MEDIENSPIEGEL 27.5.10
(Online-Archiv: http://www.reitschule.ch/reitschule/mediengruppe/index.html)

Heute im Medienspiegel:
- Reitschule-Programm
- City Beaches Grosse Schanze ab 4. + 11.6.10
- Stadttauben weg - Stadt will Rotationsprinzip erzwingen
- Fixerstübli: Mehr Einfluss der Stadt
- Dealerszene BE: Dr. X vetickte Dormicum + Rohypnol
- Drogenszene Thun: Zeitung für Drogenabhängige
- Erich Hess: Kopfbedeckungsverbot + Sesselkleben
- Police BE: Neuer Chef Planung + Einsazt
- Big Brother Büpf: Trojaner-Angriff
- Häuserbesetzung Biel
- Neonazis Burgdorf: Sophies Bar in der Oberstadt
- Revolte BS: Polizei + Kameras gegen das Antikapital
- 1. Mai ZH: Hohe Geldstrafen
- 30 Jahre Züri brännt: Gestern wie heute, aber subito!
- Häuserkampf ZH auf DVD
- 30 Jahre Xenix ZH
- RaBe-Info 27.5.10
- Asylgesetz: Verschärfung des Verschärften
- Ausschaffung: Sonderstrafrecht; Versagen der Nothilfe-Repression
- Amnesty: Mehr Rassismus in der Schweiz
- Sempach: Feierverlegung aus Angst vor Extremen
- Neonazis Liechtenstein: Brandstifter von rechts
- Sexwork: Inti zum Internationalen Hurentag vom 2.6.10
- Sklavereigeschichte: Muslimischer Sklavenhandel
- Anti-Atom: Menschenstrom gegen Atom; NWA; NWA-SO; Gösgen-Pause; Endlager

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REITSCHULE
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Do 27.05.10
20.00 Uhr - Kino   - Grand Prix Visions du Réel (Nyon) 2009: L'encerclement - La démocratie dans les rets du néolibéralisme. (Die Einkesselung- die Demokratie in den Fängen des Neoliberalismus), Richard Brouillette, Kanada 2008, BETA SP, 160 Min., Ov/d
20.30 Uhr - Tojo - "Burn Out" Von Les Etoiles. Text: Michael Stauffer. Regie: Ragna Guderian.
21.00 Uhr - Rössli - Punky Reggae Night mit Djane Queen Horror und DJ Lux Vega sowie DJ Caribpunk und B.I.G.G.Y

Fr 28.05.10
20.00 Uhr - Kino - Grand Prix Visions du Réel (Nyon) 2009: L'encerclement - La démocratie dans les rets du néolibéralisme. (Die Einkesselung - die Demokratie in den Fängen  des Neoliberalismus), Richard Brouillette,  Kanada 2008, BETA SP, 160 Min., Ov/d
21.00 Uhr - Frauenraum - Tanzbar: Standard und lateinamerikanische Tänze und Disco für Frau und Frau, Mann und Mann und friends mit DJ Zardas
23.00 Uhr - Dachstock - Super Flu - live & DJ (Monaberry/Herzblut/Traum/D), Ascion (Drumcode/ITA) - Support: Tadeo Doberska (be) - Techno, Minimal, House

Sa 29.05.10
20.00 Uhr - Kino - Grand Prix Visions du Réel (Nyon) 2009: L'encerclement - La démocratie dans les rets du néolibéralisme. (Die Einkesselung - die Demokratie in den Fängen  des Neoliberalismus), Richard Brouillette,  Kanada 2008, BETA SP, 160 Min., Ov/d
20.30 Uhr - Tojo - "Burn Out" Von Les Etoiles. Text: Michael Stauffer. Regie: Ragna Guderian.
23.00 Uhr - Dachstock - Dachstock Darkside: Tech Itch (TechFreak/UK), Deejaymf (cyro.ch), VCA (Biotic Rec), Lost Sequence (DSCI4/ch)

So 30.05.10
20:00 G. - Rössli - Rag y los Hermanos Patchekos (gutfeeling) - lo-fi beat orchestra

Infos:
http://www.reitschule.ch
http://www.reitschulebietetmehr.ch

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CITY BEACH
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BZ 27.5.10

Grosse Schanze

 Baustart für Stadtstrände

 Auch der zweite Stadtstrand ist bewilligt. Am Wochenende beginnt der Aufbau - Eröffnung ist am 4. und 11.Juni.

 Dem Strandfeeling auf der Grossen Schanze steht nun nichts mehr im Wege: Nach der City Beach AG hat auch das zweite Strandprojekt der Hilterfinger Concent Concert&Event GmbH von Stadt und Kanton grünes Licht erhalten.

 Der Stadtstrand der City Beach AG ist auf der Einsteinterrasse geplant, jener der Concent Concert&Event GmbH auf der anderen Seite, bei SBB-Personalrestaurant und Lebensbrunnen. Wie Beat Hofer, Geschäftsführer der Concent Concert&Event GmbH, erklärt, beginnen die Aufbauarbeiten diesen Freitag. Am Dienstag werden 270 Tonnen Sand geliefert und am Mittwoch die Rattanmöbel. Eröffnung ist laut Hofer am 4.Juni.

 Auch die City Beach AG baut ihren Strand ab Samstag auf. Eröffnung ist laut Remo Neuhaus am 11.Juni "rechtzeitig zum WM-Beginn".
 as

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STADTTAUBEN
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derbund.ch 27.5.10

"Stadttauben" haben besetztes Grundstück geräumt

pd / js

 Am 19. Mai wurden die "Stadttauben" durch die Stadt aufgefordert, das besetzte Grundstück in Bern-Bümpliz bis Ende Monat zu räumen. An Pfingsten hat die alternative Wohngruppe diese Forderung erfüllt. Wo sie sich nun niedergelassen hat, ist der Stadt nicht bekannt.

 Die Stadttauben hatten das städtische Grundstück in Bern-Bümpliz seit dem 13. März besetzt. Weil die Stadt eine einvernehmliche Lösung suchte, wurde die ehemalige Regierungsstatthalterin Regula Mader beauftragt, mit allen alternativen Wohngruppen auf Stadtboden Verhandlungen zu führen. Eine einvernehmliche Lösung konnte jedoch keine gefunden werden.

 Stadt bot Wankdorf-City an

 Am 19. Mai wurde den Stadttauben und dem Verein Alternative (Stadtnomaden) ein Gebrauchsleihevertrag für das Areal Wankdorf-City angeboten. Der Vertrag hätte eine Nutzung des Areals vom 31. Mai bis zum 31. August vorgesehen.

 Während sich die Stadtnomaden bereit erklärt haben, auf das offerierte Grundstück umzuziehen, blieben die Stadttauben eine Antwort schuldig. Wo sie sich zurzeit aufhalten, ist der Stadt nicht bekannt.

 Rotationsprinzip soll für alle gelten

 Wie die Stadt Bern am Donnerstagmorgen mitteilte, verfolge sie das kurzfristige Ziel, alle alternativen Wohngruppierungen auf Stadtboden in das im Oktober 2008 etablierte Rotationsprinzip einzubinden.

 Dieses sehe vor, sämtlichen alternativen Wohngruppierungen im Dreimonatsrhythmus ein gemeinsam zu nutzendes Gelände der Stadt, der Burgergemeinde oder des Kantons zur Verfügung zu stellen.

 Längerfristig solle eine spezielle Wohnzohne geschaffen werden. Bis diese Arbeiten für eine spezielle Wohnzone abgeschlossen seien, solle am Rotationsprinzip festgehalten werden - ohne Ausnahme.

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bern.ch 26.5.10

Stadttauben haben das besetzte Grundstück in Bern-Bümpliz geräumt

Am 19. Mai 2010 wurden die Stadttauben durch die Stadt aufgefordert, das besetzte Grundstück in Bern-Bümpliz bis am 31. Mai 2010 zu räumen. Dem städtischen Ultimatum sind die Stadttauben nun über Pfingsten nachgekommen. Das Angebot eines Gebrauchsleihevertrages für das Areal Wankdorf City vom 31. Mai bis am 31. August 2010 haben sie jedoch bis jetzt nicht angenommen. Ihr jetziger Standort ist unbekannt.

Am 13. März 2010 haben die Stadttauben, eine Gruppierung, die alternative Wohnformen pflegt, ein städtisches Grundstück in Bern-Bümpliz besetzt. Im Hinblick auf eine einvernehmliche Lösung hat die Stadt darauf alt Regierungsstatthalterin Regula Mader beauftragt, mit allen alternativen Wohngruppen auf Stadtboden Verhandlungen zu führen und das Gespräch zu suchen. Eine einvernehmliche Lösung konnte jedoch keine gefunden werden.

Stadt bietet Wankdorf-City an

Am 19. Mai 2010 wurde den Stadttauben und dem Verein Alternative (Stadtnomaden) das Angebot zu einem Gebrauchsleihevertrag für das Areal Wankdorf-City vom 31. Mai bis zum 31. August 2010 übergeben. Gleichzeitig stellte die Stadt den Stadtbauten das Ultimatum, das Grundstück in Bern-Bümpliz bis am 31. Mai 2010 zu räumen. Letzterem sind die Stadttauben über Pfingsten nachgekommen. Wo sie sich momentan aufhalten, ist der Stadt nicht bekannt. Der Verein Alternative hat sich einverstanden erklärt, per Ende Mai auf das offerierte Grundstück auf dem Areal Wandorf-City umzuziehen. Die Stadttauben blieben eine Antwort schuldig.

Rotationsprinzip soll für alle gelten

Die Stadt verfolgt das kurzfristige Ziel, alle alternativen Wohngruppierungen auf Stadtboden in das anlässlich eines Runden Tisches mit der Burgergemeinde, den Stadtbauten Bern, dem Regierungsstatthalteramt, dem kantonalen Amt für Grundstücke und Gebäude, Energie Wasser Bern sowie der Stadtverwaltung im Oktober 2008 etablierte Rotationsprinzip einzubinden. Dieses sieht vor, sämtlichen alternativen Wohngruppierungen im Dreimonatsrhythmus ein gemeinsam zu nutzendes Gelände der Stadt, der Burgergemeinde oder des Kantons zur Verfügung zu stellen. Der Gemeinderat hat entschieden, längerfristig eine spezielle Wohnzone zu schaffen (vgl. Medienmitteilung des Gemeinderats vom 12. Mai 2010). Bis die hierfür nötigen Arbeiten abgeschlossen sind, soll am Rotationsprinzip festgehalten werden. Ausnahmen vom Rotationsprinzip sollen keine geduldet werden.
 
Informationsdienst der Stadt Bern

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DROGENSZENE BE
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Bund 27.5.10

Stadt hat mehr Einfluss bei Fixerstübli

 Kanton, Stadt und Contact-Netz arbeiten beim Betrieb der Drogenanlaufstelle in Bern enger zusammen.
 
Rahel Bucher

 Am Morgen ist der Platz vor der Drogenanlaufstelle meist menschenleer. Manchmal streicht ein verirrter Hund umher, oder ein Strassenwischer räumt Abfälle vom Trottoir weg. Ab 14.30 Uhr nimmt der Betrieb laufend zu. Menschen gehen ein und aus, passieren die Securitas-Männer, die am Eingang stehen, unterhalten sich, lachen, streiten oder streicheln ihren Hund. Die Kontakt- und Anlaufstelle für Drogenabhängige an der Hodlerstrasse in Bern ist ein wichtiges Angebot im Bereich Schadensminderung der städtischen Drogenpolitik. "Sie fördert die Gesundheit und die soziale Integration drogenabhängiger Menschen und entlastet den öffentlichen Raum", wie Jakob Huber, Geschäftsleiter Contact-Netz Bern, sagt.

 Vor allem der zweite Punkt sorgt in der Öffentlichkeit immer wieder für Diskussionen. Insbesondere dann, wenn die Menschenansammlung vor der Anlaufstelle gross und unübersichtlich zu werden droht, wenn beschränkte Öffnungszeiten am Sonntag oder am Montagabend und Eintrittsbeschränkungen (siehe Text im Kasten) zu reden geben oder wenn ausserhalb der Anlaufstelle konsumiert wird.

 Mehr Verantwortung für Stadt

 Diese Kritikpunkte wurden letztes Jahr auch in einer Motion der bürgerlichen Parteien aufgegriffen. Allerdings forderten sie nicht primär konkrete Problemlösungen, sondern mehr Führungsverantwortung für die Stadt Bern. Denn die Anlaufstelle ist gemäss Aufgabenteilung nach Sozialhilfegesetz hauptsächlich vom Kanton gesteuert und finanziert. Dementsprechend hat der Kanton einen Leistungsvertrag mit dem Contact-Netz, das die Anlaufstelle betreibt.

 In der Motion wurde kritisiert, dass die Stadt dadurch zu wenig direkten Einfluss auf die Betriebsführung und die konzeptuelle Umsetzung der Anlaufstelle habe. Stattdessen forderten die Motionäre, den Leistungsvertrag für die Anlaufstelle direkt zwischen Kanton und Stadt Bern abzuschliessen. Damit hätte die Stadt die volle Verantwortung für das Fixerstübli übernehmen sollen, wie das beim Alkistübli der Fall ist.

 Der Gemeinderat hat diese Motion aber nun abgelehnt. Die Zusammenarbeit zwischen Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kantons Bern (GEF) als Leistungsvertragspartner, der Stadt als Standortgemeinde und Contact-Netz als Leistungserbringer funktioniere "auf politischer wie fachlicher Ebene" sehr gut, heisst es in seiner Antwort. "Die Schadensminderung ist primär eine kantonale Aufgabe. Sie kann nicht nur aus kommunaler Sicht angeschaut werden. Das Drogenproblem macht nicht an den Gemeindegrenzen halt", so Edith Olibet (SP), Direktorin für Bildung, Soziales und Sport (BSS), in der Antwort.

 Fehlende finanzielle Mittel

 Trotzdem führte die Motion dazu, dass die Akteure im Suchthilfebereich vernetzter zusammenarbeiten und die Stadt mehr direkte Mitsprache- und Steuerungsmöglichkeiten hat. Dafür hat die BSS einige Anpassungen in der städtischen Organisationsstruktur vorgenommen. So haben neu alle Akteure - Stadt, Kanton und Contact-Netz - jeweils eine eigene Vertretung in den für die Suchtpolitik relevanten Gremien der anderen. Die wichtigste sich daraus ergebende Veränderung ist, dass ein Vertreter der Direktion BSS im Stiftungsausschuss des Contact-Netzes Einsitz nimmt. Damit kann die Stadt ihre Anliegen direkt beim Contact-Netz als ausführende Institution und bei der GEF einbringen. Auch bezüglich Anlaufstelle bedeutet das für die Stadt mehr Lenkungsmöglichkeiten.

 "Die engere Zusammenarbeit gewährleistet schnellere Entscheidungsabläufe mit tragfähigen Lösungen", sagt Huber. Auch Olibet ist mit den Anpassungen zufrieden. "Es ist unabdingbar, dass die Steuerung beim Kanton ist und wir im Vorfeld unsere städtischen Anliegen einbringen können."

 Doch sowohl Gemeinderat als auch Huber sehen das Hauptproblem im Suchthilfebereich vielmehr bei den fehlenden Finanzen als in der Organisation der Zusammenarbeit. Die Idee einer zweiten Anlaufstelle etwa scheiterte letztes Jahr nicht an den unterschiedlichen politischen oder fachlichen Ansichten der Institutionen, sondern an den notwendigen finanziellen Ressourcen.

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 Anlaufstelle Bern

 Lediglich 49 Prozent der Benutzer sind Stadtberner

 Wer Einlass in die Drogenanlaufstelle Bern will, muss seinen Ausweis zeigen. Dies unter anderem, um zu verhindern, dass etwa Drogenabhängige aus Thun oder dem weiteren Oberland hinein wollen. Denn diese erhalten seit den Auseinandersetzungen zwischen Thun und Bern (vgl. Text nebenan) keinen Zugang mehr. Da auf den neuen Identitätskarten der Wohnort aber nicht mehr angegeben ist, müssen die Süchtigen eine Wohnortbestätigung beziehungsweise einen Niederlassungsausweis mitbringen. Wer die Anlaufstelle regelmässig aufsucht, kann bei deren Leitung einen eigenen Ausweis beantragen, der zum regelmässigen Zugang berechtigt. Die Daten, welche für die Ausweiserstellung erhoben werden, liefern Aufschluss darüber, woher die Süchtigen kommen. Dabei fällt auf, dass nicht einmal die Hälfte aus der Stadt Bern stammt, nämlich 49 Prozent. 27 Prozent der Abhängigen kommen aus Köniz und Ostermundigen, die restlichen 24 Prozent aus weiteren Regionen des Kantons. Zusammengefasst kann man auch festhalten, dass 76 Prozent der Abhängigen aus der Grossregion Bern-Mittelland stammen, die restlichen 24 Prozent kommen aus dem weiteren Kantonsgebiet. (gum)

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DEALERSZENE BE
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20 Minuten 27.5.10

"Dr. X" verschrieb Pillen an Süchtige

 BERN. Massenhaft Beruhigungsmittel hat ein Berner Hausarzt an Drögeler verkauft. Vor Gericht gab er sich gestern aber als Wohltäter: Er habe damit Beschaffungskriminalität und Prostitution verhindern wollen. Seine Medikamente hätten die Abhängigen stabilisiert. Der in der Szene als "Dr. X" bekannte Arzt gab grundsätzlich zu, in den Jahren 2000 bis 2009 neunzehn Patienten mit mehreren Tausend Einheiten Schlaf- und Betäubungsmitteln versorgt zu haben. Der Umsatz wird auf 270 000 Franken geschätzt. Wie sich vor Gericht zeigte, war "Dr. X" den Behörden längst bekannt: Seit 1988 hatten sie gegen ihn mit einer Ermahnung, einer Aufsichtsanzeige und einem Berufsverbot interveniert. Sein Anwalt plädierte nun für eine bedingte Geldstrafe von 330 Tagessätzen. Das Urteil wird heute eröffnet.

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Bund 27.5.10

Der Berner Dr. X sieht sich als Wohltäter

 Ein 57-jähriger Allgemeinmediziner aus der Stadt Bern steht derzeit vor dem Kreisgericht Bern-Laupen: Er soll während Jahren starke Beruhigungsmittel in grossen Mengen an drogenabhängige Patienten verkauft haben, so die Anklage. Dabei hat er es unterlassen, eine Bewilligung bei den zuständigen kantonalen Kontrollstellen einzuholen. Der Arzt, der auf der Gasse als "Dr. X" bekannt sein soll, ist geständig. Er macht geltend, dass er den Patienten habe helfen wollen. Allerdings richtete er für die Erträge aus diesem Medikamentenverkauf ein separates Konto mit der Bezeichnung "Kosmetika" ein. Das Urteil wird heute gefällt. (jäg) - Seite 24

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Dr. X sagt, er habe den Abhängigen nur helfen wollen

 Ein Berner Arzt ist geständig, illegal raue Mengen gefährlicher Beruhigungsmittel verkauft zu haben.

 Simon Jäggi

 Die Zahlen, die gestern am Kreisgericht Bern-Laupen bekannt wurden, sind erschreckend. Im Zeitraum zwischen 2000 und 2009 hat ein Berner Allgemeinmediziner in grossen Mengen Beruhigungsmittel an drogenabhängige Patienten verkauft - ohne nötige Bewilligung des Kantonsarztes ("Bund" von gestern).

 Erwiesen sind unter anderem 2416 Grosspackungen Dormicum - die jeweils 100 Tabletten enthielten, wie dem Überweisungsbeschluss des Untersuchungsrichteramtes zu entnehmen ist. Dazu kommen 2911 Einheiten Rohypnol à 30 Stück. Weiter hat der Arzt grössere Mengen an Valium, Paceum und dem inzwischen vom Markt genommenen Toquilone abgegeben. Und das sind nur die in den Krankengeschichten niedergeschriebenen Dosen: Über den Pharma-Vertrieb hat der Arzt nämlich weit mehr Medikamente bezogen, die zur Gruppe der Benzodiazepine gehören und zu starker Abhängigkeit führen können. Von Rohypnol bestellte er gesamthaft 288 210 Tabletten, von Dormicum gar 621 900. Was mit den nicht ausgewiesenen Medikamenten geschehen ist, ist unklar.

 Wegen dieser Machenschaften muss sich der 57-jährige Mediziner nun wegen des Vorwurfs der schweren Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz verantworten. Gestern ist das Beweisverfahren abgeschlossen und das Plädoyer des Verteidigers gehalten worden, heute folgt das Urteil. Der Arzt, der auf der Gasse als "Dr. X" bekannt gewesen sein soll, streitet den Sachverhalt nicht ab, den man ihm vorwirft. Sein Fürsprecher Andreas Damke macht aber mildernde Umstände geltend: Sein Mandant sei kein Dealer im weissen Kittel gewesen. Er habe die Benzodiazepine aus sozialmedizinischen Gründen an die Drogenabhängigen verkauft. "Er war von seiner Aufgabe überzeugt", so Damke, dabei habe er aber die bewilligungstechnischen Aspekte völlig ausgeblendet. Zu berücksichtigen sei, dass er nur bei der Behandlung von vier Patienten die medizinischen Standards überschritten habe, die sich bei der Behandlung von Drogenabhängigen mit Benzodiazepinen etabliert hätten. Der Fürsprecher beantragt eine bedingte Geldstrafe von 330 Tagessätzen zu 140 Franken und eine Busse von 8000 Franken.

 Die Kartei ist verschwunden

 Erwiesen ist, dass der Arzt an 19 Drogenabhängige die Medikamente verkaufte, die als Betäubungsmittel gelten. Die Kartei, in der "Dr. X" seine Benzodiapezin-Bezüger aufgeführt hat, ist aber verschwunden. Der Angeschuldigte hat es nicht nur unterlassen, die vorgeschriebenen Bewilligungen beim Kantonsarzt einzuholen, er hat auch unerlaubterweise eine eigene Apotheke geführt und die Medikamente direkt an die Drogenabhängigen verkauft.

 Die illegale Abgabepraxis des "Dr. X" wurde im Herbst 2008 von Kantonsarzt und Kantonsapotheker unterbunden. Sie reichten Strafanzeige ein und sprachen ein einjähriges Berufsverbot aus. Dieses führte dazu, dass auf der Gasse eine eigentliche Versorgungslücke bei Benzodiazepinen entstand. Der Chefarzt der heroingestützten Drogenabgabe Koda meinte damals im "Bund", dass ein Drittel seiner Klienten die Beruhigungsmittel konsumiere. Koda verschreibt die Medikamente aber ebenfalls aus Therapiegründen.

 Er habe seinen drogenabhängigen Patienten helfen wollen, betonte Dr. X gestern mehrmals im Gerichtssaal. Die Abgabe der Benzodiazepine hätte dazu gedient, die Patienten zu stabilisieren - und den Konsum von harten Drogen zu senken. Dies habe auch die Folgen der Sucht verringert: "Sie waren weniger kriminell, mussten sich weniger prostituieren", sagte der Arzt. Obwohl ihm bewusst sei, dass Benzodiazepine in Kombination mit anderen Drogen eine gefährliche Wirkung entfalten, kenne er keinen Fall, bei dem jemand zu Schaden gekommen sei. "Die Leute sind geübt im Umgang mit solchen Medikamenten."

 Im Jahr 2008 sei ihm die Sache aber zunehmend über den Kopf gewachsen, räumte der Angeschuldigte ein. Er habe bei einem Patienten die Dosis heraufsetzen müssen - was dazu geführt habe, dass eine andere drogenabhängige Klientin ebenfalls eine höhere Dosis verlangt habe. Wenn er ihr nicht die höhere Menge abgebe, werde sie ihn bei den Behörden anschwärzen, habe sie ihm gedroht. "Danach ist es eskaliert", sagte Dr. X. Zwei weitere Fälle seien dazugekommen, die ihn ebenfalls massiv unter Druck gesetzt hätten. Ein Patient habe eine Patrone auf den Tisch gelegt: "Die ist für dich, hat er gesagt."

 Finanzielle Interessen seien aber nicht ausschlaggebend gewesen, sagt Dr. X. Er habe für die Medikamente handelsübliche Preise verlangt. "Gratis habe ich sie ja nicht abgeben können", meinte er. Der Arzt hat für die illegalen Einkünfte eigens ein Konto eingerichtet - mit "Kosmetika" war es betitelt. 143 000 Franken soll er mit dem illegalen Medikamentenverkauf verdient haben, ermittelten die Untersuchungsbehörden.

 Behörden reagierten nicht

 Die Aktivitäten des Arztes wären schon länger bekannt. Nur: Die Behörden liessen ihn lange Zeit unbehelligt. Schon Ende der 1980er-Jahre wurden diese darauf aufmerksam gemacht, dass der Arzt unerlaubterweise Grosspackungen abgegeben hatte. 1999 wies ihn der damalige Kantonsarzt zurecht, weil er ohne Bewilligung Rohypnol und Valium verschrieben hatte. 2003 forderte Swissmedic den damaligen Kantonsapotheker auf, Dr. X unter die Lupe zu nehmen: Der Arzt fiel nämlich als "grösster Rohypnol-Bezüger der Schweiz" auf. Dennoch geschah wieder nichts. "Wären die zuständigen Stellen ihrer Aufsichtsfunktion nachgekommen, würde dieser Prozess nicht stattfinden", sagte der Verteidiger des Angeklagten gestern.

 Inzwischen darf der Arzt wieder in seiner Praxis arbeiten. Er habe aber aus seinen Fehlern gelernt, sagte er im Schlusswort. Er behandle auch keine drogenabhängige Patienten mehr.

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BZ/Thuner Tagblatt 27.5.10

Handel mit Medikamenten

 Drogenarzt verkaufte Pillen für 270000 Franken

 Ein Berner Hausarzt hat Drogensüchtige jahrelang mit illegalen Substanzen versorgt. Jetzt wird ihm der Prozess gemacht.

 In der Drogenszene trägt er den Namen Doktor X. In seiner Praxis in der Stadt Bern hat er in den Jahren 2000 bis 2010 drogenabhängige Patienten mit illegalen Beruhigungsmitteln versorgt. Er erzielte damit einen Umsatz von 270000 und einen Reingewinn von 143000 Franken. Laut Fachleuten landete ein grosser Teil der abgegebenen Medikamente auf dem Drogenmarkt in Berns Gassen.

 Vor dem Kreisgericht VIII Bern-Laupen gab der angeklagte Arzt die ihm zur Last gelegten Taten zu. Er muss sich wegen Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz und widerrechtlichen Führens einer Privatapotheke verantworten.

 Er sei nicht der geldgierige "Dealer im weissen Kittel", wie er in Presseberichten dargestellt worden sei, sagte er aus. Zu Beginn seiner illegalen Tätigkeit habe er die Süchtigen in ihrem Alltag stabilisieren wollen. "Meine Medikamente halfen ihnen, die Beschaffungskriminalität und die Prostitution zu umgehen." Als er gemerkt habe, dass die Sache aus dem Ruder laufe, habe er damit aufhören wollen. Doch die Abhängigen hätten ihm gedroht: "Mit Briefen und Anrufen - aber auch mit Waffengewalt."

 Nach dem Gerichtsurteil, das heute gefällt wird, will Doktor X wieder "ohne Druck" als Hausarzt arbeiten. Drogensüchtige Patienten werde er in Zukunft aber strikte ablehnen. tob

 Seite 19

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Drogen-Doktor vor Gericht:

 "Ich wurde von Süchtigen bedroht"

 Er war in der Drogenszene als Doktor X bekannt. Während Jahren hat er Patienten mit illegalen Substanzen versorgt. Jetzt steht der Arzt vor Gericht und sagt: "Ich wollte aufhören. Doch mir wurde mit Waffengewalt gedroht."

 Abstreiten hätte keinen Sinn gehabt. Zu erdrückend ist die Beweislage. Der angeklagte Berner Hausarzt gab die ihm vorgeworfenen Taten unumwunden zu. Der Mann, der in der Drogenszene als Doktor X bekannt ist, hatte in den Jahren 2000 bis 2010 drogenabhängige Patienten mit verschiedenen zur Gruppe der Benzodiazepine gehörende Beruhigungsmitteln versorgt. Diese Medikamente werden in der Notfallmedizin als Narkosemittel eingesetzt. Aber auch Heroin- und Kokainsüchtige nehmen sie als Zusatz- oder Ersatzdroge ein.

 Der Hausarzt gab die verschreibungspflichtigen Medikamente ohne Bewilligung ab. Er erzielte damit einen Umsatz von 270000 Franken und einen Reingewinn von 143000 Franken. Im Jahr 2003 bezog Doktor X laut der Schweizerischen Zulassungs- und Aufsichtsbehörde Swissmedic "die schweizweit grössten Mengen an Rohypnol". In seiner Praxis verkaufte er die Medikamente teilweise in 100er-Packungen (sogenannte Spitalpackungen). Zum Vergleich: In einer vom Kantonsarzt bewilligten Verschreibung erhalten Drogensüchtige o,5 bis 8 (in schweren Fällen) Tabletten pro Tag.

 Dealer oder Mediziner?

 In ruhigem Ton und mit überlegt ausgewählten Worten beantwortete der Angeklagte gestern die Fragen des Gerichtspräsidenten und der vier Kreisrichterinnen und Kreisrichter. Trotz des Geständnisses wurde er einen ganzen Morgen lang ins Verhör genommen. Die Richter versuchten herauszufinden: Sitzt da wirklich der geldgierige "Dealer im weissen Kittel" vor ihnen, so wie es von Fachleuten aus dem Sucht- und Sozialbereich und in Zeitungsberichten transportiert wurde? Immerhin lassen sich die Tabletten, die von Ärzten für 50 Rappen pro Stück zu haben sind, auf dem Drogenmarkt zum Preis von bis zu 5 Franken verkaufen.

 Der Angeklagte und dessen Anwalt stellten sich auf einen anderen Standpunkt. Er habe seine drogenabhängigen Patienten stabilisieren wollen, sagte der Arzt. "Ich haben ihnen ein kleines Übel beschafft, um ein grosses Übel zu verringern." Oder anders ausgedrückt: Dank den Beruhigungsmitteln sei bei den Patienten der Konsum harter Drogen zurückgegangen. "Und damit auch die Beschaffungskriminalität."

 Drohung und Waffen

 Irgendwann in den Jahren 2007 und 2008 sei die Sache "eskaliert", sagte Doktor X. Einer der Süchtigen habe mehr Medikamente verlangt als andere - und erhalten. "Eine andere Patientin verlangte die gleiche Menge. Sie drohte mir, sie werde mich beim Kantonsarzt anschwärzen. Und ich habe dem Druck nachgegeben."

 Nachdem er im Herbst 2008 trotzdem einen Verweis vom Kantonsarzt erhalten hatte, beschloss Doktor X, damit aufzuhören. Doch die Drohungen seitens der Abhängigen hätten zugenommen. "Ich erhielt Anrufe und Briefe. Bei mir zu Hause wurde eingebrochen. Einer hat mir mit Waffengewalt gedroht." Im Nachhinein wäre es wohl besser gewesen, sagte der Angeklagte, wenn er sich damals bei der Polizei gemeldet hätte.

 "Nie mehr Süchtige"

 Nach einem einjährigen Berufsverbot hat Doktor X in diesem Februar seine Praxis wieder aufgenommen. "Ich betreue keine drogensüchtigen Patienten mehr und nehme auch nie mehr welche an." Vom restlichen Patientenstamm seien ihm 95 Prozent treu geblieben. Vom Verfahren habe er diesen nichts erzählt. "Ich habe ihnen gesagt, ich nähme eine Auszeit."

 Das Berufsverbot habe seinem Klienten einen Einkommensverlust von 100000 Franken beschert, führte der Anwalt von Doktor X aus. Diese Summe müsse in der Strafbemessung berücksichtigt werden. Das Urteil fällt heute Nachmittag. Danach will Doktor X einen Schlussstrich ziehen. "Ich will wieder ohne Druck als Mediziner arbeiten."

 Tobias Habegger

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DROGENSZENE THUN
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Bund 27.5.10

Thuner Drogenszene

 Zeitungsmacher hoffen auf gesprächsbereite Polizisten

 Ehemalige Drogenabhängige planen, eine Zeitung herauszugeben. Und hoffen, die Polizei lasse sie diese dann auch überall verteilen.

 Mireille Guggenbühler

 Die Zeitung ist noch nicht gedruckt. Doch in den Köpfen einiger ehemaliger oder im Ausstieg begriffener Drogenabhängiger aus Thun existiert sie schon: die Strassenzeitung, die an Thunerinnen und Thuner verteilt werden soll und in der über aktuelle Themen in der Stadt informiert wird. "Stadtaktuell": So soll die neue Zeitung heissen. Der Name ist Programm: Die Autorinnen und Autoren wollen nebst politischen Themen auch Trend- und Modefragen aufgreifen. Die erste Ausgabe wird in der zweiten Augustwoche erscheinen und ist den Jüngsten gewidmet: "Kinderstadt Thun" heisst die Nummer. Sie geht der Frage nach, wie kinderfreundlich die Stadt am See wirklich ist.

 Ein Projekt für viele Städte

 "Stadtaktuell" ist zwar ein Thuner Projekt. Es liesse sich indes auch in jeder beliebigen anderen Stadt umsetzen. Die Initianten wollen einmal in Thun beginnen und hoffen, dass sich - im Falle eines Erfolgs - die Ausdehnung in andere Städte ergibt. "Durch die Zeitung soll sozial benachteiligten Menschen der Einstieg in eine sinnvolle Beschäftigung ermöglicht werden", erklärt Manuel Welf, einer der Initianten. Doch zurzeit fürchten die Initianten eher, die Zeitung nicht an den Mann oder die Frau bringen zu können. Und zwar, weil die Polizei keine Ansammlungen Drogenabhängiger toleriere. Doch gerade an die Randständigen möchten die Zeitungsmacher ihr Produkt auch verteilen, um dabei nebenbei mit ihnen ins Gespräch zu kommen - etwa auch ins Gespräch über Unterstützungsangebote und die Möglichkeiten zum Ausstieg.

 Seit fünf Jahren ein Marathon

 Fakt ist: Seit dem 13. Juni 2005 läuft in Thun die Aktion Marathon. Sie will verhindern, dass es zu einer grossen, offenen Drogenszene kommt, wie dies einst auf dem Mühleplatz der Fall war. Aufgegleist worden ist die Aktion noch unter dem ehemaligen Gemeinderat und Polizeivorsteher Heinz Leuenberger (SP). Versammeln sich heute Randständige oder Drogenabhängige, greift die Polizei ein und spricht - gestützt auf das kantonale Polizeigesetz - Fernhalteverfügungen aus. Zurzeit läuft die Aktion indes auf sehr tiefem Niveau, wie man bei der Polizei und der Sicherheitsabteilung der Stadt erklärt. Verstärkt kontrolliert wird aber beim Coop Kyburg am Rand der Altstadt, wie der heutige Polizeivorsteher Peter Siegenthaler (SP) sagt. An der Kyburg-Ecke halten sich vorab Alkoholabhängige auf. Ab Juli 2010 soll dort zudem eine Videokamera für Überwachung sorgen, sofern es gegen das geplante Videoüberwachungskonzept der Stadt keine Einsprachen gibt.

 Es ist indes nicht der einzige Punkt, welchen die Polizei jüngst vermehrt observiert hat: Auch beim Spritzentausch (Sput) hat sie sich diskret aufgehalten. Und zwar weil die Abhängigen trotz Dealverbot in der Einrichtung und um das Haus herum untereinander mit Stoff gehandelt haben. In der Folge liessen die Sput-Verantwortlichen die Abhängigen ein Formular unterschreiben, mit dem sie den Verzicht auf Drogenhandel im Haus erklärten. "Wenn dann auch das nichts nützt und man in der Folge zwei bis drei Hausverbote aussprechen muss, dann wird dies schnell einmal als verstärkte Repression wahrgenommen", sagt der städtische Suchtbeauftragte Heinz Bucher.

 Der Spritzentausch ist eines der Angebote, das im Zusammenhang mit dem von der Sozialdirektion initiierten Schadensminderungspaket ausgebaut worden ist. Das Paket umfasst die Ausweitung diverser bestehender Angebote für Süchtige. Aufgegleist worden sind die Massnahmen nach politischen Auseinandersetzungen zwischen der Stadt Bern und Thun. Weil zahlreiche Drogensüchtige aus Thun die Anlaufstelle in Bern benutzten und die dortigen Verantwortlichen den Andrang kaum mehr bewältigen konnten, forderte Berns Sozialdirektorin Edith Olibet (SP) Thun dazu auf, eine eigene Anlaufstelle einzurichten. Für den Thuner Sozialdirektor Andreas Lüscher (SVP) wiederum kam die Einrichtung einer Anlaufstelle nicht infrage. Als Alternative wurde das erwähnte Massnahmenpaket lanciert.

 Austausch mit Bern

 Regelmässig tauschen sich die Stadtberner Suchtbeauftragte Regula Müller und Heinz Bucher aus. Bis jetzt habe es zwischen Bern und Thun keine Probleme mehr gegeben, sagen sie. Der Fokus ist zurzeit in beiden Städten auf die gemeindespezifischen Probleme gerichtet.

 Zurück an die Zeitungsfront: Manuel Welf hofft nun, dass die Zeitung über eine längere Zeit finanziert werden kann. Entsprechende Anfragen seien hängig. Heinz Bucher weiss vom Projekt bis jetzt noch nichts. Grundsätzlich töne die Idee spannend. Viele Leute aus der Szene fänden ein Vorhaben, das von ehemaligen Szenegängern aufgegleist werde, "vertrauenswürdiger" als Projekte von Fachleuten. Für den Ansatz, den die ehemals Betroffenen mit dem Projekt verfolgen, haben Fachleute sogar einen Begriff: "Peer to Peer", von Betroffenen zu Betroffenen.

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ERICH HESS
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20 Minuten 27.5.10

"Schleierverbot" auch für Hip-Hopper

 BERN. Nicht nur Burkas und Kopftücher sollen in den Berner Amts- und Schulstuben verboten werden: Die SVP fordert eine generelle Regelung für Kopfbedeckungen.

 Jungen Muslimas, Juden und Hip-Hoppern droht das gleiche Schicksal: "Egal ob Käppis oder Burkas - im Unterricht muss das Tragen sämtlicher Kopfbedeckungen verboten werden", verlangt SVP-Grossrat Erich Hess. Auch in der Stadt- und Kantonsverwaltung will er eine strenge Ordnung durchsetzen: Die Angestellten sollen sich nicht verschleiern dürfen. Auf allen Amtsstellen, auf denen man sich identifizieren muss, würde dies auch für Besucher gelten. "Es geht um den Erhalt unserer Schweizer Werte und Traditionen", begründet Hess seine Motion, "die Verschleierung hat keine religiöse Bedeutung, sondern diskriminiert die Frau".

 Dem Leiter des kantonalen Personalamts, Hans-Ulrich Zürcher, ist kein Fall bekannt, in dem es ein Verschleierungsverbot gebraucht hätte: "Über die Kleiderordnung entscheiden die jeweiligen Vorgesetzten." Ähnlich tönt es bei Max Suter von der Erziehungsdirektion: "Der Kanton hat bisher keine Vorschriften und Empfehlungen zu Bekleidung und Haartracht erlassen." Allerdings liege es im Ermessen der Schulbehörden, diese Freiheit einzuschränken.  

Patrick Marbach

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 Doppelmandat: Was tut Hess?

 BERN. Um das Verschleierungsverbot durchzusetzen, hat Erich Hess seinen Vorstoss zweimal eingereicht: einmal als Stadtrat und einmal als Grossrat. Dieses Doppelmandat sorgt bei Parteikollegen für Unmut (20 Minuten berichtete). Inzwischen traf sich die Fraktion zu einer Aussprache, die zu keiner Einigung geführt hat. Hess zeigt sich unbeeindruckt vom drohenden Fraktionsausschluss. Er werde bald entscheiden, ob er aus dem Stadtrat zurücktrete.

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BZ 27.5.10

SVP-Politiker Erich Hess

 Qual nach der Wahl

 SVP-Stadtrat Erich Hess unter Druck: Seine Partei legt dem neu gewählten Grossrat den Rücktritt aus dem Stadtrat nahe.

 Bei den Grossratswahlen im März schaffte Erich Hess den Sprung ins Kantonsparlament. Jetzt steht der SVP-Politiker in der eigenen Partei unter Druck: Weil er bislang keine Anstalten gemacht hat, sein Stadtratsmandat abzugeben, verstösst er gegen den Ehrenkodex der Partei. Wie "20 Minuten" vermeldete, stellte eine Gruppe von SVP-Stadträten den Antrag, Hess deshalb aus der Fraktion auszuschliessen, die er derzeit noch präsidiert. Tatsächlich hat der Berner Politiker einige Ämter inne: Neben den beiden Parlamentsmandaten steht Hess der Jungen SVP Schweiz vor und ist als Präsident der kantonalen Jungen SVP Mitglied des Zentralvorstands der nationalen SVP.

 "Rücktritt wäre besser"

 Wie Peter Bernasconi, Präsident der Stadtberner SVP bestätigt, diskutierte die Fraktion den Antrag auf Ausschluss von Erich Hess am Dienstagabend. "Er hat nun eine Woche Zeit, zu entscheiden, ob er beide Mandate behalten will", sagt Bernasconi. Dies sei zwar grundsätzlich möglich, jedoch nicht im Interesse der Partei. "Aus Parteisicht ist es besser, wenn die Sitze auf viele Köpfe verteilt sind."

 Erich Hess jedoch lässt sich nicht drängen. "Selbst wenn ich mich an den Ehrenkodex halte, bleibt mir bis Ende August Zeit, mich zu entscheiden." Sicher sei, dass er das Fraktionspräsidium niederlege. "Dieses will ich aber erst in sicheren Händen wissen, bevor ich weitere Entscheide treffe."

 Hess: "Zeitlich machbar"

 Hess kann sich vorstellen, beide Parlamentsmandate auszuüben. "Ich bin vom Volk gewählt und könnte mich auf städtischer und auf kantonaler Ebene einbringen." Das Doppelmandat sei auch zeitlich kein Problem. "Beruflich kann ich es mir so einrichten, dass ich jeweils an jenen Tagen nicht arbeite, an denen ich politische Termine wahrnehmen muss." Zudem bewiesen Politiker wie der Könizer SVP-Gemeinderat und -Grossrat Ueli Studer, dass ein Doppelmandat zu bewältigen sei.

 Zum Rücktritt zwingen könne man Erich Hess nicht, sagt SVP-Präsident Bernasconi. Betreffend den Ehrenkodex könne die Parteileitung zudem Ausnahmen entscheiden. Falls Erich Hess aber Hand zu einer einvernehmlichen Lösung bietet, dann wird Roland Jakob seinen Stadtratssitz übernehmen.

 Andrea Sommer

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POLICE BE
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be.ch 27.5.10

Kantonspolizei Bern: Gregor Bättig wird Chef Planung + Einsatz

Der Regierungsrat des Kantons Bern hat Gregor Bättig zum neuen Chef Planung + Einsatz der Kantonspolizei Bern gewählt. Er wird sein Amt spätestens per 1. Oktober 2010 antreten. Gregor Bättig ersetzt Andreas Hosner, der per 31. Juli 2010 in Pension geht. Gregor Bättig absolvierte ursprünglich eine Lehre als Chemielaborant. Nach der Rekrutenschule leistete er Dienst bei der Päpstlichen Garde in Rom. 1991 wurde Gregor Bättig Offizier im damaligen Festungswachtkorps. Danach war er in verschiedenen Funktionen als Berufsoffizier (Genietruppen, Einheitsinstruktor) tätig. Schliesslich wurde er im Rahmen des Projekts Armee XXI für Arbeiten im Bereich Raumsicherung und Verteidigung eingesetzt.
2008 wurde Gregor Bättig als Stabschef der Militärischen Sicherheit berufen. Diese Funktion übt er im Rang eines Obersten im Generalstab zurzeit immer noch aus. Der 44-jährige Gregor Bättig hat ein wissenschaftliches Masterstudium "Global Security" an der Cranfield University (GB) und auch die höhere Kaderausbildung der Armee absolviert.

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BIG BROTHER BÜPF
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WoZ 27.5.10

Überwachung

 Trojanerangriff

 Jetzt haben wir es schwarz auf weiss: Der Schweizer Staat will sich in Computer und Mobiltelefone seiner Bürger Innen einhacken und dort sogenannte Bundestrojaner installieren dürfen. Behörden erhielten so die technischen Mittel, auf alle vorhandenen Daten zuzugreifen und infizierte Systeme über das Internet fernzusteuern. Betroffen wären Personen, gegen die ein Strafverfahren läuft - bei weitem nicht nur wegen Kinderpornografie, Terrorismus und Drogenhandel, wie das Bundesamt für Justiz suggeriert. Das Bundesamt hat letzte Woche einen Vernehmlassungsentwurf veröffentlicht, der nicht nur die rechtliche Grundlage für den Einsatz von Bundestrojanern beinhaltet, sondern Internetprovider auch dazu zwingen würde, auf eigene Kosten beim Trojaner-Schnüffeln mitzuwirken. dg

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Online-Durchsuchungen - Der Bund will mit heimlich eingeschleusten Trojanern Computer durchsuchen. Experten erklären, wie das funktioniert. Die Piratenpartei droht mit einem Referendum.

Der Staat in deinem Computer

Von Dinu Gautier (Text) und Patric Sandri (Illustration)

Die Strafverfolgungsbehörden wollen künftig Trojaner auf die Computer von Verdächtigen schleusen dürfen. Mithilfe dieser Überwachungsprogramme soll der Staat nicht nur verschlüsselte Mails oder verschlüsselte Internettelefonate (VoIP) mitverfolgen können, sondern sich auch gleich auf der Festplatte der überwachten Personen umsehen dürfen. "Es kann auf das ganze Datenverarbeitungsprogramm zugegriffen werden", so die offizielle Beschreibung.

Die neue Massnahme ist in einem Vernehmlassungsentwurf für ein überarbeitetes Bundesgesetz betreffend die Überwachung des Post- und Fernmelde verkehrs (Büpf) zu finden. Veröffentlicht wurde der Entwurf letzte Woche. Deutschschweizer Nachrichtenagenturen und Medien haben die neue Massnahme bisher nicht bemerkt.

Dabei betont sogar das Bundesamt für Justiz (BJ) in seinen Erläuterungen, um welch heiklen Eingriff in die Privatsphäre der Betroffenen es sich handelt: Mit dieser Technik könne auch auf Daten zugegriffen werden, welche nicht in Zusammenhang mit dem Überwachungszweck stünden und "die zur Privat- oder sogar Intimsphäre gehören". Als Beispiele werden "Fotos", "Filme" sowie "Korrespondenz" genannt.

Den geplanten Einsatz von Bundes trojanern rechtfertigt das Bundesamt für Justiz mit der zunehmend verschlüsselten Kommunikation von Verdächtigten, sei dies per Mail oder VoIP-­Telefonie (beispielsweise Skype), die mit herkömmlichen Methoden nicht überwachbar sind. "Wir führen keine Statis tik darüber, wie viele Personen in der Schweiz verschlüsselte E-Mails verschicken", sagt Eva Zwahlen vom Bundesamt für Justiz auf Nachfrage. Heutzutage würden aber zahlreiche Mailsysteme die Verschlüsselung standardmässig ausführen.

Passwörter mitlesen

(Bundes-)Trojaner sind Programme, die unbemerkt auf dem Rechner (oder dem Mobiltelefon) der zu überwachenden Person laufen. Einmal installiert, sind sie kaum zu entdecken. Übers Internet sendet der Trojaner Informationen an die Behörde. Diese erhält so Zugriff auf alle Dateien, kann die Tastatureingaben mitlesen (wodurch sie zu Verschlüsselungspasswörtern kommt) oder das System gar fernsteuern. Bei Laptops kann beispielsweise das Mikrofon eingeschaltet werden, was das unbemerkte Abhören von Gesprächen im Raum ermöglicht, in dem der Laptop steht.

Patrick Rohner, beim BJ zuständig für die Büpf-Revision, redet nicht gerne von Trojanern: "Der Begriff ist negativ besetzt. Der Staat ist ja kein Internetkrimineller, sondern handelt im Rahmen des Gesetzes." Technisch sei mit den Programmen vieles möglich, räumt Rohner ein. Die Aktivierung von Laptopmikrofonen etwa hält er nicht nur technisch, sondern dank des vorgeschlagenen Gesetzes künftig auch juris tisch für möglich. Rohner betont aber, dass die Untersuchungsbehörden vor dem Einsatz der Trojaner verschiedene Verfahrenshürden nehmen müssen.

Das unbemerkte Einschleusen von Trojanern auf den Computer oder das Mobiltelefon des Verdächtigten ist anspruchsvoll. Wie das gehen könnte, erklärt ein IT-Experte mit Erfahrungen auf dem Gebiet. Er möchte anonym bleiben, nennen wir ihn Pit Schürmann: "Man müsste zuerst mittels herkömmlicher Überwachung das Verhalten der Zielperson analysieren, um einen geeigneten Weg zu finden, ihr den Trojaner unterzujubeln." Getarnt als Freund der Person, könnte man ihr dann beispielsweise ein Computerspiel zusenden, in welchem sich der Trojaner versteckt. "Eine weitere Möglichkeit ist die Installation vor Ort im Rahmen einer verdeckten Polizeiaktion", so Schürmann.

Ruben Unteregger hat früher für die Schweizer Firma ERA IT Solutions gearbeitet. Bereits 2006 berichtete die "SonntagsZeitung", die Firma habe im Auftrag des Bundes Trojaner zur Überwachung von Skype-Gesprächen entwickelt. Letzten Sommer hat Ruben Unteregger Bausteine für solche Trojaner der Öffentlichkeit online zugänglich gemacht. Er geht davon aus, dass die Behörden zur Einschleusung von Trojanern weniger die "klassischen Hackermethoden" verwenden würden, sondern auf die Mithilfe der Provider zählten. "Nicht umsonst zwingt das neue Büpf diese ja zur Kooperation in diesem Punkt" (vgl. "Unternehmen zur Schnüffelei gezwungen"). Mithilfe der Provider könne man sich in den Datenstrom einklinken. Wolle der Nutzer ein Programm aus dem Internet runter laden, könne man den Trojaner um das nachgefragte Programm herumwickeln, was eine "elegante Methode" und nur mittelmässig aufwändig sei, so Unter egger. "So würden zudem Antivirenprogramme umgangen, da es sich ja um einen legitimen, vom Benutzer initiierten Download handelt."

Alles Kinderpornografie?

Für Viktor Györffy, Anwalt und Präsident von grundrechte.ch, hat der Einsatz von Trojanern einen grundsätzlich anderen Charakter als die traditionelle Kommunikationsüberwachung. "Das ist, wie wenn Sie, statt die Briefe abzufangen und zu öffnen, den Schreibtisch aufbrechen und neben dem Büro gleich auch noch das Wohn- und das Schlafzimmer durchstöbern." Man müsse sich bewusst sein, wie zentral die Computer für die Menschen geworden sind. "In ihnen bilden sich sehr grosse Teile unseres Lebens ab." Es handle sich hier um einen "wahnsinnig einschneidenden Eingriff" in die Persönlichkeitsrechte eines Betroffenen, so Györffy.

Betroffen von Überwachungsmassnahmen (und damit auch von Trojaner angriffen) können Personen sein, bei denen der Verdacht besteht, ein bestimmtes Delikt begangen zu haben. Die Liste der Delikte, für welche das Gesetz eine solche Überwachung zulässt, verweist auf nicht weniger als 97 Strafartikel. Darunter Klassiker wie die Finanzierung einer terroristischen Organisation, verbotene Pornografie oder Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation, aber auch schwerere Drogendelikte, Diebstahl, Veruntreuung, Betrug, Sachbeschädigung mit hohem Schaden, unbefugte Datenbeschaffung, gewerbsmässiger Wucher, Drohung, Schreckung der Bevölkerung oder Störung des Eisenbahnverkehrs, um nur einige Beispiele zu nennen.

Patrick Rohner vom BJ betont, dass der Trojanereinsatz nur "doppelt subsidiär" angewandt werden soll. Bereits die herkömmliche Kommunikations überwachung werde nämlich nur bewilligt, wenn normale Untersuchungsmethoden nicht ausreichten. Nur wenn auch die Kommunikationsüberwachung "erfolglos geblieben" sei, etwa wenn der Verdächtige Mails verschlüsselt, komme es zum Einsatz der Trojaner. "Bei allen Kommunikationsüberwachungen gilt: Es braucht eine Bewilligung eines Gerichts", so Rohner. Beim Trojaner einsatz "muss der Staatsanwalt zudem die Art der Daten, die er will, genau angeben". So soll vermieden werden, dass auf Daten zugegriffen wird, die von vornherein nutzlos sind.

IT-Experte Pit Schürmann: "Ohne sich erst einmal durch die Dateien zu ackern, kann man sich kein abschliessendes Bild machen." Es gebe zwar Spezialprogramme, die zum Beispiel automatisiert Kinderpornografie finden würden, schliesslich könne aber nur ein Mensch eine seriöse Durchsuchung garantieren. Viktor Györffy von grundrechte.ch: "Sind die Dateien einmal durchschnüffelt, dann ist die Privatsphäre bereits verletzt - egal, was dann weitergereicht wird und was nicht."

Hohe Kosten

Bezüglich Aufwand rede man bei einem Trojanerangriff nicht von fünf Stunden, sondern eher von fünfzig Stunden Arbeit - "bei Stundenansätzen von rund 250 Franken wird das schnell sehr teuer", sagt Pit Schürmann. Ruben Unteregger betont, dass man einen Trojaner nicht einfach schreiben und dann ewig einsetzen könne. "Die Programme müssen ständig gepflegt und erweitert werden, um mit der technischen Realität auf den Rechnern mitzuhalten."

Patrick Rohner vom BJ zu den Kos ten: "Es ist teuer, weil es A-la-carte-Lösungen braucht. Die genauen Kosten kenne ich nicht. Wir reden in einem Fall vielleicht von 10 000, in einem anderen vielleicht von nur 1000 Franken." Die Kosten würden für die Staatsanwälte ein weiterer Grund sein, diese Art der Überwachung sorgfältig zu prüfen, so Rohner.

Politischer Widerstand gegen die Büpf-Revision ist abzusehen. Zur Wehr setzen will sich etwa die Piratenpartei. Deren Präsident Denis Simonet zur WOZ: "Nützt Aufklärung nichts, so halten wir uns die Möglichkeit offen, das Referendum zu ergreifen." Simonet weist darauf hin, dass laut Gesetzesentwurf nicht nur Verdächtige betroffen wären, sondern auch Leute aus dem engeren Umfeld der Verdächtigten. "Man findet in jedem Umfeld jemanden, den man eines Deliktes verdächtigen kann." Wichtig sei es, nun eine Debatte über Überwachung an sich zu lancieren. "Schuldig ist man erst, wenn man verurteilt wurde", sagt der Piratenpräsident. "Das nennt sich Unschuldsvermutung."

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Unternehmen zur Schnüffelei gezwungen

Heute bekommen Kommunikationsdienstleister für Überwachungen eine Entschädigung ausbezahlt. In der Praxis betrifft das vor allem Telefon- und Mobilfunkdienstleister sowie Anbieter von Internetzugängen (Access-Provider). Letztere müssen seit April dieses Jahres in der Lage sein, den gesamten Datenverkehr ihrer KundInnen bei Bedarf in Echtzeit mitzuschneiden, wie die WOZ letzten Sommer enthüllte (siehe WOZ Nr. 29/09). Neu müssen die sogenannten Randdaten aller Internet-, Mobil- und TelefonnutzerInnen während zwölf statt sechs Monaten gespeichert werden.

Die staatlichen Entschädigungen für Kommunikationsüberwachungen hingegen sollen wegfallen. Grössere Firmen protestieren bereits dagegen. Gegenüber der "Aargauer Zeitung" sprach etwa die Cablecom von "Zusatzkosten im sechsstelligen Bereich". Die Swisscom befürchtet, dass künftig auch die Anzahl der Behördenanfragen steigen wird.

Kommt der vorliegende Entwurf für das Gesetz zur Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (Büpf) durch, erweitert sich zudem der Kreis jener beträchtlich, die auf eigene Kos ten die Überwachungsarbeit für den Staat ­erledigen müssen. Betroffen wären neu alle sogenannten "reinen Serviceprovider", darunter auch Kleinstbetriebe oder Privatpersonen, die Speicherplatz für Webseiten anbieten (Webhosting), sofern sie dies beruflich tun.

Das stellt gerade kleine Betriebe vor grosse Probleme: Silvan Gebhardt ist 23-jährig, Inhaber eines Start-up- Unternehmens in Frauenfeld und spezialisiert auf Kommunikationslösungen für Unternehmen, die dank Gebhardts Firma OpenFactory über Internet telefonie kommunizieren können. "Was dieses Gesetz von mir verlangt, kostet mich zwei bis drei Monatsumsätze - noch bevor überhaupt eine Überwachung angeordnet wird." Für seine GmbH mit zwei Angestellten sei dies "existenzbedrohend". Der Jungunternehmer, der schon als Dreizehnjähriger IT-Dienstleistungen angeboten hat, sagt: "Sollte das Gesetz so durchkommen, könnte ich es einfach ignorieren - und dabei eine Busse in ebenfalls existenzbedrohender Höhe riskieren." Wer den Weisungen nicht Folge leistet, kann laut Büpf-Entwurf mit bis zu 100 000 Franken gebüsst werden.

Dinu Gautier

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HÄUSERKAMPF BIEL
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WoZ 27.5.10

Hausbesetzer heute - Biel ist eine Hochburg alternativer Wohnprojekte. Zu Besuch im grössten besetzten Haus der Stadt, wo es die BewohnerInnen nicht stört, als "Lifestylebesetzer" bezeichnet zu werden.

 "Aufstehen, wann ich will"

 Von Dinu Gautier

 "La Biu" heisst das grösste der drei besetzten Häuser von Biel. Vom Bahnhof hierhin sind es nur fünf Minuten, die Fassaden sind grossflächig mit Graffiti besprayt - und doch versprüht das Gelände den Charme eines Anwesens auf dem Lande. Das hat mit der Grösse des Doppelmehrfamilienhauses und dem stattlichen Garten zu tun, vielleicht auch mit den zahlreichen herumtollenden Hunden und den sich entspannt in der Abendsonne räkelnden Katzen.

 Aurelien ist 21-jährig und sieht aus, wie man sich einen Hausbesetzer gemeinhin vorstellt: dunkle Kleider, eine mit Nieten besetzte Baseballmütze, dar unter ein Irokesenschnitt, in der Hand eine Billigmarkenbierdose. "Wir versuchen, so gut es geht, uns selber zu versorgen", sagt Aurelien. Er zeigt auf die Gemüsebeete, dann geht es zum grosszügigen Gehege für die neun Hühner. "Der Hahn ist im Topf gelandet", sagt Aurelien, "den Nachbarn ging sein Krähen auf den Wecker."

 "La Biu" wurde 2007 besetzt. 2008 wollte das Berner Tiefbauamt die BesetzerInnen rauswerfen. Elf Parkplätze sollten entstehen. 300 Leute gingen auf die Strasse. Im Parlament setzten sich die Grünen und die SozialdemokratInnen geschlossen für die Besetzer Innen ein. Ein Sozialarbeiter vermittelte erfolgreich zwischen BesetzerInnen und Kanton, seither zahlen die BewohnerInnen insgesamt 600 Franken Miete im Monat - so viel hätten die Parkplätze dem Tiefbauamt eingebracht.

 Aurelien lebte damals noch bei seinen Eltern im Kanton Freiburg, machte die Matura. Er kannte Leute aus der Bieler Szene und wollte seine "Lebensweise" ändern. "Hier arbeitest du für dich und nicht fürs Geld." Er stehe auf, wann er wolle, gehe ins Bett, wann er wolle, arbeite am Haus, wenn er Lust habe. "Es gibt keinen finanziellen Druck. Das Essen holen wir bei einer Organisation ab, bei der Läden Lebensmittel abgeben, die sie nicht mehr verkaufen können."

 Von der Kulturbesetzung …

 Die Hausführung geht weiter: Im Keller ein improvisiert wirkender Konzertraum mit Bar, im Erdgeschoss das Bistro, wo immer donnerstags zum Mahl geladen wird. Dann kommen Gäs te vorbei, zum Beispiel aus anderen besetzten Häusern oder von den drei Wagenplätzen Biels.

 Ein in die Wand geschlagenes Loch verbindet die beiden Treppenhäuser. Es gibt mehrere Gemeinschaftsküchen, Schlafzimmer, Ateliers, Büros und einen Raum mit Hochbetten für Gäste. Letzterer ist zurzeit leer. Als vor kurzem in Biel die Anarchistische Buchmesse stattfand, seien aber fast alle Matratzen belegt gewesen. "Hier schliefen Leute aus Deutschland, aus Israel, aus Frankreich."

 In einer der Gemeinschaftsküchen steht Anna und spielt mit einem Welpen. Anna ist Künstlerin. Ihr Studium an der Kunsthochschule in Lausanne hat sie abgebrochen. "Hier kann man problemlos fast ohne Geld leben", sagt sie. Einige der zehn MitbewohnerInnen würden voll arbeiten, andere hätten Gelegenheitsjobs. "Etwas mehr als die Hälfte sind Westschweizer." Einen hausinternen Röstigraben gebe es aber nicht. "Wir sind wie Biel - in Miniatur." Daher auch der Name des Hauses. "La Biu, das ist ein Wortspiel. Einerseits tönt es wie ‹Biel› mit französischem Artikel, anderseits wie ‹labil›, Berndeutsch ausgesprochen". Und labil seien hier alle ein bisschen, sagt Anna und lacht.

 "Ich bin politisch kaum aktiv. Ich organisiere grosse Essen oder Konzerte - keine Demos", so die Frau mit den schwarzen Dreadlocks und der dick umrahmten Brille. Auch Aurelien definiert sich nicht über Politik: "Natürlich habe ich Ideale, meine Lust, zu revoltieren, ist aber viel schwächer als früher." Wichtig ist ihm die basisdemokratische Funktionsweise des Kollektivs, die Entscheidfindung über den Konsens. "Das hat für mich schon eine politische Komponente, aber mehr gegen innen. Es geht mir nicht darum, uns als eine Art leuchtendes Vorbild gegen aussen zu präsentieren." Überhaupt, da sind sich Anna und Aurelien einig, gelte "La Biu" als Kulturbesetzung, während etwa das besetzte Haus der "Familie von Allmen" sich vielmehr über politische Ziele definiere.

 … zum Häuserkampf

 Der 33-jährige Matthias ist ein ehemaliger Bewohner der "La Biu". Mit der Zeit und nach vielen Bewohner Innenwechseln sei ihm die "Subkulturatmosphäre" der "Spassfraktion" im Haus zu dominant geworden. Der Mann mit dem verschmitzten Lächeln macht kein Hehl daraus, dass er sich etwas mehr aktivistisches Engagement der BewohnerInnen wünschen würde. An Anknüpfungspunkten würde es nicht fehlen, das wird klar, wenn Matthias über die Stadtentwicklung zu sprechen beginnt: von Spekulanten, "grössenwahnsinniger Aufwertung des Stadtzentrums" und den Kämpfen, die es zu führen gelte. "Der Kampf hängt an wenigen Personen - auch wenn dann an Partys in leer stehenden Häusern wieder 700 Leute kommen."

 Auch die BewohnerInnen von "La Biu" werden sich wohl früher oder später wieder im Häuserkampf üben müssen. Auf dem Gelände soll im Jahr 2012 der Werkhof für den Bau einer neuen Autobahn entstehen. Wenn der Bau beginnt, endet der Vertrag mit dem Tiefbauamt. Dazu Aurelien: "Bis dahin gehts noch lange."

 Der Kalender "Hot-Squats 2010" zeigt BewohnerInnen der "La Biu" und ihre Neuinterpretation bekannter Gemälde (vgl. Foto). Alle Sujets auf http://www.labiu.ch.

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NEONAZIS BURGDORF
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BZ 27.5.10

Burgdorf

 Eine Bar für Neonazis?

 Kaum eröffnet - schon im Gerede: Die Royal Aces Tattoo-Bar in Burgdorf sei ein Neonazi-Treffpunkt, behauptet die Antifa.

 Über dieses gastronomische Novum sind in Burgdorf nicht alle glücklich: Die vor zwei Wochen eröffnete Royal Aces Tattoo-Bar an der Rütschelengasse 29 ist nach Ansicht der Antifa Bern "ein öffentlicher Treffpunkt für die örtliche Neonaziszene". Sophie Güntensperger, die Betreiberin des Lokals, streitet Kontakte zur rechten Szene nicht ab. Aber: "Die Bar ist für alle da." Der Regierungsstatthalter will das Lokal und seine Gäste "sehr genau" kontrollieren. jho

 Seite 19

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Burgdorfer Oberstadt

 Bar mit Links zu Ultrarechten

 Die neue Royal Aces Tattoo-Bar in der Burgdorfer Rütschelengasse sei ein Neonazi-Treffpunkt, behaupten Anwohner und die Antifa. Klar ist: Die Lokalbetreiberin sympathisiert mit Exponenten der rechtsradikalen Szene.

 "Eine Bar für Jung und Alt": So wird die Royal Aces Tattoo-Bar in Burgdorf im Internet angepriesen. Seit dem 12.Mai ist das Lokal an der Rütschelengasse 29 von Mittwoch bis Sonntag geöffnet. Als Inhaberin ist im Handelsamtsblatt Sophie Güntensperger verzeichnet.

 Verwaltet wird die Liegenschaft von einem Immobilientreuhänder aus Oberburg, der sich darüber beklagt, dass "die Medien" in Burgdorf "wieder einmal" zur "Hetzjagd auf sogenannte Rechtsradikale" blasen würden, und verlangt, man müsste, wenn schon, "das linke Pack" genauso hart anfassen. Auf eine namentliche Erwähnung in der Zeitung legt er keinen Wert. Dafür droht er mit nicht näher spezifizierten Konsequenzen, bevor auch nur eine Zeile über die Bar erschienen ist.

 In Burgdorf kursieren seit Wochen Gerüchte, die besagen, dass im früheren Coffee-Shop ein Rechtsradikalen-Tummelplatz entstehe. Gestern teilte die Antifa Bern mit, dass es sich bei der Royal Aces Tattoo-Bar um einen "öffentlichen Treffpunkt" für "die örtliche Neonaziszene" handle.

 Bekannte "Freunde"

 Ein Indiz dafür, dass Sophie Güntensperger mit Anhängern des äussersten rechten Politspektrums sympathisiert, sind für die Linken einige der über 200 Personen, die sich auf Facebook als "Freunde" der Bar registrieren liessen: Alex und Cédric Rohrbach sowie Dominic Lüthard von der Ultrarechtsband Indiziert, die Burgdorferin Denise Friederich und Michael Herrmann von der Pnos-Führungsriege oder der Kirchberger Adrian Segessenmann von der Avalon-Gemeinschaft sind nicht nur in der Szene, sondern auch dem Staatsschutz bekannt. Abgesehen davon sei Güntensperger "die Freundin des langjährigen Burgdorfer Naziskins Reto Siegenthaler", behauptet die Antifa. Recherchen dieser Zeitung ergaben, dass Güntensperger an derselben Adresse wie Siegenthaler wohnt.

 Ein weiterer Anhaltspunkt für die Gesinnung der Gastgeber und Gäste sei der Name der Bar: "Er dürfte Bezug nehmen auf den Song ‹Royal Aces sterben nie› der Nazirockband Barking Dogs", vermutet die Antifa.

 "Nichts gefunden"

 Laut Beatrix Rechner, der für das Justizwesen verantwortlichen Burgdorfer Gemeinderätin, hatte und hat die Stadt "keine Handhabe", um Güntensperger den Barbetrieb zu untersagen. "Wir haben die Gesuchstellerin überprüft und nichts gefunden, was gegen sie gesprochen hätte." Dem Wunsch der Antifa nach einer Schliessung des Lokals könne die Stadt nicht nachkommen, "solange in der und um die Bar alles in Ordnung ist".

 Auch Statthalter Markus Grossenbacher sind gemäss seinen eigenen Aussagen die Hände gebunden: Weil das Lokal höchstens 30 Sitzplätze aufweise und von Mittwoch bis Sonntag von 17 bis 0.30 Uhr geöffnet sei, benötige Güntensperger weder einen Fähigkeitsausweis noch eine Überzeitbewilligung. Ihr Vorstrafenregister sei blank.

 Gründe dafür, ihr die Bewilligung zu verweigern, habe es deshalb keine gegeben. "Frau Güntensperger versicherte uns und der Stadt Burgdorf, sie wolle eine ganz normale Bar für eine ganz normale Kundschaft betreiben", erinnert sich Grossenbacher.

 Unter Kontrolle

 Mit Blick auf die nun vorliegenden Informationen über den Hintergrund der Chefin sei klar, dass die zuständigen Personen bei der Stadt und das Regierungsstatthalteramt Emmental "ein Auge auf die Bar" haben werden. Die Royal Aces Tattoo-Bar und ihre Gäste lasse er "sehr genau" kontrollieren, sagt Grossenbacher. Darüber hinaus werde abgeklärt, ob Sophie Güntensperger die Voraussetzungen zum Führen eines Gastrobetriebes auch unter nichtjuristischen Gesichtspunkten erfülle.

 Johannes Hofstetter

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Sophie Güntensperger

 "Verschiedenste Gäste"

 "In der Royal Aces Tattoo-Bar verkehren auch Leute aus der rechten Szene. Aber nicht nur", sagt Chefin Sophie Güntensperger. Die Bar sei "für alle da". In den ersten zwei Wochen sei das Lokal von den verschiedensten Gästen besucht worden. Von ihren Facebook-Beziehungen zu Rechtsradikalen distanziere sie sich "sicher nicht". Es sei ohnehin undenkbar, dass alle ihre virtuellen Freunde in der Bar verkehren. Die öffentliche Warnung der Antifa wirke wohl eher kontraproduktiv: "Viele Rechtsradikale wissen erst jetzt, dass es die Bar gibt."
 jho

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REVOLTE BS
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Basler Zeitung 27.5.10

Mehr Polizei für Innenstadt

 Basel. Gewerbetreibende verlangen Kameras als Abschreckung

 Mischa Hauswirth

 Gewerbetreibende rund um die Freie Strasse haben genug von Sachbeschädigungen und fordern mehr Sicherheit. Die Polizei hat eine mobile Einrichtung in der Innenstadt zugesagt.

 Gestern Morgen kam es zur Aussprache. Am Tisch im Spiegelhof sassen Hanspeter Gass, Sicherheitsdirektor Basel-Stadt, und Gerhard Lips, Polizeikommandant Basel-Stadt. Auf der anderen Seite Peter Malama, Gewerbedirektor Basel-Stadt, und Urs Welten von Pro Innerstadt. Thema: Was tun nach den massiven Sachbeschädigungen durch linke Chaoten vom vergangenen Freitag?

 Peter Malama: "Ladenbesitzer und Gewerbetreibende in der Innenstadt sehen sich genötigt, ihren Raum besser zu schützen." Gemäss Urs Welten seien die Geschäfte nicht mehr gewillt, die finanziellen Folgen nach solchen Saubannerzügen zu tragen. "Vor einem Jahr gab es nach einer unbewilligten Anti-WEF-Demo Sachbeschädigungen", sagt Welten. "Am 1. Mai kam es zu Zerstörungen und vergangene Woche schon wieder, uns reicht es." Und Peter Malama doppelt nach: "Die Stadt Basel gibt Millionen für Marketing und Wirtschaftsförderung aus. Solche Verwüstungen schaden unserem Image enorm." Die Gewerbetreibenden verlangen mehr Sicherheit in Form von Polizei und die Möglichkeit, Videokameras zu installieren.

Sichtbarer Auftritt

Der Forderung nach mehr Polizeipräsenz können Hanspeter Gass und Gerhard Lips nachkommen. Lips: "Wir werden an den Hotspots in der Innenstadt künftig deutlich sichtbarer auftreten. Geplant ist auch eine mobile Einrichtung."

 Der Polizeikommandant weiss, dass er nicht automatisch über mehr Personal verfügt, nur weil er die Prioritäten neu setzt. Fehlen Patrouillen in den Quartieren, wenn sie in der Innenstadt unterwegs sind? Gerhard Lips sagt dazu nur: "Wir werden sehen, wie wir mit den bestehenden Mitteln für eine ausgeglichene Sicherheit sorgen können."

 Der Forderung nach Videoüberwachung nachzukommen, wird sich wesentlich schwieriger gestalten. Das weiss auch Hanspeter Gass: "Das ist nicht ohne Weiteres möglich. Es wird Einwände von Datenschützern geben." Die gesetzlichen Grundlagen fehlen, um Leute zu filmen, die sich auf Allmendgebiet aufhalten.

Neues Gesetz

Am 9. Juni wird im Grossen Rat eine Gesetzesänderung diskutiert, welche künftig der Polizei Videoüberwachungen erlauben soll. Geplant sind sechzig bis siebzig Kameras an rund zwanzig neuralgischen Punkten. Dabei handle es sich um ein "Steuerungselement" für die Polizei, so Gass. Und: "Wir brauchen dieses Instrument, um grössere Menschenmengen wie an Demonstrationen oder einer Fussball-EM temporär zu überwachen."

 Selbst wenn die Basler Politiker das Gesetz gutheissen, bedeutet das noch kein grünes Licht für Kameras in Geschäften. Zwar sind sich Lips und Welten einig, dass auch eine Videoüberwachung Sachbeschädigungen nicht hundertprozentig verhindern liessen. Aber die abschreckende Wirkung von Kameras sei unbestritten.

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Basellandschaftliche Zeitung 27.5.10

Mehr Polizei in der "Freien"

Nach Saubannerzug: Kanton und Gewerbe für mehr Polizei und Kameras

Hans-Martin Jermann

 Generalstabmässig geplante Sachbeschädigungen wie der Saubannerzug in der Freien Strasse vom letzten Freitag lassen sich nicht verhindern. Die Basler Polizei soll künftig aber schneller und flexibler auf Exzesse reagieren. Darauf haben sich Polizeidirektor Hanspeter Gass und sein Kommandant Gerhard Lips mit Gewerbedirektor Peter Malama und Pro-Innerstadt-Präsident Urs Welten geeinigt.

Polizei kriegt nicht mehr Mittel

 Konkret wird die Polizei ihre Patrouillentätigkeit entlang der Achse Heuwaage-Steinen-Barfüsserplatz-FreieStrasse-Marktplatz verstärken. An diesen Hotspots kommt es neben Sachbeschädigungen immer wieder zu Schlägereien. Hier wolle die Polizei künftig sowohl zeitlich als auch zahlenmässig stärker präsent sein, präzisiert Gerhard Lips. Allerdings kriegt der Polizeikommandant dazu keine zusätzlichen Mittel: "Ich werde Umlagerungen vornehmen müssen."

 Flankierend sollen in der Innenstadt neue Videokameras zum Einsatz gelangen. Wie bereits kommuniziert, beantragt Regierungsrat Gass dem Parlament im Rahmen eines Ausgabenberichts die Installation 60 bis 70 neuer Kameras an 20 neuralgischen Punkten. Entschieden wird noch dieses Jahr.

 Die Kameras seien kein Allheilmittel, aber neben Polizei und Bürgern ein wertvolles unterstützendes Element, findet Lips. "Die Polizei könnte schneller und zielgerichteter reagieren." Die Ergreifung der Täter würde dies erleichtern. Ob sich damit Sachbeschädigungen wie letzte Woche verhindern liessen, steht auf einem anderen Blatt geschrieben. Will man dies schon nur versuchen, wäre eine 24-Stunden-Überwachung unabdingbar. Politisch ist das heikel: Das wäre ein tiefer Einschnitt in die Freiheit der Bürger, gibt Regierungsrat Gass zu bedenken. "Wir wollen mehr Kameras, aber eine Rundumüberwachung ist nicht unsere Idee", stellt er klar. Auch Peter Malama ist dagegen.

 Gegen Rundumüberwachung

 Wie der Regierungsrat plädiert aber auch der Gewerbedirektor dafür, dass künftig auf Antrag der Staatsanwaltschaft eine fallweise und zeitlich beschränkte Videoüberwachung möglich ist. Der Grosse Rat befindet darüber voraussichtlich am 9. Juni im Rahmen der Revision des Informations- und Datenschutzgesetzes. Malama appelliert an die Linken, zu dieser "Minimalvariante" Hand zu bieten - zumal sie sich medienwirksam von den Chaoten von letztem Freitag distanziert hätten.

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20 Minuten 27.5.10

Mehr Polizei und Kameras

 BASEL. Um massive Sachbeschädigungen wie etwa den Saubannerzug vom vergangenen Freitag in der Freien Strasse zu verhindern (20 Minuten berichtete), soll es in Basel verstärkte Polizeipräsenz und Videoüberwachung an zwanzig neuralgischen Stellen geben. Dies haben gestern Vertreter des Basler Gewerbeverbands, der Pro Innerstadt sowie des Justiz- und Sicherheitsdepartements entschieden. "Nach den Sommerferien wird die Überwachung bei der Regierung und dem Parlament Thema sein", so Regierungsrat Hanspeter Gass.

 Für ihn ist klar, dass Exzesse auch mit einschneidenden Massnahmen nicht ganz verhindert werden können. "Wichtig ist jedoch, dass die Polizeipräsenz verstärkt wahrgenommen wird", so Gass. Dies sei etwa durch mehr Polizeipatrouillen der Fall. "Eine weitere Möglichkeit ist, mit einem Polizeiwagen auf dem Barfi präsent zu sein", so der Polizeidirektor.  dd

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Blick am Abend 26.5.10

SP geht auf Distanz

 URTEIL

 Linke verwüsteten die Freie Strasse. "Kriminelle!", schimpft nun sogar die SP.

 Über 350000 Franken beträgt der Schaden, den Chaoten am Freitag in der Freien Strasse anrichteten. Tatverantwortliche: Linksautonome. Symbole wie Hammer und Sichel und Parolen wie "Kampf dem Kapital" würden darauf hindeuten, sagt Markus Melzl von der Staatsanwaltschaft.

 Gewalt aus dem linken Lager: Gestern behauptete SVP-Präsident Sebastian Frehner im Blick am Abend, dass linke Politiker diese teilweise tolerieren würden und forderte "knüppelhartes Vorgehen" gegen die Täter. Ein Ausrufezeichen gegen die Vorfälle setzt aber auch die Linke. "Ein solches Vorgehen ist eine Tat von Kriminellen", sagt SP-Parteipräsident Martin Lüchinger nun. Derweil glaubt die "BaZ", die Täter genauer zu kennen.

 Frustrierte aus der Hausbesetzerszene sollen für den Scherbenhaufen in der Freien Strasse gesorgt haben. Ein Insider der Szene sagte heute der "BaZ": "Die Aktion war geplant, um der Polizei zu zeigen, wie machtlos sie ist." Die Polizei nimmt zu dieser provokativen Aussage keine Stellung. Aller Mutmassungen zum Trotz: Bis jetzt gab es keine Verhaftung. rw

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1. MAI ZUREICH
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Tagesanzeiger 27.5.10

Zwei 1.-Mai-Chaoten standen vor Gericht

 Staatsanwaltschaft fordert happige Geldstrafen für zwei junge Männer, die an der Nachdemo vom 1. Mai 2009 verhaftet wurden.

 Von Stefan Hohler

 Die Staatsanwälte fahren einen harten Kurs bei Wiederholungstätern an Demonstrationen und Fussballspielen. Wer an öffentlichen Zusammenrottungen teilnimmt, muss mit unbedingten Geldstrafen rechnen, auch wenn keine Gewalttätigkeiten nachgewiesen werden können. Ein 23-jähriger Soziologiestudent soll 7500 Franken bezahlen, ein 26-jähriger Automonteur gar 9000 Franken. Gestern standen die Männer vor Gericht. Beide Fälle hängen miteinander nicht zusammen und wurden von zwei verschiedenen Einzelrichtern behandelt. Die Urteile stehen noch aus und werden den Angeklagten schriftlich mitgeteilt.

 Dem Studenten wird vorgeworfen, bei der 1.-Mai-Nachdemo vom letzten Jahr sich mit einer Taucherbrille und einem Schal vermummt als Rädelsführer hervorgetan zu haben. Er habe mit einem Megafon zum Widerstand gegen die Polizei aufgerufen. Aus der von ihm angefeuerten Gruppe seien dann Molotowcocktails und Steine auf die Polizisten geworfen worden. Der 23-Jährige gab zwar zu, auf dem Kanzlei-Areal an einem Konzert gewesen zu sein. Von einer Teilnahme an den kurz darauf folgenden gewalttätigen Ausschreitungen wollte er aber nichts wissen. Es müsse sich um eine Verwechslung durch den Polizisten handeln.

 Der Soziologiestudent aus dem Umfeld des "Antikapitalistischen Kollektivs Zürcher Oberland" war aber bereits am 1. Mai 2008 wegen Hinderung einer Amtshandlung verhaftet und zu einer bedingten Geldstrafe von zehn Tagessätzen verurteilt worden. An diesem 1. Mai, so auf die Frage des Richters, habe er aber nur am Umzug teilgenommen. Der Staatsanwalt verlangt für den Angeklagten wegen Landfriedensbruchs und Widerhandlung gegen das Vermummungsverbot eine unbedingte Geldstrafe von 150 Tagessätzen zu 50 Franken (7500 Franken) und eine Busse von 500 Franken.

 Beim zweiten Angeklagten handelt es sich um einen 26-jährigen Automonteur. Er war mit einer Gruppe von Fussball-Hooligans ebenfalls an der letztjährigen 1.-Mai-Nachdemo beteiligt. Laut Anklageschrift waren die Hooligans während rund zweier Stunden in Schlägereien mit Linksautonomen verwickelt. Dabei hätten einzelne Hooligans wahllos Demonstranten angegriffen und verprügelt. Der Angeklagte gab lediglich zu, als Gaffer dabei gewesen zu sein. Mit der Gruppe habe er nichts zu tun. Dem hielt der Einzelrichter entgegen, dass die Videoaufnahmen der Polizei ein anderes Bild zeigen würden. "Sie waren mitten im Geschehen drin. Mit ihrem Verhalten und Auftreten passten Sie sich gut in die Gruppe der Hooligans ein." Man habe ihn zwar keine Schlägereien nachweisen können, die Gruppe sei aber sehr gewalttätig aufgetreten.

 Polizist erlitt Bänderriss

 Vier Monate später war der Angeklagte wieder dabei, als es Zoff gab. Diesmal nach dem Champions-League-Spiel FCZ gegen Real Madrid vom 15. September 2009 vor dem Letzigrundstadion. Die Stadtpolizei kesselte ein Gruppe von militanten FCZ-Fans ein, um sie zu kontrollieren. Dabei stand der 26-Jährige plötzlich auf und versuchte vergeblich den Polizeicordon zu durchbrechen. Ein Polizist wurde auf den Boden geworfen und erlitt einen Bänderriss an der Hand. Der Angeklagte gab den Fluchtversuch zu, bestritt aber, den Polizisten absichtlich zu Fall gebracht und verletzt zu haben. Der Zusammenstoss sei unbeabsichtigt gewesen, sagte sein Verteidiger. Deshalb könne man nicht von Gewalt und Drohung gegen Beamte und einfacher Körperverletzung ausgehen, wie dies der Staatsanwalt tue.

 Dieser fordert für den vorbestraften Automonteur aus dem Zürcher Oberland eine unbedingte Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu 50 Franken (9000 Franken) und eine Busse von 300 Franken. Sein Verteidiger dagegen plädiert auf eine bedingte Geldstrafe von 10 Tagessätzen zu 30 Franken und eine Busse von 100 Franken. Sein Mandant habe sich von den gewalttätigen Hooligans gelöst und seine Lehren aus der Verhaftung gezogen. Er sei am diesjährigen 1. Mai auch nicht mehr dabei gewesen.

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NZZ 27.5.10

Bezirksgericht Zürich

 Ein Hooligan und ein Antikapitalist

 Zwei Strafprozesse - zwei Angeklagte, die nur zugeschaut haben wollen

Brigitte Hürlimann (brh)

 Vor den Strafrichtern werden nun die 1.-Mai-Krawalle vom vergangenen Jahr beurteilt. Am Mittwoch mussten sich ein Hooligan und ein Antikapitalist in separaten Prozessen verantworten.

 brh. ⋅ Die zwei jungen Männer, die am Mittwochmorgen hintereinander am Bezirksgericht Zürich anzutraben hatten, haben so manches gemeinsam. Sie hielten sich am 1. Mai 2009 im Kreis 4 auf, als es zu Krawallen kam, sie waren nicht zufällig dort, wollen aber nur zugeschaut haben und nicht Teil einer gewalttätigen Gruppe gewesen sein - und sie sind empört über die Strafanträge der Staatsanwaltschaft. Beiden 1.-Mai-Teilnehmern drohen unbedingte Geldstrafen und Bussen, falls sie verurteilt werden, was noch offen ist, weil beide Einzelrichter nach den kurzen Verhandlungen keine Urteile eröffnen mochten.

 Zumindest in einer Sache jedoch unterscheiden sich die zwei Angeklagten deutlich: Der eine sympathisiert mit antikapitalistischen Ideologien, der andere hält sich lieber unter rechtsgerichteten Hooligans auf, die an Fussballspielen herumpöbeln und den Tag der Arbeit dazu nutzen, Linke zu vermöbeln. Der heute 26-jährige Hooligan ist dreimal vorbestraft, verbrachte wegen der jüngsten Vorwürfe drei Tage in Haft und muss sich wegen dreier Vorfälle verantworten: Er soll zu einer Gruppe von dreissig Hooligans gehört haben, die am Nachmittag des 1. Mai 2009 durch den Kreis 4 zogen und Autonome schlugen; selber gewalttätig geworden zu sein, wird ihm nicht vorgeworfen, sondern "nur" Landfriedensbruch.

 Der zweite Vorfall geschah einige Monate später, im September 2009, beim Champions-League-Spiel FCZ gegen Real Madrid. Der 26-Jährige befand sich wiederum in einer Hooligan-Gruppe, die von der Polizei eingekesselt wurde. Er versuchte zu fliehen und rammte dabei einen Polizisten, der zu Boden fiel und leicht verletzt wurde. Bei seiner Verhaftung wurde dann noch ein Säcklein mit Kokainspuren gefunden. Von all den Vorwürfen akzeptiert der arbeitslose Mann die Hinderung einer Amtshandlung (Fluchtversuch) und das Betäubungsmitteldelikt, verlangt aber einen Freispruch, was das "blöde Gaffen", wie er sagt, am 1. Mai betrifft.

 Der Antikapitalist seinerseits war schon am 1. Mai 2008 im Kanzleiareal verhaftet und wegen Hinderung einer Amtshandlung verurteilt worden. Beim letztjährigen 1. Mai soll er sich, wiederum im Kanzleiareal, mit Megafon, vermummt und als Rädelsführer in einer gewalttätigen Gruppe befunden haben. Dies streitet der Student ab und fordert einen Freispruch: Er habe nur ein Konzert besucht, sei weder Rädelsführer noch vermummt gewesen, es müsse sich um eine Verwechslung handeln.

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30 JAHRE ZÜRI BRÄNNT
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WoZ 27.5.10

Do-do-dossier

 1980! Und 2010?

 Am 30. Mai vor dreissig Jahren sorgte der Opernhauskrawall in Zürich weitherum für Aufsehen. In der Folge kam es zu zahlreichen Ausein andersetzungen um Freiräume in der Stadt. Aber finden die Häuserkämpfe von damals heute eine Fortsetzung? (Seiten 21-27)

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Zürcher Jugendunruhen - "Öis passt die Luft nöd i dere Stadt!" - Vor dreissig Jahren bescherte Zürichs Jugend der Stadt einen heissen Sommer. Er wirkt bis heute nach.

 "… und zwar subito!"

 Von Franziska Meister

 "Wir sind die Kulturleichen dieser Stadt" -   mit diesem Transparent hatte sich am 30. Mai 1980 eine Gruppe von kaum 200 Jugendlichen vor dem Opernhaus in Zürich versammelt. Sechzig Millionen Franken sollte der bürgerliche Kulturpalast für Renovationsarbeiten erhalten. Die Jugendlichen forderten einen Bruchteil dieses Geldes für ein eigenes alternatives Kulturzentrum. Ein Grossaufgebot an bewaffneten Polizisten hatte sich rund um die Demonstrie renden gebildet. Die Stimmung kippte. Im Verlauf der Nacht flogen Pflastersteine, und Container brannten, als immer mehr Jugendliche in die Innenstadt strömten und sich an den Unruhen beteiligten. Mit dem "Opernhauskrawall" hatte sich die Zürcher Bewegung begründet.

 Tausende Jugendliche demonstrierten in den Tagen danach in den Strassen, um ihrer Forderung nach einem eigenen Kulturzentrum Nachdruck zu verleihen. Sie taten dies mit spontanen Aktionen und viel kreativem Witz. Die "Drachensaat in der Gosse" war aufgegangen, es galt, "Grönland" zu befreien - "nieder mit dem Packeis", lautete die Botschaft, "und zwar subito!". Tatsächlich konnten sie Ende Juni in ein leer stehendes Fabrikgebäude hinter dem Hauptbahnhof einziehen: Der Traum vom Autonomen Jugendzentrum (AJZ) war Wirklichkeit geworden -   zumindest vorübergehend.

 Städtische Behörden und bürgerliche Kreise reagierten konsterniert, empört, fassungslos auf den Sponti- und Subito-Stil der Jugendlichen, die sich selbst "Bewegte" nannten und dezidiert un-ideologisch und antiintellektuell auftraten. Die legendäre "Telebühne"-Fernsehsendung, an der zwei Jugendliche als biederes "Ehepaar Müller" die Position der Bürgerlichen ad absurdum führten, endete im Tumult. Freche Sprüche und Collagen in den Bewegungszeitungen "Eisbrecher" und "Brächise" führten wiederholt zu Beschlagnahmungen. Überhaupt schienen die Behörden nur eine Antwort zu finden: Repression und Polizeigewalt.

 Was sich in Zürich Bahn brach, wurde bald auch von Jugendlichen in andern Städten in und ausserhalb der Schweiz aufgegriffen. Für einmal schaute ganz Westeuropa nach Zürich -   einer Stadt, in der der Wohlstand noch ein bisschen grösser, das Leben ein bisschen wohlgeordneter, die Ordnung ein bisschen bürgerlicher war als anderswo. Bereits Anfang September schloss die Polizei das AJZ wieder, erstickte Demonstrationsversuche im Tränengas und lieferte den militanteren "Stadtindianern" aus der Bewegung nächtelange Strassenjagden.

 Im November 1980 veröffentlichte die Eidgenössische Kommission für Jugendfragen "Thesen zu den Jugendunruhen", die weit über die Landesgrenzen hinaus Beachtung fanden. Im Fokus der Kritik standen der bürgerliche Ruf nach Ruhe und Ordnung und die Repression der Polizei. "Wenn Ruhe Erstarrung und Ordnung Unterdrückung heisst, dann kann von den Betroffenen nur zweierlei erwartet werden", hielt die Kommission fest: "Entweder Resignation, Betäubung und Selbstzerstörung oder Unruhe und Unordnung."

 Tatsächlich sollte sich, nachdem das AJZ im März 1981 wieder offen war, eine wachsende Drogen- und Hänger szene dort ausbreiten, die einen geregelten Kulturbetrieb bald verunmöglichte. Diese Entwicklung war das Resultat einer gezielten städtischen Ghettoisierungspolitik: Die Polizei ging aktiv gegen die Drogenszene an den bekannten Umschlagplätzen vor und trieb Süchtige wie Dealer quasi ins AJZ. Überhaupt suchte sie Jugendliche im AJZ und seiner Umgebung einzudämmen. Damit traf sie den Protest der Bewegten im Kern.

 Slogans wie "Öis passt die Luft   nöd   i dere Stadt!", die auf ­Flugblättern und in den Bewegungszeitungen auftauchten, verwiesen nämlich nicht allein auf das bürgerlich- konservative Klima, sondern auf die in Beton erstarrten städtischen Strukturen -   eben: das "Packeis" in "Grönland". Als "Bewegte" eroberten die Jugendlichen den Stadtraum als Lebens- und Erlebenswelt für sich. Sie machten leer stehende Häuser und Strassen zu ihrem zentralen Handlungs- und Kommunikationsraum. Häuser wurden besetzt und Sponti-Aktionen durchgeführt, um auf die drückende Wohnungsnot aufmerksam zu machen. Die Tramkommune 13 etwa richtete sich mit Möbeln aus dem Brockenhaus in verschiedenen Trams ein und suchte mit Kaffee und Guetzli das Gespräch mit den Fahrgästen. An Ostern 1981 entstand an der Seepromenade über Nacht die Bretterbudensiedlung Chaotikon. Und als die Polizei sie abreissen liess, errichteten die Jugendlichen kurzerhand Chaotikon II beim Platzspitz (das selbstredend umgehend wieder plattgemacht wurde).

 "Wir wehren uns -   wir wehren uns gegen eine Stadt der Reichen, gegen die Gentrifizierung von Stadtkreisen wie dem Kreis 4 und 5, gegen die ständige Schikanierung", steht auf einem elektronischen Flugblatt, das aus der Besetzerszene im Güterbahnhof stammt: "Wie vor dreissig Jahren." Es ist Mai 2010. Auf dem Areal des Güterbahnhofs soll für 630 Millionen Franken ein neues Justiz- und Polizeizentrum gebaut werden -   "ein in Beton gegossenes Symbol einer Politik, die von Ausgrenzung und Repression gezeichnet ist. Ein Symbol einer Politik auch, die autonome Projekte immer stärker einschränkt." Jüngst ist das Autonome Kulturzentrum an der Kalkbreitestrasse abgerissen worden. Wie geht es weiter? Wiederholt sich die Geschichte, weil niemand etwas aus ihr gelernt hat?

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"Eigentlich wollten wir vor dreissig Jahren genau dasselbe"

 Eine bewegte Familie - Der Vater ist mittlerweile Zürcher Gemeinderat und engagiert sich im Bereich Stadtentwicklung. 1980 hat seine Biografie nachhaltig geprägt. Im Gespräch mit ihm und seinem jüngsten Sohn wird deutlich: Alternative Lebensformen wirken fort, auch wenn die Vorzeichen andere geworden sind.

 Von Jan Jiràt, Franziska Meister (Text) und Ursula Häne (Foto)

 Dass sie Vater und Sohn sind, sieht man gleich: dieselben feingliedrigen, agilen Hände, derselbe Lockenkopf - fast zumindest. Was bei Jonathan wild und dunkel wuchert, ist bei Richi schon etwas ausgedünnt und angegraut.

 Die beiden eint mehr als Familienbande: Richi Wolff hat sich 1980 in Zürich als junger Student kopfüber in die Bewegung gestürzt, Jonathan ist vor ein paar Monaten mit knapp sechzehn Jahren in die "Szene" abgetaucht und lebt jetzt in einem besetzten Haus. Anderswo die besten Voraussetzungen für einen handfesten Familienstreit. Jonathan möchte gern anonym bleiben, was sein Vater unterstützt - immerhin steht bald das erste Lehrjahr an. Überhaupt hält Richi seinem Sohn die Stange, ist stolz darauf, dass sich Jonathan seine eigenen Freiräume geschaffen, sein eigenes soziales Netz aufgebaut hat. Entsprechend verblüfft reagiert Jonathan auf die Frage, ob er es mit einem so verständnisvollen Vater nicht manchmal schwer habe: "Abgrenzen? ... warum?"

 Im "Nordpol" zu Hause

 "‹Läbe wie me wott›, das forderten wir damals", erinnert sich Richi. "Wir wollten Freiräume: Freiräume für unsere Kultur, Freiräume zum Wohnen, uns unsere eigenen Strukturen schaffen." Häuser zu besetzen, gehörte da zentral dazu. Richi lebte in verschiedenen WGs, meist in Zürich. Teil einer Besetzergruppe war er nie. Am nächsten sei er wohl bei der Stauffacher-Besetzung dran gewesen, meint er, aber nicht drin. Kollegen von ihm waren dabei, und mit denen hat er sich solidarisiert, hat an Demos mitgemacht.

 1981 gründete er mit FreundInnen eine grosse WG an der Nordstrasse - ein ganzes Haus haben sie gemietet, später sogar gekauft. Richi ringt die Hände, scheint für einen Moment fast verlegen. "Ich hatte kein Bedürfnis, andere Häuser zu besetzen - wir hatten ja unser Zuhause." Er lebt mit seiner Familie noch immer dort, im "Nordpol".

 Richi: "Wir waren eine riesige WG, so sechzehn, achtzehn Leute. Und wir hatten sehr viele Beziehungen in andere Häuser, in die Besetzerszene. Wechsel waren bei uns häufig: Leute zogen ein, zogen dann weiter in besetzte Häuser oder kamen von dort zu uns. Aber die Kerngruppe von damals, die ist heute noch im Haus. Pärchen bildeten sich, die ersten Kinder kamen, und mit der Zeit entwickelte sich die Gross-WG in Richtung Familienetagen. Jetzt sind die Kinder am Ausziehen. Obwohl: Wir haben auch schon darüber diskutiert, dass die Kinder bleiben und wir ausziehen."

 Jonathan: "Eigentlich ist das der Plan, genau: Die Alten sollen ausziehen ... Aber dazu muss man sie erst mal überreden, nachdem sie dreissig Jahre hier gewohnt haben."

 So ganz ist Jonathan noch nicht von zu Hause ausgezogen. Seine Sachen sind noch alle dort. Überhaupt, sein richtiges Zuhause sieht er nicht im besetzten Haus. "Es ist ein Wohnraum, gut zum Schlafen, aber wenn ich morgens früh arbeiten gehen muss, übernachte ich doch lieber im ‹Nordpol›, weil der Arbeitsweg von da aus viel bequemer ist." Er schläft vor allem im besetzten Haus, wenn dort etwas läuft, wenn Bar ist und ein DJ auflegt. Den "Nordpol" will er so schnell nicht aufgeben. Das Haus mit dem grossen Gemeinschaftsraum findet er "voll cool". Dort würde er später gern mit einer WG einziehen und ganz regulär Miete zahlen.

 Jonathan: "In unserm Haus leben sehr viele verschiedene Leute mit unterschiedlichen Interessen. Wir haben eine Gemeinschaftsküche, aber das Essen ist mehr oder weniger Privatsache. Wir containern manchmal für den Kühlschrank, ein Kässeli gibt es nicht."

 Richi: "Wir haben das viel kollektiver zu organisieren versucht. In den ersten Jahren war die grosse Stube im ersten Stock der gemeinsame Essraum. Dann, als wir das Haus gekauft hatten, haben wir gleich die ehemalige Backstube im Keller ausgebaut, damit wir dort zusammen kochen und essen konnten. Wir haben sicher fünfmal die Woche zusammen gegessen. Das war einfach Teil des Lebensstils."

 Der Frust mit der Roten Fabrik

 Und dieser Lebensstil war "Punk", sagt Richi: "Jetzt und alles und sofort." Mit dieser Grundhaltung grenzten sich die Achtziger auch von den theorielastigen Achtundsechzigern ab. Ihr Verhältnis zu Studierenden und zur Uni war dis tanziert. Richi fühlte sich trotzdem akzeptiert - auch, weil er nie herausstrich, dass er studierte. Mit den Bewegten teilte er vor allem den Frust darüber, dass es in der Stadt im Frühling 1980 keine Lokale mehr gab, in denen sich Jugendliche überhaupt treffen konnten. "Etwas trinken, tanzen - das lief zum grossen Teil privat ab, jemand organisierte einen Fez." Die wenigen Privatclubs, die dank Spezialbewilligung auch nach Mitternacht noch geöffnet hatten, kosteten zehn oder sogar zwanzig Franken Eintritt, und den Alkohol musste man auch selber mitbringen. "Dieses Geld hatten wir nicht", sagt Richi. "Der Notstand war riesig." Und dann kam der Sechzigmillionenkredit für das Opernhaus.

 Die angestaute Wut entlud sich explosionsartig in einer Strassenschlacht, die eigentlich mit einer harmlosen Kundgebung vor dem Opernhaus angefangen hatte. "Von da an war klar: Jetzt gibts Bewegung", sagt Richi, der seit Tag zwei mit Tausenden anderen Jugendlichen an den Demos teilgenommen hat. "Wir forderten unsern eigenen Kulturraum." Eine Forderung, die sich zu Beginn ganz auf die Rote Fabrik konzentrierte. Ge mäss einer Volksabstimmung aus dem Jahr 1977 hätte die Rote Fabrik in ein Kultur- und Freizeitzentrum umgewandelt werden sollen. Geschehen war nichts. Im Mai 1980 lagerten dort vor allem Kulissen und Kostüme des Opernhauses.

 Richi: "Die Forderung nach einem AJZ überlagerte den Kampf um die Rote Fabrik aber schon bald - und es wurde dann auch ganz rasch Realität. Denn unser Druck von der Strasse war enorm. Die hatten richtig Angst, dass so etwas wie ein Bürgerkrieg ausbrechen könnte. Es war unglaublich! Ich war an den meisten Demos mit dabei. Aber zu denen, die in der vordersten Reihe kämpften, gehörte ich nicht. Jene, die Tränengaspetarden vom Boden auflasen und zurückschmissen - so einer war ich nicht."

 Voll engagiert war Richi auch im AJZ und in den einzelnen Arbeitsgruppen dort nicht. "Aber es gab so etwas wie eine Rückwirkung von der Strasse ins Studium hinein", sagt er. Die Stadt wurde zum zentralen Thema für das Grüppchen autonomer Geografiestudenten, dem er angehörte. Sie wollten Wissenschaft in den Alltag überführen, sie in den Dienst der Stadtbevölkerung stellen. Die Gruppe SAU - Ssenter for Applied Urbanism - entstand. "Wir begaben uns gezielt in verschiedene Quartiergruppen hinein und beteiligten uns an ihrem Kampf, den städtischen Raum nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Wir versuchten unser Uni-Wissen in politischen Diskussionen umzusetzen."

 Die Rote Fabrik war ein zentraler Ort dafür. Für die Fabrik-Uni, eine Art Volkshochschule, produzierten Richi und seine SAU-Kollegen eine Agitprop-Tonbildschau zur Stadtentwicklung von Zürich, mit der sie später auf Tournee nach Deutschland, Österreich, Holland und Polen gingen. Wiederholt organisierten sie in der Roten Fabrik auch ganze Veranstaltungsreihen unter Namen wie "Capitales Fatales" oder "Città Frontale", zu denen sie Gäste aus Städten wie London oder Amsterdam einluden, um politische Debatten zur Stadtentwicklung zu lancieren. Er sei ein alter "Fabrikaktivist", sagt Richi.

 Jonathan: "Ich bin praktisch in der Roten Fabrik aufgewachsen. Meine Eltern haben beide dort gearbeitet, in Betriebs- und Konzeptgruppen, und ich bin in den Hinterräumen, den Büros oder auf der Bühne rumgekrabbelt. Bin auch aufgewachsen mit den Leuten, die dort verkehrten, den Punks, den Säufern, den andern aus der Szene. Eigentlich finde ich die Fabrik total lässig. Aber heute muss man sich schon fragen, ob man dort noch hinwill - aus politischen Gründen. Zum Beispiel wegen der Geldpolitik. Die Rote Fabrik macht alternative Kultur für 25 Franken, die sich niemand leisten kann, der sich dafür interessiert, und kriegt dafür sogar noch Geld von der Stadt."

 Richi: "Ohne die Subventionen würde das doch gar nicht funktionieren. Aber die Eintrittspolitik ist tatsächlich ein Problem. Die geht vorbei an den Jugendlichen."

 Jonathan: "Ein Problem habe ich auch mit der Roten Fabrik, wenn sie gegen ihre eigenen Statuten verstösst und das nicht mal schlimm findet. Zum Beispiel hat sie dem bekanntermassen sexis tischen jamaikanischen Reggaemusiker Sizzla einen Auftritt erlaubt - trotz Protesten aus der linken und alternativen Szene. Dabei steht in den Statuten ganz klar: kein Sexismus."

 Richi: "Ja, das ist dumm gelaufen ..."

 Jonathan: "Und dann hat Sizzla sogar noch ein zweites Konzert gegeben. Sehr toll. Sehr alternative Kultur. Wir wollen unser eigenes alternatives Ding, unsere eigenen Räume. Wo jemand, der sich ein Konzert für fünf Franken nicht leisten kann, halt trotzdem reinkommt. Wo nicht Sizzla auftritt, sondern ein Schweizer Musiker oder einer aus den Nachbarländern. Einer, der nicht in der Hitparade läuft."

 Richi: "So wie du das jetzt sagst ... eigentlich wollten wir vor dreissig Jahren genau das Gleiche. Nur, wir haben uns die se alternativen Kulturräume erkämpft, und die haben sich mittlerweile etabliert und institutionalisiert. Klar: Das sind nicht mehr die Räume, die ihr wollt."

 "Huberta" - der Traum

 Der erste Schritt in die Szene führte Jonathan im Februar 2010 gleich ins Paradies: In ein Fabrikgebäude im Kreis 9, die "Huberta". "Ich kannte zwar ein paar Leute aus der Szene, aber ein Teil davon war ich nicht. Ich bin aus dem Nichts gleich in die ‹Huberta› rein. Das war einfach toll! Das Zusammenleben, wie wir aus dem Nichts in ein paar Tagen alles eingerichtet hatten ... Es war genial!"

 Zwanzig Leute waren sie etwa, die aus dem leer stehenden, zweistöckigen Fabrikgebäude innert zweier Wochen Jonathans Paradies aufstellten. Im Erdgeschoss entstand der Gemeinschaftsraum, wo eine Küche für alle, die sogenannte Vokü (Volksküche) eingerichtet wurde. Und eine Bar samt Musikanlage. Zwei-, dreimal pro Woche fand ein Konzert statt. Sie richteten auch ein kleines Kino ein, malten die Wände an, immer war etwas los. Im Obergeschoss war der Wohnbereich, im Grunde genommen eine grosse Stube, in der sich die BesetzerInnen so einrichteten, wie es gerade passte. Manchmal übernachteten auch "Partygäste" dort. Jonathan gefiel es in der "Huberta" so gut, dass er praktisch einen ganzen Monat lang dort wohnte. Nur der teure Compi und die Gitarre blieben im "Nordpol".

 Auch die Autonome Schule Zürich (ASZ), die ein breites Programm an kos tenlosen Bildungskursen zu Computern, Selbstverteidigung oder Sprachen anbietet (siehe WOZ Nr. 42/09), fand in der "Huberta" Unterschlupf, nachdem sie von der Polizei zuvor aus diversen Räumlichkeiten vertrieben worden war. "Die Zusammenarbeit hat super geklappt. Die Leute von der ASZ haben uns beim Aufbau der Strukturen sehr geholfen", sagt Jonathan. "Zu Beginn war es schon nicht ganz einfach: Plötzlich standen dreimal wöchentlich 120 Leute im Haus, die wir nicht kannten. Aber das hat sich automatisch ergeben." Es waren vorwiegend MigrantInnen, die die ASZ-Deutschkurse in der "Huberta" besuchten. Die Begegnungen mit ihnen haben Jonathan sichtlich geprägt. Das Thema "Migrationspolitik", mit dem sich ein Teil der Szene ohnehin intensiv auseinandersetzt, hat nicht nur einen aktuellen, sondern auch einen sehr persönlichen Bezug erhalten.

 Jonathan: "Viele Migranten sind Kollegen geworden. Ich sehe immer mehr, wie sie leben, wie sie denken und wie sie vom Staat wahrgenommen und behandelt werden. Vor rund zwei Wochen ist ein Sans-Papiers und Kursleiter der ASZ von der Polizei wegen fehlender Ausweispapiere verhaftet worden. Wir sind dar­aufhin vors Kasernenareal gezogen. Der Verhaftete ist jetzt wieder draussen, und wer weiss, vielleicht haben wir dazu beigetragen, dass es so schnell ging. Früher hätte ich gedacht: Okay, den sollte man schon rausholen. Aber heute, da kenne ich ihn, habe mit ihm geredet, da gibt es keine Frage: Der muss raus!"

 Raus musste auch Jonathan aus seinem Paradies. Nach eineinhalb Monaten standen die "Bullen" vor der Tür: Drei Tage liessen sie ihnen Zeit, die "Huberta" zu räumen. Jonathans kurzer, fiebriger, schöner Traum endete ...

 Bei Richi hiessen sie "d Schmier", und 1980 wären eineinhalb Monate in einem besetzten Haus noch unmöglich gewesen.

 Richi: "Damals sind die Hausbesetzungen meistens innerhalb von wenigen Stunden geräumt worden. Eine Ausnahme war die Stauffacher-Besetzung, die hat ungefähr zehn Tage gedauert. Ich denke, man ist heute allgemein viel toleranter. 1980 haben die Polizei, aber auch die Medien völlig hysterisch auf uns reagiert. Heute ist fast schon eher eine Art von Gleichgültigkeit entstanden. Das Häuserbesetzen hat sich etabliert."

 Jonathan: "Wir kriegen ein Ultimatum gestellt und wissen, bis dann und dann müssen wir draussen sein. Im Gegenzug boykottieren wir den Auszug nicht, wie das in den achtziger Jahren der Fall war, wo es zu Zusammenstössen kam. Aus der ‹Huberta› sind wir übers Osterwochenende ausgezogen. Als die Bullen kamen, war das Gebäude leer. Es läuft jetzt viel friedlicher ab. Das finden die einen gut und die anderen weniger. Wie immer, wenn man bei uns im besetzen Haus über Politik redet, dann ist das eher schwierig. Denn es sind Anarchisten dabei, es gibt Linke, die den parlamentarischen Weg für richtig halten, und jene, die ihn ablehnen, es hat Gewaltbefürworter und solche, die sie kategorisch ablehnen. Würde man über all das reden, gäbe das nur Streit. Bei uns sagt man deshalb einfach, wir machen das jetzt so."

 Richi: "Das macht ihr besser als wir früher. Früher hat man sich auseinanderdividiert in all diesen politischen Diskussionen."

 "Friesi" - der Kampf

 Im neu besetzten Haus, einem Wohnreihenhaus am Fuss des Uetlibergs, musste Jonathan freilich erleben, dass sich die Szene im Vergleich zur "Huberta" ebenfalls auseinanderdividiert hat. "In der ‹Friesi› ist alles ... anders."

 Das liegt massgeblich an den Räumlichkeiten; wo in der "Huberta" grosse, offene Flächen zur Verfügung standen, besteht die "Friesi" hauptsächlich aus Zweieinhalbzimmerwohnungen. "Jeder baut für sich, macht seine eigenen Dinge in seiner Wohnung. Ich habe mir aus lauter Langeweile schon eigene Möbel gebaut - ein Bett und einen Schrank", sagt Jonathan. Kommt hinzu, dass nicht alle BesetzerInnen in einem Wohnreihenhaus Platz gefunden haben. So gibt es ein vorderes Haus, in dem Jonathan wohnt, und ein hinteres. Und die Trennlinie scheint nicht bloss räumlich zu verlaufen. Im hinteren Haus haben sie vor allem am Wohnraum Interesse und beschäftigen sich sonst mit anderen Dingen. Aber sie seien trotz der unterschiedlichen Interessen auf jeden Fall noch immer eine Gruppe, sagt Jonathan.

 Die bewusste Abgrenzung "seiner" Szene spielt für Jonathan eine wichtige Rolle. Fast scheint es, als sei sein Lebensentwurf weniger gegen die Bullen, die Kapitalisten oder den Staat gerichtet (und schon gar nicht gegen die eigenen Eltern), als vielmehr gegen die eigene Jugend: Gegen die "Teeniepartys im Dynamo", die "blöden Hools, die am 1. Mai nur zum Prügeln in die Stadt kommen", und die ehemaligen Mitschüler, die "nur am Gamen interessiert waren".

 Am meisten zu schaffen macht Jonathan aber die aktuelle Lage im "Friesi". "Es ist super für diejenigen Leute, die einfach einen Platz zum Wohnen brauchen", sagt Jonathan, aber für diejenigen, die Kultur machen wollen, bräuchte es etwas anderes. Immerhin ist zumindest ins vordere Haus Bewegung gekommen: Sie haben Wände rausgerissen und andere angestrichen, eine Küche zur Vokü ausgebaut. Auch eine Bar ist mittlerweile eingerichtet.

 Jonathan: "Bei uns läuft was, wir wollen Leben ins ‹Friesi› bringen. Wir haben uns deshalb in unserm Stock zu einer WG zusammengeschlossen. Ein Zimmer ist zur Stube erkoren worden, wir kochen und essen auch gemeinsam. Zudem haben wir erste Kontakte zur Nachbarschaft geknüpft. Die hängen zwar nicht an unserer neu eingerichteten Bar ab, sind aber freundlich. Und von einer nahen Bäckerei haben wir schon öfter Gipfeli oder Brötli erhalten. Es kommt langsam. Trotzdem: Wir wollen möglichst rasch ein Kultur squat. Einen Ort für alternative Kultur, wo man einfach so hingehen kann und weiss: Dort läuft etwas, selbst wenn es nur darum geht, spannende Leute zu treffen. So wie in der ‹Huberta›. Das werden wir uns holen und organisieren."

 An einen heissen Sommer wie 1980 mag Jonathan aber nicht glauben. Das habe sich damals ja auch nicht abgezeichnet, sagt Richi nur.

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 Richi Wolff

 Seit März 2010 sitzt Richi Wolff (52) für die Alternative Liste im Gemeinde rat der Stadt Zürich. Er lebt mit seiner Partnerin seit Mitte der achtziger Jahre im "Nordpol" in Zürich und ist Vater von drei Söhnen. Der Geograf und Stadtforscher hat 1991 die Inura mitbegründet, ein internationales Netz für Forschung und Aktionen im städtischen Raum, mit Hauptsitz in Zürich. Wolff organisiert unter anderem Partizipationsprozesse in städtischen Quartieren. Vom 26. bis zum 28. Juni 2010 findet in der Roten Fabrik in Zürich die 20. Inura-Konferenz statt. 150 ReferentInnen aus über vierzig Ländern werden die wichtigsten Themen der Stadtentwicklung der letzten zwei Jahrzehnte diskutieren.

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HÄUSERKAMPF ZH
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WoZ 27.5.10

Häuserkampf im Film - Eine achtstündige Videodokumentation von Mischa Brutschin zeichnet den Kampf um ein selbstbestimmtes Leben in Zürichs Strassen von 1979 bis 1995 nach.

 "Allein machen sie dich ein"

 Von Daniel Stern

 Jahrelang hat Mischa Brutschin Film- und Videoausschnitte sowie Ton- und Textdokumente aus der Zürcher Besetzerszene zusammengetragen. Diesen riesigen Haufen Material hat er zu einer achtstündigen Collage verwoben, die vor allem den Kampf um Wohn- und Freiräume zwischen 1979 und 1995 dokumentiert. Eine Zeitperiode, die mit dem Kampf um ein Autonomes Jugendzentrum (AJZ) begann und mit der Räumung der besetzten Wohlgrot endete, einer Fabrik an den Geleisen nahe dem Bahnhof. Der gigantische weisse Schriftzug "Zureich", auf blauem Hintergrund an ihre Mauer gemalt, hatte Zugspassagiere jahrelang in der Metropole begrüsst.

 Hier und jetzt

 Brutschin macht deutlich, dass die Wurzeln der Forderung nach einem Begegnungszentrum für Jugendliche bis in die fünfziger Jahre zurückreichen. Damals entstand das Jugendhaus Drahtschmidli. Später dann, 1968, war es das Globus-Provisorium auf der Quaibrücke, um das sich Jugendliche mit der Polizei Strassenschlachten lieferten. Anfang der siebziger Jahre kochten die Emotionen anlässlich der Auseinandersetzungen um den Bunker beim heutigen Parkhaus Urania erneut hoch. Die bewegendsten Bilder aus den siebziger Jahren hat Brutschin über den Kampf um eine Häuserzeile an der Venedigstrasse zusammengetragen. Dort sollte ein ganzes Wohnquartier einem Geschäftsviertel weichen. Alt und Jung diskutierten damals auf Versammlungen darüber, wie sie sich wehren könnten.

 Auf diese seit 1968 geschaffenen Strukturen und Erfahrungen konnte die Achtzigerbewegung zurückgreifen. In diesem Zusammenhang spielte auch das Ende der siebziger Jahre besetzte Schindlergut eine Rolle, das ursprünglich ein von einem Träger verwalteter Jugendtreff gewesen war. Die Bewegung schöpfte ihre Kraft aber vor allem aus ihrem Kampf im Hier und Jetzt, mit dem sie sich vielen Strömungen, die nach 68 entstanden waren, entgegenstemmte. Man verlachte die maoistischen Grüppchen, die sich als Speerspitze des Proletarias verstanden, wie man diejenigen verachtete, die auf dem "langen Marsch durch die Institutionen" selber Teil des verhassten Sys­tems geworden waren.

 1980 ging es um Selbstbefreiung, um Autonomie, um Verweigerung gegenüber der herrschenden Kultur, und nicht um zukünftige Heilsversprechungen oder um Stellvertreterkämpfe für Unterdrückte anderswo.

 Schwarzer Faden

 Auch wenn die eigentliche Bewegung schon zwei Jahre später faktisch zerschlagen war, loderte das Feuer weiter, wie Brutschin dokumentiert. Gerade die Kämpfe um die Wohnhäuser am Stauffacher und später an der Schmiede Wiedikon konnten ihre Stärke nur entfalten, weil sie auf die Unterstützung vieler zählen konnte, die sich im AJZ kennengelernt hatten. 1989 dann kam es mit den "Aufläufen gegen den Speck" wieder zu Auseinandersetzungen, die an 1980 erinnerten. Eine neue Generation integrierte sich in die Häuserkampfszene. Die neue Bewegung rang den Stadtbehörden mit wöchentlichen Demonstrationen und unzähligen Besetzungen eine faktische Tolerierung von Hausbesetzungen bis zum Abbruchtermin ab.

 Brutschin hat für seine Dokumentation einen subjektiven Ansatz gewählt: die Perspektive des Aktivisten. Neben Archivaufnahmen des Schweizer Fernsehens zeigt er vor allem Filmmaterial, das aus der Szene selbst stammt. Texte aus Flugblättern und Bewegungszeitungen werden mit eigenen Kommentaren verwoben. Dazu montiert Brutschin Töne aus dem öffentlich-rechtlichen Radio, von Piratensendern und vom bewegungsnahen Radio Lora. Ihren ganz eigenen Stempel drücken der Dokumentation schliesslich die Aufnahmen von unzähligen Bands auf, die damals in den besetzten Häusern und Zentren auftraten.

 Die Ideen, Aktionsformen und Strategien der AktivistInnen ziehen sich wie ein Faden - ein "schwarzer Faden", wie Brutschin ihn im Begleitheft nennt - durch die Jahrzehnte der Strassenkämpfe. Je länger man zuschaut, desto mehr lässt sich eine Logik hinter den Aktionen und deren Abläufen erkennen: Aus Erfahrungen gehen neue Strategien hervor; entscheidender noch: Der Kampf um selbstbestimmte Räume schafft persönliche Beziehungen. Netze entstehen. Gruppen finden zusammen.

 "Nur Stämme werden überleben" stand 1980 auf Zürichs Hausmauern. Brutschin zeichnet in seiner Dokumentation den Verlauf einiger dieser Stämme nach; etwa jener der Leute an der Hüttisstrasse, einer inzwischen abgerissenen Wohnsiedlung im peripheren Zürich-Oerlikon. Hier kämpften die BewohnerInnen ab den frühen achtziger Jahren um den Erhalt der Arbeithäuser und zogen schliesslich, als die Abrissbagger nicht mehr aufzuhalten waren, in selbst gebaute Wohnwagen stadteinwärts auf die Kronenwiese. Später besetzten sie von dort aus weitere Häuser. In Zürich-Aussersihl verliert sich 1997 dann ihre Spur.

 Und die Drogenszene?

 Brutschin dokumentiert auch die oft erbittert geführten internen Ausein andersetzungen: Man stritt über Militanz, den Geschlechterkampf oder den Graben zwischen "DominatorInnen" und "Fussvolk" innerhalb der Besetzer­gruppen. Und man rang darum, ein Verhältnis zur Drogenszene zu finden. Denn die prägte Zürich auf ähnliche Weise. Auch die Junkies besetzten Räume, wurden vertrieben. Nur wehrten sie sich selten. Brutschin vergleicht: Wie gingen die Leute in der Wohlgrot mit der Drogenszene um? Wiederholten sie die Fehler, die man zehn Jahre zuvor gemacht hatte? Ebenso wie im AJZ experi mentierten auch die AktivistInnen aus der Wohlgrot mit einem für alle offenen Drogenraum - und scheiterten. Anders als die Leute vom AJZ verstanden sie es jedoch, sich der Ghettoisierungsstrategie der Polizei entgegenzustellen: Sie schauten nicht tatenlos zu, als die Polizei gezielt die Drogenszene in die Wohlgrot zu treiben suchte.

 Die achtstündige Collage zum Zürcher Häuserkampf ist Geschichtsschreibung aus der Perspektive des Handelnden. Und sie zeigt auf, wie Kämpfe erfolgreich geführt werden können.

 Mischa Brutschin: "Allein machen sie dich ein". Box mit 5   DVDs und Begleitheft. Zürich 2010. 80   Franken. Erhältlich unter http://www.zureich.ch oder im einschlägigen Fachhandel.

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KINO-LEBEN ZH
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WoZ 27.5.10

Fest

 30 Jahre Xenix

 Es ist auch in einer Stadt wie Zürich keine Selbstverständlichkeit mehr, dass Kinos die Filme im Originalton vorführen - und schon gar nicht, dass es noch Programmkinos gibt, die über eine bestimmte Zeitspanne thematische Filmreihen zeigen. Umso schöner ist es, dass heuer das Kino Xenix seinen dreissigsten Geburtstag feiern kann.

 Dazu lädt das Kino zu einem Fest für Gross und Klein auf dem Kanzleiareal ein. Für die Kleinen wird ab 15 Uhr ein Blasio-Universum zum Hüpfen aufgepumpt, ab 16 Uhr ist die Sirupbar mit Luftballons eröffnet. Die Grossen können in der Siebdruckecke ihr T-Shirt mit dem Jubliäumslogo bedrucken lassen.

 Stets ein Vergnügen für Jung und Alt sind Stärneföifi. Die Band um Boni Koller und Sibylle Aeberli spielt ab 17 Uhr. Musikalisch geht es dann um 20 Uhr weiter, mit Cat Vulcano und um 22 Uhr mit Big Zis feat. Domenico Ferrari und Se Uppers. Natürlich werden am Xenix-Jubiläumsfest auch Filme gezeigt: Um 19 Uhr wird zur Vorpremiere des irischen Kinderfilms "Das grosse Rennen" eingeladen, der von einem Mädchen handelt, das Seifenkistenrennen fährt. Um Mitternacht ist mit Emir Kusturicas "Chat Noir, Chat Blanc" (1998) ein vergnüglicher Klassiker zu sehen. süs

 Dreissig Jahre Xenix in: Zürich Kanzleiareal, Fr, 28. Mai, ab 15 Uhr. http://www.xenix.ch

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RABE-INFO
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Do. 27. Mai 2010
http://www.rabe.ch/uploads/tx_mcpodcast/RaBe-_Info_27._Mai_2010.mp3
- Lage der Menschenrechte: weltweit gehts nur langsam bergauf
http://www.amnesty.ch/de/themen/menschenrechte/amnesty-report/jahre/2010
- Verschärfung Asylgesetz: die lauten Stimmer der Kritiker
http://www.ejpd.admin.ch/ejpd/de/home/dokumentation/mi/2010/2010-05-261.html
- Lernort Kiesgrube: outdoor Schulzimmer mit Anschauungsunterricht
http://www.lernortkiesgrube.ch/

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ASYL
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BZ 27.5.10

Teilrevision

 Bundesrat verschärft das Asylgesetz

 Trotz kritischen Stimmen von links und rechts will der Bundesrat die Asylverfahren weiter beschleunigen und verschärfen.

 Die Zahl neu eingereichter Asylgesuche ist zwischen 2007 und 2008 von 6000 auf 16000 hochgeschnellt. Seither verharrt sie auf diesem Niveau. Das ist nach Ansicht des Bundesrats zu viel. Er will darum das Asyl- und Ausländergesetz wenige Jahre nach Inkrafttreten der letzten Revision erneut verschärfen. Das Ziel: Die Schweiz soll für Asylsuchende an Attraktivität verlieren. "Aus diesem Grund müssen die Verfahrensabläufe unbedingt beschleunigt und effektiver werden", sagte Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf gestern vor den Medien, als sie die Botschaft zur Teilrevision des Asyl- und Ausländergesetzes präsentierte. Das bisherige "komplizierte und unübersichtliche System" müsse vereinfacht werden. So sollen etwa die Tatbestände für einen Nichteintretensentscheid von 13 auf 3 reduziert werden. Nichteintretensentscheide werden fortan nur noch bei Dublin-Verfahren und bei Wegweisungen in einen sicheren Drittstaat ausgesprochen sowie in Fällen, in denen Asylsuchende keine Asylgründe vorbringen (z.B. ausschliesslich medizinische oder wirtschaftliche Gründe). In den übrigen Fällen soll ein rasches materielles Verfahren durchgeführt werden. Dabei will der Bundesrat die Beschwerdefrist von 30 auf 15 Tage verkürzen.

 Die Revision sieht weitere Einschränkungen vor. Die Möglichkeit, auf einer schweizerischen Botschaft im Ausland ein Asylgesuch zu stellen etwa, wird aufgehoben. "Die Schweiz ist noch der einzige Staat in Europa, der diese Möglichkeit bietet", sagte Widmer-Schlumpf. Die Vertretungen würden durch dieses Angebot jedoch über Gebühr belastet.

 Keine Deserteure mehr

 Verschärfungen sind auch bei den Asylgründen vorgesehen: Personen, die einzig wegen Wehrdienstverweigerung oder Desertion in die Schweiz flüchten, sollen nicht mehr als Flüchtlinge gelten und auch kein Asyl erhalten. Sie können höchstens vorläufig aufgenommen werden, wenn dem Asylsuchenden in der Heimat eine unmenschliche Behandlung droht.

 Ebenfalls unterdrücken möchte Widmer-Schlumpf exilpolitische Tätigkeiten der Asylsuchenden in der Schweiz, die ausschliesslich zur Begründung der Flüchtlingseigenschaft dienen. Solche Aktivitäten sollen strafrechtlich sanktioniert werden. Auch Personen, die Asylsuchenden dabei zur Seite stehen, drohen Strafen.

 Rechtsstaatlich bedenklich

 Wie bereits in den zwei Vernehmlassungen vom letzten Jahr stiessen die Vorschläge des Bundesrats vor allem bei den linken Parteien, den Flüchtlingsorganisationen und den Kirchen auf Kritik. Es sei höchst bedauerlich, dass der Bund das Verfahren einzig auf Kosten der Flüchtlinge beschleunigen wolle und dabei die Qualität der Verfahren abbaue, teilten sie unisono mit. Insbesondere die verkürzte Beschwerdefrist im Asylverfahren sei "mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar", monierte die Schweizerische Flüchtlingshilfe. Es sei schon absehbar, dass die Verfahrensbeschleunigung ihre Wirkung verfehlen werde. "Es ist kein Geheimnis, dass die eigentlichen Probleme beim Vollzug liegen." Und die Grünen schlossen: "Die Rechte der Flüchtlinge kommen unter die Räder."

 Auf der anderen Seite des politischen Spektrums gab sich die SVP kritisch. Es sei eine Asylpolitik "für die Galerie", teilte die Partei mit, die Widmer-Schlumpf au ihren Reihen ausgeschlossen hat.

 Pascal Schwendener

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NZZ 27.5.10

Vereinfachungen und Restriktionen im Asylrecht

 Der Bundesrat beantragt erneut Änderungen am Verfahren und eine Einschränkung des Flüchtlingsbegriffs

 Der Bundesrat hat die Botschaft zu einer weiteren Asylgesetzrevision verabschiedet. Das Verfahren wird vereinfacht, für die Asylsuchenden teilweise erschwert. Erstmals schränkt die Regierung die Asylgründe ein.

 C. W. ⋅ Das geltende Asylgesetz trat teils 2007, teils 2008 in Kraft. Als einen Grund für die neuerliche Revision gab Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf vor der Presse an, die Zahl der Asylgesuche habe 2008 stark zugenommen - wie in ganz Europa. Im Jahr darauf sank die Kurve wieder leicht. Wie dem auch sei, es werden erneut Wege gesucht, die Verfahren effizienter zu gestalten.

 Zurück zu üblichen Verfahren

 Die Vorlage des Bundesrats entspricht weitgehend dem Vernehmlassungsentwurf. Dieser war aber ergänzt worden, nachdem mehrere Organisationen auf die kontraproduktive Wirkung der Ausdehnung der Nichteintretensentscheide hingewiesen hatten. Die Chefin des Justiz- und Polizeidepartements unternahm es insofern, die Folgen von früherem unbedachtem gesetzgeberischem Aktivismus zu korrigieren.

 Es sind mittlerweile 13 Gründe, die dazu führen, dass auf ein Asylgesuch nicht eingetreten wird. Dabei ist allerdings die Gefährdung mindestens im Fall einer Rückkehr ebenfalls zu prüfen, und der Rechtsweg wird allenfalls zweimal beschritten. Zudem erhalten heute auch die im normalen Verfahren abgewiesenen Bewerber keine Sozialhilfe mehr. Daher sind nun Nichteintretensentscheide nur noch vorgesehen, wenn jemand in einen sicheren Drittstaat, speziell im Rahmen des Dublin-Systems, zurückgeschickt werden kann.

 Im materiellen Verfahren, das in allen anderen Fällen durchzuführen ist, wird die Beschwerdefrist von 30 auf 15 Tage halbiert. Diese Zeit (in Deutschland sind es 14 Tage) reiche, um die wesentlichen Gründe für einen Rekurs zusammenzustellen, sagte Widmer-Schlumpf. Die Flüchtlingshilfe betrachtet die Einschränkung für die landesfremden Asylsuchenden als rechtsstaatlich unangemessen. - Die Präsenz einer Hilfswerkvertretung bei den Anhörungen wird abgeschafft. Der Bund soll aber eine Verfahrens- und Chancenberatung unterstützen. Wie diese Aufgabe genau aussieht und wer sie erfüllen wird, ist noch offen. Es sollen sich nicht nur Hilfswerke dafür interessieren.

 Keine Gesuche im Ausland

 Eine Entlastung der Verwaltung erhofft sich der Bundesrat von der Abschaffung der Möglichkeit, Asylgesuche bei Vertretungen der Schweiz im Ausland einzureichen. Kein anderes Land biete dies an, und von den 3800 im letzten Jahr gestellten Begehren seien die meisten unbegründet gewesen. In 261 Fällen wurde die Einreise zur näheren Prüfung bewilligt. Dies soll laut Botschaft weiterhin möglich sein, wenn jemand ernsthaft und unmittelbar gefährdet ist. Im Vernehmlassungsverfahren war dieser Vorschlag einerseits aus humanitären Gründen, anderseits aus der Befürchtung, er führe zu mehr illegalen Einreisen, kritisiert worden.

 Im Weiteren sollen Wiedererwägungsbegehren und Zweitgesuche nur noch schriftlich abgewickelt werden. Die Rückkehr abgewiesener Asylsuchender soll einfacher für zumutbar erklärt werden können, indem der Bundesrat Länder bezeichnen kann, in denen grundsätzlich keine Gefährdung besteht. Auf eine Pflicht des Betroffenen, persönliche Hindernisse für den Vollzug einer Wegweisung zu beweisen, wird aufgrund von Einwänden in der Vernehmlassung verzichtet. An der Strafbarkeit von politischen Aktionen in der Schweiz, die der nachträglichen Schaffung von Asylgründen dienen sollen, hält der Bundesrat hingegen fest, obschon an der Wirkung einer solcher Bussenandrohung zu zweifeln ist.

 Mühe mit Dienstverweigerern

 Erst am Schluss erwähnte Widmer-Schlumpf einen substanziellen Revisionspunkt, der auf die Verärgerung ihres Vorgängers Christoph Blocher über ein Urteil der Asylrekurskommission zurückgeht. Die Flüchtlingsdefinition, die bisher von allen Revisionen verschont blieb, wird ergänzt um den Satz: "Keine Flüchtlinge sind Personen, die einzig wegen Wehrdienstverweigerung oder Desertion ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden." Anvisiert sind besonders Eritreer. Sie sollen künftig nur noch vorläufig aufgenommen werden, wenn sie wegen Dienstverweigerung als Staatsfeinde verfolgt werden und keine zusätzlichen Asylgründe anführen.

 In der Botschaft heisst es, die Rechtsprechung (das Eritreer-Urteil) solle weiterhin beachtet werden, es gehe nur um jene Personen, bei denen keine asylrelevante Verfolgung vorliege. Eine solche Klärung wäre aber überflüssig. Nach den Ausführungen an der Pressekonferenz wird denn auch eine Praxisänderung angestrebt. Die Logik erinnert (bei allen Unterschieden) an jene der Schweiz von 1942: "Flüchtlinge nur aus Rassegründen, z. B. Juden, gelten nicht als politische Flüchtlinge."

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Basler Zeitung 27.5.10

Kein Asyl für Armeeverweigerer

 Der SP geht das neue Asylgesetz zu weit, die SVP drängt auf weitere Verschärfungen

Martin Rupf, Bern

 Der Bundesrat will das Asylverfahren beschleunigen und die Attraktivität der Schweiz als Asylland senken. Für die Linken stellen die Vorschläge eine unzulässige Verschärfung dar, die Rechte spricht hingegen von einer Revision für die Galerie.

 Das geltende Asyl- und Ausländerrecht ist erst seit zwei Jahren in Kraft. Zwar habe dieses Recht nach Ansicht der Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf viele Verbesserungen im Vollzug gebracht, wie sie gestern in Bern sagte. Dennoch ist die Zahl der neu eingereichten Asylgesuche seither gestiegen. Von 2007 bis 2008 nahm ihre Zahl um 6000 auf rund 16 000 zu und verharrt seither auf diesem Niveau. Deshalb verabschiedete der Bundesrat die Botschaft zur Revision des Asyl- und Ausländergesetzes. Ziel der Revision ist es, den Vollzug weiter zu beschleunigen und Missbräuche konsequenter zu bekämpfen. Folgend die wichtigsten Änderungen:

 > Heute treten die Behörden auf Asylgesuche häufig erst gar nicht ein. Etwa dann, wenn ein Asylbewerber keine Papiere aufweisen kann. Diese Nichteintretensverfahren sollen bis auf wenige Ausnahmen abgeschafft und durch ein rasches Verfahren ersetzt werden. Nach einem negativen Entscheid hat der Gesuchsteller neu nur noch 15 Tage (vorher 30 Tage) Zeit, Beschwerde einzureichen.

 > Stellt jemand in der Schweiz ein zweites Asylgesuch, so muss dies neu schriftlich passieren.

 > Auf einer Schweizer Botschaft im Ausland dürfen künftig keine Asylgesuche gestellt werden.

 > Personen, die einzig wegen Wehrdienstverweigerung in die Schweiz flüchten, erhalten kein Asyl. Im Blick hat der Bundesrat dabei Asylsuchende aus Eritrea, die in den letzten Jahren besonders häufig in der Schweiz um Aufnahme baten.

 > Neu bezeichnet der Bundesrat die Länder, in welche die Wegweisung zumutbar ist. Es liegt am Asylsuchenden, das Gegenteil zu beweisen. Dadurch sinkt der Aufwand der Schweizer Behörden, die Zumutbarkeit im Einzelfall abzuklären.

 > Weiter sollen die Kantone Ausländer, die Sozialhilfe empfangen, bestimmten Wohnungen oder Gemeinden zuweisen dürfen. Damit sollen insbesondere grosse Gemeinden entlastet werden.

Amnesty kritisiert

Die Reaktionen auf diese Vorschläge fallen erwartungsgemäss sehr unterschiedlich aus. Kritik äussern Amnesty International Schweiz und die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH). "Asylsuchende sind oft traumatisiert, rechtsunkundig und beherrschen zudem die Sprache nicht. Die Verkürzung der Beschwerdefrist ist deshalb unzulässig", sagt Denise Graf von Amnesty International. Und SFH-Sprecherin Susanne Bolz fügt an: "15 Tage sind vor allem deshalb zu kurz, weil wir in der Schweiz mit dem Bundesverwaltungsgericht nur eine einzige Beschwerdeinstanz kennen."

 Dass hingegen Dienstverweigerer kein Asyl bekämen, sei nicht neu, so Bolz: "Ein Deserteur erhält auch heute nur dann Asyl, wenn noch andere asylrelevante Motive dazukommen."

 Für die SP und die Grünen ist klar, dass sie die Vorlage im Parlament bekämpfen werden. "Im letzten Jahr ist die Zahl der Asylgesuche wieder zurückgegangen", so Andy Tschümperlin, SP-Nationalrat des Kantons Schwyz. Er verstehe deshalb nicht, weshalb es jetzt eine weitere Verschärfung brauche. Und für Antonio Hodgers (Grüne, GE) ist klar: "Wenn Asylsuchende ihr Gesuch nicht mehr im Ausland stellen können, wird der Missbrauch eher gefördert, denn bekämpft, weil die Menschen dann illegal in die Schweiz reisen."

SVP unzufrieden

Kritisch äussert sich auch das bürgerliche Lager. SVP-Präsident Toni Brunner: "Die Probleme etwa mit dem Rückführungsstopp der Nigerianer sind damit nicht gelöst; wir werden die Vorlage ebenfalls bekämpfen." Und der Aargauer FDP-Nationalrat Philipp Müller sagt: "Diese Revision ist nur für die Galerie."

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20 Minuten 27.5.10

Bundesrat will Asylbewerber von der Schweiz fernhalten

 BERN. Kürzere Fristen für Beschwerden und weniger Gründe, um in der Schweiz aufgenommen zu werden: Der Bundesrat will das Asyl- und Ausländerrecht erneut verschärfen.

 Zwar hat laut Eveline Widmer-Schlumpf das seit 2007/2008 geltende neue Asylrecht viele Vollzugs-Verbesserungen gebracht. Dennoch sei die Zahl der neu eingereichten Asylgesuche seither gestiegen. Von 2007 bis 2008 nahm ihre Zahl um 6000 auf rund 16 000 zu und verharrt seither auf diesem Niveau. Das ist nach Ansicht des Bundesrats zu viel. Er will deshalb das Asyl- und Ausländerrecht in folgenden Punkten verschärfen:

- Die Beschwerdefrist für abgewiesene Asylbewerber wird von 30 auf 15 Tage verkürzt.

- Tatbestände für das Nichteintreten auf ein Asylgesuch werden von 13 auf drei reduziert.

- Die Möglichkeit, ein Asylgesuch in einer Schweizer Botschaft im Ausland einzureichen, wird abgeschafft.

- Wehrdienstverweigerung oder Desertion ist kein Asylgrund mehr.

- Der Bundesrat definiert Staaten, in die eine Wegweisung generell als zumutbar erachtet wird. Betroffene müssen das Gegenteil beweisen.

- Kantone können Ausländer, die Sozialhilfe empfangen, bestimmten Wohnungen oder Gemeinden zuweisen.

 Die Vorschläge stossen bei den linken Parteien und den Flüchtlingsorganisationen auf Kritik. Die SVP, die eine harte Haltung vertritt, sprach gestern von einer Asylpolitik "für die Galerie". nm

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10vor10 26.5.10

Tempo im Asylverfahren

Der Bundesrat hat heute bekannt gegeben, wie er sich die Teilrevision des Asyl-und Ausländergesetzes vorstellt. Ein wichtiger Punkt sind die kürzeren Rekursfristen. Bundesrätin Widmer-Schlumpf nimmt Stellung zu den geplanten Verschärfungen.
http://videoportal.sf.tv/video?id=25b33f30-9067-4aef-8cbf-147d6c790660

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amnesty.ch 26.5.10

Asylgesetzrevision

Die Schweiz will sich auf Kosten von verfolgten Personen unattraktiv machen

Amnesty International ist über die heute von Bundesrätin Widmer-Schlumpf präsentierte Asylgesetzrevision empört. Unannehmbare Verschärfungen wie die Asylverweigerung für DeserteurInnen, die Aufhebung des Asylverfahrens auf Schweizer Botschaften oder die Verkürzung der Beschwerdefrist von 30 auf 15 Tage werden vorgeschlagen. Amnesty International begrüsst dagegen den Vorschlag, das Nichteintretensverfahren aufzuheben. Es handelt sich um einen längst überfälligen Vorschlag.

Amnesty International ist über die Aufhebung des Botschaftsverfahrens empört, ein Vorschlag, der schon im Vernehmlassungsverfahren sehr viel Kritik geerntet hat. "Es ist unverständlich, dass der Bundesrat an der Aufhebung des Botschaftsverfahrens festhält. Dies hat zur Folge, dass verfolgte Personen in Zukunft eine lange und oft gefährliche Reise auf sich nehmen müssen, ohne die Möglichkeit zu haben, auf der Schweizer Botschaft in ihrer Herkunftsregion ein Asylgesuch einzureichen", sagt Denise Graf, Flüchtlingskoordinatorin bei der Schweizer Sektion von Amnesty International. "Amnesty International hat sich mehrere Male für Personen in der Türkei und in Kolumbien eingesetzt, die ihr Land nur dank dieser Möglichkeit verlassen konnten."

Die neue Auslegung des Flüchtlingsbegriffs bezüglich der MilitärdienstverweigerInnen ist problematisch, weil sie den juristischen Status der Asylsuchenden verändert. Die Verkürzung der Beschwerdefrist von 30 auf 15 Tage macht die Beweisbeschaffung noch schwieriger. Die vom Bundesrat vorgeschlagene Verfahrens- und Chancenberatung ist ungenügend. Amnesty International fordert eine effektive staatlich finanzierte Rechtsvertretung, so wie sie in anderen europäischen Staaten existiert. "Die zahlreichen in der Gesetzesvorlage enthaltenen Verschärfungen widersprechen der humanitären Tradition der Schweiz. Der Bundesrat versucht, die Schweiz auf Kosten von verfolgten Personen immer noch unattraktiver zu machen", fügt Denise Graf bei.

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AUSSCHAFFUNG
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WoZ 27.5.10

Ausschaffungsinitiative - Gibt es bald ein Sonderstrafrecht für AusländerInnen aus Nicht-EU-Staaten?

 Zwei bedingte Strafen reichen schon

 Die Staatspolitische Kommission des Nationalrats folgte am letzten Donnerstag dem Votum des Ständerats. Sie hält die Ausschaffungsinitiative der SVP für völkerrechtswidrig und will ihr deshalb einen direkten Gegenvorschlag entgegensetzen. Das klingt kämpferisch, ist es aber nicht.

 Der Reihe nach: Die SVP will einen Katalog von Delikten in der Verfassung verankern - von der vorsätzlichen Tötung über Vergewaltigung und Einbruch bis hin zum "missbräuchlichen Sozialhilfebezug". AusländerInnen, die wegen einer dieser Straftaten verurteilt werden, sollen ausnahmslos ausgewiesen und ausgeschafft werden. Damit widerspricht die Initiative "zwingendem" Völkerrecht. Sie träfe nämlich auch Personen, denen in ihrem Herkunftsland Folter oder andere unmenschliche Behandlung drohen. Man hätte die Initiative also problemlos für ungültig erklären können, und der Spuk wäre vorbei gewesen. Dazu fehlte jedoch schon dem Bundesrat der Mut. Der Ständerat und jetzt die nationalrätliche Kommission spielen ein doppeltes Spiel. Einerseits wollen sie sich von der SVP nicht vorwerfen lassen, Angst vor dem "Volk" zu haben. Andererseits greifen sie deren angeblich "berechtigtes Anliegen" auf und giessen es in einen Gegenvorschlag, der zwar ausdrücklich das Völkerrecht berücksichtigen soll, aber keineswegs weniger scharf ist.

 Der Katalog des Gegenvorschlags umfasst insgesamt 36 Delikte: alle, für die das Strafrecht eine Mindeststrafe von einem Jahr vorsieht, plus die "schwere Körperverletzung". Ausschaffung droht ferner bei einer Verurteilung zu achtzehn Monaten wegen Sozialhilfe- oder anderer Formen des Betrugs. Und sie droht, wenn sich mehrere Verurteilungen innerhalb von zehn Jahren auf Freiheits- oder Geldstrafen von 720 Tagen beziehungsweise Tagessätzen summieren. Zwei bedingte Strafen würden also für eine Ausschaffung reichen - obwohl bedingte Strafen nur bei günstiger Sozialprognose ausgesprochen werden.

 Gleichgültig, welche Variante des "Ausländer raus" die StimmbürgerInnen bevorzugen - "die Ausführungsbestimmungen werden im Wesentlichen die gleichen sein". Das bestätigte der Aargauer FDP-Nationalrat Philipp Müller an der Medienkonferenz der Staatspolitischen Kommission. Wo sie dem Völkerrecht widerspricht, ist die Ausschaffungsinitiative nämlich "nicht umsetzbar". Das Parlament werde sich daher in jedem Fall am Gegenvorschlag orientieren. Es wird weder die Europäische Menschenrechtskonvention aufkündigen noch das Freizügigkeitsabkommen mit der EU. Letzteres lässt eine Ausschaffung von EU-Bürger Innen aber nur dann zu, wenn von ihnen auch nach Absitzen der Strafe eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht, wenn also anzunehmen wäre, dass sie weiterhin schwere Straftaten begehen.

 Die neue Härte trifft also nur AusländerInnen von ausserhalb der EU. Sie - und nur sie - sollen nicht bloss ihre Strafe verbüssen, sondern werden mit der Ausschaffung gleich doppelt bestraft. Für die viel beschworene Sicherheit der BürgerInnen bringt diese offensichtliche Diskriminierung nichts. Das ist dem FDP-Hardliner Philipp Müller egal. "Hier geht es nicht um die Sicherheit der Schweiz, sondern um den Grundsatz, dass wer das Gastrecht missbraucht und schwer delinquiert, die Schweiz zu verlassen hat." In diesem Grundsatz ist sich Müller mit der SVP einig.

 Die Bundeshausfraktion der Grünen beschloss am Freitag einstimmig ein doppeltes Nein zu SVP-Initiative und Gegenvorschlag   - genauso wie Solidarité sans frontières, Amnesty, die Kommission gegen Rassismus und der Schweizerische Gewerkschaftsbund.

 Anders dagegen die SP: In der Kommission haben ihre Leute mit vier Ja-Stimmen und zwei Enthaltungen dem Gegenvorschlag zum Durchbruch verholfen. "Wir haben es uns nicht leicht gemacht", beteuert SP-Fraktionsvize Andy Tschümperlin. Für ihn sei wichtig, dass der Gegenvorschlag auch einen Integrationsartikel enthält. "Dafür haben wir uns in den letzten Jahren starkgemacht."

 Am Dienstag will sich die SP festlegen. Bis dahin können sich die SozialdemokratInnen noch überlegen, ob sie den Grundsatz der Rechtsgleichheit für ein paar lumpige Integrationsfranken verkaufen wollen.  

Heiner Busch

http://www.ausschaffungsinitiative-nein.ch

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sf.tv 27.5.10

Gescheiterte Abschreckungspolitik: Abgewiesene Asylbewerber reisen nicht aus

sf

 Obwohl abgewiesene Asylbewerber seit zwei Jahren nur noch Nothilfe in Form von Lebensmitteln, Notunterkunft und medizinischer Notfallversorgung erhalten, bleiben sie in der Schweiz. 44 % der Nothilfe-Bezüger hätten schon vor 2008 ausreisen sollen. Dies zeigt eine unveröffentlichte Studie des Bundesamts für Migration (BFM) die der "Rundschau" vorliegt.

 Der Chef des Zürcher Sozialamts Ruedi Hofstetter sagt gegenüber der "Rundschau": "Man kann auch gar keine Nothilfe gewähren, die Leute würden bleiben. Die Schweiz und besonders die Stadt Zürich mit seinen Agglomerationen sind nach wie vor sehr attraktiv, die Leute wollen einfach hier bleiben."

 Die noch unveröffentlichte Studie "Langzeitbezüger in der Nothilfe" von Bund und Kantonen zeigt: Jeder dritte Nothilfebezüger hat seit mindestens vier Jahren kein Bleiberecht mehr in der Schweiz.

 Heute hat das BFM die Ergebnisse mit den Kantonen besprochen. "Die Situation ist absolut unbefriedigend", sagt Ruedi Hofstetter vom Zürcher Sozialamt. "Diese Leute können sich nicht integrieren, sie dürfen nicht arbeiten, sie dürfen nichts machen. Man wartet nur darauf, dass sie ausreisen, aber das tun sie nicht."

 Die grossen Kantone leiden unter Mehrkosten, weil die Nothilfe-Ausgaben die Pauschale von 6‘000 Franken, die der Bund den Kantonen pro abgewiesenem Asylbewerber überweist, übersteigen. Der Kanton Zürich legte in den letzten zwei Jahren je 8 Millionen Franken drauf.

 Ruedi Hofstetter macht auch die Unterstützung der Nothilfebezüger durch Privatpersonen und Hilfswerke für die enttäuschende Zahl freiwilliger Ausreisen verantwortlich: "Wenn wir Essensgutscheine abgeben, werden diese ausgetauscht gegen Bargeld. Es gibt Deutschunterricht, es gibt eine Tagesstruktur - eigentlich all das, was wir nicht wollten." Das sei zwar unbefriedigend, so Hofstetter, letztlich stelle es aber einer Gesellschaft auch ein gutes Zeugnis aus, wenn sie sich um Leute kümmere, denen es nicht gut geht.

 Private Unterstützung

 Die "Rundschau" zeigt, wie im Bündner Bergdorf Valzeina ein Verein von Einheimischen Nothilfebezüger unterstützt: Die syrische Kurdin M. H. lebt mit ihren vier Kindern seit zehn Monaten in einem 14 Quadratmeter-Zimmer. Vereins-Mitglieder fahren Mutter und Kinder einmal pro Woche nach Chur, damit sie den Familienvater besuchen können, der dort in Ausschaffungshaft sitzt.

 "Ich glaube schon, dass ich die Absicht der Behörden sabotiere", sagt Andrea Lietha, Ex-Kadermann der UBS und Mitglied des Vereins "Miteinander Valzeina". "Aber das mache ich bewusst, weil ich glaube, es braucht Gegenkräfte zu einer Politik, die gewisse Leute einfach ausgrenzt."

 Mehr dazu in der "Rundschau" um 20.50 Uhr, auf SF 1

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Rundschau 26.5.10


Gescheiterte Asylpolitik

Mit täglich acht Franken Nothilfe wollte der Bund erreichen, dass abgewiesene Asylbewerber die Schweiz verlassen. Am Beispiel von Nothilfe-Zentren in Zürich und Graubünden aber zeigt die Rundschau, dass die Abschreckungspolitik des Bundes kaum funktioniert: Die abgewiesenen Asylbewerber bleiben trotzdem hier.
http://videoportal.sf.tv/video?id=52af6798-3cc4-4d0d-81ef-50381bf0e445

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Stuhl: Alard du Bois-Reymond
Direktor Bundesamt für Migration BFM
http://videoportal.sf.tv/video?id=e71683b9-0c51-4980-83b5-2f6ef17fb521

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RASSISMUS
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sf.tv 27.5.10

Amnesty International: Mehr Rassismus in der Schweiz

 Muslime seien von den Befürwortern des Minarett-Verbots stigmatisiert worden, heisst es im Jahresreport 2010 von Amnesty International. Auch die Gesetze gegen Rassismus in der Schweiz würden nur bedingt wirken.

sf/buev

 Mit ihren umstrittenen Plakaten sorgten die Befürworter des Minarett-Verbots letzten Herbst für Aufsehen bis weit über die Landesgrenzen hinaus.

 EU-Kommission: Initiative verletzt Menschenrechte

 Diese politische Propaganda hätte die muslimische Minderheit stigmatisiert, schreibt Amnesty International in seinem Jahresbericht 2010.

 Auch die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) äusserte ihre Besorgnis darüber, dass über "eine Initiative, welche die Menschenrechte verletzt, abgestimmt werden kann".

 Gesetze gegen Rassismus nur bedingt wirksam

 Die ECRI zeigte Bedenken über die Zunahme von rassistischen und fremdenfeindlichen Diskursen in der Politik, insbesondere der SVP.

 Die gesetzlichen Bestimmungen gegen Rassismus in der Schweiz wirkten nur bedingt, wird die ECRI im Bericht weiter zitiert. Sie fordert eine verbesserte Ausbildung von Juristen sowie höhere Bestrafungen von rassistisch motivierten Straftaten.

 UNO: Mangelnder Zugang zu Gesundheitsvorsorge

 Der UNO-Menschenrechtsausschuss zeige sich besorgt über die anhaltenden Misshandlungen der Polizei insbesondere gegenüber der Asylsuchenden und Migranten gezeigt, ist im Jahresbericht zu lesen. Er fordere den Einsatz eines unabhängigen Untersuchungsgremiums.

 Ebenfalls kritisiert das Gremium, dass abgewiesene Asylsuchenden oft weder angemessene Lebensbedingungen noch Zugang zur Gesundheitsvorsorge hätten.

 Frauen besser geschützt

 Im Bericht werden die Aufnahme von Guantanamo-Häftlingen sowie die neuen Gesetze zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen, Mädchen und Menschenhandel lobend erwähnt.

 Die Verletzung dieser Menschenrechte sei aber nach wie vor weit verbreitet. Zudem hätten nicht alle Kantone Hilfsreinrichtungen für die Opfer von Menschenhandel.

 Insbesondere müsse die Diskriminierung von Frauen ethnischer Minderheiten und Migrantinnen bekämpft werden. Wenn letztere sich scheiden liessen, sei der Erwerb oder die Erneuerung der Aufenthaltsgenehmigung erschwert, kritisiert der UNO-Menschenrechtsausschuss.

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NZZ 27.5.10

Langer Weg zur Gerechtigkeit

Amnesty sieht grosse Fortschritte und mahnt zur Beharrlichkeit

 Unter dem Schlagwort "Gerechtigkeit einfordern" zieht Amnesty International Bilanz über die Erfolge der letzten zwei Jahrzehnte auf dem Weg hin zu grösserer Rechenschaftspflicht. An Herausforderungen für die Zukunft mangle es aber nicht.

 rak. ⋅ "Wer in seinen Rechten verletzt worden ist, hat Anspruch auf Wahrheit und Gerechtigkeit", schreibt Claudio Cordone, der amtierende Generalsekretär von Amnesty International, im Jahresbericht 2010. Die Aufarbeitung von vergangenen Menschenrechtsverbrechen und die Benennung und Bestrafung der Verantwortlichen seien aber nicht nur für die Betroffenen von Bedeutung, sondern dienten der Abschreckung vor zukünftigen Straftaten und könnten eine Reform nationaler und internationaler Institutionen einleiten.

 Als grössten Fortschritt bei der Überwindung der Straflosigkeit in den vergangenen zwei Jahrzehnten nennt Cordone die Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) im Jahr 1998. Der internationalen Rechtsprechung sei so eine wichtige Rolle zugewiesen worden. Im Jahr 2009 markierte der ICC einen Wendepunkt mit dem Haftbefehl gegen den sudanesischen Präsidenten Bashir, einen amtierenden Staatschef, wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Doch auch auf nationaler Ebene habe es historische Fortschritte gegeben. So wurde im April 2009 der ehemalige Präsident Perus, Fujimori, durch ein peruanisches Gericht wegen Menschenrechtsverletzungen zu 25 Jahren Haft verurteilt. Trotz diesen Fortschritten gelte es, zwei grosse Hindernisse auf dem Weg zu Gerechtigkeit zu beseitigen: einerseits den Anspruch mächtiger Staaten wie der USA oder Chinas, über dem Gesetz zu stehen und sich der Rechtsprechung des ICC nicht unterwerfen zu müssen, andererseits die Einflussnahme der Politik auf die internationale Rechtsprechung.

 In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich laut Cordone ein globales Bewusstsein über die Notwendigkeit der Ahndung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit etabliert. Hingegen mangle es an vergleichbarem internationalem Einsatz, Recht durchzusetzen, wenn es um die Verletzung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte gehe. Anlässlich der im September stattfindenden Uno-Konferenz zur Überprüfung der für das Jahr 2015 angestrebten Millenniums-Entwicklungsziele prognostiziert Amnesty International ein deutliches Verfehlen dieser Ziele. Das Versprechen auf ein Leben in Würde werde für mehrere hundert Millionen Menschen nicht in Erfüllung gehen. Daher sei es notwendig, wirksame rechtliche Mittel gegen die Untätigkeit von Regierungen zu schaffen, um sie auf die Einhaltung ihrer Verpflichtungen zu behaften.

 In Bezug auf die Schweiz erwähnt der Bericht die Verfassungsänderung, welche den Bau von Minaretten verbietet, sowie die Stigmatisierung der muslimischen Minderheit durch die politische Propaganda der Befürworter des Verbots während der Abstimmungskampagne. Der Bericht zitiert die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz in ihrer Besorgnis darüber, dass über "eine Initiative, welche die Menschenrechte verletzt, abgestimmt werden kann".

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amnesty.ch 26.5.10

Amnesty-Report 2010

Schweiz

Amtliche Bezeichnung: Schweizerische Eidgenossenschaft
Regierungschef: Hans-Rudolf Merz (löste im Januar Pascal Couchepin im Amt ab)
Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft
Einwohner: 7,6 Mio.
Lebenserwartung: 81,7 Jahre Kindersterblichkeit (m / w) : 6 / 5 pro 1000 Lebendgeburten

Der Anstieg von Rassismus und Ausländerfeindlichkeit in der öffentlichen Diskussion gab 2009 Anlass zur Besorgnis. Vorwürfe wegen Misshandlungen durch Polizeikräfte, darunter auch rassistisch motivierte Vorfälle, wurden laut. Trotz gesetzlicher Massnahmen zu deren Bekämpfung kam es nach wie vor zu Gewalt gegen Frauen und zu Menschenhandel.

Rassismus und Diskriminierung

In einer Volksabstimmung wurde am 29. November 2009 eine Verfassungsänderung beschlossen, die den Bau von Minaretten untersagt. Während der Abstimmungskampagne wurde die muslimische Minderheit durch politische Propaganda der Befürworter des Minarett-Verbots stigmatisiert. Die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) äusserte sich daraufhin besorgt darüber,dass über "eine Initiative, welche die Menschenrechte verletzt, abgestimmt werden kann".

Im vierten periodischen Länderbericht zur Schweiz, der im September veröffentlicht wurde, brachte die ECRI ihre Besorgnis angesichts zunehmender rassistischer und fremdenfeindlicher Äusserungen im politischen Diskurs zum Ausdruck, insbesondere mit Bezug auf die Schweizerische Volkspartei. Als besorgniserregend bezeichnete die ECRI ausserdem die nur bedingte Wirksamkeit der gesetzlichen Bestimmungen gegen Rassismus. Die ECRI forderte daher eine verbesserte Ausbildung der Juristen und Juristinnen, die für die Umsetzung der Bestimmungen zuständig sind. Der ECRI-Bericht empfahl ferner eine Anpassung der bestehenden zivilund strafrechtlichen Bestimmungen zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, insbesondere durch die Einführung einer gesetzlichen Bestimmung, die ein höheres Strafmass für rassistisch motivierte Straftaten vorsieht.

Die ECRI begrüsste, dass Massnahmen zur besseren Integration von ausländischen Staatsangehörigen ergriffen wurden. Sie wies jedoch auch auf die weit verbreitete Diskriminierung aus rassistischen Gründen beim Zugang zu staatlichen Leistungen hin. Insbesondere Kindern mit Migrationshintergrund wurde die Bildung erschwert. Fahrenden Gemeinschaften wurden zu wenige Standplätze zur Verfügung gestellt. Sie machten daher an nicht dafür vorgesehenen Orten Station, so dass es vermehrt zu Spannungen mit der ortsansässigen Bevölkerung kam.

Polizei und Sicherheitskräfte

Im Oktober äusserte sich der UN-Menschenrechtsausschuss besorgt über die anhaltenden Berichte über Misshandlungen durch Polizeikräfte, von denen insbesondere Asylsuchende sowie Migrantinnen und Migranten betroffen waren. Die Kommission forderte die Einsetzung von unabhängigen Gremien zur Untersuchung der Vorwürfe gegen die Polizeikräfte.

Migranten, Flüchtlinge und Asylsuchende

Ein am 1. Januar 2009 in Kraft getretenes Gesetz sieht vor, dass alle abgelehnten Einbürgerungsanträge begründet werden und anfechtbar sein müssen.

Im Oktober äusserte der UN-Menschenrechtsausschuss seine Besorgnis darüber, dass Asylsuchende, deren Antrag abgelehnt wurde, weder angemessene Lebensbedingungen noch Zugang zur Gesundheitsversorgung haben.

Am 12. Juni beschloss das Parlament eine Gesetzesänderung im Zivilrecht, die schweizerischen Staatsangehörigen und Einwanderern mit geregeltem Aufenthaltsstatus die Heirat mit abgewiesenen Asylsuchenden und Migranten ohne regulären Aufenthaltsstatus verbietet.

Bis Ende 2009 hatte das Bundesverwaltungsgericht kein endgültiges Urteil hinsichtlich der im Jahr 2008 an die Schweiz gerichteten Asylanträge von drei Häftlingen des US-Gefangenenlagers Guantánamo gefällt. Das Bundesverwaltungsgericht hob jedoch eine Entscheidung des Migrationsamts auf und wies den Fall für eine erneute Überprüfung an das Bundesamt zurück. Das Gericht begründete seine Entscheidung damit, dass die Argumentation des betroffenen Häftlings nicht angemessen bewertet worden sei.

Im Dezember 2009 bestätigte der Bundesrat, dass man einem usbekischen Guantánamo-Häftling humanitäre Hilfe leisten wolle und dass dieser vom Kanton Genf aufgenommen werde, sobald zwischen den US-amerikanischen und den schweizerischen Behörden eine Absichtserklärung unterschrieben worden sei. Zum Jahresende liess die Schweizer Regierung die Möglichkeit offen, weitere Guantánamo-Häftlinge aufzunehmen, sofern andere kantonale Behörden einer Aufnahme zustimmen sollten.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen

Der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau begrüsste im August die zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen und

Mädchen und des Menschenhandels eingeführten neuen Gesetze. Er wies jedoch auf die nach wie vor weite Verbreitung dieser Menschenrechtsverletzungen hin. Der Ausschuss drückte zudem seine Sorge darüber aus, dass nur in einer begrenzten Anzahl der Kantone Hilfseinrichtungen für Opfer von Menschenhandel eingerichtet wurden und dass keine konsequente Anwendung der Gesetze zum Opferschutz erfolgte.

Der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau forderte die Errichtung weiterer Hilfseinrichtungen für Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt. Ausserdem sollen Massnahmen gegen die Diskriminierung von Frauen ethnischer Minderheiten und Migrantinnen angestrengt werden. Der UN-Menschenrechtsausschuss äusserte Besorgnis darüber, dass Migrantinnen, die Opfer von häuslicher Gewalt sind, der Erwerb oder die Erneuerung von Aufenthaltsgenehmigungen nach einer Scheidung durch das Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer erschwert wird.

Institutionelle Entwicklungen

Im September 2009 ratifizierte die Schweiz das Fakultativprotokoll zum Übereinkommen gegen Folter. Im Oktober ernannte der Bundesrat zwölf Mitglieder, die seither den nationalen Ausschuss zur Prävention von Folter bilden.

Der Bundesrat erklärte im Juli, dass die Errichtung einer unabhängigen nationalen Menschenrechtsinstitution "verfrüht" sei, und bewilligte stattdessen die Schaffung eines universitären Kompetenzzentrums für Menschenrechtsfragen in der Schweiz als Pilotprojekt. Dieses Dienstleistungszentrum soll dem Bund, den Kantonen und privaten Unternehmen gegen ein Entgelt Empfehlungen und Analysen zu Menschenrechtsfragen erstellen. Menschenrechtsorganisationen kritisierten diesen Vorschlag, da er die international anerkannten Grundsätze nicht erfüllt, was den Status nationaler Institutionen zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte betrifft (Pariser Grundsätze).

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SEMPACH
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NLZ 27.5.10

Sempacher Schlachtfeier

 Angst vor Extremen: Stadtrat verlegt Feier

Thomas Oswald

 Die Sempacher Gedenkfeier wird vom Schlachtgebiet in die Seeallee verlegt - wegen Sicherheitsbedenken.

 Die 624. Gedenkfeier der Gemeinde zur Schlacht bei Sempach findet nicht wie von einer Arbeitsgruppe vorgeschlagen bei der Schlachtkapelle statt. Der Sempacher Stadtrat hat entschieden, den Veranstaltungsort in die Seeallee und bei schlechtem Wetter in die Festhalle Seepark zu verlegen. Der Stadtrat begründet diesen Schritt in einer Mitteilung mit "der angekündigten Teilnahme von links- und rechtsextremen Gruppierungen" und den "damit verbundenen Sicherheitsrisiken".

 Aufrufe übers Internet

 Stadtpräsident Franz Schwegler erklärt auf Anfrage, über Internet, insbesondere über das Sozialnetzwerk Facebook, habe es von rechts und links Aufrufe zu Aufmärschen gegeben. "Das müssen wir ernst nehmen. Wir wollen diesen Gruppierungen keine Plattform im Gebiet der Schlachtkapelle bieten und verlegen darum die Feier." Eine Verlegung ist im fünfköpfigen Stadtrat unumstritten. Gemäss Schwegler ist der Entscheid einstimmig ausgefallen. Auf Nachfrage ging bislang weder bei der Stadt Sempach noch bei den kantonalen Behörden ein Gesuch für eine Kundgebung ein.

 Zur Schlachtjahrzeit 2010 finden zwei Feiern statt. Nachdem Kantonsregierung und Parlament beschlossen haben, wegen früherer Grossaufmärsche extremer Gruppierungen die Feier dieses Jahr zu redimensionieren, veranstaltet die Stadt Sempach zusätzlich eine eigene kleine Feier:• Feier der Stadt Sempach: Am Samstag, 26. Juni, findet um 9 Uhr eine ökumenische Andacht statt. Anschliessend offeriert Sempach ein Morgenbrot, und es gibt ein Platzkonzert. Später finden das Sempacher Schiessen, der Hellebardenlauf und das Städtlifest statt.

- Kantonale Feier: Am Montag, 28. Juni, findet um 18.30 Uhr in der Schlachtkapelle ein öffentlicher Gottesdienst statt. Teilnehmer sind unter anderem der Regierungsrat, der Sempacher Stadtrat sowie Mitglieder des Kantonsrates.

 thomas.oswald@neue-lz.ch

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NEONAZIS LIECHTENSTEIN
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St. Galler Tagblatt 27.5.10

Brandstifter von rechts

 Die Liechtensteiner Polizei verhaftet einen Verdächtigen für die Brandanschläge in Nendeln.

 Vaduz. Die Liechtensteiner Landespolizei ist in der Aufklärung von zwei Brandanschlägen in Nendeln einen Schritt weitergekommen: Sie hat einen 22-Jährigen verhaftet, der dringend der Tat verdächtigt wird. Der Mann wird laut Polizeiangaben der "rechten Szene" zugeordnet.

 Ausserdem ordnete das Landgericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft zwei Hausdurchsuchungen an. Derzeit werden der Tatverdächtige und weitere Personen aus der rechten Szene zu den Straftaten befragt. Weitere Ermittlungen seien im Gang.

 Die Brandanschläge hatten im Fürstentum grosses Aufsehen erregt. In der Nacht vom 22. November letzten Jahres wurden mehrere Molotow-Cocktails gegen ein Fenster sowie auf einen Balkon eines Wohnhauses in Nendeln geworfen. Gegenstände gerieten in Brand. Schlimmeres konnte verhindert werden, weil das Feuer von den Bewohnern bemerkt und gelöscht wurde.

 In der Nacht vom 26. Februar dieses Jahres wurden ebenfalls in Nendeln die Fenster eines kurz vor der Eröffnung stehenden Kebab-Bistros mit Steinen zertrümmert. Zudem warfen Unbekannte Brandsätze ins Innere des Lokals. Es entstand Sachschaden; Personen wurden nicht verletzt. (sda)

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Liechtensteiner Vaterland 27.5.10

Verdächtiger soll in U-Haft

 Der 22-jährige Liechtensteiner, der am vergangenen Dienstag wegen des Verdachts der Brandstiftung verhaftet worden ist, soll in U-Haft. Das fordert die Staatsanwaltschaft. Der Untersuchungsrichter wird vermutlich noch heute darüber entscheiden.

 Von Desirée Vogt

 Nendeln. - Der 22-Jährige bezeichnet sich selbst als Nationalsozialisten - und Türken als "die Juden der Neuzeit", wie die Staatsanwaltschaft mitteilt. Doch mit den drei Brandstiftungen in Nendeln will er nichts zu tun haben: Er bestreitet die Tat. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft begründen die vorliegenden Beweise und Indizien aber einen dringenden Tatverdacht. Deshalb wurde gestern beim Untersuchungsrichter ein Antrag auf Verhängung der Untersuchungshaft gestellt. Es bestehe Verdunkelungs- und Wiederholungsgefahr. Die Staatsanwaltschaft geht ausserdem davon aus, dass es mehrere Mittäter gibt.

 Motiv: Fremdenhass

 Der liechtensteinische Staatsangehörige ist nicht vorbestraft, wie der Leitende Staatsanwalt, Robert Wallner, mitteilt. Allerdings sei der Verdächtige nach den Erkenntnissen der Landespolizei aktives Mitglied der rechten Szene und steht zu seiner Gesinnung. Auch die Staatsanwaltschaft geht deshalb davon aus, dass das Tatmotiv im Fremdenhass zu finden ist. Dieser Hass richte sich speziell gegen in Liechtenstein wohnhafte türkische Staatsangehörige.

 Erhärtet sich die Beweislage, so muss der 22-jährige mit einer Freiheitsstrafe von einem bis zehn Jahren rechnen. Denn die Voruntersuchung wird wegen des Verdachts des Verbrechens der versuchten Brandstiftung in drei Fällen geführt. Wie Robert Wallner informiert, richtet sich dieses Vorverfahren auch gegen die vermuteten unbekannten Mittäter.

 Aufs Schärfste verurteilt

 Sämtliche involvierten Behörden stellen noch einmal klar, dass rechte Gewalt nicht schweigend hingenommen wird und solche Taten aufs Schärfste verurteilt werden. "Der Rechtsstaat wird auch in Zukunft alle im Gesetz vorgesehenen Mittel ausnutzen, um feige Verbrechen wie die Anschläge vom 22. November 2009 und vom 26. Februar dieses Jahres aufzuklären und zu verfolgen", so Wallner.

 Und auch Regierungsrat und Innenminister Hugo Quaderer schliesst sich dem an. Es sei erfreulich, dass es nach langen und intensiven Ermittlungsarbeiten der Landespolizei letztlich gelungen sei, einen Haupttatverdächtigen zu verhaften. Der Innenminister schickt allerdings voraus, dass bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung immer die Unschuldsvermutung gelte. "Die Verhaftung zeigt deutlich, dass Polizei, Justiz und Behörden sehr aktiv sind und dass der Vorwurf, die Politik unternehme nichts, schlicht nicht stimmt", stellt Quaderer klar. Er habe bereits mehrfach ausgeführt, dass er solche Brandanschläge im Speziellen und die Gewaltbereitschaft im Generellen auf Schärfste verurteile.

 Lob an die Landespolizei

 Die Ermittlungen seien von der Landespolizei mit grossem personellem und materiellem Einsatz konsequent verfolgt worden, freut sich Quaderer. "Ich nutze gerne die Gelegenheit, der Polizei dafür meinen Dank auszusprechen. Es wurde und es wird hervorragende Arbeit geleistet, auch wenn diese nicht immer auf den ersten Blick für die Öffentlichkeit erkennbar ist." Während eines laufenden Verfahrens könne allerdings aus ermittlungstechnischen Gründen nicht kommuniziert werden. "Wir sind alle gefordert, auch weiterhin bemüht zu sein, gegen rechte Gewalt konsequent vorzugehen. Die Aussage des Haupttatverdächtigen (Anmerkung der Redaktion: Damit ist die Aussage "Türken sind die Juden der Neuzeit" gemeint) ist schockierend und aufs Schärfste zu verurteilen. Eine solche Geisteshaltung ist nicht zu akzeptieren und zeigt, wie notwendig die Massnahmen gegen rechte Gewalt sind." Quaderer spricht damit die von der Gewaltschutzkommission zur Umsetzung vorgeschlagenen Massnahmen gemäss Massnahmenkatalog gegen rechte Gewalt an. Diese würden zügig umgesetzt. "Es ist wichtig, dem Phänomen auch mit konkreten präventiven Massnahmen mit aller Kraft entgegenzutreten."

 Spätestens seit Bekanntgabe der Ergebnisse zur Studie "Rechtsextremismus im Fürstentum Liechtenstein" wagt heute kaum einer mehr zu behaupten, dass Rechtsextremismus hierzulande kein Problem ist. Gleich mehrere Vorfälle in den vergangenen Jahren haben aufgezeigt, dass die nun eingeleiteten Massnahme keine Sekunde zu spät kommen.

 Seite 11

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Ein wichtiges Signal ausgesendet

 Die Festnahme eines 22-jährigen Liechtensteiners ist ein wichtiges Signal dafür, dass Rechtsextremismus in keiner Form toleriert wird. Besonders für Migranten aus Südosteuropa ist das konsequente Vorgehen der Behörden wichtig.

 Von Desirée Vogt

 Der Polizei ist der "harte Kern" der Rechtsradikalen in Liechtenstein bekannt. Kripo-Chef Jules Hoch bestätigte im Februar dieses Jahres, dass es sich dabei um 25 Personen handelt. Dazu kommen noch Mitläufer und Sympathisanten. Ob der festgenommene 22-Jährige zu erster oder letzterer Gruppe gehört, ist bisher nicht bekannt. Fakt ist allerdings, dass besonders Migranten aus Südosteuropa einen schweren Stand in Liechtenstein zu haben. Sprich: Türken, Ex-Jugoslawen oder etwa Albaner geniessen ein geringeres Ansehen als etwa Österreicher, Schweizer oder Deutsche, wie die Studie aus dem Jahr 2009 aufzeigt.

 So auch im aktuellen Fall, bei dem ein 22-Jähriger vornehmlich türkische Mitbürger als Störenfriede im Visier hatte. Ihm wird vorgeworfen, in der Nacht auf den 22. November 2009 gegen 2 Uhr morgens einen Molotowcocktail gegen ein Haus in der Schulerstrasse in Nendeln geworfen zu haben. Drei Stunden später wurde ein weiterer Brandsatz in der Bahngasse in Nendeln auf einen Balkon geworfen. Mehrere Objekte gerieten dabei in Brand. Nur weil die Bewohner das Feuer bemerkten, konnte Schlimmeres verhindert werden. Der dritte Brandanschlag erfolgte in der Nacht auf den 26. Februar dieses Jahres - ebenfalls in Nendeln. Das Fenster eines kurz vor der Eröffnung stehenden Kebab-Bistros wurde eingeschlagen und anschliessend ein Molotowcocktail ins Innere des Lokals gewofen. Es entstand erheblicher Sachschaden. Als Motiv wird Fremdenhass vermutet, der sich speziell gegen türkische Staatsangehörige richtete.

 Forderung Rechnung getragen

 Die türkischen Vereine Liechtensteins hatten sich bereits im Oktober 2008 zu Wort gemeldet, als in Mauren eine Massenschlägerei zwischen Skinheads und türkischen Besuchern dermassen ausartete, dass ein Polizist schwer verletzt wurde. Seitdem ist auf der Homepage www.turkbirligi.li zu lesen: "Der Anstieg der Provokationen und Beleidigungen an den tü¨rkischstämmigen Mitbewohnern hat in den letzten Jahren stetig zugenommen. Frauen werden auf offener Strasse von Jugendlichen angespuckt, die Kinder werden auf dem Schulweg verbal angegriffen. Dennoch haben wir, die tü¨rkischen Vereine, unsere Mitglieder um Vernunft und Geduld gebeten." Weiter heisst es: "In letzter Zeit werden die Drittstaatsangehörigen immer wieder mit den Worten ?fördern und fordern? konfrontiert. Wir bemühen uns stark, dem entgegenzukommen, aber jetzt, liebe Regierung, möchten wir auch eine Forderung stellen: Wir wollen mehr Sicherheit für unsere Kinder, Jugendliche, Frauen. Wir wollen als türkische Staatsbürger und als Liechtensteiner türkischer Abstammung in Liechtenstein friedlich leben und uns dabei sicher fühlen." Dieser Forderung haben die Regierung und alle involvierten Behörden nun konsequent Rechnung getragen - und wollen es auch weiterhin tun. Bleibt zu hoffen, dass das harte Durchgreifen auch ein entsprechend starkes Signal in die richtige Richtung aussendet.

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Rechtsextreme Vorfälle

 September 2008: Oktoberfest in Mauren. Rechtsextreme Jugendliche und junge Erwachsene liefern sich mit türkischen Jugendlichen eine Massenschlägerei. Ein Polizist wird schwer am Kopf verletzt.

 Frühjahr 2008: Eine Kundgebung von meist ausländischen Sympathisanten der Antiglobalisierungsbewegung provoziert eine Gegenkundgebung, der sich etwa 100 bis 150 Personen anschliessen. Die Polizei muss eingreifen.Staatsfeiertag,

 15. August: Ein alkoholisierter junger Rechtsextremer wirft mit Flaschen um sich und verletzt eine Touristin.

 Antirassismuskampagne "Ohne Ausgrenzung" 2007: Plakate werden mit Hakenkreuzen beschmiert und beschädigt.

 Jungbürgerfeier Balzers: Ein Rechtsextremer provoziert mit einem Hitlergruss, wird aber gebremst und vor die Türe gestellt. Als rund 20 rechte Jugendliche versuchen, den Eingang zum Saal zu blockieren, greift der Regierungschef ein.

 Schule: Auch die Schule wird wiederholt mit Vorfällen konfrontiert. Während der Fasnacht 2008 dringen drei schwarz gekleidete und mit Palästinensertüchern maskierte angetrunkene Jugendliche mit Luftgewehren in die Schule ein und bedrohen einen dunkelhäutigen Schüler.

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SEXWORK
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Radio Orange 94.0 (Wien)

Sexarbeiter_innen haben immer noch Lust auf ihre Rechte - Interview zum internationalen Hurentag am 2. Juni
http://www.freie-radios.net/mp3/20100527-sexarbeiter_-34261.mp3

Interview mit Faika A. El-Nagashi von "LEFÖ/TAMPEP Österreich - Unterstützung und Europäisches Netzwerk für Migrantinnen in der Sexarbeit" über den aktuellen Stand der Diskriminierung von Sexworker_innen.

Vorschlag für Anmoderation (nicht in der Datei enthalten):

Am 2. Juni werden (wurden) am Wiener Urban-Loritz-Platz wieder rote Regenschirme aufgespannt, als Symbole des Widerstands von Sexworker_innen gegen Diskriminierung und zum Symbol des Kampfes um Gleichstellung und um Rechte.

Insbesondere aber nicht nur am internationalen Hurentag fordern Sexworker_innen auf der ganzen Welt Gleichheit vor dem Gesetz und die Umsetzung der Menschen-, Arbeits- und Migrant_innenrechte, die auch Sexworker_innen nach internationalen Übereinkommen zustehen.

Wir sprachen mit Faika A. El-Nagashi von "LEFÖ/TAMPEP Österreich - Unterstützung und Europäisches Netzwerk für Migrantinnen in der Sexarbeit" über den aktuellen Stand der Diskriminierung von Sexworker_innen.

Vorschlag für Abmoderation:

Mehr Informationen findet ihr auf
http://tampep.eu/
http://www.lefoe.at/
http://sexworker.at/
http://www.donacarmen.de

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SKLAVEREI
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Bund 27.5.10

Muslime - die Pioniere des afrikanischen Sklavenhandels

 Kaum bekannt, jetzt durch ein Buch dokumentiert: Muslime lancierten den Menschenhandel mit Afrikanern im grossen Stil. Sie verschleppten Millionen mehr Schwarze als später die Weissen, die von ihnen lernten.
 
Thomas Widmer

 Dass es einst im islamischen Raum einen Sklavenaufstand gab ähnlich dem des Spartakus im alten Rom - kaum einer hierzulande weiss es. Der senegalesische Anthropologe Tidiane N'Diaye erzählt davon in seinem Buch "Der verschleierte Völkermord"*. Dieses erschien vor einiger Zeit in Frankreich, liegt jetzt auf Deutsch vor und macht Furore: Erstmals wird die Geschichte des muslimischen Sklavenhandels in Afrika nachgezeichnet, mit allen Weiterungen wie dem besagten Aufstand.

 Die Revolte der afrikanischen Sklaven im Südirak beginnt 869 nach Christus. Ali ibn Muhammad, eine Messiasfigur, nimmt mit Zehntausenden Zugelaufenen die Metropole Basra ein. Das um Bagdad zentrierte islamische Weltreich der Abbasiden-Dynastie wankt, mehrere seiner Heere werden vernichtet. Erst nach 14 Jahren können die Abbasiden die Revolte niederschlagen.

 Zandsch-Aufstand heisst das Ereignis. "Zandsch", so werden die Schwarzafrikaner auf Arabisch genannt. Für heutige Muslime ist der Aufstand mit Hunderttausenden von Toten ein Randvorkommnis. Just auf die Abbasiden-Periode sind sie stolz, in der die islamische Zivilisation einen Höhepunkt erlebt. Bagdad gilt zu jener Zeit als die kultivierteste Stadt der Welt. Doch ein Gutteil des Glanzes verdanken die Abbasiden der Sklaverei, so Forscher N'Diaye. Um bei der Revolte der Zandsch zu bleiben: Die Afrikaner im Südirak schuften wie Tiere, während sie die Salzsümpfe trockenlegen. Die Plantagen, die sie bauen, liefern die Luxusprodukte, die den arabischen Reichtum mitbegründen: Baumwolle, Datteln, Zuckerrohr; Europa giert nach diesem Zucker.

 360 Nubier pro Jahr

 Dass das Thema des muslimischen Sklavenhandels lange im Dunkeln blieb, hat auch mit dem Antikolonialismus afrikanischer Intellektueller zu tun: Sie gewichteten die Allianz mit der islamischen Welt wider den Westen höher als die historische Wahrheit. Und auch westliche Fachleute haben das Kapitel des muslimischen Sklavenhandels nicht ausgeleuchtet. Sie waren mit dem Menschenhandel der eigenen Kultur beschäftigt, dem "transatlantischen". Grob gesagt, dauert dieser ab 1500 dreieinhalb Jahrhunderte. Geschätzte 12 Millionen Afrikaner wurden nach Amerika und in die Karibik gebracht.

 Der muslimische Sklavenhandel hingegen dauerte fast viermal so lang. Rund 17 Millionen Afrikaner wurden, rechnet N'Diaye aufgrund einzelner Forschungsarbeiten vor, in islamisches Gebiet verschleppt. Und: Die Muslime richteten in Afrika jene Handelswege ein, von denen später die Weissen profitierten. Der Sklavenhandel laut N'Diaye: "eine Erfindung der arabomuslimischen Welt".

 Der muslimische Sklavenhandel in Afrika setzt mit der Ausbreitung des Islam ein, dessen Prophet Mohammed 632 stirbt. Die Heere des neuen Glaubens erobern in Windeseile ganze Länder. Einer der frühen muslimischen Generäle zwingt 652 den besiegten Nubiern im Sudan einen Vertrag mit folgender Klausel auf: "Ihr liefert jedes Jahr 360 Sklaven beiderlei Geschlechts, die unter den besten eures Landes ausgewählt und an den Imam der Muslime überstellt werden. Alle müssen makellos sein. Es werden weder gebrechliche Greise noch alte Frauen und keineswegs Kinder angenommen, die das Pubertätsalter noch nicht erreicht haben."

 In den nächsten Jahrhunderten geraten riesige Landstriche Afrikas unter muslimische Herrschaft. Der in Kleinreiche zersplitterte Kontinent ist ungenügend gewappnet gegen die Eindringlinge. Und man kann die Minikönige gegeneinander ausspielen - bald wachsen den Eroberern zudienende afrikanische "Helfergebilde". Über zwei Hauptrouten führen sich die Muslime billige Arbeitskräfte zu: Die "transsaharische" Route führt durch die Sahara ins arabische Nordafrika. Die "orientalische" führt via Rotes Meer in den Nahen und Mittleren Osten

 Der Afrikaner als Halbmensch

 Die Grundregel über allem lautet: Muslime dürfen keine Muslime, wohl aber Andersgläubige versklaven. Eine rassistische Einstellung wächst heran, die den Afrikaner zum Vieh abwertet. Der arabische Geograf Ibn Dschubair, 1145 bis 1217, bemerkt über einen Stamm von Schwarzen: "Es sind sittenlose Menschen, und es ist also keine Sünde, sie zu verfluchen und bis in ihre Dörfer zu verfolgen, um sich dort Sklaven zu beschaffen." Und Ibn Chaldun, 1332 bis 1406, gefeiert als erster Soziologe der Welt, schreibt: "Die einzigen Völker, die die Sklaverei akzeptieren, sind die Neger, aufgrund ihrer niederen menschlichen Natur gleichen sie den Tieren."

 Autor N'Diaye wird dafür kritisiert, dass er in sein Buch mündliche afrikanische Quellen einfliessen lässt. Auch irritieren seine ausufernden Anklagen gegen die Muslime. Doch grundsätzlich bestritten wird seine Darstellung nicht, wonach die muslimische Welt "seit dem frühen Mittelalter zu einem riesigen Sklavenimporteur geworden" ist. Christliche Berichterstatter erzählen davon immer wieder. Etwa ein Dominikanerpater an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert: "Jedes Jahr führten die Mauren (Araber; die Red.) am Ufer der Schwarzen Razzien durch. Sie griffen einige Dörfer der Waalo, Cayor oder Jolof überraschend an, setzten sie in Brand und kehrten mit ihrer lebenden Beute zum Umschlagplatz zurück. Man sah Reiter mit Kindern in den Armen oder vorne auf dem Sattel. Ihnen folgte die Mutter, sofern sie nicht im Feuer umgekommen war, an den Schwanz des Pferdes gebunden."

 Ist der afrikanische Mensch gefangen, tritt er den Weg in die islamische Welt an. Dass er sie erreicht, ist keineswegs sicher. Ein Engländer schreibt 1875: "Diese erbarmungswürdigen Wesen überqueren 23 Breitengrade zu Fuss, nackt, unter einer brennenden Sonne, mit einer Tasse Wasser und einer Handvoll Mais alle zwölf Stunden." Die Sterberate auf solchen Märschen ist riesig, zwei andere englische Forschungsreisende berichten, wie sie auf der Strecke zwischen zwei Brunnen in der Wüste auf Kilometern Skelett um Skelett fanden.

 Ein drastisches Unterkapitel ist das der Eunuchen. Muslimische Haushalte können keine Kinder zeugen, sie bevorzugen kastrierte Sklaven. Neue Sklaven herbeizuschaffen, ist billiger, als den Nachwuchs der vorhandenen aufzuziehen. Auch an den Herrscherhöfen sind Eunuchen begehrt. Der Abbasiden-Kalif al-Muqtadir besitzt im 10. Jahrhundert 7000 schwarze Eunuchen, sie dienen etwa als Haremswächter. Da der Islam es verbietet, Sklaven zu verstümmeln, delegiert man die Prozedur an Nicht-Muslime. In Ostafrika und am Nil entsteht eine eigentliche Kastrationsindustrie, führend sind im Gewerbe ägyptische Kopten, also Christen. Hoden und Glied werden am Ansatz abgeschnürt, es folgt der Schnitt des Messers, das Blut wird mit Aloepuder und Kompressen gestillt, die Wunde mit Butter beschmiert. Freilich überlebt weniger als ein Viertel der Traktierten.

 Tippu Tip, der Britenfreund

 Mit der Ankunft des weissen Mannes verdoppelt sich das afrikanische Leid. Manche Weisse sind selber Menschenhändler, sie profitieren von den eingespielten Handelsverbindungen. Für einige Jahrhunderte muss Afrika nun zwei Zivilisationen als Menschenreservoir herhalten - Wirtschaftshistoriker sind nach wie vor am Rechnen, wie sehr und wie nachhaltig der Sklavenhandel den schwarzen Kontinent geschädigt hat.

 Dann, als die industrielle Revolution Maschinen zur Hauptproduktionskraft befördert, braucht der Westen keine Sklaven mehr. Und die Aufklärung, die von der Gleichheit aller Menschen ausgeht, beginnt zu wirken. Nun entwickelt der Europäer Moral, gibt jenen Christen recht, die schon immer den Sklavenhandel verdammten; 1807 verbietet Grossbritannien den Sklavenhandel. Doch mancher europäische Konsul drückt vor Ort weiter ein Auge zu, schliesslich braucht er unter den lokalen Mächtigen Verbündete. Berühmt wird in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Sklavenhändler Tippu Tip, ein Vertrauter der Kolonialherren, der von Sansibar aus den Handel im Indischen Ozean kontrolliert.

 Handelszentrale Sansibar

 Dieses Sansibar vor der Ostküste Afrikas ist berühmt für die Riesenmengen an Sklaven, die umgeschlagen werden oder daselbst schuften. Zwischen 1830 und 1872 leisten auf der Insel Zehntausende Sklaven Schwerarbeit. Eine französische Historikerin hat die Kollektivarbeit in Anbaukulturen statistisch ausgewertet, ihr zufolge starben jährlich 20 bis 30 Prozent der Arbeiter in den Plantagen. Mit anderen Worten: Muslimische Erde ist voller toter Sklaven.

 Um 1910 ist der muslimische Handel mit Sklaven praktisch beendet. Der weisse Kolonialismus hat es durchgesetzt. Heute interessiert sich kaum ein muslimischer Historiker für das Thema. Und wenn Muslime darüber sprechen, dann meist beschönigend im Sinn von: Ja, wir hatten Sklaven, aber wir behandelten sie im Einklang mit dem Islam anständig. Fachmann N'Diayes Fazit: "In der arabomuslimischen Welt fehlt es seit eh und je schlichtweg an einer Tradition der Kritik oder gar der Selbstkritik, insbesondere wenn es um vom Islam nicht widerlegte Praktiken geht."

 * Tidiane N'Diaye: Der verschleierte Völkermord. Die Geschichte des muslimischen Sklavenhandels in Afrika. Rowohlt.

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ANTI-ATOM
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WoZ 27.5.10

Menschenstrom gegen Atom - Am Pfingstmontag demonstrierten 5000 Menschen wandernd für eine Schweiz ohne AKWs.

 "Dann kommen wir halt wieder"

 Von Bettina Dyttrich

 "Freundlich, fröhlich, liebevoll müssen wir sein!", ruft ein Basler mit einer grossen Trommel im Extrazug. "Sonst können wir es vergessen." Es ist Pfingstmontagmorgen, wir treffen in Däniken ein. Ausser einem Tontopfgrosshandel bietet das Bahnhofsareal nichts Auffälliges. Die Wanderkarte, die hier wie an jedem rechten Schweizer Bahnhof hängt, stammt von 1984 und ist bis auf die roten Wanderweglinien völlig verblichen. Fast so lange ist es her, dass hier so viele Menschen auf dem Bahnhofplatz standen: 1986 fand nach dem GAU in Tschernobyl die letzte grosse Demo vor dem AKW Gösgen statt.

 Punks und Blockflötenspieler

 Viele AktivistInnen von damals sind wieder da, runzlig und ergraut. Sie haben ihre Kinder und Enkelkinder mitgenommen. Auch wenn noch nicht alle ganz auf Linie sind: Am liebsten würde er dieses Kraftwerk besichtigen, ruft ein kleiner Junge beim Anblick des imposanten Gösgener Kühlturms.

 Doch heute wird nicht besichtigt, heute wird protestiert. Über achtzig Organisationen haben zum "Menschenstrom gegen Atom" aufgerufen. Rund 5000 Menschen wandern mit bemerkenswerter Ausdauer von Däniken (oder gar schon von Aarau) nach Olten: Punks und Politiker, Kurden und Deutsche, uralte Damen und Blockflötenspieler. Dazwischen gibts eine Mittagspause mit informativen Reden, die die Probleme der Atomenergie von der Uranmine bis zum Endlager beleuchten.

 Drei Jungs um die achtzehn blödeln herum, bis die Stange ihrer Anti-AKW-Fahne in die Brüche geht. Sie kommen aus Gösgen. "Es ist wichtig, zu zeigen, dass auch bei uns nicht alle die Atomkraft befürworten", sagt einer von ihnen. Allerdings seien sie beinahe die Einzigen ihres Alters aus dem Dorf an der Demo. "Ein paar sind total für das AKW. Aber den meisten gehts am Arsch vorbei."

 Später, in Olten, wird SP-Nationalrat Ruedi Rechsteiner die AKW-Industrie mit der UBS vergleichen: "Aber ein Unfall in Gösgen, Leibstadt, Beznau oder Mühleberg lässt sich auch mit 68 Milliarden Franken nicht mehr wiedergutmachen."

 Ansteckende Energie

 Abgesehen davon gibt sich Rechsteiner enthusiastisch. Er lobt die Einspeisevergütungen für Alternativ energien - obwohl damit auch fragwürdige Wasserkraftprojekte finanziert werden (siehe www.tinyurl.com/wozwasser). Manches, was an diesem Tag gesagt wird, wirkt etwas gar ein fach - wie im Lied, das einige DemonstrantInnen singen: "Obe, unde, links und rächts - zämeschaffe jetzt!"

 Aber die Energie wirkt ansteckend. Die meisten Anwesenden scheinen auf einen langen Kampf gefasst. "Ich war schon vor dreissig Jahren hier demonstrieren", sagt ein Solothurner Biobauer. "Dann gabs eine Atempause, jetzt kommen wir halt wieder."

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Basler Zeitung 27.5.10

Jans präsidiert AKW-Gegner

 Nachfolger. Der Verein "Nie wieder Atomkraftwerke" (NWA) wählte Beat Jans einstimmig zum neuen Co-Präsidenten als Nachfolger von Ruedi Rechsteiner. Beat Jans (SP) übernimmt Ende Mai auch das Nationalratsmandat von Rechsteiner. Der neue Co-Präsident werde den Verein gemeinsam mit dem Grünen Jürg Stöcklin in die Abstimmung über neue Atomkraftwerke führen, die der NWA verhindern will. Rechsteiner wurde zum Vizepräsidenten gewählt. In einer Resolution erklärt der Verein, dass der Strombedarf zu 100 Prozent mit erneuerbaren Energien gedeckt werden könne.

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Oltner Tagblatt 27.5.10

Anti-AKW-Verein Die erste Versammlung

 Die erste ordentliche Mitgliederversammlung des Vereins Nie Wieder Atomkraftwerke - Regionalgruppe Solothurn (NWA-SO) fand unter der Leitung von Co-Präsident Philipp Hadorn in Solothurn statt. Andreas Knobel, zweiter Co-Präsident, informierte die Mitglieder über die Aktivitäten des Vereins im ersten Jahr seit seiner Gründung. Dazu gehören die Einsprache gegen die unbefristete Betriebsbewilligung des KKW Mühleberg und die Forderung an den Bund nach einer Abschaltung des KKW Beznau 1 wegen gravierender Sicherheitsmängel. Auch wurde die Demonstration "Menschenstrom gegen Atom" von vergangenem Pfingstmontag mit 70 anderen Organisationen vorbereitet und mitgetragen. Marco Majoleth wurde als neues Vorstandsmitglied gewählt. Im informativen zweiten Teil der Versammlung hielt Jürg Joss von Fokus Anti-Atom einen Vortrag zum Stand der AKW-Neubaupläne in der Schweiz. Der von der Alpiq für das Kernkraftwerk Niederamt (Gösgen II) vorgesehene Hybrid-Kühlturm verursache Lärm, der die Nachtgrenzwerte bei Weitem übersteige. (szr)

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Kernkraftwerk für drei Wochen "ausser Gefecht"

Gösgen Ab morgen Freitag ist Jahresrevision

 Morgen Freitag wird das Kernkraftwerk Gösgen (KKG) planmässig zur Jahresrevision abgeschaltet. Der Betriebsunterbruch für Brennelementwechsel und Unterhaltsarbeiten dauert etwa drei Wochen.

 Im 31. Betriebszyklus, der 336 Tage dauerte, produzierte das KKG ohne Unterbruch 7875 Millionen Kilowattstunden Strom, was den Bedarf von 1,5 Millionen Haushaltungen deckt. Die Anlage wurde ohne sicherheitstechnische Probleme betrieben, wie das KKG mitteilt.

 40 Brennelemente ersetzen

 Zusätzlich zum Werkspersonal sind während der Revision im KKG über 700 auswärtige Fachkräfte von rund 130 in- und ausländischen Unternehmen tätig. In der Jahresrevision werden 40 der insgesamt 177 Brennelemente durch neue Elemente aus wiederaufgearbeitetem Uran ersetzt. Die Jahresrevision umfasst zahlreiche wiederkehrende Prüfungen und Instandhaltungsarbeiten an bau-, maschinen-, elektro- und leittechnischen Systemen und Komponenten.

 Zu den Schwerpunkten gehören umfassende Zustandsprüfungen am Reaktorkühlkreislauf, Brennelementinspektionen, Schraubenprüfungen am Kernbehälter und an der Kernumfassung sowie Wirbelstromprüfungen an Dampferzeugerrohren. Ausserdem werden Notstandbatterien und Gleichrichter für die unterbruchslose Versorgung der Steuerung der Notstandanlage ersetzt. Während der diesjährigen Revision wird der im Jahr 2008 begonnene Austausch der Kunststoffeinbauten im Kühlturm abgeschlossen. (mgt)

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Tagesanzeiger 27.5.10

Atommüllgegner machen mobil

 In einem Faltblatt, das am Dienstag verteilt wurde, fordert die Schweizerische Energie-Stiftung die Unterländer Bevölkerung auf: "Wehren Sie sich gegen ein unsicheres Atommülllager!"

 Von Andrea Söldi

 Unterland - Viele Unterländer entnahmen ihrem Briefkasten am Dienstag eine ungewohnte Lektüre: Der vierseitige "Atommüll-Anzeiger" ist vom Layout her dem "Tages-Anzeiger" nachempfunden; statt des Zürcher Wappens prangt in der Mitte des Zeitungsnamens jedoch ein Fragezeichen mit dem Symbol für radioaktive Strahlung auf gelbem Hintergrund.

 Herausgeberin ist die Schweizerische Energie-Stiftung (SES), eine Umweltorganisation mit Schwerpunkt Energiepolitik. "Uns geht es darum, Gegeninformationen zur Kampagneder Nagra zu streuen", sagt Sabine von Stockar, Projektleiterin Atomenergie bei der SES. Die Nationale Gesellschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) unterschlage der Bevölkerung, welche Schwierigkeiten im Zusammenhang mit einem Endlager auftreten könnten. Indem die Nagra weder eine längerfristige Überwachung des Lagers noch die Möglichkeit einer Rückholung des strahlenden Materials vorsehe, arbeite sie "nach dem Prinzip Hoffnung". Die Organisation verteilte die Zeitung in den Schweizer Gemeinden rund um die sechs Standorte, die für ein künftiges Tiefenlager infrage kommen. Mit Ausnahme des Gebiets um den Wellenberg: Dort leiste die Bevölkerung sowieso bereits starken Widerstand, erklärt von Stockar.

 Lienhart an Info-Veranstaltung

 Rund um den möglichen Standort ‹Nördlich Lägern› wurde die Schrift im ganzen Gebiet zwischen Embrach, Rafz, Niederhasli und dem aargauischen Endingen verteilt. Im aargauischen Schneisingen, das direkt im geologischen Standortgebiet liegt, findet am 8. Juni (Dienstag, 20 Uhr) eine Informationsveranstaltung statt, bei der auch Hanspeter Lienhart aus Bülach, Präsident des Forums Lägern-Nord, spricht.

 Das Forum, in dem Behördenmitglieder der betroffenen Gemeinden vertreten sind, will die Standortfindung kritisch begleiten. Es vertritt die Haltung, die Region müsse mit Fluglärm und Kiesabbau bereits genügend Belastungen tragen. "Aber wir wollen im Findungsprozess nach dem besten Standort für ein Tiefenlager kooperieren", sagt Lienhart. An der Veranstaltung in Schneisingen, bei der auch Sabine von Stockar sowie der Regionalplaner des Bezirks Zurzach, Felix Binder, sprechen, will Lienhart genau diese Haltung des Forums Lägern-Nord vertreten.

 Keine Widerstandsbewegung

 Die Positionen der SES teile er als Präsident des Forums nicht uneingeschränkt, sagt Lienhart. Zum Beispiel habe er nie den Eindruck gehabt, die Nagra orientiere unsachlich. "Aber natürlich ist die Nagra Partei." Die Organisation habe den Auftrag, eine Lösung für die radioaktiven Abfälle zu finden, und verfüge über ein beachtliches Budget für die Öffentlichkeitsarbeit. So war sie etwa an der Gewerbeausstellung in Eglisau vertreten und informierte im letzten Sommer vor dem Bülacher Einkaufszentrum Sonnenhof.

 Die Region ‹Nördlich Lägern› sei die einzige der sechs möglichen Standort-Regionen, die über keine eigentliche Widerstandsorganisation verfüge, bedauert von Stockar. Die SES wolle ein Atomendlager jedoch weder per se verhindern, um den Bau neuer Atomkraftwerke zu torpedieren, sagt von Stockar, noch wolle ihre Organisation die Regionen gegeneinander ausspielen. "Es geht uns lediglich darum, ein unsicheres Atommülllager zu verhindern."

 Auch einen Zusammenhang zu den praktisch zeitgleichen Anti-AKW-Aktionen in den letzten Tagen stellt die SES-Projektleiterin in Abrede. Am Wochenende wurde in Gösgen gegen den Bau neuer Atomkraftwerke demonstriert; am Dienstag legten sich Greenpeace-Aktivisten in Zürich auf die Strasse, um auf die Gefahr eines Reaktorunfalls aufmerksam zu machen; und Greenpeace-Mitglieder fanden am gleichen Tag eine Zeitschrift im Briefkasten, die sie mit den Gefahren eines Super-GAUs konfrontiert. Der Erscheinungszeitpunkt des "Atommüll-Anzeigers" habe indes mit der Vernehmlassung zu tun, die das Bundesamt für Energie auf den Spätsommer angesetzt hat, sagt von Stockar.