Barcelona, Bilbao, Madrid, Valencia) regelmässig stattfindende "ferias del libro anarquista" durchführen. Aber auch in Paris, Gent, Florenz, Lisabon und Dublin, gab es in den letzten Jahren entsprechende Anlässe. Die Konzepte haben sich über die Jahre kaum geändert, wenn sich auch die Programme massiv ausgeweitet haben: Viele der Anlässe sind heute Buchmessen, Kulturtage, Kleinkunstbühnen, Vortragsreihen, Filmzyklen und Begegnungsräume in einem.


Spenden sind immer willkommen:
Verein für libertäre Kultur - VlK
8400 Winterthur
Postkonto 85-592036-2
Vermerk: Buchmesse 2010
IBAN CH66 0900 0000 8559 2036 2
BIC POFICHBEXXX

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KULTUROFFENSIVE LU
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20 Minuten 12.5.10

Kulturoffensive fordert Räume

 LUZERN. Mitglieder der Gruppe Kulturoffensive haben gestern beim Stadtrat drei Volksmotionen eingereicht. Ihr Anliegen: Die Stadt soll mehr Räume für kulturelle und soziale Zwecke schaffen. So soll zum Beispiel die Zbinden-Druckerei im Friedental von der Stadt gekauft und kulturell genutzt werden können. "Wir hoffen, dass die Stadt die Motionen jetzt nicht auf die lange Bank schiebt", so ein Sprecher.

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kulturoffensive.ch 30.4.10

Volksmotionen der Kulturoffensive

Die Kulturoffensive hat am kulturpolitischen Umzug drei Volksmotionen zur Stadtentwicklungs-Politik Luzerns lanciert. Dabei geht es konkret um eine aktivere Immobilienpolitik, um die Sicherung der Areale Hallenbad/Industriestrasse, Schüür/Rösslimatt und Tribschen für soziale und kulturelle Zwecke, und schliesslich darum, dass der Stadtrat beauftragt werden soll, die Zbinden-Druckerei an der Friedentalstrasse zu kaufen und für eine kulturelle Nutzung zu vermieten.

Die benötigten 100 Unterschriften sind bereits Zustande gekommen. Da sich die Übergabe aber noch etwas verzögern wird, bitten wir alle, in dieser und der nächsten Woche noch fleissig Unterschriften zu sammeln! Die drei Volksmotionen können hier als pdf runtergeladen und ausgedruckt werden:

Volksmotion Zbinden Druckerei für kulturelle Zwecke nutzen!
http://www.kulturoffensive.ch/wp-content/uploads/2010/04/VoMo_Drucki.pdf

Volksmotion Städtische Liegenschaften für soziale Zwecke nutzen!
http://www.kulturoffensive.ch/wp-content/uploads/2010/04/VoMo_Liegenschaften.pdf

Volksmotion Schlüsselareale für gemeinnützige Zwecke nutzen!
http://www.kulturoffensive.ch/wp-content/uploads/2010/04/VoMo_Schl%C3%BCsselareale.pdf

Das auf der Rückseite der Volksmotionen stehende Argumentarium:

Wie der Stadtrat bereits in seinem Raumentwicklungskonzept 2008, einem Zwischenschritt der laufenden Bau- und Zonen-Reglements-Revision aufzeigt, werden die Kapazitäten für die städtebauliche Entwicklung in der Innenstadt immer knapper. Die Stadt selbst ist nur noch im Besitz von wenigen freien Bauflächen wie der Industriestrasse oder Teilen des Tribschenquartiers. Dort hat sich in den letzten Jahren ein für das städtische Leben wichtiges "kreatives Milieu" von kulturellem und gewerblichem Schaffen etabliert. Die Zukunft dieser Räume ist akut bedroht, wenn die Stadtentwicklung weiter der Wertschöpfungsintensivierung und den Kriterien des Standortwettbewerbs überlassen wird.

Lebensqualität kann nicht mit marktwirtschaftlichen Kriterien gemessen werden. Es ist für eine Stadt von zentraler Bedeutung, dass die Innenstadt als sozialer öffentlicher Raum Platz für die gesamte Bevölkerung bietet und das kulturelle Milieu ihre Räume hat. Nur eine gute Durchmischung verschiedenster Institutionen, BewohnerInnen und Räumen gibt einer Stadt ein urbanes Zentrum. Das Vorhandensein von öffentlichen Freiräumen, von günstigen Wohnungen sowie von kulturellen und sozialen Einrichtungen ist von zentraler Bedeutung. Diese Aspekte müssen von der Stadtentwicklungspolitik viel stärker berücksichtigt werden. Es darf nicht vergessen werden, dass die Entwicklung einer Stadt zu grossen Teilen davon abhängt, dass sich alle Bevölkerungsteile darin wohl fühlen und ihre Bedürfnisse befriedigen können.
Aktuell werden nicht-gewinnorientierte Einrichtungen, günstige Wohnungen und kulturelle Freiräume immer stärker aus der Stadt vertrieben. Der stetig grösser werdende Nutzungsdruck führt zu einer Verdrängung wirtschaftlich schwächerer Nutzungen und die räumliche Segregation verstärkt sich.

Wir wehren uns gegen den Trend, welcher die kulturellen und sozialen Einrichtungen für die Bevölkerung systematisch aus dem Zentrum in die Peripherie verlegt und dem "kreativen Milieu" höchstens Zwischennutzungen zugesteht. Diese Einrichtungen müssen als zentrale urbane Einrichtungen betrachtet werden und müssen durch die Raumplanung und die städtische Immobilienpolitik erhalten und gefördert werden. Die städtische Politik muss gegen die Gentrifizierung angehen und konsequent für eine gute Durchmischung der Innenstadt und weiterer städtischer Zentren sorgen.

Die Stadt muss sich mit ihrer eigenen Immobilienpolitik aktiver für den Erhalt und den Ausbau von kulturellen, sozialen und kleingewerblichen Einrichtungen einsetzen. Die noch frei stehenden Schwerpunktorte Hallenbad/Industriestrasse, Schüür/Rösslimatt sowie Tribschen stellen die letzten Chancen dar, die jetzt angegangen werden müssen.

Das Beispiel des Frigorex-Areals hat gezeigt, dass die Stadt gegenüber privaten Investoren wehrlos ist - und auch in Zukunft sein wird, wenn es darum geht, bestehende kulturelle und kleingewerbliche Nutzungen zu sichern. Deshalb muss sich die Stadt mit ihrer eigenen Immobilienpolitik aktiver für den Erhalt und den Ausbau von kulturellen, sozialen und kleingewerblichen Einrichtungen einsetzen.
Die Stadt hat ihren sozialen Auftrag wahrzunehmen und ihre Immobilien für die Bedürfnisse der gesamten Bevölkerung zu reservieren. Der Kauf der ehemaligen Zbinden-Druckerei an der Friedentalstrasse kann als erster Schritt einer solchen Immobilienpolitik verstanden werden. Das seit längerer Zeit leer stehende Gebäude wird zurzeit vom Fumetto-Festival als Ausstellungsort zwischengenutzt - was neben dem Bedürfnis nach neuen Räumlichkeiten auch zeigt, dass eine kulturelle Nutzung dieses Gebäudes sehr gut möglich ist. Die Zbinden-Druckerei könnte verschiedenen sozialen, kulturellen und kleingewerblichen Institutionen eine neue Heimat bieten.
Nicht zuletzt könnten damit einige durch die Frigorex-Schliessung heimatlos werdende KünstlerInnen, KleingewerblerInnen und Institutionen - wie etwa die Kunsthalle - vor der Vertreibung aus der Stadt bewahrt werden.

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1. MAI ZUG
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WoZ 13.5.10

Zug - Das 1.-Mai-Komitee Zug schloss den Tamilischen Jugendverein vom Fest der Arbeit aus, der Vereinspräsident wurde weggewiesen.

 Linke Terrorängste

 Von Andreas Fagetti

 Das 1.-Mai-Komitee von Zug machte sich landesweit zum Gespött, als es die Feier zum Tag der Arbeit offiziell wegen schlechten Wetters absagte - schliesslich fand dennoch eine improvisierte Feier statt. Inoffiziell dürfte der Ausschluss des Tamilischen Jugendvereins Zug (TJVZ) für die offizielle Absage ausschlaggebend gewesen sein. Über den von Mitgliedern des 1.-Mai-Komitees als "gefährlich" eingeschätzten Verein kursieren wilde Spekulationen. Der Verein unterstütze Waffenlieferungen an die Tamil Tigers und sammle dafür Geld, lautet eine dieser Spekulationen. Vereinspräsident und Juso-Mann Kurusamy Kuruparan weist die Vorwürfe von sich: "Wir wollen mit demokratischen Mitteln auf die Menschenrechtsverletzungen in Sri Lanka aufmerksam machen."

 Wie kam es zum Ausschluss des Vereins? Im Februar ersuchte der TJVZ das 1.-Mai-Komitee um eine Standbewilligung und erhielt prompt eine schriftliche Zusage. Doch kurz vor dem 1. Mai erfuhr TJVZ-Präsident Kurusamy Kuruparan auf Umwegen, dass sein Verein an der Feier nicht erwünscht sei. Offiziell erhielt der TJVZ vom Komitee nie eine Ausladung, womit die Bewilligung auch nie widerrufen wurde. Stattdessen kam die Zuger Kantonspolizei ins Spiel. Am Morgen des 1. Mai orientierte Josef Huwyler, zuständig für den Bereich Waffen und Sprengstoff, den jungen Tamilen telefonisch, er dürfe den Landsgemeindeplatz bis Mitternacht nicht betreten. Der Polizei lägen Informationen über Demonstrationsabsichten des TJVZ und eine "Störung" der 1.-Mai-Feier vor. Daher bestünden Sicherheitsbedenken.

 Wer genau die Polizei ins Spiel gebracht und die Wegweisung erwirkt hat, ist unklar. Vonseiten der Polizei heisst es "Mitglieder des 1.-Mai-Komitees". Offiziell wurde das Komitee bei der Polizei allerdings nie vorstellig. Josy von Wyl, Vizepräsidentin des Zuger Gewerkschaftsbundes und Komiteemitglied, weist das jedenfalls von sich. Klar ist laut Protokoll des Komitees, wer schwere Bedenken gegen den Auftritt des TJVZ geäussert hat: Barbara Gysel, SP-Kantonalparteipräsidentin, und Rupan Sivaganesan, Kantonsrat der Alternativen. Josy von Wyl sagt, sie habe die beiden dazu aufgefordert, den TJVZ über den Ausschluss zu informieren. Sie haben es offenbar nie getan.

 Hintergrund der Bedenken von SP-Politikerin Barbara Gysel, die für Steuersenkungen in ihrem Kanton eintritt (siehe WOZ Nr. 21/09), war ein Boykott aufruf des TJVZ im vergangenen Jahr. Damals wollte der TJVZ an einem folk loristischen tamilischen Fest im Einkaufszentrum Herti mit einem Stand auf die Menschenrechtsverletzungen in Sri Lanka aufmerksam machen. Josef Sacchi, zuständig für die Organisation des Festes und das Marketing im Hertizentrum, war dagegen. Daraufhin rief der TJVZ für den Tag des Festes dazu auf, das Hertizentrum zu boykottieren. Josef Sacchi fühlte sich vom Vorgehen des TJVZ bedroht. Gegenüber der "Zuger Zeitung" sprach er von "Terrordrohungen in Worten". Schliesslich zeigte er Kurusamy Kuruparan wegen Nötigung an. Dieser reagierte mit einer Ehrverletzungsklage. Noch ist in beiden Fällen nichts entschieden. Die WOZ hätte gerne auch Barbara Gysels Sicht der Dinge erfahren. Doch während der ganzen Recherchen war von ihrem Handy nur eine Nachricht zu hören: "Der gewünschte Mobilteilnehmer ist zurzeit nicht erreichbar. Versuchen Sie es später nochmals."

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SQUAT ZH
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Tagesanzeiger 12.5.10

22 Liegenschaften sind in Zürich besetzt

 Zürich - Zurzeit sind in in der Stadt Zürich 22 Liegenschaften besetzt. Dabei handelt es sich um 19 private und 2 städtische Objekte, wie aus der Antwort des Stadtrats auf eine Dringliche Anfrage der SVP-Gemeinderäte Daniel Regli und Bruno Sidler hervorgeht. Weiter heisst es in dem Schreiben, dass die Besetzer aus dem Umfeld der Autonomen Schule Zürich (ASZ) zwar dilettantisch, jedoch nicht skrupellos vorgegangen waren, als sie im Dezember 2009 eine illegale Stromleitung in einem Pavillon der Schulanlage Allenmoos verlegten. Der Hauswart der Schule erlitt damals einen Stromschlag, als er die Leitung kontrollieren wollte. Da der Mann nicht klagte, wurde das Strafverfahren gegen unbekannt zwischenzeitlich eingestellt. Die Stadt werde an der Praxis festhalten, eine Liegenschaft nur dann räumen zu lassen, wenn etwa eine rechtskräftige Abbruchbewilligung vorliegt. (pa)

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BLEIBERECHT
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bleiberecht.ch 12.5.10

Protestaktion gegen die Verhaftung von Berhanu

Um gegen die Verhaftung von Berhanu Tesfaye und die Repression gegen alle illegalisierten MigrantInnen zu protestieren, rufen wir für heute Mittwoch, 12. Mai 2010, 17 Uhr, zu einer Protestkundgebung vor dem Kantosgefängnis Kaserne Zürich auf.

Berhanu Tesfaye, Aktivist beim Bleiberecht-Kollektiv und Kursleiter an der Autonomen Schule Zürich (ASZ) wurde gestern an der Bushaltestelle Kanonengasse verhaftet. Berhanu und zwei seiner Kollegen, ebenfalls abgewiesene Flüchtlinge, warteten auf den Bus, als ein Streifenwagen mit zwei Polizisten anhielt, um sie zu kontrollieren. Während die zwei Kollegen nach der Kontrolle nach Hause gehen durften, wurde Berhanu in Polizeigewahrsam genommen. Angeblich, weil seine Identität nicht festgestellt werden konnte. Mittlerweile wurde Berhanu ins Kantonsgefängnis Kaserne überführt. Diese Massnahme ist unverständlich. Die Polizei hätte seine Identität ohne Weiters innert kurzer Zeit beim Migrationsamt feststellen können. Wir müssen also befürchten, dass ihm eine längere Haft oder sogar die Ausschaffung bevorsteht.

Solche Vorfälle gehören zum Alltag aller illegalisierten Flüchtlinge in der Schweiz und somit zum Alltag im Schulbetrieb der Autonomen Schule Zürich. Illegalisierte Flüchtlinge können jederzeit und überall verhaftet werden. Berhanu ist der vierte Beteiligte unseres Projekts der ASZ, der in den letzten zwei Monaten festgenommen wurde. Die Konsequenzen der Polizeikontrollen, die vorwiegend Menschen dunkler Hautfarbe betreffen, sind unvorhersehbar und willkürlich. Einmal passiert nichts, wie bei den Kollegen von Berhanu. Ein anderes Mal werden die Illegalisierten festgenommen, manchmal für ein bis zwei Tage, manchmal für mehrere Monate. Sogar eine schnelle Ausschaffung ist möglich, wie im Falle der Kolumbianerin Denis Montana, die im September 2009 wenige Tage nach ihrer Festnahme widerrechtlich ausgeschafft wurde. Für Khaled Abuzarifa, Samson Chukwu und Joseph Ndukaku Chiakwa war die Konsequenz der Schweizer Asyl- und Ausländerpraxis sogar der Tod. Sie sind bei gewaltsamen Zwangsausschaffungen ums Leben gekommen.

Es ist höchste Zeit, dass die Schweiz mit einer kollektiven Regularisierung illegalisierter MigrantInnen einen mutigen Schritt weg von dieser heuchlerischen und unmenschlichen Politik macht.

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Medienmitteilung

Kursleiter der Autonomen Schule Zürich droht Ausschaffung

Berhanu Tesfaye, Aktivist beim Bleiberecht-Kollektiv und Kursleiter an der Autonomen Schule Zürich (ASZ) wurde am Dienstagnachmittag, 11. Mai 2010, an der Bushaltestelle Kanonengasse verhaftet. Obwohl er in der Exil-Opposition Äthiopiens tätig ist und im Falle einer Rückkehr mit schweren Repressalien zu rechnen hat, hat der Staat sein Asylgesuch abgelehnt und ihn somit illegalisiert. Ihm droht die Ausschaffung. Seit mehr als einem halben Jahr wartet er auf eine Antwort auf sein Härtefallgesuch. Angesichts der bekannt gewordenen Arbeitsweise des Migrationsamts Zürich erstaunt dies nicht. Tesfaye lebt seit zehn Jahren in der Schweiz.

Tesfaye und zwei seiner Kollegen, ebenfalls abgewiesene Flüchtlinge, befanden sich auf dem Nachhauseweg, nachdem sie das Flüchtlingscafe ¬- einen Treffpunkt für Migrantinnen und Migranten - besucht hatten. Ein Streifenwagen mit zwei Polizisten hielt vor der Haltestelle an und kontrollierte die Gruppe. Während die zwei Kollegen nach der Kontrolle nach Hause gehen durften, wurde Tesfaye in Polizeigewahrsam genommen. Angeblich, weil seine Identität nicht festgestellt werden konnte. Seine sofortige Identifikation ist nur deswegen ein Problem, weil das Migrationsamt abgewiesenen Asylsuchenden seit zwei Jahren keine amtlich anerkannten Papiere mehr ausstellt. Mittlerweile wurde Tesfaye ins Kantonsgefängnis Kaserne überführt. Diese Massnahme ist unverständlich. Die Polizei hätte seine Identität ohne weiters innert kurzer Zeit beim Migrationsamt feststellen können. Wir müssen also befürchten, dass ihm eine längere Haft oder sogar die Ausschaffung bevorsteht.

Solche Vorfälle gehören zum Alltag aller illegalisierten Flüchtlinge in der Schweiz und somit zum Alltag im Schulbetrieb der Autonomen Schule Zürich. Illegalisierte Flüchtlinge können jederzeit und überall verhaftet werden. Tesfaye ist der vierte Beteiligte unseres Projekts der ASZ, der in den letzten zwei Monaten festgenommen wurde. Die Konsequenzen der Polizeikontrollen, die vorwiegend Menschen dunkler Hautfarbe betreffen, sind unvorhersehbar und willkürlich. Einmal passiert nichts, wie bei den Kolllegen von Tesfaye. Ein anderes Mal werden die Illegalisierten festgenommen, manchmal für ein bis zwei Tage, manchmal für mehrere Monate. Sogar eine schnelle Ausschaffung ist möglich, wie im Falle der Kolumbianerin Denis Montana, die im September 2009 wenige Tage nach ihrer Festnahme widerrechtlich ausgeschafft wurde. Für Khaled Abuzarifa, Samson Chukwu und Joseph Ndukaku Chiakwa war die Konsequenz der Schweizer Asyl- und Ausländerpraxis sogar der Tod. Sie sind bei gewaltsamen Zwangsausschaffungen ums Leben gekommen.

Der Grund für diese Willkür ist klar: Die Gefängnisplätze sind beschränkt, es gibt nicht genügend Zellen, um alle 150′000-300′000 illegalisierten Migrantinnen und Migranten einzusperren. Die Vorstellung, dass die Schweiz hunderttausende von Menschen nur wegen ihres Aufenthalts in der Schweiz einsperrt und dafür in jedem Dorf ein Gefängnis baut, macht die Absurdität der aktuellen Migrationspraxis deutlich.

Die Schweiz und mit ihr alle Länder der Europäischen Union weigern sich, die Realität anzuerkennen: Menschen kommen aus ärmeren und oder kriegsversehrten Ländern hierher. Sie werden immer kommen. Und sie dienen der Schweiz als Billigstarbeitskräfte ohne jeglichen Rechtsschutz. Es ist höchste Zeit, dass die Schweiz mit einer kollektiven Regularisierung illegalisierter MigrantInnen einen mutigen Schritt weg von dieser heuchlerischen Politik macht.

Um gegen die Verhaftung von Berhanu Tesfaye und die Repression gegen alle illegalisierten MigrantInnen zu protestieren, rufen wir für Mittwoch, 12.Mai 2010, 17 Uhr, zu einer Protestkundgebung vor dem Kantosgefängnis Kaserne Zürich auf.

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GEFANGENE ZH
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Indymedia 12.5.10

Infos zu den verhafteten Genossen in Zürich ::

AutorIn : Solidarität ist unsere Waffe!         

Wer die Genossen finanziell unterstützen will, kann dies auf folgendes Konto machen:
Soli-Kasse
8036 Zürich
87-500165-2
Vermerk: Gefangene 1. Mai 2010
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Weitere Infos zu den Genossen finden sich auf http://www.aufbau.org, gibt's bei  rotehilfe@aufbau.org oder im Aufbau-Vertrieb Zürich (offen jeden Samstag von 11-16 Uhr, Kanonengasse 35 im Hinterhof die Treppe hoch).     
    
Erklärung zur Freilassung eines Genossen vom Revolutionären Aufbau Schweiz am 11. Mai 2010:

Zürich: Ein Genosse aus der Haft entlassen

Gestern Nachmittag wurde der letzte der am 1. Mai verhafteten Leute endlich wieder freigelassen. Dem Genossen wird Gewalt und Drohung gegen Beamte vorgeworfen. Angeblich habe er sich der brutalen Verhaftung durch die zivilen Schlägertrupps der Polizei gewehrt und dabei hätte sich einer der Rambos den Fuss verstaucht. Ein absurder Vorwurf, der aber immerhin für eine Woche Untersuchungshaft und ein Strafverfahren ausreicht.

Nach wie vor im Knast sitzen die zwei Genossen, denen ein Farbanschlag auf die CS vor einem Jahr, also am 1. Mai 2009, angelastet wird. Auch 12 Tage nach ihrer Verhaftung faselt die Klassenjustiz von einer angeblichen "Verdunkelungsgefahr", notabene ein Jahr nach dem Farbanschlag.

Wir fordern die sofortige Freilassung der beiden Genossen!
Freiheit für alle politischen Gefangenen!
Für den Kommunismus

Revolutionärer Aufbau Schweiz, 11. Mai 2010

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Solidaritätserklärung mit den drei verhafteten Genossen
Unterschriftenliste per 12.5.2010

Vergangenen Donnerstag (29. April) wurden bei zwei Genossen eine
Hausdurchsuchung wegen angeblichen DNA-Spuren bei einem Farbanschlag gegen die Credit Suisse in Zürich am Ersten Mai 2009 durchgeführt.
Danach wurden sie in Untersuchungshaft gesetzt. Grund dafür ist die "Kollusions-" beziehungsweise "Verdunkelungsgefahr" - bei einer verdächtigten Tat, die fast auf den Tag genau ein Jahr zurückliegt, kommt die Gefahr möglicher Vertuschungen denkbar spät... Viel wahrscheinlicher ist, dass der Zeitpunkt der Durchsuchungen und Verhaftungen im Zusammenhang mit dem Ersten Mai 2010 stand: Ein gescheiterter Versuch die Leute noch vor dem Ersten Mai abzuschrecken und davon abzuhalten, sich an den verschiedensten Sachen am Ersten Mai zu beteiligen.

Am Ersten Mai selber wurde ein Genosse festgenommen. Bei ihm wurde Untersuchungshaft wegen einer "Körperverletzung" eines zivilen Bullen eines rabiaten LUCA-Greifertrupps verhängt. Dass diese "Verletzung" wohl eher durch ein ungeschicktes Stolpern des Bullen verursacht wurde, findet keine Beachtung. Auch hier wird der Grund für die Untersuchungshaft anderswo liegen: Mit dem juristischen Angriff soll uns allen Angst gemacht werden, ganz nach dem Motto "In Haft sind einige, gemeint sind wir alle!"

Insgesamt zieht sich durch die Bullentaktik um den Ersten Mai in Zürich ein Faden der versuchten Abschreckung. Sei es mit den oben genannten Beispielen, durch Rayonverbote, die zu Hunderten verteilt werden, oder einem riesigen Bullenaufgebot inklusive eines grossen Teils des Fuhrparks der Stadt- und Kantonspolizei, verstärkt durch einen Super-Puma der Schweizer Armee.

Wir wissen, dass es den drei verhafteten Genossen gut geht, dass sie weiterhin kämpferisch sind und, dass sie alle weiterhin konsequent die Aussage verweigern. Wir werden sie weiterhin unterstützen und die Solidarität auf verschiedene Arten praktisch werden lassen.

Wir solidarisieren uns mit den drei Genossen!
Drinnen und Draussen - Ein Kampf!
Freiheit für alle politischen Gefangenen!

Bisherige Unterschriften:
Rote Hilfe International - Secours Rouge International
Rote Hilfe Schweiz
Revolutionäre Jugend Zürich
Revolutionärer Aufbau Schweiz
AKZO
Systembruch, Zug
Redaktionskollektiv Respektive
Netzwerk Freiheit für alle politische Gefangenen, Hamburg
Redaktion Vorwärts
Revolutionäre Gruppe Ostschweiz
Revolutionäre Perspektive Berlin
BFS Zürich
Secours Rouge/APAPC (Rote Hilfe Belgien)
VUA¨ (Vereinigung unabhängiger Ärztinnen und Ärzte für ein gerechtes und soziales Gesundheitswesen)
Projekt Revolutionäre Perspektive (PRP), Hamburg
JUMP UP Schallplattenversand, Bremen
CCCPSRI, Italien
Anarchist Black Cross, Wellington
Tayad Internationales Solidaritäts-Komitee
Antirep-Kollektiv ALARM
Komplott, Zürich
Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen, Stuttgart
Föderation der Migrantenarbeiter/inen aus der Türkei in der Schweiz (IGIF)
IGIF Jugend Kommission
orsa.betta
assemblea contro il carcere e la repressione
Uni von Unten
Marco Camenisch
Wolfgang Lettow, Presserechtlich Verantwortlicher des Gefangenen Info, Berlin
Peter O. Chotjewitz, Stuttgart
Anadolu Federasyonu
Michelle Disler, Luzern
quelques anarchistes lausannois
Fabian, Berlin
Paolo Neri
Stand: 11. Mai 2010

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Wer sich als Gruppe, Einzelperson oder sonst was dieser Solidaritätserklärung anschliessen will, soll ein Email an  rotehilfe@aufbau.org schicken. Die Unterschriften werden dort gesammelt und die Unterschriftenliste laufend aktualisiert. Bitte sagt's weiter!

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KNAST VD
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WoZ 13.5.10

Verwahrung - Wie Waadtländer Beamte über einen sterbenden Insassen lachten und wieso dieser jahrelang in Isolationshaft sass, ohne je ein schweres Delikt begangen zu haben.

Gelächter im Todesknast

 Von Dinu Gautier

 Der Skandal trägt den Namen des Opfers: Skander Vogt. Seit Wochen beschäftigt er die Westschweizer Medien und sorgte sogar in Frankreich für Aufsehen. Diesseits des Röstigrabens wurde er hingegen nur vereinzelt aufgegriffen.

 Skander Vogt starb am frühen Morgen des 11. März in seiner Zelle im Hochsicherheitstrakt eines Waadtländer Gefängnisses an einer Rauchvergiftung. Wärter hatten ihn dort im Rauch liegen lassen, nachdem er seine Matratze aus Wut angezündet hatte. Doch die tragische Geschichte des Toten beginnt viel früher: Vogt litt unter einer Persönlichkeitsstörung. Statt Hilfe zu bekommen, sass er während insgesamt zwölf Jahren im Gefängnis.

 Isolation in Bochuz

 Skander Vogt ist der Sohn einer Tunesierin und eines Schweizers. Seine Mutter stirbt, als er dreijährig ist, der Vater macht sich aus dem Staub. Als 14-Jähriger kommt er mit seiner Schwester nach Lausanne, lebt bei Pflegefamilien und in Heimen.

 2001 wird Vogt zu zwanzig Monaten Gefängnis verurteilt. Er hat keine schweren Verbrechen begangen, dafür mehrere Delikte: Diebstähle, Sachbeschädigungen, Drohungen und einfache Körperverletzungen. Die Strafe wird ausgesetzt, stattdessen wird er verwahrt. Das Strafgesetz erlaubt es den Gerichten, Menschen, die als gefährlich eingestuft werden, für eine unbestimmte Dauer einzusperren. Die eigentliche Idee dahinter: ihnen helfen, statt sie zu bestrafen; und die Bevölkerung vor ihnen zu schützen. In der Praxis kann das heissen: Ein Mensch wird für Verbrechen bestraft, die er noch gar nicht begangen hat.

 Statt zwanzig Monate bleibt Skander zehn Jahre im Gefängnis - also bis zu seinem Tod. 21 Gefängnisse lernt er von innen kennen. Sein Verhalten gegenüber dem Aufsichtspersonal wird als zunehmend aggressiv beschrieben. Mitunter soll er massive Drohungen ausgestossen haben. Dafür bestraft wird er, indem man ihn vermehrt in den Hochsicherheitstrakt verlegt. Nach 2005 wird er die Hochsicherheitstrakte nie mehr verlassen. Im Gefängnis von Bochuz im Kanton Waadt - sozusagen seinem Stammknast - bedeutet das für Skander Vogt praktisch die Isolation.

 Briefe aus dem Gefängnis

 23 Stunden am Tag sitzt er in seiner knapp zehn Quadratmeter grossen Zelle. In der verbleibenden Stunde duscht er und darf auf einer Art Dachterrasse spazieren - an Armen und Beinen gefesselt und ohne Kontakt zu Mithäftlingen. BesucherInnen empfängt er hinter einer Schutzscheibe. An eine Besserung seiner psychischen Lage ist unter diesen Umständen nicht zu denken (siehe Kasten).

 Im Sommer 2008 gelingt es Skander Vogt, auf das Dach des Hochsicherheitstraktes von Bochuz zu klettern. Er droht, sich in die Tiefe zu stürzen. Mitgefangene solidarisieren sich. Dreissig Stunden dauert die Nervenprobe, dann greift eine Spezialeinheit der Polizei ein, holt ihn vom Dach. Skander wird in den Hochsicherheitstrakt von Lenzburg verlegt, wo er immerhin zwei Tage pro Woche arbeiten könne und wo auch die Wärter anständig seien, wie er die Presse wissen lässt. Doch er wird zurück nach Bochuz verlegt.

 Vogt schreibt dem "Matin Dimanche"  mehrere lange Briefe, berichtet aus dem Gefängnisalltag. Ab und zu telefoniert er mit der Redaktion. Am Telefon rede er mit "netter Stimme" und wirke "weder verrückt noch gefährlich", ist einem Artikel vom Frühling 2009 zu entnehmen. Seine Schwester sagt nach Vogts Tod: "Mir gegenüber war er sanft, aufmerksam und liebevoll."

 "Das geschieht ihm recht"

 In der Nacht auf den 11. März dieses Jahres zündet Vogt nach einem Streit mit Wärtern die Matratze in seiner Zelle an. Der Brand wird um 1 Uhr morgens bemerkt. Durchs Gitter löschen Wärter die Flammen. Vogt bleibt im Rauch zurück. Erst neunzig Minuten später holt man ihn tot aus der Zelle.

 Noch am selben Tag gibt der zuständige Regierungsrat Philippe Leuba (FDP) der Presse Auskunft: "Ich habe keinerlei Hinweise darauf, dass die Gefängniswärter versagt hätten oder dass irgendwelche Fehler begangen wurden." Die Justizbehörden sprechen von einem "extrem gefährlichen, fast hundert Kilo schweren Mann", den man aus Sicherheitsgründen nicht aus seiner Zelle habe holen können. Stattdessen habe man auf das Eintreffen einer Spezialeinheit der Polizei warten müssen. Die Einheit habe sich mitten in der Nacht zuerst formieren und anreisen müssen.

 An der Darstellung der Behörden bestehen von Anfang an Zweifel. Dann gelangt "Le Matin" in den Besitz von Telefonmitschnitten aus jener Nacht und ist in der Lage, den genauen Ablauf der Ereignisse nachzuzeichnen:

 Bis die Wärter überhaupt die Alarm zen trale der Polizei alarmierten, dau erte es demnach vierzig Minuten. Kurz nach zwei Uhr stellten die Wärter fest, dass Vogt bewusstlos war. Erst eine halbe Stunde später betraten sie den Raum. Da war Vogt bereits tot und die Spezialeinheit noch nicht einmal eingetroffen.

 Der Wortlaut der später in Auszügen von einem französischen Radiosender ausgestrahlten Gespräche zeigt die Verachtung, die die beteiligten Beamten für Skander Vogt übrig hatten: "Seit fünfzig Minuten atmet er Rauch ein, er könnte sterben", sagt etwa ein Wärter zu einem Polizisten. Dieser antwortet: "Das geschieht ihm recht."

 Später, als Vogt bewusstlos am Boden liegt, informiert die Zentrale einen Polizisten über die Lage. "Wir dürfen nicht lachen", sagt der eine Mann. Dann beginnen beide zu lachen.

 Nach der Enthüllung musste sich der Polizeikommandant für die Wortwahl seiner Untergebenen entschuldigen ("unglücklich", "bedauerlich", "unangemessen"). Derzeit untersucht ein ehemaliger Bundesrichter die Vorfälle, die zum Tod von Skander Vogt geführt haben.

 Freilich kommt diese Untersuchung zu spät. Bereits 1991 besuchte das Eu ro päische Komitee zur Verhütung von Folter (CPT) das Gefängnis von Bochuz und machte ein "grosses Risiko für unmenschliche und erniedrigende Behandlung" aus, wie "Le Temps" berichtet. 2008 hat sich das CPT nach einem Besuch verschiedener Schweizer Gefängnisse "zutiefst beunruhigt" darüber gezeigt, dass einige Häftlinge sich seit Jahren in Isolationshaft befänden.

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 Isolationshaft

 Zum Thema Isolationshaft trafen sich 2007 in Istanbul Expertinnen aus psychiatrischer Praxis und Forschung sowie Folter- und Menschenrechtsexperten und verfassten die "Istanbuler Erklärung". Diese definiert Isolationshaft als "physische Isolierung von Personen, die in ihren Zellen während 22 bis 24 Stunden eingesperrt sind".

 Isolationshaft könne zu schweren psychischen und manchmal auch physischen Krankheiten führen. So hätten Untersuchungen ergeben, dass bis zu neunzig Prozent der derart Gefangenen gesundheitliche Probleme beklagten: "Eine lange Symptomliste von Schlaflosigkeit und Verwirrung bis hin zu Halluzinationen und Psychosen." Die "Istanbuler Erklärung" fordert unter anderem, dass Isolationshaft für psychisch Kranke "absolut" zu verbieten sei.

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 "So verschlimmert sich der Zustand der Verwahrten"

 WOZ: Jean-Pierre Restellini, Sie sind Gefängnisexperte und Arzt. Was sind das für Menschen, die wie Skander Vogt auf unbestimmte Zeit im Gefängnis sitzen? Sind das Leute mit Psychosen? Schizophrene?

 Jean-Pierre Restellini: Nein. Es handelt sich meist nicht um Personen im Delirium, nicht um Menschen, die glauben, Napoleon oder Ausserirdische zu sein. Vielmehr sind es häufig Leute mit schwierigem Charakter, man spricht von dissozialer Persönlichkeitsstörung. Sie haben enorme Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Menschen.

 Wie wird man dissozial?

 Durch Umwelteinflüsse, meistens eine sehr schädliche familiäre Umgebung, Verwahrlosung.

 Dann steckt man sie ins Gefängnis, damit sie dort weiter verwahrlosen?

 Ja, das könnte man so sagen. Ich halte es für vollkommen ungerecht, diese Menschen für etwas zu bestrafen, wofür sie nichts können.

 Besteht denn eine reelle Chance, dass sich der Zustand solcher Menschen während eines Gefängnisaufenthalts verbessert?

 In einem normalen Gefängnis, das sich auf den Freiheitsentzug beschränkt, muss ich kategorisch sagen: Nein. Man verschlimmert ihren Zustand sogar noch.

 Das heisst, sie haben eigentlich keine Chance, je wieder entlassen zu werden.

 Dieses Risiko besteht. Wenn man die Massnahme an Orten durchführt, die dafür gar nicht geeignet sind, wird man das Gegenteil dessen erreichen, was der Gesetzgeber beabsichtigt hat. Ursprünglich wollte man nämlich erreichen, dass solche Leute nicht bestraft werden, sondern dass ihnen geholfen wird.

 Was ist schiefgelaufen?

 Man hat kein Geld investiert, keine genügende Infrastruktur geschaffen. Die Gefängnisse bleiben überbelegt. Dem Personal ist es nicht möglich, sich um solche Personen zu kümmern.

 Welche Betreuung wäre wünschenswert?

 Man muss mit den Patienten an ihrer Resozialisierung hart arbeiten können. Dies sind keine Menschen, denen man mit Psychoanalyse oder mit Medikamenten helfen kann. Sie müssen langsam lernen, wie man normale soziale Beziehungen herstellt. Dafür braucht es keine Psychiater, die in weissen Kitteln herumrennen, und auch keine Gefängniswärter. Es braucht gut geschulte, gut beratene und gut beaufsichtigte soziotherapeutische Lehrer.

 Aber es gibt doch Täter, die so gefährlich sind, dass sie eingesperrt sein müssen.

 Leider gibt es einige solcher Fälle. Das heisst aber nicht, dass man sie bestrafen muss. Man muss ihnen helfen.

 Im Waadtländer Gefängnis Bochuz wurde Skander Vogt zur Bestrafung in den Hochsicherheitstrakt gesperrt und isoliert.

 Das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter CPT hat Bochuz schon vor Jahren besucht und unter anderem genau diesen Punkt gerügt. Man darf Menschen wie Skander Vogt sicher nicht in Isolationshaft stecken.

 Die Behörden haben die Empfehlungen des Komitees nicht ernst genommen?

 Das weiss ich nicht. Klar ist: Unternommen wurde nichts.

 Die Behörden vertrösten auf später und sagen, neue Bauten seien geplant und würden in den nächsten Jahren erstellt. Was kann man bis dahin tun?

 Tatsächlich ist geeignete Infrastruktur die einzige Lösung, um dem Problem längerfristig zu begegnen. Für den Moment bleiben Feuerwehrübungen. Das heisst: Keine Isolationshaft, keine Zellen in Hochsicherheitstrakts und ein Maximum dessen, was man ihnen unter den gegebenen Umständen an soziotherapeutischer Aufmerksamkeit schenken kann. Interview: Dinu Gautier

 Jean-Pierre Restellini ist Präsident der Schweizerischen Kommission zur V erhütung von Folter. Die unabhängige Organisation hat Anfang Jahr ihre Arbeit aufgenommen, dem Bund ist sie nur administrativ zugeordnet. Der Jurist und Arzt Restellini ist zudem Mitglied des europäischen Anti-Folter-Komitees CPT.

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PINGPONG ZH
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WoZ 13.5.10

Ghettocup - In der Zürcher Bäckeranlage treffen sich Randständige, Lebenskünstlerinnen und andere ­Quartierbewohner täglich zum Tischtennis. Für ihre Pingpongecke legen sie sich auch mal mit der Polizei an.

Junge, Alte, Rapper, Rocker

Von Alice Kohli (Text) und Florian Bachmann (Fotos)

 Es ist Frühling in Zürich. Die Kugelgrills werden auf die Wiesen gekarrt, in den Restaurants bestellt man wieder Eistee. Und neben dem Vogelgezwitscher mischt sich ein weiterer Frühlingston in die Geräuschkulisse: das leise Trommeln von Zelluloidbällchen auf Betontischen. Denn mit dem Frühling ist auch die Pingpongsaison eingeläutet.

 An diesem Samstag trommelt es in der Bäckeranlage von acht Tischen gleichzeitig, denn hier findet heute das Ping Open statt. Das Tischtennisturnier feiert Premiere - es ist der erstmalige Zusammenschluss mehrerer Hobbyvereine. Gastgeber ist der ortsansässige TT Ghettoclub. Seit zehn Uhr vormittags bauen die Ghettoclub-Zeremonienmeis ter Genaro, Marcel und Lobi Tische auf, schaffen Bierkästen her und versuchen, Kabelrollen für die Musikanlage aufzutreiben. Alles ohne Eile. Die drei machen den Anschein, als sei die Nacht zuvor lang gewesen.

 Ein lustiger Haufen

 Genaro, der Schriftsteller und Poet, der erzählt, wie er vor einigen Jahren von Calvados zu Bier wechselte; Marcel, dem zum Piratenlook einzig noch ein grüner Papagei auf der Schulter fehlt; Lobi, der komplett mit Baseballmütze und Sonnenbrille einem New Yorker Vorort entsprungen zu sein scheint - kein Filmdrehbuch würde die drei in einer gemeinsamen Szene auftreten lassen.

 Aber der Ghettoclub ist auch nicht Hollywood - sondern "einfach ein lus tiger Haufen", wie Genaro sagt, ein Verbund von Pingpongfans, der sich um keinen Szenendünkel schert. Und ein Klub, der gewissenhaft die Infrastruktur auf die Beine stellt. Die Teilnehmerlisten übernimmt heute ein anderer Verein, das Züri Open. Erika, Dominik und Andy haben sich zu diesem Zweck büromässig auf einer Festbank eingerichtet. Sie sind fast ausschliesslich damit beschäftigt, Pingpongschläger auf die Listen zu legen, damit diese nicht vom Wind weggeblasen werden.

 Richtig - Wind. Wind ist nicht bekannt als der beste Freund eines Tischtennisspielers. Aus diesem Grund finden Profiturniere auch in Hallen statt. "Profis würden nie draussen spielen", muss Genaro eingestehen. Aber es stört ihn nicht weiter. Denn auch unter den Amateuren haben sich schon Talente gefunden. Und Genaro hat es sich zum Hobby gemacht, immer gegen die Bes ten zu spielen. "Wenn dich etwas gepackt hat, musst du einfach immer weitermachen." Fast jeden Abend trainiert der Ghettoclub an den Betontischen; seine Spieler mischen in den oberen Rängen der inoffiziellen Hobbyliga mit.

 Schwere Jungs in Aussersihl

 Am frühen Nachmittag trudeln die anderen Teilnehmer auf dem Gelände ein. Jeder kann mitmachen, der sich zuvor online angemeldet hat - ein gewisses Niveau haben sich die meisten aber schon angeeignet, besonders wenn sie nicht in der ersten Runde vom Platz gefegt werden wollen. Sie haben via Newsletter vom Turnier gehört, von Freunden, am Quartierpingpongtisch. Oder von einem der rund zwanzig Organisatoren. Aus allen Stadtteilen sind sie heute in den "Chreis Cheib" gekommen. Für manche ein ungewohntes Terrain, denn die klassischen Züri-Open-Turniere fanden bislang an einer etablierteren Örtlichkeit statt: im Festsaal des Kaufleuten, wo an anderen Tagen nach Bürozeiten über Börsenkurse und Steuersätze diskutiert wird.

 Der Ghettoclub hingegen organisiert seine Turniere jeweils hier - im Ghetto. Sicher, Ghetto ist ein etwas plakativer Begriff für den beschaulichen Park im Herzen von Aussersihl. Denn auch das Langstrassenquartier vermag seit einigen Jahren Bessergestellte anzuziehen. In den meisten Strassen hat sich der ehemalige soziale Brennpunkt in ein trendiges Quartier verwandelt, wo es sich angenehm wohnen und allenthalben auch anständig feiern lässt.

 Das zeigt sich besonders in der Bäckeranlage. Dem ehemaligen kleinen Seitenstück zum Needlepark am Letten ist seine harte Vergangenheit kaum anzusehen. Rund um das Quartierzentrum tollen Kinder im Kies, auf der Wiese liegen junge Menschen. Je weiter sie von Sandkasten und Schaukelpferdchen entfernt sind, desto verkaterter fläzen sie im Gras. Ganz auf der gegenüberliegenden Seite, hinter einem kleinen Hügelchen, stehen schliesslich auch die zwei Pingpongtische des Ghettoclubs. Und um sie herum sitzen ein paar Leute mit schiefen Zähnen und speckigem Haar: die Randständigen. Neben alteingesessenen Quartierbewohnerinnen und ehemaligen Quartierbewohnern, die immer wieder in ihre angestammten Gefilde zurückkehren, um die schwarz-roten Schläger zu schwingen: Junge, Alte, Rapper, Rocker.

 Pingpong ist ein niederschwelliger Sport. Und einer, der Menschen offenbar vereinen kann. Einzig Frauen gibt es nicht so viele. "Am Anfang waren noch mehr da, aber vermutlich hat sie der rüde Umgangston der Spieler abgeschreckt", schätzt Klubpräsidentin Nadia. Obwohl - wenn sie jemand als Präsidentin betitelt, muss Nadia lachen. "Wir sind ja auch kein richtiger Verein", stellt sie klar. Entstanden ist der TT Ghettoclub vor rund sechs Jahren unter dem Namen Pingpongverein Bäckeranlage. Unfreiwillig sogar, aus der Not heraus.

 Damals entfernte die Stadt die zwei Betontische, um für das einjährige Provisorium des Restaurants "B" Platz zu schaffen, während gegenüber ein modernes Gemeinschaftszentrum erstellt wurde. Ein herber Verlust. Mobile Tische mussten her. Doch um einen solchen Anspruch erheben zu können, müsse man sich als Verein ausweisen können, hiess es vonseiten des Gemeinschaftszentrums. So entstand der Pingpongverein Bäckeranlage.

 Die Lokalmatadoren

 Lobi nannte sein erstes Turnier den "Tischtennis Ghetto-Cup" - oder TT Ghetto-Cup. Inspiriert haben ihn zum Namen die Alkis, die Kiffer, die Ex-Knackis von der Bäckeranlage. "Es ist ja schon ein bisschen Ghetto hier." Der Name etablierte sich und so wurde er zum Vereinsnamen umfunktioniert.

 Die Quartierturniere brachten die ersten Lokalmatadoren des Pingpongs hervor. Michi, der für seinen Anschlag gefürchtet ist. Pascal, der stärkste Defensivspieler des Vereins. Dejan, der seine Gegner immer wieder mit seiner starken Rückhand überrascht. Und nicht zu vergessen: Thomas, der in Hongkong Schläger für rund zwanzig Franken das Stück bestellt. "Er ist der Schlägerausrüster der Bäckeranlage", sagt Lobi.

 Heute messen sich die Mitglieder des TT Ghettoclubs mit ganz Zürich: 96 SpielerInnen haben sich zum Ping Open angemeldet, die Listen sind voll. Schade für die Spaziergänger, die sich gerne noch eingeklinkt hätten, um den Plastikball um die Wette hüpfen zu lassen. Leute abwimmeln, vom Wind weggewehte Teilnehmerlisten aufsammeln - das OK-Team kämpft an vielen Fronten.

 Irgendwann wirft Dominik - als einziger der Organisatoren im roten Organisator-T-Shirt erschienen - den Bettel hin und ergreift stattdessen das Mikrofon: "Wir sind so sehr im Verzug, den Zeitplan können wir ohnehin nicht mehr einhalten. Spielt einfach die Gruppenspiele durch." Das Stakkato der kleinen Bällchen schwillt wieder an. "Wo ist Nummer 91?" - "Wer heisst hier Ernst?" - "Ist das der Spielplan?" - Irgendwie organisiert sich das Turnier von allein, die Spieler finden ihre Gegner und spielen über zwei Gewinnsätze jeweils den Sieger aus. Währenddessen haben sich auch Schaulustige angesammelt. AusflüglerInnen parkieren ihre Kinderwagen nebenan. Drei Polizisten im Frühlingstenü schlendern in einem weiten Bogen um die Tische.

 Kastenwagen vor dem Klohäuschen

 Die fehlende Bewilligung für das Turnier ist den Polizisten heute aber egal. Dass die Teilnahme eine Zehnernote kostet, dass Bier und Würste verkauft werden, dass eine Musikanlage den Quartierpark beschallt - macht nichts. Die Stadtpolizei verfolgt auf der Bäckeranlage gerade eine andere Mission: eine Alkoholikerszene zu verhindern.

 Seit vor wenigen Wochen ein Alkoholikertreff beim nahe gelegenen Kasernenareal aufgelöst wurde, vermutet die Polizei, dass sich die Szene hierher verlagern könnte. Und markiert deshalb Präsenz. "Die Bäckeranlage wird zwar zweimal am Tag von zivilen Drogenfahndern kontrolliert", sagt Marco Cortesi von der Stadtpolizei Zürich. "Aber es braucht mindestens einen mobilen Polizeiposten, um die Leute abzuschrecken, die auf dem Kasernenareal nicht mehr toleriert werden."

 Deshalb stehen täglich zwei weisse Kastenwagen mit leuchtend orangen Streifen neben den Pingpongtischen. "Die wissen überhaupt nicht, wie das Spiel funktioniert", regt sich Genaro auf. "Sie parkieren so nah, dass man nicht mal richtig zu einem Smash ausholen kann."

 Heute stehen die zwei Kastenwagen aber brav hinter dem Gebüsch und verstellen höchstens den Eingang zum Klohäuschen. Lobi und Genaro hatten die Beamten am Vortag darum gebeten. Und deshalb haben sie auch so früh angefangen, die Tische aufzustellen: Sie wollten sicher sein, dass ihnen die Kas tenwagen nicht zuvorkommen.

 Die Bällchen trommeln weiter auf Beton und Kunststoff, bis die Sonne in tiefem Abendrot hinter den Hausdächern versinkt. Die Verkaterten ziehen sich in wärmere Gemächer zurück, die Eltern sammeln ihre Kinder vom Spielplatz ein und transportieren sie zum Znacht nach Hause.

 Und wer hat das Turnier gewonnen? Niemand. Als es zu dunkel zum Spielen wird, finden gerade die letzten Viertelfinals statt. Werden die übrigen Spiele noch nachgeholt, der Sieger erkoren? Lobi winkt ab. Es gibt heute sieben Sieger. Dominik wird also gleich sieben neue Schläger bestellen müssen: die Siegertrophäen.

 In der Dämmerung werden die Tische aufgeräumt, die Fussmatten zusammengerollt, die Getränkedosen aufgehoben. Die Bäckeranlage ist blitzblank. Irgendwann im Juni soll das nächste Turnier auf der Bäckeranlage stattfinden.

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 Ein Sport - viele Namen

 Gerade weil Pingpong von vielen Menschen gespielt werden kann und keine grosse Ausrüstung benötigt, gibt es eine Vielfalt an Hobbyvereinen. Der Verein Züri Open hat sich in Zürich durch seine Kaufleuten-Turniere bereits einen Namen gemacht und trägt am Sonntag, 30. Mai, im Rahmen des Thai-Festivals in der Halle des Zürcher Hauptbahnhofs ein Pingpongturnier aus - sozusagen das erste Tischtennisturnier mit eigenem Bahnhof.

http://www.zueriopen.ch http://www.thai-grand-festival.ch

 Wer es lieber etwas privater hat, kann seine GegnerInnen auch online her­ausfordern und am Quartiertisch seiner Wahl zum Duell antreten. Das ist jedenfalls die Idee von Ping Open.

http://www.pingthing.ch

 Die Schulhofvariante des Amateurturniers ist seit je der Rundlauf. Auch diesen gibts ausserhalb der Ober stufenschulhäuser: Superpingpong heisst die Veranstaltung, die bisher jeweils in der Toni-Molkerei stattfand. Newsletter abonnieren unter:

http://www.superpingpong.ch

 Der TT Ghettoclub hat keine Website. Wer ihn kennenlernen will, begibt sich am besten an einem sonnigen Tag auf ein Feierabendbier zum Affenfelsen.

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YB YB YB
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Bund 12.5.10

Emergenz in der Fankurve

 Sie sorgen für die Stimmung im Stadion - die YB-Fans im Sektor D. Erfolgsbedingt hat ihre Zahl in dieser Saison weiter zugenommen. Wie funktioniert die Szene, die in den letzten Jahren in Verruf geraten ist?

 Christian Brönnimann

 Fussballfans stehen unter Generalverdacht. Wird über sie gesprochen, dann geht es häufig um Pyros, Schlägereien und Randale. Dabei wird vergessen, wie wichtig die Unterstützung von den Rängen für eine Sportmannschaft ist. Und der grösste Teil dieser Unterstützung kommt von ebendiesen Leuten mit dem schlechten Image. Sie singen, klatschen und schreien, was das Zeug hält. Und sie treiben ihre Mannschaft an, auch wenn es einmal nicht gut läuft.

 Die Heimat der eingefleischten YB-Fans ist der Sektor D hinter dem östlichen Tor im Stade de Suisse. In der Mitte des unteren Teils von Sektor D wurden in der Winterpause auf Wunsch der Fans die Klappstühle abmontiert, sie waren ohnehin nicht benutzt worden. Seit April gibt es keine Tickets mehr für die 3170 Stehplätze, der Bereich ist dank der Jahreskarten immer ausverkauft. Die Fans organisieren sich in rund 40 Fanclubs und Fangemeinschaften, Tendenz steigend. Dem Fanclub-Dachverband "gäubschwarzsüchtig" sind laut Vorstandsmitglied Adrian Werren alleine in dieser Saison vier neue Clubs beigetreten.

 Die Masse machts aus

 Dass die YB-Fanszene so aktiv ist wie kaum je zuvor, zeigt sich zum Beispiel an den aufwendigen Choreografien, die jeweils vor Spielbeginn dargeboten werden. Bei den Choreos hilft die ganze Fankurve mit. Zum Beispiel werden Hunderte Plastikstücke in den YB-Farben Gelb und Schwarz an die Zuschauer verteilt, die, im richtigen Moment in die Höhe gehalten, ein riesiges Muster ergeben. Oder es werden prächtige Transparente präsentiert und über die Köpfe der Fans hinweggerollt. Bei solchen Aktionen wird sichtbar, was der griechische Philosoph Aristoteles mit seinem berühmten Emergenz-Gesetz "das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile" gemeint haben könnte. Die Masse der Fans schafft etwas ganz Eigenes.

 Doch wer organisiert, koordiniert und steuert das Ganze? Der Kern dieser Gruppe sei relativ klein, sagt Adrian Werren, der auch Co-Präsident der Berner Fanarbeit ist. In die Öffentlichkeit treten wollen diese Leute nicht. Mehrere Versuche, mit ihnen in Kontakt zu treten, scheiterten. Wie die Abläufe vonstattengingen, sei ein "interner Prozess, zu vergleichen mit dem in einer normalen Firma. "Diese Prozesse werden auch dort nicht öffentlich gemacht", antwortete ein Exponent per Mail auf die Anfrage des "Bund" um ein Interview.

 Diese Zurückhaltung habe verschiedene Gründe, erklärt Werren. "Man will beispielsweise verhindern, dass Fangruppen anderer Teams frühzeitig Choreografien ausspionieren oder sabotieren können", sagt Werren. Die grösste Schmach ist es, wenn verfeindete Fans Fahnen oder anderes Material stehlen und im gegnerischen Stadion wie eine Trophäe zur Schau stellen und verbrennen. Daneben wolle man sich vor Überwachung und Repression durch die Polizei schützen, so Werren. "Je weniger Mitwisser desto besser." Die öffentliche Fan-Diskussion der letzten Jahre habe viele sehr vorsichtig gemacht.

 Der Kopf der Szene

 Während der Spiele werden die Fans vom sogenannten Capo geleitet. Capo (italienisch: Kopf) bezeichnete ursprünglich den Chef einer Mafiagruppe und wurde von der Ultra-Bewegung (siehe unten) übernommen. Der Capo steht mit dem Rücken zum Spielfeld vor der Kurve, spornt die Fans an und gibt per Mikrofon und Lautsprecher vor, was gesungen wird. "Der Capo hat einen gewissen Status in der Szene", sagt Werren. Seine Stellung habe sich zusammen mit der Ultra-Bewegung noch zu Neufeld-Zeiten vor knapp zehn Jahren entwickelt. "Die Koordination der Fangesänge gehört zur Ultra-Bewegung und hat zum Ziel, dass die Stimmung 90 Minuten lang gut ist, und nicht nur dann, wenn das eigene Team vorne liegt", sagt Werren. Durch die straffe Organisation habe zwar die Spontanität der Fans etwas gelitten, unter dem Strich komme es der Atmosphäre aber zugute, so Werren. Und das übertrage sich auf die Mannschaft.

 Die Fankurve ist voller Rituale, die sich zum Teil über Jahre hinweg entwickelt und gefestigt haben. So wird beispielsweise immer in der 75. Spielminute die YB-Viertelstunde zelebriert oder ein bestimmtes Lied wird bei jedem Match mit einem neuen, der Aktualität angepassten Text gesungen. Besonders wichtig ist ein Ritual nach Abpfiff, bei welchem sich die YB-Spieler vor der Fankurve versammeln. Beide Seiten setzen sich hin, die Fans singen "we love you, we love you, we love you, and where you play we follow, we follow, we follow ...". Dann springen alle gleichzeitig in die Höhe und feiern. Welchen Stellenwert solche Rituale auch für die Mannschaft haben, zeigt nicht zuletzt das Video, das seit kurzem auf der YB-Homepage aufgeschaltet wurde. Darin singen die Fussballer selber die Hymne und bedanken sich so bei ihren Anhängern.

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 "Public Viewing" am TV

 Wenn am Auffahrtsabend um 20 Uhr der Anpfiff für YB - FCL in Emmenbrücke ertönt, ist die Jansen-Gastrogruppe laut Ralf Jansen bestens gerüstet: Die Lokale Beach Club, Art Café, Eclipse und Gut gelaunt werden als inoffizielle Fanzone von den Farben schwarz-gelb dominiert sein, und die Fernseher laufen. Auch im Aarbergerhof wird televisionär gekickt, vielleicht sogar mit Grossleinwand. Im Mr. Pickwick läuft der Match, sofern nicht ein wichtiges englisches Spiel in die Quere kommt. Im Café Kairo gibt es diesmal statt Fussball ein Jassturnier. Nicht gezeigt wird das Spiel im Luna llena, doch sind spontane Feiern mit Gesangseinlagen nicht ausgeschlossen. (mdü)

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Fangruppen

 Ultras und Hooligans

 Bei Ultras steht im Gegensatz zu Hooligans die Gewalt nicht im Vordergrund.

 Die besonders treuen und fanatischen Fans von Sportvereinen werden als Ultras bezeichnet. Sie haben ein eigenes Verständnis der Fankultur, organisieren sich und stellen die bedingungslose Unterstützung ihres Teams an erste Stelle. Häufig sprechen sie sich klar gegen die Kommerzialisierung des Sports aus. So heisst zum Beispiel das Stade de Suisse bei ihnen nach wie vor Wankdorf. Entstanden ist die Ultra-Bewegung vor gut 50 Jahren in Italien. Seither entwickelten sich in den meisten europäischen Ländern ähnliche Szenen. Neben Fangesängen und Choreografien sind auch bengalische Feuer und Pyros ein wichtiger Bestandteil dieser Fankultur. Unter anderem deshalb geriet die Ultra-Szene in den letzten Jahren stark in die Kritik.

 Im Gegensatz zu den Hooligans steht die Gewalt gegen andere Fans oder gegen die Polizei bei den Ultras nicht im Vordergrund. Beide Szenen werden in der öffentlichen Diskussion aber häufig vermischt. Deshalb fühlen sich viele Ultras in eine falsche Ecke gedrängt. In einschlägigen Internet-Foren der Ultras wird berichtet, dass in der Schweiz die Szene derjenigen, die Fussballspiele ausschliesslich wegen Schlägereien besuchen - Hooligans oder sogenannte C-Fans - in den letzten Jahren stetig kleiner geworden ist. Dem gegenüber habe die Zahl der B-Fans, die der Gewalt je nach Situation nicht abgeneigt sind, eher zugenommen. (bro)

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BZ 12.5.10

Religion wichtiger als Fussball

 Nause verbietet YB an Auffahrt die Freinacht

 An Auffahrt könnte YB Meister werden. Doch Gemeinderat Reto Nause will am hohen Feiertag keine Freinacht bewilligen.

 Kurz vor dem Ziel macht Berns Sicherheitsdirektor Reto Nause (CVP) einen Rückzieher. Zwar hat er vor Wochen in dieser Zeitung angekündigt, in der Nacht eines YB-Meistertitels gebe es in Bern keine Polizeistunde. Doch nun präzisiert das Gemeinderatsmitglied: "Eine allfällige Freinacht findet in jedem Fall erst am Sonntag nach dem letzten Spiel gegen Basel statt." An Auffahrt werde eine solche nicht bewilligt - selbst wenn die YB-Spieler an diesem Abend frühzeitig als Schweizer Meister vom Auswärtsspiel in Luzern zurückkehrten.

 Damit dies der Fall ist, müsste YB im Auswärtsspiel beim FCL einen Punkt mehr einspielen als Rivale Basel, der zeitgleich sein Heimspiel gegen Xamax austrägt. Ob sich die YB-Fans im Meisterfall ans behördliche Partyverbot halten, darf bezweifelt werden. Zumal die YB-Verantwortlichen andere Töne anschlagen als der Sicherheitsdirektor: "Wir wären nach Spielschluss flexibel genug und würden alle Hebel in Bewegung setzen, um der aussergewöhnlichen Situation gerecht zu werden", sagt YB-Sprecher Albert Staudenmann.

 An eine mögliche Finalissima gegen den FC Basel am Sonntag im Stade de Suisse denkt bei den Young Boys derzeit niemand. "Unsere Konzentration gilt nur der Partie in Luzern", sagt Trainer Vladimir Petkovic. Die Berner treffen morgen auf einen alten Bekannten - Hakan Yakin, der frühere YB-Regisseur, ist beim FCL Captain. Er sagt: "Die Young Boys hätten den Titel verdient."
 tob/fdr

 Seite 13+14, 24

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Finale in der Fussball-Meisterschaft

 Keine YB-Freinacht an Auffahrt

 Ausgerechnet an Auffahrt spielt YB den ersten Matchball zum Meistertitel. Eine allfällige Freinacht hat Berns Sicherheitsdirektor Reto Nause (CVP) verschoben - obschon Kirchenvertreter nichts einzuwenden hätten.

 Erstmals in der Geschichte des Schweizer Profi-Fussballs findet an einem religiösen Feiertag eine Meisterschaftsrunde statt. "Die Fans haben frei, sie haben Zeit für Fussball, viele machen auch gleich die Brücke mit einem arbeitsfreien Freitag - das sind ideale Voraussetzungen", sagte Edmond Isoz, Senior-Manager der Swiss Football League gegenüber der SDA.

 Nun, es ist weit mehr als eine Vollrunde, die am diesjährigen Auffahrtsdonnerstag über die Fussballbühne geht - zumindest aus Berner Sicht. Die Young Boys spielen auswärts gegen Luzern ihren ersten Matchball zum Meistertitel. Die Rechnung ist einfach: Zum Titelgewinn muss Gelb-Schwarz einen winzigen Punkt mehr einspielen als Rivale Basel in seinem Heimspiel gegen Xamax.

 Nauses Rückzieher

 In der Hauptstadt dürften im Siegesfalle alle Dämme brechen. Zumal Sicherheitsdirektor Reto Nause (CVP) bereits vor Wochen eine YB-Freinacht "am Tag des Titelgewinns" versprochen hat. Dass dieser Tag mit Auffahrt zusammenfallen könnte, hatte er damals offenbar nicht bedacht.

 Jedenfalls macht Reto Nause nun einen Rückzieher. Eine allfällige YB-Freinacht werde in jedem Fall erst für Sonntag bewilligt, sagt Nause auf Anfrage dieser Zeitung. "Ja, auch wenn YB bereits an Auffahrt die Meisterschaft gewinnt", betont er.

 Weshalb die Wende? "Der Pokal würde auch erst am Sonntag nach dem letzten Spiel gegen Basel übergeben", sagt Nause.

 Dabei hätten nicht einmal Kirchenvertreter etwas gegen eine YB-Party am religiösen Feiertag einzuwenden: "Wir stehen nicht in Konkurrenz zum Fussball", sagt Thomas Gehrig, Leiter Kommunikationsdienst reformierte Kirchen Bern-Jura-Solothurn. Auch in der Kirche gebe es Fussballfans. "Das Meisterrennen ist auch in unserer Kaffeepause ein Thema."

 "Hupende Autos"

 Viel mehr Bier als Kaffee dürfte in der Nacht auf Freitag in Berns Gassen trotz allem getrunken werden, falls die YB-Spieler als Schweizer Meister aus Luzern zurückkehren. Denn mit Nauses Argumenten liesse sich kaum ein YB-Fan von einer Spontanfeier abhalten. Ihm sei durchaus klar, sagt der Sicherheitsdirektor, dass es rund ums Stade de Suisse zu Feierlichkeiten kommen könnte. "Und auch das eine oder andere Auto wird hupend durch die Stadt fahren."

Tobias Habegger

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 Beizen übertragen Spiel

 Trotz Feiertag geöffnet

 Auch wenn viele Bars und Beizen in Bern am Tag von Christi Himmelfahrt geschlossen bleiben - es gibt diverse Möglichkeiten, sich während des Spiels Luzern - YB in einer gelb-schwarzen Masse zu tummeln.

 Die Halbzeit-Bar im Breitenrain lässt zwar nur Mitglieder rein. Eine Mitgliedschaft kann jedoch gleich an der Tür gelöst werden. Im Wankdorf selbst bleibt das Restaurant Eleven geschlossen. Feiertage bleiben Feiertage. Geöffnet hingegen ist das Bar-Café Walter, die das Spiel live überträgt.

 Wem nur eine Grossleinwand gut genug ist, der ist im Subway in der Marktgasse bestens aufgehoben. Ob das Spiel gegen Basel am Sonntag auch über die Leinwand flimmert, wird je nach Wetter und Lust der Kunden entschieden. Der Aarbergerhof in der Mitte Berns überträgt das Spiel auf Flatscreenns. Im Länggassquartier bietet das Mappamondo die Möglichkeit, auf TV-Bildschirmen das Spiel mitzuverfolgen.

 Falls YB an Auffahrt Meister wird, dürfte es beim Stade de Suisse trotz behördlichem Freinachtverbot zur Freinacht kommen. "Wir wären nach Spielschluss flexibel genug und würden alle Hebel in Bewegung setzen, um der aussergewöhnlichen Situation gerecht zu werden", sagt YB-Sprecher Albert Staudenmann. Die YB-Spieler dürften gegen Mitternacht eintreffen. Dem Vernehmen nach wurden Betreiber von Verpflegungsständen vorsorglich aufgeboten.
 jek/tob

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BIG BROTHER SPORT
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20 Minuten 12.5.10

ZAHL DES TAGES

 860 Hooligans

 sind derzeit in der Hooligan-Datenbank Hoogan eingetragen, so die "Mittelland-Zeitung". Vor einem Jahr waren es erst 576 gewesen. 610 Hooligans wurden rund um Fussballspiele und 248 bei Eishockeymatches registriert.

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Aargauer Zeitung 12.5.10

Hooligan-Datenbank explodiert

 In einem Jahr haben die Einträge im Informationssystem Hoogan um 50 Prozent zugenommen

 836 Personen sind in der Schweiz offiziell als Sport-Chaoten registriert. Die Datenbank soll Kosten senken. Noch tut sie das aber nicht.

 Benno Tuchschmid

 Die Hooligan-Datenbank wird fleissig gefüttert. 836 Schläger sind heute bei Hoogan registriert, wie Recherchen dieser Zeitung ergeben. Damit hat die Zahl der registrierten Sportkarwallmacher innerhalb eines Jahres um 50 Prozent zugenommen. Am 10. Mai vor einem Jahr waren noch 576 Personen registriert. Die Hoogan-Datenbank füllt sich aber nicht etwa, weil die Zahl der Chaoten in den Fussball- und Eishockeystadien massiv steigt. Sie füllt sich, weil einzelne Kantone die Repressionsschrauben zünftig angezogen haben.

 Erste Ausreisesperren

 Die Massnahmen der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren gegen Gewalt im Sport beginnen zu greifen, wie Stefan Kunfermann, Sprecher der Bundespolizei Fedpol, sagt. Die Massnahmen sehen unter anderem vor, dass Krawallmacher konsequent bestraft werden. Letztes Jahr hat das Fedpol, welches Hoogan betreibt, denn auch zum ersten Mal Ausreisesperren gegen Wiederholungstäter ausgesprochen. Ebenso wurden renitente Chaoten in den Kantonen dazu verpflichtet, sich während Spielen auf dem Polizeiposten zu melden. Dies, um sicherzugehen, dass sie nicht wieder während Spielen in den Stadien auftauchen. Am härtesten geht der Kanton St.Gallen gegen Chaoten vor. Dort wurden im letzten Jahr Schnellrichter eingeführt - wer randaliert, riskiert, noch am selben Tage verurteilt zu werden. Damit ist auch zu erklären, wieso derart viele registrierte Krawallmacher aus dem Ostschweizer Kanton kommen.

 Kosten bleiben hoch

 Für ihr hartes Vorgehen erntet die St. Galler Sicherheitsdirektorin Karin Keller-Sutter viel Lob. Ihr gehe es darum, die hohen Sicherheitskosten für Fussball- und Eishockeyspiele in ihrem Kanton zu senken, betont die St.Galler Regierungsrätin immer wieder. Doch trotz Datenbank und Schnellverfahren - die Kosten sind im letzten Jahr im Kanton St.Gallen nicht gesunken. Im Gegenteil: Die St.Galler Kantonspolizei hat 2009 15200 Stunden Ordnungsdienst geleistet, 3200 Stunden mehr als 2008. Dies bedeutet auch höhere Kosten. Trotzdem hofft Keller-Sutter, dass "durch das konsequente Durchgreifen und die Schnellverfahren die Aufgebote allmählich verkleinert werden können".

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 Täter

 Hoogan-Einträge nach Tatbeständen

 393 Landfriedensbruch

 219 Gewalt/Drohung gegen Beamte

 130 Sachbeschädigung

 119 Widerhandlung Sprengstoffgesetz

 107 Tätlichkeiten

 88 Gefährdung von Leben und Gesundheit

 86 Einfache Körperverletzung

 70 Raufhandel

 51 Hinderung einer Amtshandlung

 31 Hausfriedensbruch

 18 Ungehorsam gegen amtliche Verfügung

 12 Schwere Körperverletzung

 8 Öffentliche Aufforderung zu Verbrechen

 7 Widerhandlung gegen Waffengesetz

3 Fahrlässige Körperverletzung

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 Hooligan-Datenbank

 Erfasste Personen nach Wohnkanton

 ZH 158

 SG 90

 BE 90

 LU 74

 AG 56

 VS 53

 BS 31

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WM SÜDAFRIKA
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WoZ 13.5.10

Südafrika-Mit Blick auf die Fussballweltmeisterschaft im Juni verschärft das Gastland seit Jahren die Massnahmen zur Verbrechensbekämpfung. Wird Südafrika zum Überwachungsstaat?

 Erst schiessen, dann fragen?

 Von Klaus Raab, Kapstadt

 Wenn man Dan Plato, den wortgewandten Bürgermeister von Kapstadt, fragt, ob er ein Freund von Big-Brother-Methoden sei, sagt er: "Big Brother, ich mag diesen Ausdruck" - vielleicht, weil er die durchaus kritisch gemeinte Frage nicht als solche aufgefasst hat.

 Und es gab viel Kritik im Vorfeld der Fussballweltmeisterschaft in Südafrika, die im Juni beginnt: Die Stadien würden nicht fertig, hiess es, die Zufahrtsstrassen auch nicht und die Tickets nicht verkauft. Weite Teile der Kritik sind bereits widerlegt. Und Plato, zu dessen Job es gehört, vor einem Gross ereignis "extrem sehr optimistisch" zu sein, wie er es nennt, steht nun auf der Rundbahn des neuen Stadions von Kapstadt und sagt: "Wir werden die ganze Welt überraschen."

 Nicht während der WM

 Ebenfalls optimistisch zeigt sich Kapstadts Bürgermeister im Gespräch mit der WOZ, wenn es um die Sicherheit geht. "Wir haben zusätzlich 223 Überwachungskameras in der Innenstadt aufgestellt", sagt Plato. Zusätzlich zu den vielen anderen, die seit Ende der neunziger Jahre nach und nach installiert wurden. "Wir werden die Sicherheitsstufe erhöhen und das Polizeiaufgebot vergrössern." Seine Botschaft: Es gibt kein Kriminalitätsproblem in Südafrika, jedenfalls nicht während der WM, nicht in seiner Stadt.

 Plato ist Mitglied der liberalen Oppositionspartei Democratic Alliance (DA), der zweitstärksten Partei im Parlament. In der südwestlichen Kapregion ist sie sogar stärker als die Regierungspartei des African National Congress (ANC). Kapstadt weist eine deutlich niedrigere Kriminalitätsrate auf als etwa Johannesburg. Doch Platos harte Linie wird auch hier von der Bevölkerung akzeptiert.

 Je näher die WM rückt, desto sensibler reagieren die Medien im In- und Ausland auf jeden neuen Einzelfall. So im April, als Eugène Terre'Blanche, der Gründer und Anführer der rechtsextremen Burenbewegung Afrikaner Weerstandsbeweging (AWB), von zwei Schwarzen ermordet wurde, die auf seiner Farm arbeiteten. Im Nachgang tauchten viele Fragen auf: Ob der Mord ein Vorbote neuer gewalttätiger ethnischer Unruhen sei, worauf Drohungen der gewaltbereiten AWB zu deuten schienen. Ob dadurch vielleicht sogar Südafrikas Zukunft bedroht sei. Auch wenn sich inzwischen herausgestellt hat, dass der Mord an Terre'Blanche kein politisches Motiv hatte, liess die Tat das multikulturelle Nebeneinander, das in Südafrika angestrebt wird, fragil erscheinen.

 Tornados im Winter

 Die harte Sicherheitspolitik in Südafrika muss vor dem Hintergrund der extremen sozialen Ungleichheit betrachtet werden. Regierung wie Oppositionsparteien sind dabei auf der gleichen Linie. So sagt Helen Zille, Gouverneurin der Kapregion und Vorsitzende der DA: "Wir sind eine sehr sicherheitsbewusste Gesellschaft." Der ANC sieht das genauso.

 Entsprechend rüstet Südafrika vor der WM weiter auf. 1,3 Milliarden Rand, umgerechnet rund 190 Millionen Franken, steckte die Regierung in neue Hubschrauber, Ausrüstung und zusätzliche Einsatzkräfte. Die Zahl der PolizistInnen stieg in den letzten zehn Jahren von 120 000 auf 193 000.

 Vishnu Naidoo, der Sprecher der für die Sicherheit während der WM zuständigen Polizei, ergänzt: Hooligans dürften nicht einreisen; "potenzielle Problempersonen" würden von den Ländern, deren Mannschaften an der WM teilnehmen, bereits an der Ausreise gehindert. Und mit der Polizei der Nachbarstaaten sei vereinbart, gemeinsam gegen illegale Grenzübertritte vorzugehen. "Wir sind für wirklich alles gerüstet", sagt Naidoo. "Für Flugzeug entführungen, grosse Verkehrsunfälle und auch für Terroranschläge." Es gebe sogar Evakuierungspläne für den Fall, dass - mitten im südafrikanischen Winter - ein Tornado aufzöge. "Tornados sind ein Sommerphänomen", heisst es beim südafrikanischen Wetterdienst. Aber sicher ist sicher.

 Vorbild Deutschland

 Die Bestrebungen der Regierung scheinen gut anzukommen - jedenfalls bei manchen Fachleuten. So schreibt Johan Burger, Spezialist für Verbrechen und Strafjustiz am Institut für Sicherheitsstudien ISS, einem unabhängigen Thinktank in Pretoria: "Es gibt wenig Zweifel, dass trotz der relativ hohen Kriminalitätsrate der Staat den Willen und die Möglichkeiten hat, ein hohes Mass an Sicherheit für die WM zu gewährleisten."

 Das sei doch klar, sagt Danny Jor daan, der dem Fussballweltverband Fifa unterstellte nationale Organisationschef der WM: "Wir tun alles dafür, dass kein Tourist zu Schaden kommt." Tourismus sei wichtig für die Wirtschaft. "Wir würden uns ja selber schaden, wenn etwas passiert."

 Neben der Stärkung des Tourismus soll die WM auch das Image Südafrikas verbessern - so, wie die WM 2006 das Image Deutschlands verändert hat, wie Gouverneurin Zille glaubt. "Die Deutschen galten zuvor als humorlos und unfähig zu lachen. Und sie haben das Gegenteil bewiesen", sagt Zille. "So etwas wollen wir auch. Wir wollen, dass die Leute hierherkommen, eine moderne und multikulturelle Gesellschaft sehen und feststellen: Das ist ein zuverlässiges, sauberes und sicheres Land."

 Doch ganz so einfach ist es nicht. Gilt eine Gesellschaft als verbissen, so kann sie eine grosse Party veranstalten und auf gutes Wetter hoffen. Gilt eine Gesellschaft aber als gefährlich, so muss sie, um diese Wahrnehmung zu verändern, Sicherheit spürbar machen.

 Dieses Verständnis zeigt sich nicht nur an den Überwachungskameras in Stadtzentren oder der verstärkten Präsenz von Polizeipatrouillen, sondern auch in Zilles Unterstützung der Politik der "Null Toleranz gegenüber jeder Form von Verbrechen". Diese Politik gilt in Südafrika seit 1998, die Gesetze dafür werden ständig angepasst. So unterstützten vergangenen September PolitikerInnen den Vorschlag des kurz zuvor eingesetzten Polizeichefs Bheki Cele, nach dem PolizistInnen mit dem Recht auf "shoot to kill" (Schiessen, um zu töten) ausgestattet werden sollten. Bisher durfte die südafrikanische Polizei nur schiessen, wenn sie selbst oder Umstehende bedroht waren. Obwohl ein entsprechendes Gesetz noch nicht verabschiedet ist, sei es gemäss Präsident Jacob Zuma bereits eine Handlungsanweisung für die Polizei.

 Auch ein Werbefilm der Fifa für die WM kommt nicht ohne Bekenntnis zur harten Linie aus. Er zeigt feiernde Menschen, tolle Stadien und grossartige Landschaften. Und plötzlich, Schnitt, ein Sondereinsatzkommando, wie es schwer bewaffnet ein augenscheinlich entführtes Flugzeug umkreist.

 Die Gunst der Stunde

 Was nach aussen hin als Zeichen guter Organisation und einer professionell ausgerichteten WM verkauft werden kann, ist allerdings mehr als das.

 Die Forderung nach mehr Sicherheit gibt es in Südafrika seit Jahren, und sie hatte bereits starke Auswirkungen auf die Innenpolitik. Dass nun wegen der WM die ganze Welt auf Südafrika schaut, hat diese Entwicklung noch verschärft. Die Regierung will die Gelegenheit nutzen und das Image Südafrikas als Land der Kriminalität und der Gewalt versuchen zu ändern - mit allen Mitteln.

 "Es gibt Anzeichen dafür, dass Südafrika auf dem Weg ist, ein Sicherheitsstaat zu werden", sagt Johan Burger vom ISS in Pretoria. Die "Null-Toleranz-Politik" sei dafür bezeichnend. Dennoch findet eine öffentliche Diskussion darüber, wie weit Massnahmen für mehr Sicherheit gehen dürfen, im Land kaum statt.

Stattdessen wird breit diskutiert, ob die Regierung auch tatsächlich in der Lage sei, die Kriminalität einzudämmen. In südafrikanischen Medien dominieren Berichte über Gewaltverbrechen und Gerichtsverhandlungen; Vergewaltigungsopfer werden interviewt, Entfühurngsgeschichten über Wochen prominent verfolgt. Immer wieder werfen die Medien und die Oppositionsparteien der Regierung vor, die Kriminalitätsstatistiken zu manipulieren. "In der Kap-Provinz haben zwei Polizeichefs versucht, die Zahlen zu schönen", sagt Tony Weaver von der Tageszeitung "Cape Times". "Statt Verbrechen aufzuklären, haben sie sie versteckt."

 Nationale Paranoia

 Der Fokus der Medien auf spektakuläre Einzelfälle begünstige eine "Inflation der Angst", schrieb das Forscherehe paar Jean und John Comaroff bereits 2006 in einer kriminalethnologischen Studie. Als Folge werde in der Öffentlichkeit der Eindruck gefestigt, überall dominiere die Kriminalität - und dies  führe wiederum zum Ruf nach noch mehr Polizei und immer schärferen Sicherheitsmassnahmen. Eine Entwicklung, die auch von internationalen BeobachterInnen und Organisationen wie Amnesty International mit Besorgnis verfolgt wird.

 Dies sei umso schlimmer, als in Südafrika die Verbrechensrate seit Jahren fällt; darin sind sich Jean und John Comaroff und Johan Burger einig. "Natürlich hat Südafrika ein Kriminalitätsproblem", sagt Burger, doch im internationalen Vergleich sei es wesentlich weniger schlimm als von ausländischen Medien dargestellt. Man müsse differenzieren, sagt er und präsentiert Zahlen und Statistiken für das ganze Land.

 Die Kriminalität sei regional sehr unterschiedlich, erläutert Burger. Ausserdem veränderten sich die Formen und Ziele. So nähmen seit einigen Jahren Plünderungen von Bankautomaten sowie Raubüberfälle zu. Diese wiederum konzentrierten sich stark auf die Geschäftszentren um Johannesburg und Pretoria, liefen aber deutlich seltener als früher gewalttätig ab. Auch die Zahl der Morde fiel seit 1995 um beinahe die Hälfte - auf die allerdings noch immer hohe Zahl von jährlich 37 pro 100 000 EinwohnerInnen. Hinzu komme, dass etwa achtzig Prozent der Gewaltverbrechen im Familien- und Bekanntenkreis geschehen, und dies wiederum hauptsächlich in den Townships, wo Armut und Arbeitslosigkeit am höchsten sind.

 Dort jedoch, sagt eine Politikwissenschaftlerin vom Institut für Demokratie in Afrika in Kapstadt, die nicht namentlich zitiert werden will, sei die Überwachung eher gering. "Warum müssen eigentlich nur die Geschäftsleute  beschützt werden? Warum gibt es solche Kameras nicht auch in den Townships?"

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 Erfolgreich gegen Fifa und Bauunternehmen

 "Zeigen Sie Sepp Blatter die Gelbe Karte   - keine Ausbeutung bei der Fussball-WM." Mit diesem Slogan wirbt das Schweizerische Arbeiterhilfswerk SAH für eine Kampagne, die 2007 lanciert wurde. Ziel der Kampagne ist es, dass der Weltfussballverband Fifa und dessen Präsident Sepp Blatter ihre soziale Verantwortung als Organisatoren der Fussballweltmeisterschaft wahrnehmen, die im Juni in Südafrika stattfindet.

 Es seien hohe Ziele gewesen, die sie sich zusammen mit der Schweizer Gewerkschaft Unia gesetzt haben, sagt Joachim Merz, Kampagnenleiter des SAH im Gespräch mit der WOZ. So wollte die Kampagne auf den WM-Baustellen die Arbeitsbedingungen und die Arbeitssicherheit verbessern, die Gewerkschaften durch Mitgliederrekrutierung nachhaltig stärken und Weiterbildungsmöglichkeiten für die Beschäftigten schaffen.

 Keine leichte Aufgabe: Die südafrikanische Regierung zeigte wenig Interesse an den sozialen Missständen auf den Baustellen - auch weil sie von Anfang an unter grossem Zeitdruck stand, den Neubau und die Renovation von zehn Stadien fertigzustellen. Ähnliches galt für die Bau- und Subunternehmen, bei denen es um millionenschwere Aufträge ging, und die wenig kooperative Fifa.

 "Es hat einige Zeit gedauert, bis die Kampagne in Südafrika in Gang gekommen ist", sagt Merz. Dennoch zieht das SAH nach dreieinhalb Jahren eine positive Bilanz. Das auslösende Element waren aber nicht konzertierte Streiks von Gewerkschaften, sondern spontane Arbeitsniederlegungen der Kapstadter ArbeiterInnen im Sommer 2007, weil sie keine Transportentschädigung erhielten. "Der Lohn lag damals für einen ungelernten Arbeiter bei knapp 2000 Rand im Monat, das entsprach etwa 320 Franken", erklärt Merz. Die Transportkosten hätten bis zu einem Drittel des Lohns weggefressen. Nach dem zweiten Streik hatten die Beschäftigten ihre Forderung durchgesetzt.

 Die Gewerkschaften initiierten diesen Streik zwar nicht, aber ihre Vertrauensleute auf den Baustellen waren in den Streikkomitees dabei. "Sie haben es verstanden, die Forderungen zu kanalisieren", sagt Merz. Inzwischen sind die Gewerkschaften erstarkt und haben über 25 000 Neumitglieder gewonnen. In den letzten drei Jahren gab es 26 Streiks auf den WM-Baustellen, einen davon auf nationaler Ebene.

 Den Erfolg führt Merz auf drei Faktoren zurück: So sei durch die Streiks, hartnäckiges Lobbyieren und eine aggressive Medienarbeit konstant der Druck auf die Fifa, die südafrikanische Regierung und die Bauunternehmen aufrechterhalten worden. Inzwischen müssen sich auch die Subunternehmen auf den Baustellen an die gesetzlichen Bestimmungen halten; der Mindestlohn beträgt heute 3000 Rand (rund 440 Franken), auch wenn dies noch immer unter einem existenzsichernden Lohn liegt; und die Fifa hat schriftlich zugestanden, dass sie sich für faire Arbeitsbedingungen einsetzt. Doch auch so profitiert vor allem die Fifa von der WM. "Bereits jetzt hat sie einen deklarierten Gewinn von über zwei Milliarden US-Dollar", meint Merz. "Mehr als je zuvor. Dennoch zieht die Fifa immer wieder gemachte Zusagen zurück."

 Auch deshalb wird die Kampagne fortgesetzt. Nächste Woche übergeben die südafrikanischen Gewerkschaften den Stab an eine brasilianische Delegation für die WM 2014.

 Sonja Wenger

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ZWISCHENGESCHLECHT
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WoZ 13.5.10

Intersexualität - Vincent Guillot wurde mit einem uneindeutigen Körper geboren. Die Ärzte machten ihn zum Mann. Heute zieht er es vor, ausserhalb der Geschlechter zu leben.

"Ich bin kein ewiges Kind"

Von Bettina Dyttrich (Text) und Florian Bachmann (Foto)

Er ist gross und schlank, hat das halblange, graumelierte Haar zusammengebunden. Die Ruhe, die er ausstrahlt, könnte man im ersten Moment mit Schüchternheit verwechseln. Aber wenn ihn etwas stört, wehrt er sich laut und deutlich. Seine Gesichtszüge sind fein, und doch: Niemand würde ihn für etwas anderes halten als für einen Mann. Obwohl er keiner ist. Vincent Guillot ist intersexuell. Er ist mit einem uneindeutigen Körper auf die Welt gekommen.

"Ich bin nicht zwischen den Geschlechtern, ich bin ausserhalb", sagt Vincent Guillot im Dokumentarfilm "L'ordre des mots" von Cynthia Arra und Melissa Arra. "Ich bin absolut neutral. Mein Körper hat nie ein Sexualhormon produziert. Ich habe immer gesagt, ich sei nichts. Und alle fanden das sehr negativ. Aber ‹nichts› ist nichts Negatives für mich. Nichts ist das Absolute, das Unendliche."

Eine Bombe im Körper

Vincent wächst in einer katholischen Familie in der Nähe von Paris auf. Als er sieben Jahre alt ist, bekommt er einen kleinen Bruder. Er sieht, dass der Penis des Neugeborenen grösser ist als sein eigener, und kann es nicht fassen. Am gleichen Tag läuft seine Schildkröte davon. Vincent schreit. Alle denken, es sei wegen der Schildkröte.

Zu jener Zeit beginnen die Behandlungen. Sie schlagen ein - "wie eine Atombombe". Alles verändert sich. Die Welt wird fremd. Immer hat er gern Kartoffelstock gegessen, jetzt findet er ihn abstossend. Was angenehm war, wird unerträglich. Er kann seine Wutausbrüche nicht kontrollieren und wird ungeschickt, beherrscht seinen Körper nicht mehr. Steht neben sich und versteht nicht, was mit ihm geschieht. Heute weiss Vincent Guillot, dass er damals hohe Dosen Testosteron bekam, damit sein Körper sich vermännlichte. Dazu kamen die Operationen. Seine Eltern wussten nichts Genaues über seinen Zustand: "Man sagte ihnen, ich sei ein misslungener Junge, den man reparieren müsse." Sie folgten dem Rat der Mediziner. Aber auch sie wurden schliesslich misstrauisch, als die Eingriffe nicht mehr aufhörten.

Die letzte Operation hätten die Eltern beinahe verhindert. Sie verstanden nicht, was dem Jungen noch fehlen sollte. Doch die Ärzte insistierten, ohne Details zu erklären. Bei dieser letzten Operation entfernten sie Vincents Gebärmutter.

Störendes abschneiden

Ein uneindeutiges Geschlechtsteil, grösser als eine Klitoris, aber kleiner als ein Penis, ist in den meisten Fällen kein gesundheitliches Problem. Nur wenn zum Beispiel der Harnabfluss nicht funktioniert, ist ein schneller Eingriff notwendig. Trotzdem gilt ein solches Geschlechtsteil vielen ÄrztInnen als "psychosozialer Notfall". Ein Kind, das mit einem uneindeutigen Körper aufwachse, könne keine klare Geschlechts identität entwickeln und sei deshalb in seiner psychischen Gesundheit gefährdet, so die Theorie. Daraus folgt, dass Operationen in den ersten beiden Lebensjahren stattfinden sollten.

Diese Praxis geht auf die Forschungen des Teams um den US-amerikanischen Psychologen John Money (1921-2006) zurück. Seit Money ist es üblich, uneindeutige Kinder jenem Geschlecht zuzuweisen, das sich operativ leichter herstellen lässt: "Ist das Glied so klein, dass vorhersehbar ein gebrauchsfähiger Penis auch mit umfangreichen operativ-rekonstruktiven Massnahmen nicht hergestellt werden kann, dann muss entschieden werden, dass es sich um ein Mädchen handelt", steht in einem deutschen Pädiatriebuch aus den neunziger Jahren. Dieses kleine Glied gilt aber umgekehrt als störend gross für die Geschlechtsidentität eines Mädchens - und wird verkleinert. Auch wenn es heute nicht mehr üblich ist, die Penis-Klitoris ganz zu amputieren, bleibt die Empfindsamkeit des wichtigsten Lustorgans nach den Operationen oft eingeschränkt. Und eine "Neovagina" muss meist über lange Zeit durch das regelmässige Einführen eines Gegenstandes gedehnt werden.

Dazu kommt, dass in den letzten Jahrzehnten unzählige Intersex-Kinder nackt ganzen Gruppen von ÄrztInnen vorgeführt und für Fachpublikationen fotografiert wurden. "Diese Körper sind nichts wert, aber aufregend", ist Vincent Guillots sarkastischer Kommentar. "Mit solchen Körpern darf man alles tun." Erfahrungen dieser Art seien unendlich viel traumatisierender als uneindeutige Körper, sagen Intersex-AktivistInnen, die sich seit den neunziger Jahren immer lauter wehren. "Um das psychische Leiden der Eltern zu lindern, verstümmelt man die Kinder", sagt Guillot. Ist Uneindeutigkeit vor allem ein Problem der Erwachsenen? Die Erfahrungen von Karin Plattner aus Basel, Präsidentin des Vereins Selbsthilfe Intersexualität und Mutter eines intersexuellen Kindes, deuten es an: "Heute ist sie zehn, und es ist ihr schlichtweg wurst, ob sie ein Mädchen oder ein Junge ist", sagte sie letztes Jahr zum "Tages-Anzeiger".

Auch in der Schweiz kommen jährlich mindestens zwanzig Kinder mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen auf die Welt. Vielleicht sind es auch doppelt so viele; es gibt keine Statistik. Wie viele von ihnen noch immer im Kleinkindalter operiert werden, ist ebenfalls unklar. Dank der breiteren Diskussion über das Thema seien viele MedizinerInnen kritischer geworden, sagt der Arzt Jürg Streuli vom Institut für Biomedizinische Ethik der Universität Zürich. "An den meisten Kliniken werden heute Psychologen, Sozialpädagogen und Eltern eng in die Entscheidungen einbezogen." Trotzdem sei der Weg noch weit: "Weiterhin sind auch äusserst fragwürdige Vorstellungen im Umlauf, die die Aktivisten in ihren Befürchtungen bestärken. Und es fehlt sowohl an Erfahrung, wie man Eltern und Kinder am besten begleiten und unterstützen kann, als auch an Fachleuten, die diese Hilfe professionell und flächendeckend anbieten können."

Ewige Kinder

"Das Leiden ist kein Argument", sagt Vincent Guillot plötzlich. Wie bitte? "Wer sagt, die Operationen müssten aufhören, weil die Kinder leiden - der sagt, sie könnten weitergehen, wenn es kein Leiden gäbe. Aber selbst wenn die Ärzte einen Zauberstab hätten, mit dem sie bei der Geburt perfekte Jungen und Mädchen machen könnten - einfach so, tak -, selbst dann wäre es nicht legitim, das zu tun." Überhaupt stört es ihn, dass es in den Diskussionen um Intersexualität immer um Kinder geht: "Sie machen die Intersexuellen zu ewigen Kindern, wie die psychisch Kranken auch. Und Kinder können nicht für sich sprechen. Man muss sie nicht ernst nehmen." Dabei betreffe die entscheidende Frage in erster Linie das Erwachsenenleben: die Frage nach dem Zugang zur Lust am eigenen Körper.

Vincent Guillot durfte zumindest sein Glied behalten. Mit der Hormontherapie wuchs es zu einer "normalen" Grösse heran - zur Freude der Ärzte und zu seinem heutigen Bedauern. "Ich habe nie verstanden, was das heisst, ‹Mann› oder ‹Frau›. Ich kann mich in diesem System nicht orientieren." Was er aber wahrnimmt, sind unterschiedliche Verhaltensweisen, wenn es um ihn und seinen Körper geht. Guillot hat sexuelle Beziehungen mit Männern und mit Frauen. Seine Erfahrung dabei: Die Frauen können mit seiner Situation umgehen, die Männer nicht. "Sie haben eine Herrschaftsposition zu verteidigen. Und was bei den Schwulen noch dazukommt: Aus Angst, keine ‹richtigen Männer› zu sein, betonen sie ihre Männlichkeit umso stärker. Wenn es nur um Sex geht, ist das kein Problem; ich habe einen grossen Schwanz. Aber eine Liebesbeziehung ist nicht möglich, weil ich sie dauernd an ihre Angst erinnere. Ich weise sie auf ihre eigenen femininen Seiten hin, die sie ablehnen. Sie wollen einen Mann - was ich nicht bin."

Die Frauen hätten dieses Problem nicht: "Im Sex mit Frauen ist unendlich viel mehr Spielraum." Fünfzehn Jahre lang lebte Guillot mit einer Freundin zusammen. Von aussen gesehen waren sie ein normales Heteropaar. Füreinander waren sie etwas anderes. Sie mussten es nicht definieren.

Die Scham ist zu gross

Erst seit zehn Jahren, seit seinem 35. Lebensjahr, weiss Vincent Guillot von seiner Intersexualität. Vorher wusste er nur, dass sein Körper nicht den Erwartungen entsprach. Dieses Vorenthalten von Information ist zum Teil bis heute gängige Praxis: "Die Begriffe Zwitter, Intersex, Hermaphroditismus" dürften Eltern und Kindern gegenüber nicht verwendet werden, heisst es im erwähnten pädiatrischen Fachbuch.

Guillot begann sich zu engagieren, wurde Europa-Sprecher der Organisation Intersex International (OII), trat an Veranstaltungen auf, gab Interviews. Doch es war schwierig, an die Öffentlichkeit zu treten. Bis heute basiere die Intersexuellenbewegung in Frankreich stärker auf virtuellen Kontakten als auf persönlichen Begegnungen, erzählt er. Die Scham ist zu gross.

Lieber krank als komisch

"Viele Intersexuelle definieren sich selbst als krank. Ich verstehe das. Krank oder behindert, das sind Identitäten, die es in unserer Gesellschaft gibt. Eine intersexuelle Identität - ich bin weder Mann noch Frau oder beides zugleich, und mir ist wohl dabei - gibt es nicht. Es ist viel, viel härter, sich als intersexuell anzunehmen." Er weise immer wieder darauf hin, dass die Mehrheit der Intersexuellen nicht sei wie er. Dass sie ganz normale Männer und Frauen sein wollten und ein Recht darauf hätten wie alle anderen Menschen auch.

Und doch - er glaubt ihnen nicht ganz. "Fast immer kommt der Moment, wo sie mir sagen: ‹Manchmal träume ich, ich hätte ein anderes Geschlecht.› Oder: ‹Im nächsten Leben möchte ich anders sein.› Zwischen den Zeilen ist es immer da …" Er zögert. Und fährt dann fort, laut und energisch: "Sie wissen es, sie wissen ganz genau, dass sie keine misslungenen Männer und Frauen sind! Aber das ist derart brutal, dass sie es nicht aussprechen können. Sie sagen lieber: ‹Ich bin ein Mann wie alle anderen, heterosexuell, verheiratet, ich liebe Fussball und Bier …› Sie übertreiben die Männer- oder Frauenrolle, sie spielen sie zu gut. Wie viele Transsexuelle auch."

Vincent Guillot fröstelt. Auch der Wollschal, den er sich um die Schultern gewickelt hat, nützt nicht viel. Der Frühlingstag ist kühl, doch Guillot friert aus einem anderen Grund: Sein Testosteronspiegel ist tief. Direkt nach der monatlichen Spritze hat er zu viel, später zu wenig vom Sexualhormon im Körper. Das führt zu ähnlichen Problemen, wie sie Frauen in den Wechseljahren erleben: Er friert und schwitzt, schläft schlecht, der Kopf tut ihm weh. Am liebsten würde er ganz auf die Spritzen verzichten. Aber das geht nicht, denn Sexualhormone haben vielfältige Funktionen; der Körper benötigt Testosteron auch für den Muskelaufbau und die Knorpelbildung.

Heute lebt Guillot als Biogemüsegärt ner in der Bretagne. Er hat sich aus allen Organisationen zurückgezogen - "mein Leben besteht nicht nur aus Intersexualität". Doch er äussert sich immer noch, wenn ihn jemand fragt, lebt weiterhin "mit entblösstem Gesicht". "Ich sehe, wie es den Intersexuellen geht, die sich verstecken. Sie haben ein schreckliches Leben. Sie leiden ähnlich, wie Homosexuelle jahrhundertelang gelitten haben." Der Kampf, sagt er, müsse ein umfassender sein: "Einst galten alle als homosexuell, die keine Heteros waren. Dann haben sich Lesben und Schwule organisiert und dabei die Transen ausgeschlossen. Später haben sich die Transen organisiert und die Intersexuel len ausgeschlossen. Wer kommt nach uns?" Sich gegen eine einzelne Diskriminierung zu wehren, sei nicht genug, sagt Guillot und illustriert es mit einem Beispiel: "Die Menschen, die heute in Frankreich wahrscheinlich am meisten diskriminiert werden, sind papierlose transsexuelle Prostituierte."

In der Bretagne geht es ihm gut. Die Bauern und Bäuerinnen in der Nachbarschaft wissen, wovon er spricht. Denn Zwillingskälber verschiedenen Geschlechts sind oft intersexuell, weil sich ihre Geschlechtshormone anders als bei menschlichen Föten im Mutterbauch vermischen. Es gibt intersexuelle Ziegen, Hühner und Schweine. "Leute, die mit Nutztieren leben, wissen, dass das regelmässig vorkommt: ‹Mein Hahn hat auch einmal ein Ei gelegt.›"

Keine dritte Möglichkeit

Es gibt noch einen Grund, warum er in der Provinz bleiben will. "Wenn du ruhig und gelassen bist, gibst du den anderen keinen Anlass zur Aggression. Das funktioniert aber nur auf dem Land. In der Stadt ist es fast unmöglich, gelassen zu sein, und weil man dich nicht kennt, kann man dich attackieren." Vor vier Jahren, noch in Paris, wurde Guillot in seinem Wohnquartier überfallen und spitalreif geschlagen. Trotzdem ging er nicht zur Polizei. "Einem Beamten mein Leben erzählen? Nein. Nein. Der Polizeiposten ist der einzige Ort, wo ich bisher wirklich in Lebensgefahr war." Genaueres will er dazu nicht sagen.

Noch dieses Jahr möchte Vincent Guillot auf weibliche Hormone umstellen und dabei bleiben, falls er sich besser fühlt. Wegen der Pille ist der Markt für weibliche Hormone riesig, darum wird mehr geforscht, und die Auswahl an verschiedenen Produkten ist viel breiter als im Bereich des Testosterons. Rechtlich wird er ein Mann bleiben, auch wenn er wahrscheinlich nicht mehr so aussehen wird. Um auch auf dem Papier eine Frau zu werden, müsste er sich dem gleichen Prozedere unterwerfen wie eine Transsexuelle, den umfangreichen Abklärungen und psychiatrischen Vorgesprächen. Da bleibt er lieber ein Mann. Eine dritte Möglichkeit gibt es noch nicht.

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Intersexualität

Was genau als Intersexualität zu definieren ist, ist medizinisch umstritten. Denn wo sie "anfängt", ist unklar. Auf der Ebene der Chromosomen gibt es neben XX (Frau) und XY (Mann) auch XXY- und X-Varianten. Menschen, die mit uneindeutigen Geschlechtsteilen zur Welt kommen, haben jedoch meistens einen "normalen" XX- oder XY-Chromosomensatz. Grund für die Intersexualität ist bei ihnen zum Beispiel das Adrenogenitale Syndrom (AGS), das bei Menschen mit XX-Chromosomensatz, Eierstöcken und Gebärmutter zu einer äusserlichen Vermännlichung führt. Alex, die Hauptperson des Films "XXY" von Lucia Puenzo, hat AGS (vgl. Kasten "Literatur und Film"). AGS gibt es aber auch in schwächeren Formen, die oft unbemerkt bleiben. Bei Androgenresistenz kommen dagegen XY-Menschen mit uneindeutigem oder weiblichem Äusseren auf die Welt, und bei 5-alpha-Reduktase-Mangel beginnt die Vermännlichung in der Pubertät (wie im Roman "Middlesex" von Jeffrey Eugenides).

Im Gegensatz zu Intersexuellen werden Transsexuelle mit eindeutigen Körpern geboren, fühlen sich jedoch einem anderen Geschlecht zugehörig, als ihr Äusseres vermuten liesse. Dar um lassen viele von ihnen ihren Körper hormonell, zum Teil auch operativ angleichen.

Intersex-Aktivismus

Lautstark gegen Genitaloperationen an intersexuellen Kleinkindern setzt sich in der Schweiz die Gruppe Zwischengeschlecht um die Aktivistin Daniela Truffer ein. Der Verein Selbsthilfe Intersexualität engagiert sich vor allem in der Öffentlichkeitsarbeit. Vermehrt zum Thema aktiv werden möchte auch die Schweizer Sektion von Amnesty International (AI): An der Generalversammlung im April wurde eine Motion der Untergruppe Queeramnesty einstimmig gutgeheissen. Sie fordert, dass sich AI gegen Zwangsoperationen ausspricht: "Intersexuelle sollen so leben dürfen, wie sie geboren wurden, und im Erwachsenenalter selber über mögliche Operationen und Therapien entscheiden können, falls sie diese wünschen."

http://blog.zwischengeschlecht.info, http://www.si-global.ch, http://www.queeramnesty.ch

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Literatur und Film

≥ Informativ und sehr gut lesbar ist Ulla Fröhlings Buch "Leben zwischen den Geschlechtern. Intersexualität - Erfahrungen in einem Tabubereich" (2003, Ch. Links Verlag).

≥ Soeben erschienen ist "XX0XY ungelöst", Ulrike Klöppels umfassende Studie über Intersexualität in der deutschen Medizin seit dem 18. Jahrhundert (Transcript-Verlag).

≥ Die berühmteste intersexuelle Romanfigur ist Calliope/Cal in "Middlesex" (2002) von Jeffrey Eugenides (auf Deutsch bei Rowohlt erschienen).

≥ Im eindrücklichen, zeitweise kaum erträglichen Dokumentarfilm "Das verordnete Geschlecht" haben Oliver Tolmein und Bertram Rotermund 2001 zwei der ersten deutschen Intersex-AktivistInnen porträtiert, Michel Reiter und Elisabeth Müller.

≥ Der bewegende Spielfilm "XXY" (2007) von Lucia Puenzo erzählt die Geschichte des/der fünfzehnjährigen Intersexuellen Alex.

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NATIONALSOZIALISMUS
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NZZ 12.5.10

Der Weg in den Widerstand

 Sophie Scholl in einer umsichtigen und aufschlussreichen Biografie von Barbara Beuys

Sabine Fröhlich

 Sabine Fröhlich ⋅ Ihre letzte Botschaft schrieb sie auf die Anklageschrift, die man ihr zum Lesen in die Gefängniszelle brachte. Erst Jahrzehnte später wurde bemerkt, dass auf der Rückseite der Akte, in gleichmässigen Grossbuchstaben, das Wort "Freiheit" stand. Vielleicht wäre Sophie Scholl später einmal Grafikerin geworden - ihr zeichnerisches Talent ist überliefert -, hätte Hitlers "Volksgerichtshof" sie nicht 1943, im Alter von einundzwanzig Jahren, zusammen mit ihrem Bruder Hans Scholl und anderen Beteiligten eines studentischen Widerstandskreises wegen "Hochverrats" hinrichten lassen. Die Forderung nach Freiheit hatten sie nachts an die Wände der Münchner Universität geschrieben und auf Flugblättern verbreitet.

 Einst ein "Jungmädel"

 Über die Freiheit, für die Sophie Scholl öffentlich eintrat, hatte sie sich selbst erst Klarheit verschaffen müssen. Wie der Weg vom dreizehnjährigen "Jungmädel" zur entschlossenen Widerstandskämpferin verlief, das lässt sich nun in einer klug recherchierten Biografie von Barbara Beuys nachlesen. Schon der 2005 veröffentlichte Briefwechsel mit ihrem Geliebten, dem Berufssoldaten Fritz Hartnagel, liess erkennen, wie hart die sechzehnjährige Schülerin an sich arbeitete, um selbstbestimmt und frei von "weiblichen Gefühlen" ihr Denken zu schulen. Eine unermüdliche Suche nach Erkenntnis und metaphysischer Erfahrung dokumentiert die Korrespondenz, zugleich eine wachsende Ablehnung gegenüber jedem Arrangement, sei es politischer oder privater Natur, das nur dem eigenen Nutzen diene.

 All diese Züge kann Barbara Beuys nach der Recherche im umfangreichen Archiv von Inge Aicher-Scholl, dem ältesten von fünf Geschwistern, mehr als nur bestätigen. Sie lässt Sophie Scholl als eine selbstbewusst und eigenständig handelnde Frau aus dem Schatten ihres Bruders treten; als eine gut informierte, illusionslose Beobachterin der politischen Situation und des Kriegs, den sie von Anfang an ablehnt. Es scheint auch, als sei Sophie Scholl - anders als bisher vermutet - bereits im Frühsommer 1942, also noch bevor die ersten Flugblätter der "Weissen Rose" auftauchten, zumindest informiert und zur Beteiligung bereit gewesen, da sie in dieser Zeit schon versuchte, einen Vervielfältigungsapparat zu kaufen.

 Bekannt, aber bisher wenig beleuchtet war Sophie Scholls intensive Auseinandersetzung mit Glaubensfragen, die Lektüre der "Bekenntnisse" des Augustinus, die Begegnung mit den Schriftstellern und Philosophen des "Renouveau Catholique" (Bernanos, Claudel, Jacques Maritain). Diese Inspirationen wurden zum geistigen Band in einem grösseren Kreis von Gleichgesinnten, der als spiritueller Vorläufer der späteren Widerstandsaktionen nicht zu unterschätzen sein dürfte. In Gesprächen auf Skihütten und in der liberalen Atmosphäre des Schollschen Elternhauses, in Briefen und einem im Freundeskreis zirkulierenden Rundbrief mit dem Titel "Windlicht", für den Sophie Scholl redigierte und zeichnete, suchten die Beteiligten nach einer Spur, nach einem wahrhaftigen Gottesbezug, nach "einem Grund, der mir immer ist, unabhängig von allen Einflüssen", wie Sophie Scholl im Oktober 1940 an ihren Freund im besetzten Frankreich schrieb.

 Diesen Kreis bezeichnet Barbara Beuys wegen des grossen Einflusses von Otto ("Otl") Aicher - erklärter Nazigegner, sendungsbewusster Katholik und späterer Erfinder der olympischen Piktogramme - als "Aicher-Scholl-Bund". Als Hans Scholl sein Studium in München begann, stiessen weitere Personen dazu, befreundete Künstler, katholische Publizisten (Carl Muth, Theodor Haecker) und schliesslich die ebenfalls später hingerichteten, an den Flugblattaktionen beteiligten Studenten sowie der Volksliedforscher Kurt Huber.

 Die Hinwendung zu einem spirituellen Christentum, in dem die Suche nach Freiheit - gewiss nicht "nur" der geistigen, sondern ebenso der persönlichen und politischen - eingeschlossen war, beantwortet letztlich die oft gestellte Frage nach dem Punkt der Abkehr Sophie Scholls von ihren früheren, von Zeitgenossen als "fanatisch" bezeichneten Aktivitäten im Ulmer "Bund Deutscher Mädel", der weiblichen "Hitlerjugend". Auch Barbara Beuys kann kein alles erklärendes Dokument liefern, mit dem der Weg in den Widerstand seinen Anfang genommen hätte. Gewiss spielt nach wie vor das Jahr 1937 eine wichtige Rolle, in dem die Brüder Sophie Scholls wegen "bündischer Umtriebe" - dem Festhalten an den Symbolen der inzwischen verbotenen Jugendbewegung - vorübergehend verhaftet wurden. An den "Heimabenden" ihrer BDM-Gruppe nahm Sophie Scholl aber noch bis 1941 sporadisch teil, als ihre ablehnende Haltung gegenüber dem nationalsozialistischen Staat sich längst gefestigt hatte.

 "Einsam unter den Bekehrten"

 Es wäre denkbar, dass das Bild einer "Umkehr" die Sache nicht trifft, dass vielmehr die Suche nach Klarheit und die Erfahrung des wachsenden Drucks den Blick auf die Realitäten geschärft haben, während das zu Anfang noch populistisch, ja vermeintlich "revolutionär" sich gebende nationalsozialistische Gewaltsystem die Maske bald fallenliess. Besonders während der zweijährigen Arbeitseinsätze, zu denen Sophie Scholl verpflichtet wurde, um überhaupt studieren zu dürfen, wurde die Suche nach dem Glauben auch zur Gegenwelt. Dennoch blieb sie letztlich, so Beuys im Blick auf die beiden ausgeprägt schwärmerischen Geschwister Inge und Hans, "einsam unter den Bekehrten".

 Während sich die ältere Schwester auf ihre Konversion vorbereitet, überlegt die jüngere, ob es nicht ihre Aufgabe sei, "nach aussen und mit der Tat zu wirken", wie sie im August 1941 einer Freundin schreibt. Insofern realisiert ihr Schritt in den aktiven Widerstand eine seit langem sich vorbereitende Entscheidung. Mehrfach überliefert ist aus den letzten Monaten ihr - mündlich geäussertes - Bekenntnis, sie habe nicht schuldig werden wollen dadurch, nichts getan zu haben.

Das historische Buch

Barbara Beuys: Sophie Scholl. Biografie.
Verlag Carl Hanser, München 2010. 493 S., Fr. 42.90.

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St. Galler Tagblatt 12.5.10

Adolf Eichmann

 Der Judenmörder

 Im Polizeiverhör hat er gesagt: "Unsere Arbeit bestand ja nur aus Schreiberei." Und hat versichert, er habe keinen Hass gegen die Juden empfunden. In der Tat: Mit all dem Elend, mit dem Schrecken und dem Blut des Holocaust ist Adolf Eichmann selten in Berührung gekommen. Mitgewirkt daran hat er nach Kräften, aber so unauffällig, dass man lange nicht nach ihm gesucht hat. Vor fünfzig Jahren ist ihm der israelische Geheimdienst auf die Spur gekommen und hat Eichmann entführt, der unter falschem Namen in Buenos Aires lebte. Der Prozess gegen ihn wurde auch von Hannah Arendt beobachtet: Die Philosophin war enttäuscht von der "Banalität des Bösen" - und gewann beunruhigende Einsichten. (R. A.) thema 3

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Der Schreibtischmörder

 Adolf Eichmann gehörte nicht zu denen, die den politischen Kurs des nationalsozialistischen Regimes festlegten. Als ehrgeiziger Erfüllungsgehilfe aber wurde er zum Motor des Holocaust. Vor fünfzig Jahren ist Adolf Eichmann gefasst worden.

 Adolf Eichmann Mit einer Entführung durch den israelischen Geheimdienst beginnt vor fünfzig Jahren eine neue Epoche in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Der Fall und die Person Adolf Eichmanns zeigen, wie durchaus "normale" Menschen zu Massenmördern werden können.

 Ricardo Klement macht es wie immer. Kommt abends mit dem Bus nach Hause, geht die dunkle, einsame Strasse entlang bis zu seinem Haus. Es ist der 11. Mai 1960. Ein Mann schaut unter die Kühlerhaube eines Autos, ein anderer kommt auf ihn zu. Klement steckt die Hand in die Tasche, der Mann stürzt auf ihn zu. Er schreit, doch niemand hört ihn. Die Männer packen ihn ins Auto, fahren ihn weg in ein Versteck. Sie fesseln ihn und wundern sich über seine schäbige Unterwäsche. Das soll er sein?

 "Klement", "Eichmann"

 Sie fragen ihn, wie er heisse. "Klement". Dann lesen sie ihm seine Mitgliedsnummern bei der "Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei" (NSDAP) und der berüchtigten "Schutzstaffel" (SS) vor, und er sagt: "Adolf Eichmann". Der Mann, der die Ermordung der Juden massgeblich organisiert hat, ist gefasst. In Buenos Aires, von Mitgliedern des israelischen Geheimdienstes. Ein paar Tage später setzen sie ihn unter Drogen, bringen ihn zum Flugzeug und machen ihm in Jerusalem den Prozess. Am 31. Mai 1962, um Mitternacht, findet die Hinrichtung statt. Er sei unschuldig, sagt er dem Geistlichen noch. Schliesslich habe er keine Befehle erteilt.

 Das ist richtig und falsch zugleich. David Cesarani, der eine Biographie* Eichmanns verfasst hat, bezeichnet ihn als Bürokraten und Massenmörder. Und er beschreibt ihn als einen Mann, dessen auffälligster Charakterzug ein Mangel an Hass ist. Die Philosophin Hannah Arendt hat gerade in seiner Gewöhnlichkeit das Beunruhigende gesehen (siehe unten).

 Die NSDAP schützen

 Gewöhnlich sind Kindheit und Jugend. Adolf Eichmann wächst in Solingen und Linz auf. Er hat schlechte Noten, der Vater bringt ihn als Vertreter bei der "Vacuum Oil Company" unter. Dort zeigt er zum ersten Mal, wie gründlich er arbeiten kann. Einer seiner Kaffeehausfreunde heisst Hugo Kaltenbrunner, ein Deutschnationaler, dessen Sohn Ernst sich den Nationalsozialisten anschliesst. Am 1. April 1932 wird auch Adolf Eichmann Mitglied der Partei, sieben Monate später der SS.

 Er zieht nach Deutschland und findet eine Aufgabe beim "Sicherheitsdienst" (SD), zu dessen Aufgaben es gehört, die NSDAP vor ihren Feinden zu schützen. Zu diesen Feinden gehören die Juden. Eichmann entwickelt sich zum Spezialisten für Zionismus und Judentum, über Jahre organisiert er die Auswanderung der Juden.

 Die Wende

 Er tut es mit Geschick und Druck, notfalls auch mit Gewalt. Denn freiwillig gehen die Juden nicht; immerhin müssen sie einen Grossteil des Vermögens zurücklassen. Zwischen 1938 und 1939 wird Eichmann vom untergeordneten Bürokraten zum Praktiker des Völkermords. Denn der Krieg verändert alles. Das britisch regierte Palästina nimmt keine Juden mehr auf, fast alle Länder schliessen ihre Grenzen. Schritt um Schritt bahnt sich jetzt der Völkermord an.

 Langsam brutalisiert

 Die Juden verlieren ihre Rechte, man nimmt ihnen Hab und Gut, dann die Wohnungen, pfercht sie in Ghettos - und fängt an, sie in immer grösserer Zahl umzubringen. Mittendrin Adolf Eichmann, der Ghettos bereitstellt und Züge organisiert - und 1944 in Ungarn selber die Vernichtung der Juden leitet. Er reist viel herum in Osteuropa, sieht viel Schreckliches, auch wenn er es im Polizeiverhör abstreiten wird. Oft verhandelt er mit den Juden, ist freundlich, zuvorkommend und wiegt sie in Sicherheit. Das blutige Ende ist seine Aufgabe nicht mehr.

 Cesarani zeigt, wie sich sein Verhalten nach und nach brutalisiert - gerade dies ist das tief Beunruhigende an seiner Geschichte. Er gewöhnt sich daran, Menschen in den Tod zu schicken, und zeigt sich gegenüber dem unermesslichen Leid zutiefst gleichgültig. Als sich am 20. Januar 1942 im Berliner Vorort Wannsee die Grossen des Reichs treffen, um die "Endlösung" der Judenfrage zu regeln, da führt Adolf Eichmann Protokoll. Und empfindet danach "eine Art Pilatus'sche Zufriedenheit in mir, denn ich fühlte mich bar jeder Schuld. Hier auf der Wannsee-Konferenz befahlen die <Päpste>, ich hatte zu gehorchen."

 Cesarani erklärt, im Prozess sei Eichmanns Rolle stark übertrieben worden. "Er gehörte nicht zu denen, die den Kurs festlegten; seine Funktion war ausführender Art." In diese Aufgabe steigert er sich aber mehr und mehr hinein, denn das Judentum gilt ihm als der Feind schlechthin - man mag für den einzelnen Juden empfinden, was man will. "Unsere Arbeit bestand ja nur aus Schreiberei", sagt er einigermassen zynisch im Polizeiverhör. Am Ende dieser "Schreiberei" aber stehen Berge von Leichen.

Rolf App

 David Cesarani: Eichmann. Bürokrat und Massenmörder, Propyläen, Berlin 2004

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"Schrecklich und erschreckend normal"

 Die Philosophin Hannah Arendt verfolgt 1961 den Prozess gegen Adolf Eichmann. Und sie gelangt in ihrem Buch "Eichmann in Jerusalem - Ein Bericht von der Banalität des Bösen" zu höchst beunruhigenden Einsichten.

 Im Sommer 1961 reist die seit 1941 in den USA lebende Philosophin im Auftrag der Zeitschrift "New Yorker" nach Jerusalem, um den Prozess gegen Adolf Eichmann mitzuverfolgen. Sie will den Organisator des Massenmords an den Juden aus der Nähe betrachten, will herausfinden, wie dieser Völkermord hat möglich werden können. Das Ergebnis sind mehrere lange Texte, und, daraus hervorgehend, ein noch immer gültiges und sehr packendes Buch, das einen Skandal auslöst. "Eichmann in Jerusalem" ist es überschrieben. Im Untertitel: "Ein Bericht von der Banalität des Bösen".

 Zwei Steine des Anstosses

 Es sind zwei Punkte, die den Aufruhr erzeugen. Zum einen ist es, wie Hannah Arendt Eichmann beschreibt - und zum andern, was sie über die Rolle der Judenräte schreibt. Ersteres verschafft ihr das Unverständnis der Zeitgenossen, letzteres den Protest der Juden. Wie konnte Hannah Arendt, die selber vor den Nazis hatte fliehen müssen, ihrem Volk das antun, fragten sich ihre Freunde.

 Eichmann: Ein "Hanswurst"

 Eichmann, schreibt sie in einem Brief, sehe aus "wie ein Gespenst, das dazu gerade den Schnupfen hat". Später, nach der Lektüre von 3600 Seiten Polizeiverhör, nennt sie ihn einen "Hanswurst". Sofort fällt ihr die Diskrepanz auf zwischen der Seichtheit dieses Mannes und der Monstrosität der Massenmorde. Dieses Monströse hat sie schon 1951 im Buch "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft", in Worte gefasst: Das radikale Böse der Vernichtung der Juden besteht darin, dass hier Millionen Menschen das Lebensrecht abgesprochen wird, nur weil sie Juden sind.

 Das Beunruhigende aber an der Person Eichmanns aber liegt darin, "dass er war wie viele und dass diese vielen weder pervers, sondern schrecklich und erschreckend normal waren". Der Massenmörder muss nichts Dämonisches an sich haben, er muss auch nicht von Hass getrieben sein. Er kann auch, wie Eichmann, ein schlichter Befehlsempfänger und guter Organisator sein von Transporten in den Tod. Gerade dies aber ist ein Kennzeichen der totalen Herrschaft: dass sie die Verantwortung verschwinden lässt. Jeder, der mitmacht beim grossen Morden, kann sich als kleines Rädchen fühlen in einem grossen Apparat.

 Es kann allen passieren

 Hannah Arendt widerspricht deshalb klar dem Staatsanwalt, der Eichmann zu dämonisieren sucht und die Ermordung der Juden mit der Geschichte des Antisemitismus verknüpft - und sie so zu einer einzigartigen Tat macht. Nein, meint Hannah Arendt: Was den Juden geschehen ist, kann allen passieren. Die Geschichte des Völkermords - zuletzt in Ruanda - gibt ihr Recht. Und nicht nur dort zeigt sich: Wer gelernt hat, dass der andere kein Mensch ist, sondern Ungeziefer, zögert auch nicht zu töten. Und zwar mit äusserster Brutalität und grosser Perfektion.

 Die Juden haben mitgeholfen

 Die Ermordung der Juden aber wäre nicht möglich gewesen ohne die Juden selbst - dieser zweite, noch heute selten angesprochene Punkt macht Hannah Arendt zur Persona non grata in den eigenen Kreisen. Sie ist erschüttert, "in welch ungeheurem Ausmass die Juden mitgeholfen haben, ihren eigenen Untergang zu organisieren". Denn es seien jüdische Organisationen gewesen, die Listen erstellt und den Abtransport der Menschen vorbereitet hätten - und den Menschen verheimlicht hätten, was mit ihnen geschehen werde.

Rolf App