MEDIENSPIEGEL 31.5.10
(Online-Archiv: http://www.reitschule.ch/reitschule/mediengruppe/index.html)

Heute im Medienspiegel:
- Reitschule-Kulturtipps (Rössli, Tojo)
- RaBe-Info 28. + 31.5.10
- Bollwerk: Kino-Zukunft + MieterInnen-Suche
- Kulturpolitik: Kein Rotstift
- Monopoly BE: Keine Hotels bei der Reitschule
- Quartierplanung Lorraine-Breitenrain
- Stadttauben: Wegzug ins mediale Nirgendwo
- Demorecht BE: Entfernungsartikel für nix
- Dealerszene: 15 Monate für Dr. X
- Kiss-in unter dem Baldaching
- Erich Hess: SVP-Ausschluss-Drohung
- Club-Leben Biel: Bermudadreieck
- Anti-Feminismus: René Kuhn buch-flopt
- Sans-Papiers: Portrait LU; Härtefallkommission ZH
- Nothilfe: Trotz allen Schikanen Ausreise-Verweigerung
- Ausschaffung: Sonderflug-Stop-Sorgen; 5886 Ausschaffungen 2009
- Revolte BS: Rosenau-Zwischenfall; Videoüberwachung; Demoschäden-Staatshaftung
- 30 Jahre Züri brännt: Sommererinnerungen
- Big Brother Sport: Inti FCSG; Finalissima wird Primeur
- Big Brother Internet: Inti mit Anton Gunzinger; Nix Überwachungssystem
- Anti-Atom: BKW-Engagement; Jugendarbeit; Nagra-Streit; SVP-Sünneli; Plakatkrieg; Mühleberg-Arbeiterdorf

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REITSCHULE
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Di 01.06.10
20.30 Uhr - Kino Uncut - Warme Filme am Dienstag: Der Schwule Neger Nobi, Dokumentarfilm von Wilm Huygen, Deutschland 2009

Do 03.06.10
19.00 Uhr - Frauenraum - Filmabend mit FriedensFrauen Weltweit: "America America", Antiwar Music Video, K.P. Sasi, Indien
19.30 Uhr - Frauenraum - Filmabend mit FriedensFrauen Weltweit: "Redefining Peace - Women Lead the Way" K.P. Sasi, Indien
20.30 Uhr - Tojo - "Run very far to come very close to say very little" Choreographie: Manuela Imperatori.
20.30 Uhr - Kino - Südafrika jenseits des WM-Taumels: The Mountain meets its Schadow (Im Schatten des Tafelberges), Alexander Kleider und Daniela Michel in Kooperation mit Romin Khan Kapstadt, Südafrika, D 2009
21.00 Uhr - Frauenraum - Filmabend mit FriedensFrauen Weltweit: "The Marching Peace Makers", Sayed Khalid Jamal, Indien

Fr 04.06.10
20.30 Uhr - Tojo - "Run very far to come very close to say very little" Choreographie: Manuela Imperatori.
21.00 Uhr- Vorplatz - SFS, Heads, Parzival, MC Dask (Shiva Records) - Style:Rap und Hip Hop

Sa 05.06.10
17.00 Uhr - GrossesTor - Führung durch die Reitschule (öffentlich, ohne Anmeldung)
20.30 Uhr - Tojo - "Run very far to come very close to say very little" Choreographie: Manuela Imperatori.
22.00 Uhr - Dachstock - Brass & Hip Hop Explosion: Youngblood Brass Band (Layered/USA) - Style: Brass, Funk, Hip-Hop

So 06.06.10
09.00 Uhr - Grosse Halle - Flohmarkt
13.30 Uhr - Kino - Kinderfilme am Flohmi-Sonntag: Wallace & Gromit: Auf der Jagd nach dem Riesenkaninchen, Steve Box/Nick Park, GB 2005

Infos:
http://www.reitschule.ch
http://www.reitschulebietetmehr.ch

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kulturstattbern.derbund.ch 31.5.10
http://newsnetz-blog.ch/kulturstattbern/blog/2010/05/31/karibikrauschen-im-rossli/

Von Manuel Gnos am Montag, den 31. Mai 2010, um 12:44 Uhr

Karibikrauschen im Rössli

Ein fürchterlich verregneter Sonntagabend wars gestern. Die Bad Bonn Kilbi steckte mir noch in den Knochen und die Ohren waren für einen Moment ganz zufrieden mit der Ruhe um sie herum. Doch versprochen ist versprochen und so nahm ich den Weg von der Lorraine in die Reitschule unter die Füsse, um im Rössli dem Auftritt der zehnköpfigen Münchner Band G. Rag Y Los Hermanos Patchekos beizuwohnen.

http://newsnetz-blog.ch/kulturstattbern/files/2010/05/grag.JPG
G.Rag y los Hermanos Patchekos im Rössli der Reitschule Bern, 30. Mai 2010. (Bild Manuel Gnos)

Drei Dutzend Leute taten es mir gleich - und waren nach wenigen Minuten froh, dass sie gekommen waren. Denn wenn zehn Bayern sich anschicken, einen beträchtlichen Teil der Volksmusiken dieser Welt für ihr Rumpelorchester einzunehmen, kann eigentlich nicht mehr viel schief gehen. Dann hört man auf der Kuhweid das Rauschen der Karibik, das totentrompeten aus New Orleans, das Schmatzen des Sumpfes in Tennesse und das Echo der Blechbläser auf dem Balkan.

Von Beginn weg hatte das Kleinorchester den richtigen Ton getroffen und die kleine Gästeschar nahm dies dankbar an. Im Verlaufe des Konzerts zog die Stimmung an und gegen Ende kam es gar zu wilden, teils höchst erotisierten Tanzszenen im kleinen Lokal mit Ausblick auf den unverwüstlichen Vorplatz. Der Band wurden die Schnapsgläser gereicht, man wünschte sich beste Gesundheit und war froh, an diesem Sonntagabend das traute Heim verlassen zu haben.

Hier können Sie reinhören:
http://newsnetz-blog.ch/kulturstattbern/blog/2010/05/31/karibikrauschen-im-rossli/

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NZZ am Sonntag 30.5.10

Dällebach Kari im Musical verspricht zitternde Herzlein mit Swissness

 "Huu, hu-hu-huu" haucht Raquel Rodo in der Cover-Ballade von Mani Matters Lied über den Dällebach Kari. Vor ihrem Auftrag für die Thuner Seespiele, welche die Lebensgeschichte des Berner Coiffeurmeisters diesen Sommer auf die Musicalbühne hieven, hat die 24-jährige ehemalige "Music-Star"-Teilnehmerin noch nie vom Hauptstadt-Original gehört. Kurt Früh hat die Anekdoten, die man sich vom Dällebach Kari erzählt, 1970 in einem stimmigen, traurigen Film verewigt. Daran erinnern sich offenbar eher die älteren Semester. Von denen gibt es aber genug, wie der Erfolg des Theaterstücks "Dällebach Kari" vor vier Jahren auf dem Gurten gezeigt hat. Für die Thuner Seespiele ist es das erste eigens entwickelte Stück seit Beginn der Seespiele im Jahr 2003, als "Evita" vor dem Alpenpanorama über den See erscholl. Der Text stammt von Kurt Frühs Tochter Katja, in der Hauptrolle spielt Hanspeter Müller-Drossaart.

 Der Mut der Organisatoren ist begründet: 63 000 Zuschauer sahen sich letztes Jahr "Jesus Christ Superstar" an. Für "Dällebach Kari" schnurrt längst die PR-Maschinerie. Fernsehen, Radio, Printmedien begleiten das Spektakel. In der Schaukäserei Affoltern im Emmental hat die Künstlerin Claudine Etter eine Ausstellung eingerichtet, in der sie den "wahren Dällebach Kari" zeige und hinter die "Maske", das "Schöne" schaue. Schön? Ein wegen der Hasenscharte Gehänselter, eine unglückliche Liebesgeschichte, Alkoholismus, Krebskrankheit, Suizid - schön ist anders. Wenn schon schön, so kann damit nur der Aussenseiter-Mythos gemeint sein, der im Laufe der Jahre aus Dällebachs Schicksal fabriziert worden ist. Eine Tragödie im Altstadt-Kleinformat. Der Fleischwolf Musical kann aber auch daraus die Masse für eine Showwurst pressen. Ein Song der Thuner Seespiele heisst "Kari isch Kult". Er beginnt so: "Der Dällebach isch üse Maa, si Witz isch troch, isch fräch, isch e Held u cha suufe wi nes Loch." Nicht gerade charmant. Im Refrain heisst es: "Er isch de Gröscht, er isch unschlagbar. De Kari isch Kult, yes, he can." Obama meets Dällebach? Fazit: "De Dällebach Kari, de isch eifach optimal." Das ist 180 Grad an dem vorbeigezielt, was durch Hansruedi Lerchs grundlegende Biografie von 1968 bekannt ist.

 Doch Musicals wollen nicht Authentizität. Musicals wollen Unterhaltung und Harmonie. Wie die Thuner dieses Credo umsetzen, dem geht der Theatermusiker und Audio-Designer Pascal Nater in seinem Musical "Die Dällebach-Macher" nach, das er im winzigen Tojo-Theater in der Berner Reitschule aufführen wird. Eigentlich hätte es ein journalistischer Beitrag fürs Radio werden sollen. Nater ist eine Tendenz zu Musicals mit Swissness-Faktor aufgefallen. Zuerst kam 2007 "Ewigi Liebi", dann folgte die stets ausverkaufte "Kleine Niederdorfoper" am Bernhard-Theater, jetzt "Dällebach Kari", im September "Die Schweizermacher" nach Rolf Lyssys Film . . .

 Naters Feature kam nicht zustande. "Für einen kritischen Beitrag existieren einfach zu viele Medienpartnerschaften." So entstand die Idee eines eigenen Musicals, das zum Teil aus Recherche-Material besteht. Als Anti-Dällebach versteht Nater seine Produktion keineswegs: "Ich kann ja nicht kritisieren, was noch nicht fertig ist." Dennoch blickt er der Thuner Premiere kritisch entgegen. "Das Ganze klingt nach Totalausverkauf eines Originals", sagt er und ortet das Hauptproblem im Missverhältnis zwischen gigantischer Show und "lokalem Phänomen", das als nationaler Mythos behandelt wird".

 Das traurige Leben des Coiffeurmeisters wird umoperiert zur Ausstattungsrevue. Da zittern nicht die Blümlein in Karis Lieblingslied, sondern die Herzlein der Zuschauer. Welcher Spruch dem Dällebach Kari wohl dazu eingefallen wäre?

Regula Freuler

Dällebach Kari. Das Musical. Text: Katja Früh. Musik: Moritz Schneider. Regie: Andreas Gergen. www.thunerseespiele.ch. 14. 7. bis 28. 8.
Die Dällebach-Macher. Von und mit Pascal Nater und Michael Glatthard. Tojo-Theater, Bern. 30. 6. bis 4. 7.

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RABE-INFO
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Mo. 31. Mai 2010
http://www.rabe.ch/uploads/tx_mcpodcast/RaBe-_Info_31._Mai_2010.mp3
- Israelischer Angriff auf Gaza-Hilfsflotte
- Kopf der Woche: Tharsika Pakeerathan ist Präsidentin des neu gegründeten tamilischen Volksrates in der Schweiz

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Fr. 28. Mai 2010
http://www.rabe.ch/uploads/tx_mcpodcast/RaBe-_Info_28._Mai_2010.mp3
- Bericht zu Jugendgewalt: Kanton Bern will ganzheitliche Strategie
- Vorurteile abbauen: Astrologen treten an die Öffentlichkeit
- Letzer Akt: das Ende des Cinemastar ist in Sicht... oder doch nicht?

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BOLLWERK
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Bund 28.5.10

Das Kino Splendid wird wiedereröffnet

 Die Kinokette Kitag übernimmt das vor zwei Monaten geschlossene Kino Splendid in der Berner Innenstadt. Damit bleiben Bern zwei Säle mit total 350 Plätzen erhalten. Die Wiedereröffnung des altehrwürdigen Kinos ist auf Anfang Juli vorgesehen. Derweil surren die Projektoren im Kino Cinemastar am Bollwerk am Samstag vorerst zum letzten Mal. Das Kino wird aus wirtschaftlichen Gründen geschlossen. Gegen die Schliessung kämpft eine Gruppe junger Leute. Sie planen, den Saal für kulturelle Veranstaltungen aller Art umzunutzen. Nun sind sie auf der Suche nach Partnern. Scheitern könnte das Projekt an den Finanzen. (bro) - Seite 23

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Das Kino Splendid lebt weiter - für Cinemastar wird gekämpft

 Die Kinokette Kitag übernimmt die beiden Splendid-Kinosäle, die Ende März geschlossen worden waren.

 Christian Brönnimann

 Totgesagte leben länger: Das altehrwürdige Kino Splendid in der Berner Innenstadt wird auf Anfang Juli nach dreimonatiger Schliessung wiedereröffnet. Die Kinokette Kitag übernimmt den Betrieb der beiden Säle mit total 350 Sitzplätzen, wie das Unternehmen gestern mitteilte. "Wir glauben an das Kinopublikum in der Berner Innenstadt", sagt Wilfried Heinzelmann, Kitag-Verwaltungsratsmitglied. Grund für den Ausstieg der vorherigen Splendid-Betreiberin - der Quinnie-Gruppe - waren sinkende Besucherzahlen. Zu kämpfen haben die Kinobetreiber in der Innenstadt mit der neuen Konkurrenz von Pathé im Einkaufszentrum Westside.

 Die zwei Splendid-Säle ermöglichten eine bessere Programmgestaltung, sagt Heinzelmann. Das Splendid sei ein traditionelles, gut etabliertes Kino, das vom Publikum geschätzt werde, erläutert er die weiteren Gründe für den Einstieg. Gleichzeitig sei klar, dass es schwierig werde, neues Publikum dazuzugewinnen. Programmiert werden soll im Splendid im gleichen Stil wie in den übrigen Kitag-Kinos. Mit dem Splendid-Coup wird die Kitag in Bern neu 14 Säle bespielen. Quinnie bleiben noch 7 Säle.

 Bis zur Wiedereröffnung will Kitag die beiden Säle leicht renovieren. Eine Auffrischung erhalten laut Heinzelmann Bestuhlung, Wände und Böden. Zudem soll die Technik im Hauptsaal auf den neusten Stand gebracht werden und so 3-D-Vorführungen ermöglichen.

 Cinemastar vorerst zu

 Das gegenteilige Schicksal erlebt das Kino Cinemastar am Bollwerk. Hier surren die Projektoren an der Kurzfilmnacht vom Samstag vorerst zum letzten Mal. Ebenfalls aus wirtschaftlichen Gründen gibt Quinnie den Kinosaal mit seinen gut 200 Plätzen auf. Doch ob im ehemaligen Kino Actualis die Lichter endgültig erlöschen, ist noch nicht klar. Eine Gruppe junger Leute will den Kinosaal und die benachbarte Bar retten. Die aktuellen und ehemaligen Bar- und Kinomitarbeiter planen, den Verein Kulturwerk zu gründen und den Kinosaal auf eigene Faust weiterzuführen - als Lokal für kulturelle Veranstaltungen aller Art. Das Konzept: eine Reihe von Partnern mietet sich im Lokal für eigene, regelmässige Anlässe ein. Der Verein organisiert und koordiniert die Nutzung.

 "Neuer kultureller Treffpunkt"

 In diesen Tagen haben die Initianten verschiedene Institutionen angeschrieben, um das Interesse an einem solchen Angebot zu klären. Das Projekt hänge direkt von den Rückmeldungen ab, sagt Mitinitiant Matthias Streit. Verschickt wurde das Schreiben zum Beispiel an die Hochschule der Künste Bern, an das Kunstmuseum, die Swiss Jazz School oder an die Konzertveranstalter Bee-Flat und Be-Jazz. Mit dem Projekt soll "das Bollwerk zu einem neuen kulturellen Treffpunkt unserer Stadt werden", wie die Initianten im Rundbrief schreiben. Der Kinosaal habe ein grosses Potenzial zur Förderung der hiesigen Kultur und eigne sich ideal für Konzerte, Theater Lesungen, Vorträge und Projektionen aller Art.

 Als Startkapital benötigt der Verein laut Matthias Streit 80 000 bis 100 000 Franken. Ein Teil, etwa 20 bis 30 Prozent, sei bereits vorhanden. Um das Wagnis einzugehen, seien im Weiteren fixe Zusagen für das Programm von drei bis fünf Abenden pro Woche nötig, sagt Streit. Sobald dieses Ziel erreicht und die Finanzierung geklärt sei, könne man loslegen. Als frühstmöglichen Wiedereröffnungstermin nennt Streit den kommenden August. Zuvor müssten noch diverse bauliche Anpassungen vorgenommen werden. Nach den Plänen der Initianten würde die Anzahl der Kinosessel reduziert und so Platz für eine Bühne und für kleine Tische innerhalb der Reihen geschaffen. Zudem würde die Akustik und die Lichtsituation im Saal verbessert.

 "Die Zeit drängt", sagt Stefan Marthaler, der bis dato im Cinemastar als Operateur arbeitet. Mit Quinnie habe man vereinbart, dass das Inventar und die technische Einrichtung noch nicht sofort abtransportiert würden. Auch die Verwaltung habe signalisiert, dass der Verein willkommen wäre, ergänzt Micha Dietschy von der Cinebar. Bis Mitte Juni müsse aber ein konkretes Konzept vorliegen. Von der Verwaltung, Mössinger Immobilien, war gestern keine Stellungnahme zur Zukunft der Liegenschaft zu erhalten. Auf ihrer Internetseite sind die Räumlichkeiten am Bollwerk aber nicht zur Miete ausgeschrieben.

 Bekult begrüsst Bemühungen

 Christian Pauli, Präsident des Dachverbands der Berner Kulturveranstalter Bekult, begrüsst die Bemühungen der Initianten. "Die Schliessung des Kinos ist eine Katastrophe", sagt er. Der Ort und die Räumlichkeiten seien toll. "Das Bollwerk ist die wohl urbanste Ecke in Bern und hat seine ganz eigene Qualität", sagt Pauli. Um Erfolg zu haben, müsse der Verein eine spezielle Nische finden. Denn: "Die Dichte des kulturellen Angebots in Bern ist bereits jetzt sehr gross." Einfach werde es für die Initianten wahrscheinlich nicht. Zu hoffen sei, so Pauli, dass sie dem finanziellen und zeitlichen Druck standhalten können.

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Bollwerk

 Suche nach Mietern ist schwierig

 Leer stehende Geschäftsräume trotz zentralster Lage: Die Situation am Bollwerk ist unbefriedigend. Die Stadt arbeitet an Plänen zur Aufwertung.

 Unmittelbar neben dem Kino Cinemastar stehen am Bollwerk seit fast einem Jahr Geschäftsräumlichkeiten mit einer Gesamtfläche von 700 Quadratmetern leer. Interessenten dafür seien vorhanden, sagt der zuständige Verwalter von der Von Graffenried AG Liegenschaften. Die Räume und die Lage an sich seien unter anderem der hohen Passantenfrequenz wegen attraktiv. Jedoch schrecke viele die nähere Umgebung am Bollwerk ab. Der Verwalter sagt, es sei heute schwieriger als vor fünf Jahren, das Geschäftslokal zu vermieten. Die Szenenbildung beim Bahnhofaufgang Neuengasse und die Nähe zur Drogenanlaufstelle an der Hodlerstrasse belasteten den Standort sehr. Ein weiterer negativer Faktor seien die Veloabstellplätze auf dem Trottoir, welche die Sicht auf die Schaufensterfront verdeckten und die Anlieferung erschwerten. Ein Teil des Lokals wird seit Anfang Jahr unentgeltlich für künstlerische Installationen genutzt. Die normalen Mietkosten für die gesamte Fläche betragen rund 30 000 Franken pro Monat.

 Bei der Stadt laufen seit einiger Zeit die Arbeiten für eine schrittweise Aufwertung der baulichen Situation am Bollwerk. Die Werkleitungen im Boden sind teilweise veraltet. Bis spätestens in fünf Jahren müssen laut Hugo Staub, Abteilungsleiter der städtischen Verkehrsplanung, die ersten Leitungen ersetzt sein. Bei dieser Gelegenheit werde geprüft, welche Verbesserungen möglich seien, um die "Verkehrsschlucht" etwas angenehmer zu gestalten. Dies schaffe die Grundlage für weitere Aufwertungen, beispielsweise vonseiten der SBB, sagt Staub.

 Trottoir vis-à-vis unbefriedigend

 Konkret erarbeitet die Verwaltung derzeit ein Betriebs- und Gestaltungskonzept für das Bollwerk. In den nächsten Wochen stehe eine Sitzung an, in welcher die Eckpunkte der Planung definiert werden sollen, sagt Staub. Es gehe darum, den Strassenraum für die nächsten Jahrzehnte zu definieren und sauber abzugrenzen. Handlungsbedarf sieht Staub zum Beispiel beim Trottoir auf der Seite des Bahnhofs, das derzeit stellenweise sehr eng ist.

 Die Gesamtplanung der Schützenmatte am unteren Ende des Bollwerks will der Gemeinderat nach der Abstimmung über die Reitschul-Initiative im Herbst an die Hand nehmen. Vor einem halben Jahr hat der Stadtrat ihn beauftragt, einen Planungskredit für die Schützenmatte vorzulegen. (bro)

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BZ 28.5.10

Splendid

 Happy End für Kino

 Die Geschichte geht weiter: Das Berner Kino Splendid wird von der Kitag übernommen und Anfang Juli wiedereröffnet.

 Mitte Januar gab die Quinnie-Gruppe die Schliessung der beiden Kinos Splendid und Cinémastar bekannt. Schuld war der kontinuierliche Besucherrückgang seit der Eröffnung des Multiplexkinos im Westside. Nun findet zumindest die Geschichte um das 85-jährige Splendid doch noch eine Fortsetzung. Wie die Berner Zeitung BZ bereits Ende April berichtete, übernimmt die Kitag das Kino und will es Anfang Juli wiedereröffnen. Das gesamte Kino soll sanft renoviert werden, und der grosse Saal wird mit 3-D-Technologie ausgerüstet. Damit soll das Kino auf den neusten Stand der Technik gebracht werden.

 Investition trotz Verlust

 Die Übernahme erstaunt, denn die Innenstadtkinos haben im Jahr 2008 rund 15 Prozent der Zuschauer eingebüsst. Kitag-Verwaltungsratsmitglied Wilfried Heinzelmann erklärt die Flucht nach vorne: "Wir glauben, dass die Leute die innenstädtische Lage der Kinos schätzen. Deshalb haben wir uns entschlossen, weiter zu investieren." Die Wiedereröffnung des Kinos Splendid geschehe deshalb auch nicht auf Kosten eines anderen Standorts, sondern solle den Zuschauern ein breiteres Filmangebot ermöglichen, so Heinzelmann.

 Cinémastar vor Schliessung

 Während im Splendid die Filmprojektoren also bald wieder leuchten, läuft im anderen Quinnie-Kino an diesem Wochenende endgültig der letzte Akt. Die rauschende Abschiedsfeier mit vielen Gästen und Überraschungen steigt am Freitagabend im Cinémastar. Am Samstag macht dann die Kurzfilmnacht-Tour halt in Bern, bevor das Kino seine Türen endgültig schliesst.

 Noch vor dem letzten Abspann arbeiten ehemalige Mitarbeiter und Sympathisanten aber bereits fieberhaft am neuen Drehbuch. Sie haben den Verein Kulturwerk gegründet, der das Kino und die angrenzende Bar retten soll. Das Konzept sieht vor, dass der Kinosaal von verschiedenen Kulturorganisationen für Konzerte, Lesungen oder Vorträge genutzt werden kann. Falls sich genügend Interessenten finden, die regelmässig Events veranstalten, will Kulturwerk die Räumlichkeiten weiter betreiben und so einen kulturellen Treffpunkt schaffen. Die Initianten sind zuversichtlich, dass es auch hier zu einem Happy End kommt.

 Lukas Ninck

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20 Minuten 28.5.10

Kitag rettet Kino Splendid

 BERN. Jetzt ist es definitiv: Im Kino Splendid flimmern schon bald wieder Filme über die Leinwand. Die Kitag übernimmt das seit Ende März geschlossene Kino und eröffnet es nach einer sanften Renovation Anfang Juli wieder. Noch offen ist das Schicksal des Kinos Cinemastar und der dazugehörigen Cinebar: Zwar steigt dort heute die grosse Abschlusssause, aber ehemalige Mitarbeiter von Bar und Kino würden das Lokal gern als Verein "Kulturwerk" weiterbetreiben und die Lokalitäten an Firmen und Veranstalter weitervermieten.  Interessierte Firmen melden sich unter

kulturwerkbern@gmail.com

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KULTURPOLITIK BE
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BZ 31.5.10

Tschäppät

 Kein Rotstift bei der Kultur

 Bern muss künftig massiv sparen. Beim Kulturbudget will Stadtpräsident Alexander Tschäppät jedoch nicht kürzen.

 Derzeit handelt die Stadt Bern mit den Kulturinstitutionen die Subventionsverträge für die Jahre 2012 bis 2015 aus. Geht es nach Stadtpräsident Alexander Tschäppät, bleibt das jährliche Kulturbudget künftig bei 33,7 Millionen Franken. Dies, obwohl laut Prognosen der Finanzverwaltung die Stadt ab 2012 über 30 Millionen Franken jährlich einsparen muss. "Es gibt Sparanstrengungen, die weniger Sinn machen als andere. Ein gutes Kulturangebot macht Bern zu einem attraktiven Standort", sagt Tschäppät im Interview.

 Gleichzeitig möchte die Stadt die Kulturgelder im kleinen Rahmen umverteilen und damit der Situation entgegenwirken, dass die meisten Institutionen zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben haben. Allerdings dürfte es für den Stadtpräsidenten nicht leicht werden, dies im Stadtrat durchzusetzen. "Wenn ich einen Akzent setze, kommt es garantiert zu einem parlamentarischen Vorstoss, der ihn verhindert", so Tschäppät. lm

 Seite 25

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Alexander Tschäppät zur Kulturpolitik

 "Meine Devise heisst kämpfen"

 Die Stadt muss künftig massiv sparen. Das Kulturbudget soll jedoch bei 33,7 Millionen Franken bleiben. Stadtpräsident Alexander Tschäppät erklärt, wie er das erreichen will und warum manche dennoch weniger Geld bekommen.

 Herr Tschäppät, gemäss Schätzungen der Finanzverwaltung wird die Stadt ab 2012 über 30 Millionen Franken jährlich einsparen müssen. Wie wollen Sie da das Kulturbudget bei 33,7 Millionen Franken halten?

 Alexander Tschäppät: Meine Devise heisst kämpfen! Es gibt Sparanstrengungen, die weniger Sinn machen als andere. Ein gutes Kulturangebot macht Bern zu einem attraktiven Standort. Ausserdem gehen wir davon aus, dass sich die Konjunktur ab 2012 wieder erholt und damit auch die Steuereinnahmen steigen.

 Da setzen Sie aber auf das Prinzip Hoffnung. Wenn Sie in Ihrer Direktion nicht bei der Kultur sparen, wo dann?

 Der Gemeinderat hat soeben ein Haushaltsverbesserungsprogramm eingeleitet, daher ist es noch zu früh, Konkretes über einzelne Sparposten zu sagen.

 Aber ab 2012 sollen alle Direktionen aufgabenbezogen sparen. Kultur macht über 70 Prozent Ihres Direktionsbudgets aus.

 Wir werden sicher nicht Millionen sparen zulasten der Kultur. Es mag sein, dass es um ein paar Hunderttausend Franken geht. Ausserdem sind die meisten Subventionen, nämlich 22 Millionen Franken, gebunden, weil sie an Institutionen fliessen, die auch vom Kanton und von den Regionsgemeinden unterstützt werden. Und die anderen Kulturinstitutionen, die lediglich von der Stadt subventioniert werden, kann ich ja nicht einfach wegsparen.

 Natürlich können Sie das.

 Sehen Sie, vor drei Jahren wollte ich auf das Kornhausforum verzichten. Doch dann wurde fürs Forum lobbyiert und mein Vorschlag vom Stadtrat abgelehnt. Dann wollte ich kürzlich aufs Ballett beim Stadttheater verzichten…

 Ich dachte, Sie seien ein Tanzfan.

 Das bin ich auch! Dennoch denke ich, dass ein Ballett mit 12 Tänzern längerfristig ein Problem bekommt, auch in finanzieller Hinsicht. Aber ich bin vom Kanton, dem grössten Geldgeber beim Stadttheater, überstimmt worden.

 Das heisst, Sie als Kulturchef konnten sich nicht durchsetzen?

 Auch als Kulturchef habe ich demokratische Regeln einzuhalten. Der Kulturchef macht Vorschläge, aber er entscheidet nicht. Das ist Sache des Parlaments, des Volkes oder eben des grössten Geldgebers.

 Nun schlagen Sie vor, dass das Kino Kunstmuseum künftig einen Drittel weniger Subventionen bekommt.

 Man muss sich die Frage stellen, wie viele nichtkommerzielle Kinos wir uns als eine relativ kleine Stadt leisten können. Wir haben das Kino Reithalle, das Kellerkino, das Kino Cinématte, das Kino Lichtspiel und das Kino Kunstmuseum. Ein solches Angebot hat nicht einmal Zürich oder Basel.

 Fürs Kino Kunstmuseum wird aber lobbyiert.

 Das ist die Krux in der Berner Kulturpolitik: Man verlangt von mir, Akzente zu setzen. Wenn ich dann einen Akzent setze, kommt es zu einem parlamentarischen Vorstoss, der ihn verhindert. So haben wir seit Jahren den Status Quo, dass die meisten Institutionen zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben haben.

 Mit der Kürzung beim Kino Kunstmuseum nehmen Sie aber genau dies in Kauf.

 Das sehe ich anders. Jede Institution, die auf öffentliche Gelder zurückgreifen kann, ist in einer relativ komfortablen Situation. Wenn die Subvention gekürzt wird, hat jede Institution zwei Möglichkeiten: Entweder sie bewegt sich nicht, was ihre Existenz bedroht. Oder sie verstärkt die Suche nach Sponsoren, ist kreativ und wird mit dem Zuschuss der Stadt zurechtkommen.

 Sie wollen die Gelder also umverteilen?

 Ja, aber im kleinen Rahmen. Wir möchten einen Teuerungsausgleich zahlen. Da das Budget aber nicht erhöht wird, müssen wir das Geld irgendwo einsparen. Gleichzeitig haben wir Schwerpunkte gesetzt, zum Beispiel beim Jazz oder bei der Camerata Bern, die bereits mehr Geld bekommen und Erfolg haben beim Publikum.

 In Bern finden rund 200 Veranstaltungen pro Woche statt. Ist das nicht ein Überangebot?

 Man darf nicht vergessen, dass viele der Veranstaltungen auf Privatinitiative beruhen, wenn jemand einen Vortrag hält oder ein Konzert gibt. Die Berner Vielfalt mag als Luxus erscheinen, sie ist aber auch eine unserer Stärken.

 Allerdings hat diese Vielfalt auch Nachteile. Manche Berner Institutionen graben sich gegenseitig das Publikum ab.

 Die Institutionen müssen sich untereinander besser koordinieren, das liegt nicht in der Verantwortung der Politik. Ausserdem sind die Publikumszahlen nicht das einzige Kriterium. Es ist ebenso wichtig, dass die Kulturschaffenden Auftrittsmöglichkeiten haben.

 Dennoch: In Sachen zeitgenössische Musik haben wir mehrere Veranstalter, die ein ähnliches Programm anbieten. Etwas weniger wäre da vielleicht mehr.

 Ich habe kein Problem, darüber nachzudenken.

 Inwiefern?

 Im Rahmen der laufenden Subventionsverhandlungen kann man zum Beispiel diskutieren, ob es in der Dampfzentrale und im Zentrum Paul Klee avantgardistische Musik braucht. Ich frage mich auch, ob wir in den Leistungsvereinbarungen mit den Institutionen nicht zu viel verlangen im Verhältnis zur Höhe der Subvention. Wie eben bei der Dampfzentrale, die von Tanz über Rock/Pop bis zur Neuen Musik ein grosses Spektrum anbietet. Gleichzeitig darf man bei Veränderungen ein bestimmtes Tempo nicht überschreiten, sonst macht weder die Gesellschaft noch die Politik mit.
 
Interview: Lucie Machac

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 KulturVerträge

 Verhandlungen

 Derzeit handelt die Stadt mit den Berner Kulturinstitutionen Leistungsverträge für die Subventionsperiode 2012-2015 aus. Im Herbst sollen diese abgeschlossen sein. Ende Jahr kommt das Gesamtpaket der Verträge in den Gemeinderat. Über Subventionen, die höher sind als 75000 Franken pro Jahr, beschliesst der Stadtrat.

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MONOPOLY BE
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Bund 28.5.10

Monopoly - Nach Basel, Zürich und Genf hat nun auch Bern seine stadteigene Variante des weltberühmten Brettspiels.

 Keine Hotels bei der Reitschule

Matthias Raaflaub

 Wenn die Anführer des Grosskapitals wegen der Verschleuderung von Spargeldern öffentlich am Pranger stehen, wenn ein ganzer Kleinstaat wegen spekulativen Finanzgeschäften der Elite aus dem letzten Vulkan pfeift - dann braucht es einiges an Mut, um mit einem einladend lächelnden Bankier im protzigen Frack zu werben. Ausser dahinter steht die unerschütterliche Marke Monopoly. Das Brettspiel lädt in einer lokalisierten Edition nun auch in Bern zum "scheffle, scheffle, Häusle baue" ein.

 Ein Grundstück an der Kramgasse, ein Hotel vor dem Bundeshaus, der Bärenpark für schlappe 180 Monopoly-Dollar und erst noch ohne Folgekosten und Gerichtsverfahren: "Monopoly Bern" lässt so manchen Wunsch wahr werden. Wenn auch nicht jeden. Zwar stehen das Klee-Museum, die Gurtenbahn oder der Casinoplatz zum Verkauf, zur Enttäuschung einiger Kreise aber nicht die Reitschule oder die Waldstadt. Mascha oder die "Blüemlisalp" haben es nicht zur silbernen Spielfigur geschafft, und auch die Ereigniskarten lassen die Stadtpolitik aussen vor. Die amerikanische Spielefirma Hasbro kümmert sich gut um ihre Marke und lässt Veränderungen an der Spielidee nur sehr begrenzt zu, und so harrt auch die Spielkarte "Abzocker-Initiative", die das Spiel sofort beenden würde, noch ihrer Verwirklichung.

 Hasbro feiert heuer den 75-jährigen Geburtstag des Monopoly. Auch wenn nachgewiesen ist, dass die Idee dazu eigentlich von der Quäkerin Elizabeth Magie stammt. Ihr "Landlord's Game" von 1904 sollte vor den Gefahren der Grundveräusserung warnen und war ein sozialkritisches Lehrstück gegen Monopolisten. Ihr Patent erwarb der später als Monopoly-Erfinder gerühmte Charles Darrow für 500 Dollar. Darrow, ein Verlierer der Wirtschaftskrise von 1929, riskierte alles, um das Spiel verkaufen zu können. Wenig später wurde er Millionär. Seinem Beispiel folgend, gewinnen die Monopoly-Spieler seither ohne Schuldgefühl.

 Dennoch ist die Zeit nicht ganz am Brettspiel-Klassiker vorübergegangen. Gehandelt und gezahlt wird seit längerem mit dem Monopoly-Dollar. Der Euro hat seinen Platz als Einheitswährung auf den europäischen Monopoly-Auskopplungen wieder eingebüsst. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Die Währungsreform sei erfolgt, um den internationalen Wettbewerb der Spieler zu vereinheitlichen, sagen die Vertreiber, aber wohl auch, um bei den Notenbanken, Pardon, den Druckerpressen, zu sparen.

 Dass die Bern-Edition einen neuen Tempowürfel für ein schnelleres Spielerlebnis bietet, dürfen Hauptstädter auch nicht als Affront verstehen. Dieses Extra bieten die neueren Editionen, um die lange Startphase des Spiels abzukürzen.

 Worum es bei Monopoly auch im Jahr 2010 noch geht, machen die Spielregeln aber nur allzu deutlich. "Ihr Ziel ist nicht nur, unglaublich reich zu werden, sondern Sie müssen alle anderen Spieler in den Bankrott treiben, um zu gewinnen." Auch mit 75 Jahren geht dieses Brettspiel in der Schweiz rund 40 000 Mal pro Jahr über den Ladentisch. Deshalb wird wohl auch die leidige Hypothekar-Spekulation das Spielvergnügen nicht so schnell bremsen.

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BREITENRAIN/LORRAINE
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Bund 28.5.10

Events, Verkehr und Wohnen unter einem Hut

 Der Gemeinderat hat die Quartierplanung für den Stadtteil 5 Lorraine-Breitenrain in Kraft gesetzt.

 Markus Dütschler

 Auf 62 Seiten legt der Berner Gemeinderat dar, wie er den Stadtteil 5 Lorraine-Breitenrain in den nächsten Jahren entwicklen will. Wer im Dossier des Stadtplanungsamts blättert, um zu erfahren, wo genau die Tramlinie nach Ostermundigen verlaufen wird oder wo Parkplätze aufgehoben werden, findet keine Antwort. Die Quartierplanung enthält Strategien, Fernziele und prinzipielle Überlegungen. Geht es um konkrete Projekte, wird der Stadtrat Details beraten und Kredite sprechen, und einiges wird vom Volk an der Urne entschieden.

 Konflikt wird "ausbalanciert"

 Oft verstecken sich hinter gewählten Formulierungen Konflikte. So heisst es über den Entwicklungsschwerpunkt (ESP) Wankdorf, es bestehe das Ziel "einer kontinuierlichen Ausbalancierung der übergeordneten Entwicklungsstrategien und der Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung". 2004, als der Gemeinderat einen Verkehrsrichtplan für das Nordquartier in die Mitwirkung schickte, erntete er harsche Kritik und "grenzenlose Enttäuschung" beim Verein Läbigi Stadt, weil eine Wabenlösung nicht einmal als Variante vorgeschlagen wurde. Dieses Stichwort findet sich auch in der vorliegenden Planung nicht. Stadtplaner Christian Wiesmann sagt zum Konflikt Wohnen und Verkehr, solche gebe es in einer Stadt immer. Es sei die Absicht, etwa den Verkehr um das national bedeutende Stade de Suisse und das Bedürfnis nach ruhigem Wohnen unter einen Hut zu bringen. "Die Nutzer des Stadions sollen nicht ins Quartier hineinfahren." Der sich im Bau befindliche Wankdorfkreisel sei ein wichtiges Bauwerk, das genau diesem Zweck diene.

Lorraine: Kein "Schickimicki"

 Die Lorraine gilt im Plan als "lebendiges Quartier" mit einem Nebeneinander von Wohnen und Arbeiten. Die Wohnnutzung soll verstärkt werden. Ein Beispiel: Ein Garagenbetrieb hat das Quartier bereits verlassen, damit dort Wohnungen entstehen können. Inzwischen sind die nomadisierenden Stadttauben mit ihren Wohnwagen verschwunden. Vor Jahren schon monierten Kritiker, die Lorraine werde zum Schickimicki-Viertel "gentrifiziert" und dadurch für kleine Einkommen unerschwinglich. Die Stadtplanung schreibe nicht vor, welche Art von Wohnungen zu bauen seien, so Wiesmann.

 Projekt Quanterra auf Eis gelegt

 Ein Spannungsfeld liegt auch auf dem Kasernenareal. Laut Wiesmann hat der Kanton das Projekt Quanterra samt Hochhaus "auf Eis gelegt". Letzteres hatte für Aufregung gesorgt. Die Stadt erachtet das Projekt als nicht quartierverträglich. Laut Quartierplanung sollen "im Spannungsfeld zwischen historischem Quartier und ESP neue Nutzungen definiert werden". Vom Breitenrainplatz in Richtung Osten zum Zentrum Paul Klee postuliert der Plan eine Fussgängerverbindung. Derzeit gibt es viele Zäune im Bereich von Militärbauten, die dem entgegenstehen.

 Verkehrsader, aber keine Grenze

 Die Hauptstrassen Nordring, Stand-, Winkelried- und Papiermühlestrasse sowie Viktoriastrasse und -rain bilden den Basisnetzring des Quartiers. Hier fliesst der Grossteil des Verkehrs. Das wird auch künftig so sein, doch sieht die Quartierplanung vor, dass die Hauptachsen nicht mehr so sehr als Trennlinien wirken. Dank Verkehrsinseln, allenfalls sogar Übergängen oder Unterführungen soll es leichter werden, auf die andere Strassenseite zu gelangen. Zu den sinnlosen Leerflächen in der Strassenmitte am Nordring, die durch Reduktion von Fahrspuren geschaffen wurden, äusserte sich Wiesmann nicht. Es sei aber die Absicht, gewonnene Flächen so zu nützen, dass Fussgänger oder Velofahrer wirklich davon profitierten.

 Tramlinie nach Ostermundigen

 Über die Tramlinie nach Ostermundigen, die der Route des 10er-Busses folgen wird, heisst es: Der Schienenstrang solle so ins Quartier integriert werden, dass er es nicht trenne. Der Aareraum, die prägende Flussschlaufe, soll als Naherholungsgebiet aufgewertet werden, womöglich durch einen Veloweg.

 Die Umsetzung der Quartierplanung erfolgt in den nächsten 10 bis 15 Jahren. Der Gemeinderat hat in der Vergangenheit bereits Quartierplanungen für andere Stadtquartiere in Kraft gesetzt.

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bern.ch 26.5.10

Quartierplanung Stadtteil V: Grundlage für nachhaltige Stadtteilentwicklung verabschiedet

Der Gemeinderat hat an seiner letzten Sitzung die Quartierplanung Stadtteil V (Breitenrain/Lorraine) in Kraft gesetzt. Sie ist das Resultat eines breit abgestützten Planungsprozesses, in den unter anderen Quartiervertretungen, Fachpersonen aus den Bereichen Bauen und Verkehr und die interessierte Öffentlichkeit einbezogen worden sind. Die Quartierplanung ist Grundlage für Entscheide zur Nutzung, Erschliessung und Gestaltung der Bauzonen und zur Weiterentwicklung der bau- und planungsrechtlichen Instrumente.

Die Quartierplanung Stadtteil V zeigt auf, wie sich der Stadtteil Breitenrain/Lorraine baulich, funktionell und bezüglich der öffentlichen Freiräume entwickeln soll. Eine wesentliche Voraussetzung für eine nachhaltige räumliche Stadtteilentwicklung ist die Berücksichtigung der Rahmenbedingungen des motorisierten Individualverkehrs (MIV) und seiner Auswirkungen. Dies wird mit dem Teilverkehrsplan MIV gemacht. Anders als die Quartierplanung, die mit dem vorliegenden Bericht abgeschlossen wird, geht der Teilverkehrsplan in eine zweite Mitwirkung. Die wichtige Koordinationsarbeit zwischen den beiden Planungen ist jedoch sichergestellt. Einerseits liegen grossflächige Neubau- und Umstrukturierungsgebiete im Richtplanperimeter ESP Wankdorf mit entsprechenden Rahmenbedingungen zum Verkehr. Anderseits sind die verfeinerten verkehrlichen Rahmenbedingungen in den bestehenden Strukturen durch Baugesuchsverfahren zu berücksichtigen.

Städtebauliches Konzept

Der Stadtteil V gilt heute als urban und weltoffen und ist dabei doch überschaubar und mit dem Stadtzentrum bestens verbunden: Er wird deshalb als Wohn- und als Arbeitsort gleichermassen geschätzt wird. Ziel der Quartierplanung ist es, günstige Voraussetzungen zu schaffen um ein möglichst harmonisches Nebeneinander der verschiedenen räumlichen Nutzungen (Wohnen, Arbeiten, sich Erholen) und das Wohlbefinden der Bevölkerung zu gewährleisten. So soll das Wohnungsangebot insbesondere im Bereich der grossen Wohnungen erhöht und die Qualität des Wohnumfeldes bereits bestehender Wohnungen erhalten werden. Dies soll einerseits durch eine klar spürbare Trennung zwischen Eventzone und Wohnquartieren geschehen. Anderseits müssen wichtige nützliche Infrastrukturen (z.B. Allmend) bequem und direkt erreichbar sein. Diese sind zudem auch guten Voraussetzungen von denen Firmen und Dienstleistungsbetriebe profitieren können.

Schwerpunktthemen für die nächsten Jahre

Zur Umsetzung der Ziele sind deshalb für die nächsten zehn bis fünfzehn Jahren folgende Schwerpunktthemen in der Quartierplanung festgehalten:

* ESP Wankdorf: mit dem Ziel einer kontinuierlichen Ausbalancierung der übergeordneten Entwicklungsstrategien und den Bedürfnissen der lokalen Bevölkerung.
* Lorraine: Ihre Anziehungskraft als lebendiges Quartier basiert auf dem Nebeneinander von Wohnen und Arbeiten sowie ihrer unverwechselbarerer Identität bestimmt durch die kleinteiligen Strukturen. Die heutige charakteristische Nutzungsmischung soll sich zugunsten der Wohnnutzung entwickeln.
* Kasernenareal: Für den markanten Orientierungsort im Spannungsfeld zwischen historischem Quartier und ESP sollen neue Nutzungen definiert werden.
* Breitenrainplatz: seine Funktion als Quartierzentrum mit vielschichtigen Nutzungen und unterschiedlichen Aufenthaltsqualitäten wird gestärkt. Dazu wird der Platz inklusive die Verkehrsführung umgestaltet und eine Fusswegverbindung zwischen Breitenrainplatz und Zentrum Paul Klee geplant.
* Basisnetzring: er wird gebildet durch Nordring, Standstrasse, Winkelriedstrasse Papiermühlestrasse, Viktoriastrasse und Viktoriarain. An ihm werden durch Massnahmen die unterschiedlichen stadträumlichen Achsen aufgewertet, wodurch u.a. auch die nachbarschaftliche und grossräumige Vernetzung verbessert wird.
* Aareraum: seine Qualitäten als urbane durchgehende Parklandschaft mit ökologischen Funktionen wird für zukünftige Generationen erhalten und weiterentwickelt.
* Tram Region Bern: Gute räumliche Integration des Trams Ostermundigen - Köniz.

Der Bericht kann hier heruntergeladen werden
http://www.bern.ch/leben_in_bern/wohnen/planen/aktuell/quartier/quartierplanung_stadtteil_v
 
Informationsdienst der Stadt Bern

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STADTTAUBEN
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Bund 28.5.10

Niemand weiss, wo "Stadttauben" sind

 Die "Stadttauben" haben das Grundstück in Bern-Brünnen über die Pfingsttage geräumt, wie die Stadt gestern mitteilte. Das von ihnen beanspruchte Terrain sollen sie gemäss einer Anwohnerin sauber hinterlassen haben. Wohin sie gezogen sind, ist nicht bekannt.

 Mit dem Wegzug ist die alternative Gruppe dem städtischen Ultimatum - das Areal bis zum 31. Mai verlassen zu haben - nachgekommen. Das Angebot eines Gebrauchsleihvertrages für das Areal Wankdorf-City vom 31. Mai bis 31. August hat sie bis jetzt jedoch nicht angenommen. Anders die Stadtnomaden, die auf das offerierte Gelände umziehen wollen. "Die Stadttauben haben es abgelehnt, kurzfristig mit dem Verein Alternative auf dem gleichen Platz zu wohnen und in eine Dreimonatslösung im Sinne des runden Tischs einzusteigen", sagt Roland Meyer, Generalsekretär der Direktion für Finanzen, Personal und Informatik.

 Trotz der Verhandlungen zwischen Ex-Regierungsstatthalterin Regula Mader und den "Stadttauben" habe man keine einvernehmliche Lösung gefunden. Damit sei das Mandat zwischen Stadt und Frau Mader beendet. Das Angebot für Wankdorf-City und das dreimonatige Rotationsprinzip, an dem die Stadt bis zur Schaffung einer experimentellen Wohnzone festhalten will, stehe den "Stadttauben" nach wie vor offen. Für Kompromisse ist man nicht bereit. "Sollten die ‹Stadttauben› erneut ein städtisches Gelände besetzen, wird die Stadt umgehend die erforderlichen Schritte für eine Räumung einleiten", sagt Meyer. (reh)

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20 Minuten 28.5.10

Stadttauben sind aus Bümpliz weggezogen

 BERN. Am 19. Mai hat die Stadt Bern die Besetzer eines Grundstücks in Bern-Bümpliz, die so genannten Stadttauben, aufgefordert, dieses bis Ende Mai zu verlassen (20 Minuten berichtete). Wie die Stadt gestern mitteilte, sind die Wohnwagen nun aus dem Gebiet abgezogen. Ihr neuer Aufenthalt ist unbekannt. Das Angebot der Stadt, bis Ende August das Areal Wankdorf City zu benutzen, haben die Stadttauben bis jetzt aber nicht angenommen.

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DEMO-RECHT BE
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Bund 29.5.10

Samstagsinterview

 Leitartikel

Der Entfernungsartikel verfehlt sein Ziel und unterläuft das grundsätzliche Rechtsempfinden .

 Symbolische Gesetze nützen nichts

Christian Brönnimann

 Soll mit bis zu 5000 Franken gebüsst werden können, wer eine Kundgebung nicht verlässt, wenn er von der Polizei dazu aufgefordert wird? Über diese Frage wird in der Stadt Bern in zwei Wochen abgestimmt. Zur Diskussion steht der sogenannte Entfernungsartikel als Ergänzung des städtischen Kundgebungsreglements. Die entsprechende Volksinitiative war unter den Eindrücken der Anti-SVP-Krawalle vom 6. Oktober 2007 von einem bürgerlichen Komitee lanciert worden. Laut den Initianten soll damit die Polizeiarbeit vereinfacht und die Prävention verstärkt werden. Zudem wird ein Paradigmawechsel angestrebt. Denn nach heutiger Regelung können nur die Organisatoren einer aus dem Ruder gelaufenen Kundgebung juristisch belangt werden, nicht aber die Teilnehmer - sofern diesen kein weiteres Delikt nachgewiesen werden kann.

 Das Problem von randalierenden Demonstranten ist unbestritten. Wer mit Bierflaschen oder Pflastersteinen in Richtung Polizei wirft, Schaufenster zertrümmert oder Autos demoliert, ist ohne Frage zu verfolgen und zu bestrafen. Aber: Damit hat der Entfernungsartikel nichts zu tun. Auch nach dem aktuellen kantonalen Polizeigesetz, Artikel 29, kann die Polizei "Personen von einem Ort vorübergehend wegweisen oder fernhalten, wenn der begründete Verdacht besteht, dass sie oder andere, die der gleichen Ansammlung zuzurechnen sind, die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden oder stören". Der Auftrag an die Polizei ist damit bereits heute sonnenklar. Wenn eine Demonstration zu eskalieren droht, hat die Polizei einzugreifen, um ihren obersten Auftrag - die Wahrung von Ruhe und Ordnung - zu erfüllen. Wann dieser Zeitpunkt gekommen ist, liegt im Ermessensspielraum der Kommandoleitung. Weder verhindert der Entfernungsartikel Ausschreitungen, noch verändert er die praktische Polizeiarbeit.

 Die Argumentation ist paradox

 Der gewichtige Unterschied, den der Entfernungsartikel mit sich bringen würde, betrifft das juristische Nachspiel. Neu wären Kundgebungsteilnehmer ihrer blossen Anwesenheit wegen bestrafbar - und zwar unabhängig davon, ob eine Demonstration bewilligt ist oder nicht. Begründet wird dies damit, dass so bei Ausschreitungen die Schuldigen endlich zur Rechenschaft gezogen werden könnten und nicht nur die Demo-Organisatoren.

 Diese Argumentation ist paradox. Denn wer sich aktiv an Ausschreitungen beteiligt, kann schon heute wegen Landfriedensbruch oder Sachbeschädigung bestraft werden. Die Schwierigkeit, die wirklichen Täter zu eruieren und ihnen die Vergehen nachzuweisen, bleibt mit dem Entfernungsartikel bestehen. Den Kreis der Gesetzesbrecher und potenziell zu Bestrafenden auf alle Anwesenden auszudehnen, ist keine gute Antwort auf das Problem - und es unterläuft das grundsätzliche Rechtsempfinden: Wer eine Fensterscheibe einwirft und sich aus dem Staub macht, kommt ungeschoren davon, wer friedlich für seine Anliegen einsteht, kann - zumindest theoretisch - dafür bestraft werden.

 Der Artikel ist ein Papiertiger

 Der Berner Sicherheitsdirektor Reto Nause (CVP) sagte jüngst im "Bund" zum Vermummungsverbot und dessen Anwendung bei einem Saubannerzug von Fussballfans: "Man kann die Vermummten schon aus der Menge reissen, aber dann hat man Krieg." Ähnliches gilt für den Entfernungsartikel. Würde er von der Polizei angewandt, ohne dass die Geschehnisse dies legitimierten, trüge dies eher zur Eskalation einer Situation als zu deren Beruhigung bei. Rechtfertigen die Umstände die polizeiliche Auflösung einer Kundgebung, dann genügen die heutigen Gesetze. Der Entfernungsartikel verkäme zu einem Papiertiger wie das Vermummungsverbot. Die Erfahrung zeigt, dass Letzteres kaum präventive Wirkung hat. Wieso sollte dies beim Entfernungsartikel anders sein?

 In der Wissenschaftstheorie besagt ein bekannter Lehrsatz des Philosophen Wilhelm von Ockham, der unter dem Namen "Ockhams Rasiermesser" in die Geschichte eingegangen ist, dass ein theoretisches Konstrukt möglichst einfach zu halten und Unnötiges wegzulassen ist. Übertragen auf die Politik, bedeutet dies, dass Papiertiger in Gesetzesbüchern nichts verloren haben.

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DEALERSZENE BE
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Bund 28.5.10

Fall Dr. X: Der Kanton gibt Versäumnisse zu

 Ein Berner Arzt ist gestern vom Kreisgericht Bern-Laupen zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 15 Monaten verurteilt worden. Er hatte jahrelang starke Beruhigungsmittel an Drogenabhängige verkauft - ohne die Bewilligung des Kantonsarztes eingeholt zu haben. Die Behörden schauten den Machenschaften von Dr. X, wie der Allgemeinmediziner auf der Gasse hiess, über Jahre hinweg tatenlos zu.

 Spätestens 2003 hätte die Gesundheits- und Fürsorgedirektion (GEF) einschreiten müssen: Swissmedic informierte den Kanton, dass Dr. X der grösste Rohypnol-Bezüger der Schweiz sei. Dennoch geschah nichts. "Diese Panne hätte nicht passieren dürfen", räumt GEF-Stabschef Jean-Philippe Jeannerat ein. Ein Grund für das Versäumnis könnte bei der damaligen Amtsübergabe im Kantonsapothekeramt liegen. Inzwischen seien aber Massnahmen ergriffen worden. (jäg)- Seite 25

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Das Urteil gegen Dr. X belastet den Kanton und erfreut die Fachleute

 Dr. X wird zu einer bedingten Freiheitsstrafe verurteilt - der Kanton räumt eine "Panne" ein.

 Simon Jäggi

 Jean-Philippe Jeannerat, Stabschef der kantonalen Gesundheits- und Fürsorgedirektion (GEF), will nichts beschönigen: "Eine solche Panne darf nicht passieren." In der Affäre um Dr. X, der jahrelang ohne Bewilligung starke Beruhigungsmittel an Drogenabhängige verkaufte, habe die GEF ihre aufsichtsrechtliche Funktion "nicht optimal wahrgenommen", räumt Jeannerat ein.

 Die Behörden sind bereits 1994 auf den heute 57-jährigen Allgemeinmediziner aufmerksam gemacht worden, da dieser unerlaubterweise Grosspackungen von Medikamenten abgegeben hatte. 1999 rügte der damalige Kantonsarzt Dr. X erstmals wegen des unbewilligten Verkaufs von Benzodiazepinen. Spätestens 2003 hätten Konsequenzen folgen müssen: Damals meldete sich nämlich Swissmedic. Der Zulassungs- und Aufsichtsbehörde für Heilmittel war aufgefallen, dass Dr. X die "schweizweit grössten Mengen an Rohypnol" bezog. Swissmedic schrieb in dem Brief, der dem "Bund" vorliegt: "Falls sich Verdachtsmomente erhärten, bitten wir Sie, die nötigen rechtlichen Schritte (Strafanzeige) zu unternehmen."

 Doch nichts geschah. Warum? Den genauen Ablauf des Versäumnisses konnte Stabschef Jeannerat gestern nicht rekonstruieren. Aber er gibt zu: "Es ist tatsächlich problematisch, dass wir aufgrund dieser Information nicht gehandelt haben." Der Fall sei zwar in den Akten geblieben, wurde aber nicht behandelt. Und auch Swissmedic meldete sich nicht mehr. Ein Grund für das Versäumnis könnte in der Amtsübergabe im Kantonsapothekeramt liegen: Anfangs 2003 gab Niklaus Tüller seinen Posten ab. Und auch die anderen Verantwortlichen dieser "Panne" sind nicht mehr im Amt: Regierungsrat Samuel Bhend (SP) und Kantonsarzt Anton Seiler.

 Neuer Wind im GEF?

 Und offenbar weht ein neuer Wind im GEF, was die Abgabe von Benzodiazepinen angeht. Die beiden neuen Amtsinhaber, Kantonsarzt Thomas Schochat und Kantonsapotheker Samuel Steiner, waren es nämlich, die Dr. X anzeigten und ihm ein einjähriges Berufsverbot aufbrummten. "Das Problem wurde in der Zwischenzeit erkannt", sagt Jeannerat. Regierungsrat Philippe Perrenoud (SP) habe Massnahmen angeordnet. Die Abläufe seien heute systematisch definiert, die Zusammenarbeit zwischen den Ämtern sei besser und das Know-how der Mitarbeiter höher. Und auch rechtlich habe sich die Lage verbessert (mit dem neuen Medizinalberufsgesetz).

 Dennoch bleibt es schwierig, einem Arzt illegale Machenschaften zu beweisen. Jeannerat: "Die Verwaltung braucht mehr als nur einfache Hinweise, um ein Verfahren einleiten zu können. Wir benötigen Zeugenaussagen." Gerade Drogenabhängige sind aber oftmals nicht bereit, Aussagen zu machen, da sie sich nicht selber belasten wollen.

 Kein Einzelfall

 Auch daher stösst das Urteil bei Drogen-Fachpersonen auf Genugtuung. Dr. X war in der Szene schon lange bekannt und berüchtigt. Erleichtert nimmt etwa Barbara Mühlheim die Verurteilung zur Kenntnis: Die Betriebsleiterin der heroingestützten Behandlung Koda und Grossrätin (Grüne) glaubt, dass das Urteil Signalwirkung haben wird. Denn Dr. X ist zwar ein Fall von massivem Ausmass - nicht aber ein Einzelfall: Es habe immer wieder Ärzte gegeben, die ohne Bewilligung Beruhigungsmittel verschrieben hätten.

 "Solche Ärzte torpedieren eine erfolgreiche Behandlung der Drogenabhängigen", sagt Mühlheim. Der Grund: Langzeitabhängige, die bei Koda in Behandlung sind, erhalten häufig Benzodiazepine verabreicht. Diese müssen aber unter Aufsicht eingenommen werden. Viele Abhängige sind mehrfachabhängig - neben Heroin und Kokain werden auf der Gasse auch Beruhigungsmittel wie Dormicum konsumiert, das Dr. X in grossen Mengen abgab. Der Arzt gab an, Benzodiazepine zu verschreiben, um die Sucht nach härteren Drogen zu senken. "Diese Behauptung hat sich in der Praxis nicht bewahrheitet", sagt Mühlheim. Benzodiazepine seien eine eigenständige Sucht und führten nicht dazu, dass die Heroinsucht zurückgehe.

 Die Abgabe von Benzodiazepinen muss vom Kantonsarzt bewilligt werden - was Dr. X nie getan hat. Das Ziel dieses Kontrollmechanismus: Die Behandlung der Drogenabhängigen geschieht koordiniert. Im Fall von Dr. X gab es Drogenabhängige, die ärztlich kontrolliert Benzodiazepine verschrieben bekamen - und von Dr. X zusätzlich Beruhigungsmittel erhielten, teils in grossen Mengen. Dass diese wohl auch gedealt wurden, muss angenommen werden. Die Preise der Beruhigungsmittel auf der Gasse sind bis zu zehnmal höher als in der Apotheke. Auch stand Dr. X nie oder sehr selten im Austausch mit Koda.

 Häufiger Missbrauch

 Was ein solch fehlender Austausch zur Folge haben kann, haben die Koda-Fachleute immer wieder erlebt. Mühlheim: "Wir versuchen auch den Nebenkonsum in den Griff zu bekommen, dies ist aber nicht möglich, wenn die Abhängigen aus irgendeiner Quelle noch zusätzlich Benzodiazepine erhalten." Ein Problem stellen die Beruhigungsmedikamente auch im Zusammenwirken mit anderen Drogen dar. "Man weiss etwa, dass viele der schweren Delikte in Kombination von Rohypnol und Alkohol stattfinden", sagt Mühlheim. Auch bekannt ist, dass Benzodiazepin-Medikamente sehr häufig nicht aus medizinischen Gründen eingenommen werden - über 70 Prozent schätzen Studien diesen Anteil. Die Benzodiazepine, die rasch zu einer starken Abhängigkeit führen, sind nicht nur auf der Gasse ein Problem, "Benzo-Sucht" ist auch in Altersheimen ein Thema.

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 Urteil im Fall Dr. X

 "Wer helfen will, geht anders vor"

 Der Allgemeinmediziner, der illegal Drogenabhängige mit Beruhigungsmitteln versorgte, erhält eine bedingte Freiheitsstrafe.

 Etwas, das dem Kreisgericht Bern-Laupen bei der Beurteilung des Falls Dr. X aufgefallen ist: die Krankengeschichten. Die Unterlagen also, in denen Ärzte Informationen über die Behandlung ihrer Patienten festhalten. "Eines praktizierenden Arztes waren diese Krankengeschichten nicht würdig", sagte gestern Gerichtspräsident Jean-Pierre Vicari bei der Urteilsbegründung. Medizinisches sei dort kaum zu finden gewesen, die Papiere hätten Rechnungen geglichen.

 Das Kreisgericht verurteilte gestern den Berner Hausarzt wegen eines schweren Verstosses gegen das Betäubungsmittelgesetz. Dr. X, wie er auf der Gasse genannt wird, habe fast zehn Jahre lang hohe Mengen an Benzodiazepinen an Drogenabhängige verkauft - ohne dies dem Kantonsarzt zu melden. Er erhält eine bedingte Freiheitsstrafe von 15 Monaten. Weiter muss der Arzt eine Geldstrafe von 5000 Franken bezahlen, eine Ersatzforderung von 143 000 Franken und die Prozesskosten.

 Die Ersatzforderung entspricht dem Gewinn, der dem Arzt nachgewiesen werden konnte. Das Gericht nahm dem Angeklagten nicht ab, dass es ihm bei den illegalen Verkäufen von stark abhängig machenden Beruhigungsmitteln hauptsächlich darum ging, den Leuten helfen zu wollen. Finanzielle Aspekte seien wahrscheinlich wichtiger gewesen, meinte Vicari. Dr. X habe drogenabhängige Patienten oft nur rudimentär untersucht und ihre Aussagen kaum kontrolliert. Wer nur einen "Hauch von Ahnung" in diesem Bereich habe, wisse, dass es im Umgang mit Abhängigen mehr als bloss medizinische Behandlung benötige. "Wer helfen will, geht anders vor", so Vicari. Zudem seien die Mengen - in einem Fall zum Beispiel 3000 Tabletten aufs Mal - teils medizinisch nicht mehr zu begründen gewesen. Er habe damit auch in Kauf nehmen müssen, dass die bewilligungspflichtigen Benzodiazepine auf der Gasse weiterverkauft wurden. (jäg)

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BZ 28.5.10

Illegaler Medikamentenhandel

Dr. X muss seinen Gewinn abgeben

Dr. X muss seinen Gewinn aus dem illegalen Medikamentenhandel an den Staat abliefern. Während Jahren hat er Drogensüchtige mit Betäubungsmitteln versorgt. Gestern wurde er zu 15 Monaten bedingt verurteilt.

 Die meisten Zeugenaussagen im Verfahren gegen den Berner Hausarzt Doktor X stammen von drogenabhängigen Personen. Entsprechend vorsichtig habe das Kreisgericht VIII Bern-Laupen diese Aussagen bewertet, sagte Gerichtspräsident Jean-Pierre Vicari bei der gestrigen Urteilsverkündung. Trotzdem sei aufgefallen, dass alle Zeugen im Kern das gleiche gesagt hätten: "Die Abhängigen konnten selber bestimmen, wie viele Tabletten sie vom angeklagten Arzt erhalten möchten - und genau diese Menge haben sie bei entsprechender Barzahlung in dessen Praxis auch bekommen."

 Bei den angesprochenen Medikamenten handelt es sich um verschreibungspflichtige Beruhigungsmittel, die unters Betäubungsmittelgesetz fallen. Für Ärzte sind diese Pillen für 50 Rappen pro Stück erhältlich. Auf dem Drogenmarkt erzielen sie Preise von bis zu fünf Franken.

 Drogengeld fliesst zum Staat

 "Als Mediziner hatte der Angeklagte unbegrenzten Zugang zu diesen Medikamenten", sagte der Gerichtspräsident. In den Jahren 2000 bis 2010 habe der Arzt Pillen im Wert von mindestens 270 000 Franken verkauft und dabei einen Reingewinn von 143 000 Franken erzielt. Diesen Betrag muss Doktor X nun dem Staat abliefern. "Es darf nicht sein, dass jemand durch Verbrechen Gewinn erzielt."

 Er habe den drogenabhängigen Patienten doch nur helfen wollen, hatte der Berner Hausarzt während der Befragung am Mittwochmorgen ausgesagt. Damit diese weniger harte Drogen konsumieren, habe er sie illegal mit Beruhigungsmitteln versorgt.

 Der Gerichtspräsident entgegnete: Wer Drogenabhängige ohne vertiefte medizinische Abklärung mit Betäubungsmitteln versorge, der helfe diesen Menschen nicht. Ganz im Gegenteil: "Er nimmt ihre Probleme kaum richtig ernst."

 Ein weiteres Indiz in diese Richtung seien die Krankengeschichten, die in der Praxis des Angeklagten beschlagnahmt wurden. "Diese Dokumente sehen nicht aus wie seriös geführte Krankengeschichten, sondern wie Drogenabrechnungen", sagte Jean-Pierre Vicari.

 Auch die enormen Mengen der abgegebenen Betäubungsmitteln liessen das Gericht aufhorchen. "Sie nahmen in Kauf, dass ein Teil der Pillen auf dem Drogenmarkt landet", sagte der Gerichtspräsident zum Angeklagten. "Wir glaubten ihnen zwar, dass sie von einigen abhängigen Patienten unter Druck gesetzt worden sind." Aber dieser Druck sei selbstverschuldet.

 Der Arzt arbeitet wieder

 Das Gericht verurteilte Doktor X zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 15 Monaten und einer Busse von 5000 Franken. Seit Februar hat der Verurteilte seine Praxis in der Stadt nach einem einjährigen Berufsverbot wieder aufgenommen. Er liebe seinen Beruf, bei dem er Menschen helfen könne.

Tobias Habegger

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KISS-IN
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20 Minuten 28.5.10

Gays rufen auf zum Massen-Knutschen in Bern

 BERN. Unter dem Berner Baldachin wird im Juni geküsst, was die Lippen hergeben: Am ersten Deutschschweizer Kiss-in knutschen Homo-Pärchen für mehr Toleranz.

 Junge Schwule und Lesben aus der ganzen Schweiz lassen am 19. Juni in Bern ihre Lippen sprechen: Mit kollektivem Knutschen wollen sie ein Zeichen für Toleranz setzen. "Die Öffentlichkeit soll wahrnehmen, dass es überall homosexuelle Jugendliche gibt und dass sie selbstbewusst sind", sagt Florian Vock von den homosexuellen Jungsozialisten, den GaynossInnen.

 Noch immer sind schmusende Lesben oder sich küssende Schwule in der Öffentlichkeit ein seltener Anblick: "Viele haben Angst vor negativen Reaktionen", weiss Uwe Splittdorf von Pink Cross. Und die ist begründet: "Tauschen Gays öffentlich Zärtlichkeiten aus, drohen ihnen tätliche Angriffe", sagt Splittdorf, der telefonisch Opfer homophober Gewalt berät. Andere zeigen ihre Abscheu ohne Fäuste: "Sie drehen sich angeekelt weg oder bringen dumme Sprüche", so Vock.

 Der Trend zum gemeinsamen Protest-Knutschen heisst Kiss-in und kommt aus Frankreich. In Bern wird um 19 Uhr losgeküsst - danach gehts zur Purplemoon-Party in die Reithalle. "Wir hoffen auf zahlreiche Teilnehmer, vor allem Jugendliche", so Vock. NINA JECker

http://www.gaynossinnen.ch

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ERICH HESS
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Bund 28.5.10

SVP-Fraktion droht Hess mit Ausschluss

 Stadt Bern - Die SVP-Plus-Fraktion setzt ihren Präsidenten unter Druck: Erich Hess soll seinen Stadtratssitz abgeben, verlangt die Fraktion. An einer Sitzung am Dienstagabend sprach sich eine Mehrheit für einen entsprechenden Antrag aus, wie "20 Minuten" vermeldete. Hintergrund: Hess sitzt neu im Kantonsparlament. Ein Ehrenkodex der SVP würde ein Doppelmandat untersagen - bislang macht Hess aber keine Anstalten, sich daran zu halten. Er kündete lediglich an, im Sommer das Fraktionspräsidium abzugeben. "Ich lasse mich nicht unter Druck setzen", sagt Hess auf Anfrage. Er werde sich aber anfangs nächster Woche entscheiden, ob er im Stadtrat bleibe. Für Hess ist klar, dass er nicht sofort zurücktritt. Zuerst will er die Nachfolge des Fraktionspräsidiums geregelt haben. Auch will er dabei sein, wenn seine Initiative zum Verkauf der Reitschule in den Rat kommt.

 Die SVP-Plus-Fraktion droht Hess mit Ausschluss, wenn er seinen Sitz nicht abgibt. Es ist ein offenes Geheimniss, dass er parteiintern nicht nur Freunde hat. Ist der Antrag ein Zeichen dafür, dass die Hausmacht des streitbaren Vorzeigepolterers schwindet? Der Präsident der Stadtberner SVP, Peter Bernasconi, will den Fraktions-Entscheid nicht so gedeutet haben. Aus Parteisicht sei es besser, wenn die Sitze auf verschiedene Köpfe verteilt seien. Auch Hess gibt sich gelassen: "Es ist meine freie Entscheidung, ob ich das Doppelmandat behalten will", sagt er. Die Fraktion habe gar keine Möglichkeit, ihn auszuschliessen, sagt Hess mit Verweis auf die Partei-Statuten. Einen solchen Entscheid müsse die Parteiversammlung treffen - mit einer Zweidrittelmehrheit. (jäg)

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CLUB-LEBEN BIEL
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BZ 31.5.10

Im "Bermudadreieck" eskalieren Gewalt und Dealerei

 Die zunehmende Gewalt und Drogendealerei im "Bermudadreieck" verunsichert den Sicherheitsdienst des Gaskessels. Der Polizei sind trotz meist schnellen Einsätzen weitgehend die Hände gebunden.

 Kein Wochenende ohne Schlägereien, Lärm und Sachbeschädigungen. Das "Bermudadreieck", Biels Ausgehmeile, ist deshalb im Visier der Polizei. Um das unruhige Gebiet zu befrieden, schwebt der Bieler Sicherheitsdirektorin, Barbara Schwickert, eine Lösung vor: Sie will einige Nachtclubs aus diesem Stadtteil ins Industriegebiet umsiedeln.

 Gut bekannt unter Polizisten ist Nexhat Schärmeli, Einsatzleiter des Sicherheitsdienstes des Autonomen Jugendzentrums (AJZ) im Gaskessel. Immer häufiger ruft er die Polizei zu Hilfe, wenn auf dem Parkplatz vor dem "Kessel" Schlägereien losgehen. Besonders in diesem Jahr beklagt Schärmeli eine extreme Zunahme von Gewalt und Drogendealerei in seinem Gebiet. Laut Schärmeli stammen die Dealer hauptsächlich aus Nigeria, Angola und der Elfenbeinküste. "Die Polizei", so Schärmeli, "ist zwar immer sehr schnell da." Doch entweder seien die Schläger oder Dealer bei deren Eintreffen längst entwischt, oder die Polizisten hätten zu wenig Beweise in der Hand, um die Personen festzunehmen.

 Nicht nur beim "Kessel"

 Einer, der über das Leben im "Bermudadreieck" Bescheid weiss, ist der grünliberale Stadtrat Hans-Ulrich Köhli. Er bestätigt zwar die Aussage des Einsatzleiters, betont aber, dass sich dies nicht nur auf die Umgebung des "Kessels" beschränke, sondern für das ganze Gebiet gelte. "Die meisten Schlägereien ereignen sich an der Alexander-Schöni-, Kontroll- und Gartenstrasse", so Köhli, der besonders unter Jugendlichen einen zunehmenden Kokainkonsum feststellt. "Kokain", so Köhli, "macht aggressiv. Deshalb auch die vielen Schlägereien." Er ist seit den Anfängen des Gaskessels im Verein AJZ aktiv mit dabei und daher über die Konsumgewohnheiten von Jugendlichen auf dem Laufenden. Die Zunahme des Kokainkonsums erklärt sich Köhli durch die Drogenpolitik des Bundes, welche seit 2008 Anbau und Konsum von Cannabis unter Strafe stellt. Durch die verstärkte Repression sei nun weniger und teureres Cannabis auf dem Markt. Als Folge davon würden die Konsumenten auf das billige Kokain ausweichen.

 "Kokainschwemme"

 Köhlis These will Bernhard Hiltbrand, Chef der Regionalfahndung Biel-Seeland, nicht bestätigen. Seiner Meinung nach wird der Bedarf an Cannabis gedeckt. "Die Situation", so Hiltbrand, "hat mit der Nachfrage zu tun." Der Preiszerfall des Kokains setze sich seit den 80er-Jahren fort: "Damals kostete das Gramm an die 500, heute noch etwa 50 Franken." Dass eine "Kokainschwemme" besteht, bestätigt auch André Schneider, Gruppenleiter der Betäubungsmittelgruppe der Regionalfahndung Biel-Seeland. Dies sei anhand der Sicherstellungen erwiesen. Man habe aber noch keine schlüssige Antwort auf die Frage, wo der Grund dafür liege.

 Die Drogenfahndung muss laut Schneider Schwerpunkte setzen: "Wir sind hinter den grossen Mengen her." Der Konsum von Kokain sei eine Übertretung und werde mit einer Busse abgetan, während Kleindealer oft mit wenigen Monaten und meist bedingten Haftstrafen davonkämen. Ob Schwickerts Idee für eine entspanntere Situation im "Bermudadreieck" sorgen würde, kann Schneider nicht sagen. Auch er hält aber den Ansatz grundsätzlich für vielversprechend.

 Grund zur Resignation sieht Schneider trotz allem nicht: "Drogenfahnder sind ein wenig wie Pitbulls", sagt er, "dranbleiben und weitermachen."

 Brigitte Jeckelmann/bt

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ANTI-FEMINISMUS
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20 Minuten 28.5.10

"Frauenhasser"-Buch ist ein absoluter Flop

 LUZERN. Das Buch von Ex-SVP-Mann René Kuhn ist im Buchhandel ein totaler Flop. Schuld sind laut Kuhn die "linken Buchhändlerinnen".

 "Zurück zur Frau: Weg mit den Mannsweibern und Vogelscheuchen - ein Tabubruch": In seinem Buch rechnet der ehemalige Präsident der Stadtluzerner SVP gnadenlos mit der Emanzipation ab. Zu interessieren scheint das aber nur die wenigsten - im Buchhandel ist sein Werk kaum gefragt: "Die Nachfrage ist sehr mässig, wir haben bislang drei Exemplare verkauft", sagt Heidi Schuppisser, Filialleiterin der Buchhandlung Stocker in Luzern. Gesamtschweizerisch wurden bei Lüthy Balmer Stocker sowie auf Buchhaus.ch gerade mal elf Bücher verkauft. Ähnlich klingt es bei Orell Füssli, wo das Buch landesweit 20-mal über die Ladentheke ging. Ex Libris und Amazon.de wollen keine Verkaufszahlen bekannt geben.

 Kuhn hat laut eigener Aussage bis letzten Mittwoch online rund 3650 Exemplare ausgeliefert. Für ihn ist klar, warum das Buch im Handel floppt: "Der Buchhandel ist in der Hand von linken Feministinnen." Er wisse von einem Mann, der in Luzern das Buch kaufen wollte. Die Buchhändlerin habe diesen als Erstes gefragt, ob er ein Frauenhasser sei. Anschliessend habe sie sich sogar geweigert, ein Exemplar zu bestellen. "Es ist eine Abneigung da, darum wird das Buch nicht aufgelegt", so Kuhn. Dies bestätigt ein grosser Buchhändler, der nicht namentlich erwähnt und "mit dem Namen Kuhn in Verbindung gebracht" werden möchte.

Daniela Gigor

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SANS-PAPIERS
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NLZ 29.5.10

Sans-Papiers

 Ohne Papiere, aber voller Hoffnung

Von Dave Schläpfer

 Er geht zur Schule, spielt Fussball. Kisimba ist ein ganz normaler Teenager. Einmal abgesehen davon, dass er illegal in Luzern lebt.

 "Zuerst ging alles gut", sagt Kisimba* in Schweizer Mundart mit leichtem Akzent. Der 16-Jährige hat am grossen Holztisch in einem der Räume der Notschlafstelle in der Stadt Luzern Platz genommen. Man merkt: Dieses Interview zu geben ist für den gebürtigen Kongolesen nicht einfach. Doch er hält sich tapfer. Sieben Jahre alt ist Kisimba bei der Einreise in die Schweiz im Jahr 2001 gewesen. "Doch etwa drei Jahre später hat Bern uns den Ausweis weggenommen - ich habe das alles nie ganz verstanden", führt er aus. In den letzten neun Jahren hat der Jugendliche an mehreren Orten des Kantons Luzern gewohnt. Zurzeit absolviert Kisimba die letzten Monate der 3. Oberstufe in einer Schule in der Stadt Luzern.

 5000 Papierlose in Luzern

 Kisimba ist ein Sans-Papier. Einer von rund 90 000 schweizweit, wobei die Schätzungen enorm auseinandergehen. Im Kanton Luzern vermutet das Sozialamt etwa 5000 Fälle. Jugendliche ohne Ausweis sind jedoch selten. Mit seinem Vater lebt der Teenager in einer Notunterkunft in Luzern. Wo genau, darf nicht geschrieben werden. "Auch aus Sicherheitsgründen", wie Ursula Stadelmann von der Notschlafstelle, die beim Gespräch dabei ist, anmerkt. Kisimbas Mutter ist an einer Krankheit gestorben, als dieser noch klein war. Das Vater-Sohn-Gespann lebt von der Nothilfe. Das bedeutet: Die beiden erhalten ein Dach über dem Kopf, und die Kosten für die Krankenversicherung werden übernommen. Zudem bekommt jeder Bargeld in der Höhe von 10 Franken pro Tag für Essen und andere Bedürfnisse. "Die Finanzen waren immer ein Problem, es ist schon sehr hart", sagt Kisimba. In seiner Freizeit betätigt sich der Jugendliche vor allem sportlich: "Ich bin in einem Fussballverein und viel mit Freunden zusammen."

 Studium wäre kein Problem

 Wie seine Mitschüler steht Kisimba unmittelbar vor dem Eintritt ins Berufsleben. Doch während das Schnuppern und sich Bewerben für eine Lehre für die anderen selbstverständlich ist, blieb dies dem Schwarzafrikaner zunächst verwehrt. Denn von Gesetzes wegen darf er ohne gültigen Ausweis zwar in die Schule gehen, aber nicht arbeiten. Auch wenn Kisimba ein guter Schüler ist: Für den Wechsel in die Kantonsschule - Studieren wäre legal - reicht sein Notendurchschnitt nicht aus. "Ein einziges Mal bin ich in eine Schnupperlehre gegangen. Plötzlich hiess es, dass ich nicht durfte. Das war hart für mich", blickt Kisimba zurück. Denn eine Lehre zu machen, liegt dem 16-Jährigen sehr am Herzen. Ihm schweben ganz bestimmte Berufsfelder vor: "Ich könnte mir eine Lehre vorstellen als Koch, beim Strassenbau oder im Detailhandel. Am besten etwas, wo man mit Leuten in Kontakt kommt. Für mich ist wichtig, dass mir der Beruf gefällt."

 Profitiert von Ausnahmeregelung

 Jetzt scheint sich nach langem Bangen Kisimbas Wunsch zu erfüllen - denn politisch ist Bewegung in die Sache gekommen. "Im Sinne einer Ausnahmeregelung unterstützen wir die Bemühungen von Kisimba und versuchen in Zusammenarbeit mit der kantonalen Dienststelle Soziales und Gesellschaft und dem Amt für Migration zu erwirken, dass er die entsprechenden Bewilligungen erhält", sagt Christian Spieler von der Sozialhilfe der Stadt Luzern. "Dies wegen der positiven Signale aus dem Ständerat sowie dem Lausanner Entscheid, Sans-Papiers in der städtischen Verwaltung eine Lehre zu ermöglichen" (siehe Kasten). Auch dazu beigetragen hätten die beiden eingereichten Postulate zum Thema in Kanton und Stadt Luzern. Da diese jedoch vom Regierungs- respektive vom Stadtrat noch nicht beantwortet worden sind, fehlt eine generelle gesetzliche Grundlage bis dato.

 Doch nun läuft ihm Zeit davon

 Dass er nun voraussichtlich mit Bewerbungen starten kann, freut Kisimba sehr. Auch wenn er wegen des fortgeschrittenen Zeitpunktes gewisse Zweifel hegt, dass es mit dem Finden eines Jobs noch vor dem Beginn des neuen Schuljahres klappt. Für diesen Fall bleibt ihm immer noch die Möglichkeit, das 10. Schuljahr zu besuchen. So oder so nimmt diese neue Perspektive ihm ein Stück seiner Sorgen. Denn seine spezielle Lebenssituation haben den Jugendlichen über viele Jahre psychisch sehr belastet: "Ich hatte grosse Ängste. Auch wegen einer möglichen Ausschaffung." Kisimba tupft sich aufkommende Tränen ab. Es gehe schon, "kein Problem", sagt er an Ursula Stadelmann gewandt. Und dann, gefasster: "Mittlerweile kann ich besser damit umgehen."

 Geflohen vor Krieg und Armut

 Sein Vater, mit dem er sich sehr verbunden fühlt, habe ihm dabei geholfen: "Er hat mir immer wieder Mut gemacht", erzählt Kisimba. Als Sans-Papier bleibt seinem Vater die Jobsuche und das Arbeiten verwehrt; er ist oft zu Hause. "Ihm geht es nur um mich. Er will, dass ich ein gutes Leben habe und versucht uns beide durchzubringen." Sein Vater, mit dem er sich auf Französisch, in der Muttersprache Singala oder aber auch auf Deutsch unterhalte, erzähle ihm viel vom Kongo. "Auch dort kann man ein schönes Leben führen, aber nur, wenn man finanziell gutgestellt ist", sagt Kisimba. Sein Vater sei mit ihm damals aus der Heimat fortgegangen - wegen des Krieges und der Armut. "So sind wir nach Europa gekommen und dann in die Schweiz, um eine Zukunft zu haben."

 Heikle Situation mit der Polizei

 In der Schulklasse fühlt sich der Teenager wohl. Die Lehrer und einige seiner Kollegen wissen von seiner Situation. "Es ist möglich, Freunde nach Hause einzuladen, aber dann muss ich ihnen natürlich alles erzählen. Das ist nicht immer einfach." Dass Kisimba seine Wohnadresse nicht jedermann nennen darf, hat auch schon zu Problemen geführt. Etwa als er im Zug einmal sein Abonnement nicht dabei hatte und er natürlich auch keine Ausweispapiere zur Identifizierung vorweisen konnte. Schliesslich konnte die Angelegenheit über einen Anruf bei der Polizei geklärt werden. Ein anderes Mal geriet er in eine Personenkontrolle. Dies, weil sich ein Kollege nicht korrekt verhalten hatte. Auch hier ging alles gut aus.

 "Ich bin zuversichtlich"

 Was wünscht sich Kisimba für die Zukunft? "Es wäre schön, wenn ich nun eine Lehrstelle finden könnte. Und längerfristig gesehen natürlich noch schöner, wenn es möglich würde, eine Aufenthaltsbewilligung zu erhalten." Wenn es mit der Berufsausbildung klappt, könnte sich der Kongolese durchaus vorstellen, wieder in seine Heimat zurückzukehren. "Ich bin zuversichtlich, dass alles gut kommt. Es besteht noch Hoffnung."

 Hinweis: * Name der Redaktion bekannt.

 david.schlaepfer@neue-lz.ch

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 Zugang zu Lehre soll erleichtert werden

 Über die Anzahl der Sans-Papiers in der Schweiz gibt es keine genauen Zahlen. Laut einer Studie des Bundesamtes für Migration leben schätzungsweise 90 000 Personen ohne Ausweispapiere in der Schweiz. Andere Studien kommen auf die doppelte Anzahl. Grob kann man Sans-Papiers in drei Hauptkategorien unterteilen: ehemalige Saisonniers, von ausserhalb von Europa stammende Arbeitsimmigranten mit niedriger Qualifikation sowie abgewiesene Asylsuchende.

 Die Problematik war während rund drei Jahrzehnten einer grossen Mehrheit der Schweizer nahezu unbekannt. 2001 schafften sich Sans-Papiers mit der Besetzung einer Kirche in Fribourg und einem Manifest national Gehör. Nach wie vor dürfen die Betroffenen nicht legal arbeiten. Heiraten ist zwar von Gesetzes wegen nicht verboten, faktisch aber sehr schwer bis unmöglich.

 Spezielle Lehrstellen schaffen

 Die Ankündigung des Lausanner Stadtrats, Jugendlichen den Zugang zu einer Lehrstelle in der Stadtverwaltung zu ermöglichen, hat diesen Februar für eine kontroverse Diskussion gesorgt. In seiner Sitzung vom 20. April hat eine knappe Mehrheit der Staatspolitischen Kommission des Ständerates zwei Motionen zu Gunsten von Sans-Papiers-Kindern und -Jugendlichen gutgeheissen und empfiehlt diese zur Annahme im Ständerat. Gefordert wurde, diesen einen Zugang zu Berufslehren sowie zu Krankenkassen und zur Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Auch Luzern soll prüfen, ob die Schaffung von Lehrstellen für jugendliche ohne geregelten Aufenthalt in der städtischen Verwaltung möglich ist. Dies wird in einem Postulat von Edith Lanfranconi-Laube (Grüne), Nina Laky (Juso) und Ylfete Fanaj (SP) und Désirée Stocker (Grünliberale) gefordert. Auf kantonaler Ebene ist ein Postulat von Heidi Rebsamen (Grüne) mit dem gleichen Ansinnen hängig. Zudem wurde im vergangenen November von Lathan Suntharalingam (SP) und anderen Unterzeichnenden eine Motion über die Einreichung einer Kantonsinitiative zum Thema eingereicht.

 Hinweis: Mehr Informationen gibt es bei http://www.sans-papiers.ch und http://www.asylnetz.ch

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NZZ 28.5.10

5 von 31 Härtefallgesuchen anders beurteilt

 Halbjahresbilanz der kantonalen Härtefallkommission

 Die kantonale Härtefallkommission hat im letzten Halbjahr 31 Härtefallgesuche beurteilt. In 26 Fällen teilte die Kommission die Einschätzung des Migrationsamts. 2 Gesuche hat Sicherheitsdirektor Hans Hollenstein positiv entschieden.

 vö. ⋅ Seit der konstituierenden Sitzung im November 2009 hat die kantonale Härtefallkommission an 6 Sitzungen 31 Fälle beurteilt. Wie der Regierungsrat im Rahmen einer Halbjahresbilanz am Donnerstag weiter mitteilte, hatte das Migrationsamt von sich aus ein Gesuch positiv und 30 Gesuche negativ beurteilt. Die Einschätzung der Härtefallkommission deckte sich in 26 Fällen mit jener des Migrationsamts.

 Ein Entscheid steht noch aus

 In 5 Fällen, die das Migrationsamt negativ beurteilt hatte, gelangte also die Kommission zu einer anderen Beurteilung. Gemäss Communiqué hat der zuständige Sicherheitsdirektor Hans Hollenstein inzwischen in 4 Fällen einen Stichentscheid gefällt. In 2 Fällen folgte er der Empfehlung der Kommission, in 2 weiteren Fällen entschied er sich gegenteilig. Für die beiden auch vom Sicherheitsdirektor positiv beurteilten Gesuche ist die abschliessende Zustimmung des Bundes noch ausstehend. Laut Pressemitteilung wird die Sicherheitsdirektion den 5. Fall erst entscheiden, wenn ihr die schriftliche Empfehlung der Härtefallkommission vorliegt. Weder der Präsident der Härtefallkommission, Harry Kalt, noch der Sicherheitsdirektor wollten zu den strittigen Fällen Auskunft geben. Wegen des Amtsgeheimnisses und aus Datenschutzgründen sei dies nicht möglich, sagte die Kommunikationsbeauftragte Jolanda van de Graaf auf Anfrage.

 Die Härtefallkommission prüft nur Fälle, in denen der negative Entscheid des Migrationsamts rechtlich nicht anfechtbar ist. Zu diesem Kreis gehören abgewiesene Asylbewerber und Asylsuchende mit einem Nichteintretensentscheid. Ausserdem zählen dazu Personen, die in der Schweiz noch nie ein Bewilligungsverfahren durchlaufen haben. Diese Beschränkung, die Fälle ausschliesst, die etwa durch Scheidung zu Sans-Papiers geworden sind, hat auch praktische Gründe: Da es im Kanton Zürich jährlich über 3000 entsprechende Härtefallgesuche gibt, wäre der Aufwand für die Kommission zu gross.

 Breit abgestütztes Gremium

 Die Idee einer Härtefallkommission brachte Hans Hollenstein Ende 2008 ins Spiel. Damals war mit der Besetzung der Zürcher Predigerkirche durch Sans-Papiers das Migrationsamt unter Beschuss geraten. Unter anderem mit dem Versprechen, ein unabhängiges Gremium zur Beurteilung der Härtefallgesuche einzusetzen, gelang es Hollenstein, die Wogen zu glätten. Vor einem Jahr beschloss der Regierungsrat die Wiedereinführung der 2002 abgeschafften Härtefallkommission. Im September folgte die Wahl des neunköpfigen Gremiums, dem die kantonale Beauftragte für Integrationsfragen, Julia Morais, sowie Vertreter der Kirchen, Hilfswerke und Gemeinden angehören.

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Tagesanzeiger 28.5.10

Nur zwei anerkannte Härtefälle

Häne Stefan

 Zürich - Linke Kreise haben vergeblich gehofft: Die Härtefallkommission ist nicht die grosse Gegenspielerin des kantonalen Migrationsamts. In den ersten sechs Monaten ihres Bestehens hat die Kommission 31 Fälle unter die Lupe genommen. In 26 davon ist sie zur gleichen Einschätzung wie das Migrationsamt gelangt: Sie hat das Gesuch um eine Härtefallbewilligung abgelehnt.

 Das Gremium beurteilt die Gesuche von abgewiesenen Asylbewerbern, von Sans-Papiers sowie Personen mit einem Nichteintretensentscheid (NEE). In fünf Fällen empfahl das Gremium in Abweichung vom Migrationsamt, das Gesuch gutzuheissen. Von diesen hat Hans Hollenstein (CVP) 2 Gesuche positiv und 2 negativ beurteilt; als Sicherheitsdirektor muss er von Gesetzes wegen den Stichentscheid fällen. Der fünfte Fall ist noch hängig. Einer der beiden abschlägigen Entscheide betrifft den 18-jährigen Kolumbianer Juan Montana, der wegen einer Hatz auf eine Zürcher Gymiklasse im Februar für Schlagzeilen gesorgt hat. Montanas Anwalt hat gegen den Entscheid Hollensteins Rekurs eingelegt.

 Nicht erhärten lässt sich anhand der neuen Zahlen die Vermutung der SVP, wonach das Gremium eine Ansammlung von Dienern der "Asylindustrie" sei. Präsident Harry Kalt (FDP), bis 2007 Gerichtspräsident am Bezirksgericht Dielsdorf, versichert denn auch, die neunköpfige Härtefallkommission sei nicht politisch gesteuert. (sth)

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NOTHILFE
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Bund 28.5.10

Sozialhilfe-Stopp bewegt nicht alle zur Ausreise

 Jeder siebte Asylbewerber mit negativem Entscheid bleibt in der Schweiz, obwohl der Bund für das tägliche Leben bloss acht Franken zur Verfügung stellt. Die SVP möchte Hilfswerke bestrafen, die Menschen mit Nothilfe zusätzlich unterstützen.

 David Schaffner

 Wer sich mit acht Franken pro Tag durchschlagen muss, kehrt dem vermeintlichen Paradies Schweiz den Rücken zu und kehrt in seine Heimat zurück. Mit dieser Massnahme wollte der frühere Bundesrat Christoph Blocher jene Asylsuchenden zur Ausreise bewegen, die trotz ablehnendem Entscheid hier blieben und teilweise jahrelang von der Sozialhilfe lebten. Seit Anfang 2008 erhalten alle Asylsuchenden mit negativem Entscheid nur noch Nothilfe von rund acht Franken pro Tag. Für jene Flüchtlinge, auf deren Gesuch der Bund gar nicht erst eintritt, gilt der Sozialhilfe-Stopp bereits seit April 2004.

 Eine Studie des Bundesamtes für Migration (BFM) zeigt nun, dass trotz der Reduktion auf Nothilfe viele Personen in der Schweiz bleiben: Rund 30 Prozent der insgesamt 4699 Nothilfe-Bezüger aus dem zweiten Quartal 2009 haben ihren negativen Entscheid bereits 2005 oder früher erhalten. Sie leben also trotz Nothilfe seit vier Jahren oder länger in der Schweiz. Bei fast der Hälfte der Fälle (44 Prozent) datiert der Entscheid aus der Zeit vor 2008. Von sämtlichen Personen, die seit 2004 Nothilfe erhalten haben, haben indes 85 Prozent laut der Studie das Land verlassen.

 Alte und Frauen bleiben länger

 "Ein Wundermittel ist der Soziahilfe-Stopp nicht", sagt daher BFM-Direktor Alard du Bois-Reymond. "Insgesamt bewerten wir die Massnahme positiv." Der Sockel von 15 Prozent Langzeitbezüger lasse sich dadurch erklären, dass diese Menschen - unter anderem wegen langer Asylverfahren - schon länger hier seien und teilweise früher Sozialhilfe bekommen hätten. "Wer schon seit Jahren in der Schweiz ist, hat ein Netzwerk aufgebaut und sich mit der Situation arrangiert", erklärt du Bois-Reymond.

 Andere Personen blieben länger in der Schweiz, weil sie Mangels Kooperation ihres Herkunftslandes gar nicht zurückgeschafft werden könnten oder weil noch Rechtsbegehren hängig seien. Generell stellt die Studie fest, dass ältere Menschen, Frauen und Familien länger in der Schweiz blieben.

 Eine weitere Ursache für das unerwartet lange Verharren mit bloss acht Franken täglich könnte das Engagement von Privatpersonen oder kleinen Hilfswerken sein, die den abgewiesenen Asylsuchenden verschiedene Hilfsleistungen zukommen lassen. "Es besteht die Problematik, dass gewisse Kreise die Nothilfe-Massname unterwandern", sagt du Bois-Reymond. "Wir werden dieses Phänomen genauer anschauen." Ein Verbot wäre laut du Bois-Reymond indes "unverhältnismässig".

 Anders sieht dies SVP-Nationalrat Hans Fehr: "Wer Abgewiesenen hilft, verstösst gegen das Gesetz und muss mit Busse bestraft werden. Wenn Hilfswerke mit Subventionen Hilfe leisten, müssen wir ihnen die Gelder kürzen." Wenn die Subventionen zweckgebunden seien, hält dies auch du Bois-Reymond für gerechtfertigt.

 SP sieht christliche Tradition

 Kein Verständnis für solche Zwangsmassnahmen hat SP-Nationalrat Andy Tschümperlin: "Menschen in Not zu helfen, ist eine christliche Tradition." Er wie auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe interpretieren die hohe Zahl der Langzeitbezüger anders: "Es sind Menschen, die tatsächlich und begründet Angst davor haben, in ihre Heimat zurückzukehren", sagt Tschümperlin. Er verlangt daher, dass der Bund diesen Menschen eine Chance gibt, zu bleiben.

 Grosse Unterschiede stellt das BFM zwischen den Kantonen fest: Während in der Waadt und Zürich (siehe Box und Grafik) sehr viele leben, ist ihre Anzahl in Bern durchschnittlich hoch. In den nächsten Monaten diskutiert das Amt neue Massnahmen, um auch die Langzeitbezüger zur Ausreise zu bewegen.

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Kritik vom Chef des Bundesamts für Migration

 Zürich kontert die Vorwürfe aus Bern

 Laut BFM-Chef Alard du Bois-Reymond hat Zürich das schlechteste Nothilferegime aller Kantone. Das Zürcher Sozialamt weist die Kritik entschieden zurück.

 Daniel Foppa

 Die Vorwürfe sind happig. Alard du Bois-Reymond, Direktor des Bundesamts für Migration (BFM), sagte am Mittwochabend in der "Rundschau" des Schweizer Fernsehens: "Die Kantone haben beim Nothilferegime einen Handlungsspielraum. Zürich ist leider im Vergleich zwischen den Kantonen der schlechteste Kanton."

 Tatsächlich zeigt die gestern publizierte Studie, dass Zürich zusammen mit der Waadt die höchste Quote von Langzeit-Nothilfebezügern hat: So waren in beiden Kantonen 36 Prozent der Nothilfebezüger bereits seit mindestens vier Jahren rechtskräftig abgewiesen.

 In Zürich hält man gar nichts von der Kritik aus Bern. "Herr du Bois-Reymond ist neu im Amt. Er kennt die Materie zu wenig", sagt Ruedi Hofstetter, Chef des kantonalen Sozialamts. Laut Hofstetter führen verschiedene Faktoren dazu, dass sich abgelehnte Asylbewerber in Zürich länger gegen eine Ausreise wehren als anderswo. "Zürich ist mit seinen Agglomerationen attraktiv für diese Personen. Hier treffen sie in kurzer Fahrdistanz auf ein Netzwerk von Bekannten und Hilfsorganisationen." Es bringe nichts, die Nothilfe weiter zu kürzen. "In die Lücke würden sofort Unterstützungskomitees springen", sagt Hofstetter.

 Der Amtschef betont, dass Zürich in mehreren Bereichen strenger sei als andere Kantone: "Ein Teil der abgewiesenen Asylbewerber muss alle sieben Tage die Nothilfe neu beantragen und die Unterkunft wechseln." Zudem erhalten die Nothilfebezüger kein Bargeld, sondern Essensgutscheine. Doch auch solche Massnahmen wirkten beschränkt: "Man kann ihnen auch alles streichen. Sie bleiben trotzdem hier", sagt Hofstetter.

 Es fehlt der Platz

 Von den rund 1200 rechtskräftig abgewiesenen Asylbewerbern im Kanton Zürich leben etwa 600 in Nothilfe-Unterkünften und 180 in Ausschaffungs- oder Untersuchungshaft. Gut 400 Personen - vor allem Familien - sind hingegen wegen fehlender Plätze in den Nothilfe-Unterkünften in den Gemeinden untergebracht. Dort erhalten sie normale Unterstützung nach Asylansätzen. Müsste der Kanton nicht zusätzliche Liegenschaften zur Verfügung stellen, damit auch diese Leute auf Nothilfe gesetzt werden können?

 "Wir finden keine weiteren Unterkünfte", sagt Hofstetter. Zivilschutzanlagen seien zum Beispiel in Gemeindebesitz. Und diese wehrten sich durch alle Instanzen hindurch, wenn der Kanton in ihrem Ort eine Nothilfe-Unterkunft einrichten wolle.

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NLZ 28.5.10

Asylwesen

 Nothilfekonzept ist laut Flüchtlingshilfe gescheitert

 Für abgewiesene Asylbewerber gibts bloss zu essen, ein Bett und Notfallmedizin. Für viele ist dies immer noch besser als eine Rückkehr.

 sda/kä. Seit dem 1. Januar 2008 erhalten abgewiesene Asylbewerber nur noch Nothilfe anstatt Sozialhilfe. Sie kriegen zu essen, ein Dach über dem Kopf, Kleider und eine medizinische Notfallversorgung. Das Ziel der verschärften Praxis: Wer in der Schweiz nicht als Flüchtling anerkannt ist, soll das Land möglichst rasch wieder verlassen. Doch die Nothilfe entfaltet nicht eine so stark abschreckende Wirkung, wie ursprünglich erwartet. Zu diesem Fazit kommt der Bericht "Langzeitbezug von Nothilfe durch weggewiesene Asylsuchende", der im Auftrag des Bundesamtes für Migration (BFM) erstellt und gestern veröffentlicht wurde. Weggewiesene Asylbewerber würden die beiden Optionen Nothilfe und Rückkehr gegeneinander abwägen. "Die Nothilfe bietet zum Teil mehr, als sie in ihrem Heimatland erwarten können", so die Autoren. Offenbar spielt auch die Angst vor dem Gesichtsverlust bei einer Rückkehr eine Rolle.

 15 Prozent bleiben

 In Zahlen heisst das: 293 (15 Prozent) der 1952 Asylbewerber, die im ersten Halbjahr 2008 einen rechtskräftigen Abweisungsentscheid erhalten haben, befanden sich im zweiten Quartal 2009 trotz Nothilfe noch in der Schweiz. Zu diesen Personen gesellen sich die so genannten "Langzeitbezüger". Im zweiten Quartal 2009 bezogen laut der Studie 4699 Personen Nothilfe.

 Davon wiesen 2093 (44 Prozent) einen Wegweisungsentscheid auf, der vor 2008 rechtskräftig wurde; bei 1413 Personen (30 Prozent) datiert der Entscheid aus dem Jahr 2005 oder früher. Das Fazit der Studie: "Der Sozialhilfestopp hat den dauerhaften Verbleib einer Minderheit der Weggewiesenen nicht verhindert." Zur Dauer des Nothilfebezugs trug als wesentlicher Faktor auch das Herkunftsland bei. Zudem sind sich diese Abgewiesenen bewusst, dass sie eine Heimschaffung durch nicht kooperatives Verhalten behindern können. Hinzu kommen die kantonale Wegweisungspraxis und die individuelle Situation der Abgewiesenen. So bleiben Alte, Frauen, Paare und Familien trotz Nothilfe länger.

 Dass Personen länger bleiben und sich mit Nothilfe begnügen, hängt ferner von hängigen Rechtsmitteln ab. Zudem verzeichnen Kantone mit liberalerer Härtefallpraxis und grösseren Sympathien für Asylbewerber in der Zivilgesellschaft längere Aufenthalte. Nicht zuletzt spielt der Erfolg des Bundes bei der Rückführungspolitik eine Rolle. Meist finden sich die Langzeitbezüger in grösseren Kantonen und Agglomerationsgemeinden.

 Allerdings hätten die Kantone Einfluss, im Rahmen der Nothilfe auf die Zahl der Langzeitbezüger einzuwirken. Zwei Handlungsmöglichkeiten der Kantone ortet die Studie im Zusammenspiel von Kooperationsanreizen und Sanktionen. Zudem schlägt sie genügend Haftplätze sowie ausreichend Polizeieinsätze bei Zuführungen zu Identitätsabklärungen vor.

 Flüchtlingshilfe übt Kritik

 Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) interpretiert die Studienergebnisse als Scheitern des Nothilfekonzepts. Sprecher Adrian Hauser: "Es ist nicht erwiesen, dass damit mehr abgewiesene Asylbewerber ausreisen. Die Nothilfe trifft vor allem die verletzlichen Personen, Frauen, Kinder, Betagte, hart. Die Kinderrechte sind nicht gewahrt, weil es kein Recht auf Schulbesuch für die betroffenen Kinder gibt." In einer gemeinsamen Stellungnahme halten SFH, Amnesty International Schweiz, Solidarité sans frontières und die Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht fest, "dass die Nothilfe offensichtlich für immer mehr abgewiesene Asylsuchende zu einem menschenunwürdigen Dauerzustand wird".

 Nothilfe: Link zur Studie unter www.zisch.ch/bonus

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Nothilfe: Studie "Langzeitbezug von Nothilfe durch weggewiesene Asylsuchende
http://www.bfm.admin.ch/etc/medialib/data/migration/asyl_schutz_vor_verfolgung/sozialhilfe.Par.0013.File.tmp/ber-langzeitbezug-nothilfe-d.pdf

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20 Minuten 28.5.10

Jeder 7. Abgewiesene reist nicht aus

 BERN. Trotz Nothilfe reist fast jeder siebte abgewiesene Asylbewerber nicht aus. Bei diesen 15 Prozent müssen die Kantone damit rechnen, sie als Langzeitbezüger zu behalten. Die seit zwei Jahren geltende Nothilfe in Form von Lebensmitteln, Notunterkunft und Notfallmedizin habe ihr Ziel damit nicht voll erreicht, so eine vom Bundesamt für Migration in Auftrag gegebene Studie. Für die 15 Prozent, die trotz Nothilfe bleiben, stelle die Rückkehr in die Heimat die abschreckendere Variante dar. Die Gründe dafür seien allerdings in der Schweiz nicht asylrelevant. Kantone und Bund prüfen nun Massnahmen.

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AUSSCHAFFUNG
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Bund 31.5.10

Stopp der Ausschaffungsflüge verschärft Situation in Gefängnissen

 Die Pläne für ein Containergefängnis in Witzwil bleiben auch nach grünem Licht für Sonderflüge pendent.

 Anita Bachmann

 Die Gefängnisse im Kanton Bern sind so voll, dass der zuständige Polizeidirektor Hans-Jürg Käser (FDP) Pläne für ein Containergefängnis ausarbeiten liess. "Die Platzsituation ist prekär", sagt Käser. Die Anstalten und Regionalgefängnisse sind gegen hundert Prozent voll, in anderen Kantonen zum Teil sogar über hundert Prozent. "Die Pläne für das Containergefängnis liegen pfannenfertig in der Schublade", sagt Käser. Geplant sind 38 zusätzliche Gefängnisplätze in Containern, die auf dem Areal der Anstalten Witzwil aufgestellt würden ("Bund" vom 19. April). Aufgebaut und in Betrieb genommen werden könnte das Containergefängnis innert sechs Monaten. Kosten soll es 900 000 Franken, ein Betrag, welcher in der alleinigen Kompetenz der Regierung liegt.

 Wenn die Ausschaffungsflüge für abgewiesene Asylsuchende in den nächsten Monaten nicht wieder aufgenommen würden, müssten die Pläne für das Containergefängnis realisiert werden, sagte Käser noch vor kurzem. Dann würde er mit dem Vorhaben noch vor den Sommerferien in die Regierung gehen. Vorletzten Freitag gab das Bundesamt für Migration (BFM) grünes Licht, die Ausschaffungsflüge wieder aufzunehmen. Laut BFM sollen die ersten Flüge in drei bis vier Wochen durchgeführt werden. Das dürfte auch in den Berner Gefängnissen zu einer gewissen Entspannung der Situation führen. Gestoppt wurden die Flüge, nachdem am 17. März ein Nigerianer auf dem Flughafen Kloten kurz vor dem Ausschaffungsflug gestorben war.

 20 Prozent sind Nigerianer

 Das Ausschaffungsgefängnis mit knapp 40 Plätzen befindet sich im Kanton Bern in den Anstalten Witzwil. Laut Migrationsdienst sind zurzeit 85 Personen in Ausschaffungshaft; wer in Witzwil nicht Platz hat, sitzt in den Regionalgefängnissen. Ab sofort könne der Kanton Bern nun wieder Ausschaffungshäftlinge für Sonderflüge anmelden, ausser für Nigeria, sagt Florian Düblin, Leiter des kantonalen Migrationsdienstes. Gesamtschweizerisch machen die nigerianischen Staatsangehörigen 20 Prozent der Ausschaffungshäftlinge aus, sagt Urs von Arb vom BFM. Dass nach wie vor keine Nigerianer ausgeflogen werden könnten, bezeichnet er als Einschränkung. Im Kanton Bern befinden sich im Moment 14 Nigerianer in Ausschaffungshaft.

 Ob die Sistierung der Ausschaffungsflüge zu einem Rückstau in den Gefängnissen geführt habe, sei schwierig zu beurteilen, sagt von Arb. Letztes Jahr seien mit 43 Sonderflügen 360 Personen ausgeschafft worden. Ein Stopp von zwei Monaten sei deshalb vermutlich nicht so schlimm. Auch im Kanton Bern sei dies schwierig einzuschätzen, weil Personen zum Teil nur kurzfristig in Haft genommen würden, um sie einer Delegation vorzuführen, und auch immer wieder Leute entlassen würden, sagt Claudia Ransberger vom kantonalen Migrationsdienst. Zudem sässen viele sogenannte Dublin-Fälle in Ausschaffungshaft, die unabhängig von Flügen in Drittstaaten ausgeschafft würden. Vor dem Stichtag des Todesfalls des Nigerianers sassen mit 75 Ausschaffungshäftlingen 10 Personen weniger in Berner Gefängnissen ein als aktuell. In der Ungewissheit darum, wann Nigerianer überhaupt wieder ausgeflogen werden könnten, sei man im Kanton Bern zurückhaltend, solche Personen zurzeit in Haft zu nehmen, sagt Florian Düblin. Im Gegensatz zum Kanton Waadt wurden im Kanton Bern aber keine Nigerianer aufgrund des Flugstopps aus der Haft entlassen.

 Auf Druck der Kantone

 Unabhängig von der Entwicklung im Asylwesen bleibt die Planung für ein Containergefängnis pendent. Die Pläne hätten nur indirekt mit den Ausschaffungsflügen zu tun, sagt Käser. Auch die zusätzlichen Haftplätze, die im neuen Regionalgefängnis Burgdorf entstehen, seien nicht explizit für die Ausschaffungshaft vorgesehen.

 Kritik übt der Menschenrechtsverein Augenauf an den Plänen für das Containergefängnis. "Wir befürchten, dass die Bedingungen für Ausschaffungshäftlinge in einem solchen Provisorium noch schlechter sind", sagt Karin Jenni von Augenauf Bern. Als unhaltbar bezeichnet sie die Wiederaufnahme der Ausschaffungsflüge, besonders weil die Untersuchungen zum Todesfall des Nigerianers noch nicht abgeschlossen seien. Dieses Vorgehen zeige, dass weitere Todesfälle bei Ausschaffungen in Kauf genommen werden. Man gehe davon aus, dass auf Druck der Kantone das BFM grünes Licht zur Wiederaufnahme der Sonderflüge gegeben habe.

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Landbote 28.5.10

Bilanz 2009: Ausschaffung von 5886 Ausländern

 2009 hat die Polizei rund 5886 Personen via Flughafen Zürich zwangsausgeschafft.

 Zürich - 292 der ausgeschafften Personen haben sich dabei mit Händen und Füssen gewehrt und wurden daraufhin besonders stark gefesselt und in ein Sonderflugzeug gesetzt.

 Das Asylgesetz schreibt vor, dass Personen, deren Asylgesuch abgelehnt wurde oder sich illegal in der Schweiz aufhalten, das Land verlassen müssen. Geschieht dies freiwillig, werden die Betroffenen durch die Polizei bis zum Flugzeug begleitet, das sie darauf alleine besteigen. Falls sich diese derart widersetzen, dass diese Form der Rückführung nicht möglich ist, werden sie gefesselt und von zwei Polizisten in einem Linienflug begleitet. Wenn die alleinige Begleitung durch Polizisten nicht ausreicht, werden renitente Personen "in einem Sonderflug mit einer verstärkten Fesselung zurückgeführt". Dies war im vergangenen Jahr in rund fünf Prozent der Zwangsausschaffungen der Fall, wie gestern der Zürcher Regierungsrat in einer veröffentlichten Antwort auf eine Interpellation aus dem Kantonsrat schreibt.

 "Verstärkte Fesselung" bedeutet etwa, dass renitente Personen auf einem Rollstuhl festgebunden und zum Flugzeug transportiert werden. "Je nach Verhalten" werden ihnen Fuss-, Knie-, Arm- und Handfesseln sowie ein Kopfschutz angezogen. Wie es weiter heisst, wurden von 2006 bis heute ab Zürich 111 Sonderflüge mit insgesamt 1282 Personen durchgeführt. Diese Flüge seien von der Kantonspolizei Zürich organisiert und grösstenteils auch begleitet worden. (sda)

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NZZ 28.5.10

"Verstärkte Fesselungen"

 Regierungsrat legt Zahlen zu Ausschaffungen vor

 rsr. ⋅ Im vergangenen Jahr mussten 5886 Personen aus der ganzen Schweiz über den Flughafen Zürich ausgeschafft werden. Zeigen sie sich für eine normale Rückführung - gefesselt und von zwei Polizisten in einem Linienflug begleitet - zu renitent, werden sie per Sonderflug mit "verstärkter Fesselung" ausgeschafft. Wie der Regierungsrat in Beantwortung einer Interpellation erklärt hat, betraf dieses Vorgehen 2009 knapp 5 Prozent (292 Personen).

 Moskitohutnetze gegen Spucke

 Die "verstärkte Fesselung" war laut Regierungsrat besonders im Hinblick auf solche Sonderflüge entwickelt und ärztlich überprüft worden und kennt unterschiedliche Eskalationsstufen: "Je nach Verhalten der Rückzuführenden werden ihnen Fuss-, Knie-, Arm- und Handfesseln angezogen." Auch ein Helm zum Schutz vor Stürzen zählt zum Sortiment sowie - sollte der Gefesselte andere bespucken - ein Moskitohutnetz. Im Flugzeug könnten die Fesseln dann gelockert werden. Ein Arzt überprüfe zudem vor dem Flug die Transportfähigkeit; eine medikamentöse Ruhigstellung der Häftlinge sei aber in allen Fällen verboten, schreibt die Regierung weiter.

 Kanton bereitet alle Flüge vor

 Die Interpellation war von Vertretern der AL und der Grünen nach dem Tod eines 29-jährigen Ausschaffungshäftlings aus Nigeria vor einem derartigen Flug Mitte März eingereicht worden. Die Sonderflüge waren danach vom Bundesamt für Migration eingestellt worden, sind aber seit Ende letzter Woche wieder zulässig (NZZ 22. 5. 10). Die Kantonspolizei Zürich führt jeweils die Flugvorbereitung, zu der auch die Fesselung zählt, im Auftrag des Bundes für alle Kantone am Flughafen durch. Für den Transport nach Kloten und die Begleitung während des Fluges sind jedoch die einzelnen Kantone zuständig.

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REVOLTE BS
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Basler Zeitung 31.5.10

Stadtentwickler an Konzert verletzt

 Basel. Thomas Kessler verzichtet nach Angriff von Schlägern auf Anzeige

 Alan Cassidy

 Stadt- und Kantonsentwickler Thomas Kessler wurde an einem Konzert in der Villa Rosenau von Schlägern angegriffen und verletzt.

 Eigentlich wollte sich Thomas Kessler am Freitagabend in der besetzten Villa Rosenau bloss ein Konzert anhören - privat und auch nicht zum ersten Mal, wie er sagt. Doch der Abend endete nicht wie geplant: Mehrere Personen pöbelten ihn an und schlugen auf ihn ein. Der Leiter der Abteilung Kantons- und Stadtentwicklung im Präsidialdepartement bestätigt einen Bericht der "Sonntags-bz".

 Bei den Angreifern handle es sich um etwa sieben Leute, von denen einige offenbar früher in der Villa Rosenau gewohnt hätten, sagt Kessler zur BaZ. Die Täter hätten nicht genau gewusst, wer er sei, hätten ihn aber als Staatsangestellten erkannt und als "Behördensau" beschimpft. Als sie ihn aufforderten, die Villa Rosenau zu verlassen, habe er "dagegengehalten": "Ich wollte wissen, was ihre Motivation ist, mich hinauszuwerfen." Der Versuch, die Angreifer in eine Diskussion zu verwickeln, schlug fehl. Nachdem Kessler, der mehrere Kampfsportarten beherrscht, durch einen Faustschlag ins Gesicht leicht verletzt wurde, nahm er ein Taxi und ging. "Dem Frieden zuliebe", wie er sagt.

 Kessler betont, er wolle den Vorfall auf keinen Fall hochspielen. Den anderen Konzertbesuchern sei die Szene sehr unangenehm gewesen, niemand habe sich mit den Schlägern solidarisiert. Auf eine Anzeige verzichtet Kessler, weil diese eine "politische Komponente" hätte und ein "falsches Signal" gegenüber der Hausbesetzerszene setzen würde. Der Angriff der Schläger habe sich "gegen den Staat" gerichtet.

 Debatte

Ein Angriff gegen ein Behördenmitglied, Chaotenzüge durch die Innenstadt - im Gespräch sucht Kessler nach Erklärungen für die Gewaltbereitschaft in Teilen der autonomen Szene. Es herrsche Diskussionsbedarf: Die Forderungen der Hausbesetzer nach Freiräumen müssten ernst genommen, die gesellschaftliche Debatte mit allen Beteiligten verstärkt werden. Deshalb verschanze er sich nicht hinter dem Schreibtisch, sondern suche als Exponent des Staats das Gespräch mit den Betroffenen. Das will Kessler auch weiterhin tun. Und: Konzerte in der Villa Rosenau werde er wieder besuchen.

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20 Minuten 31.5.10

Stadtentwickler kassierte Prügel

 BASEL. Linksautonome schlugen den obersten Basler Stadtentwickler, als er ein Konzert in der Villa Rosenau besuchte. Thomas Kessler nimmts gelassen.

 Eine geschwollene Oberlippe ist das Andenken, das Thomas Kessler von seinem Besuch in der Villa Rosenau am Freitagabend mitnahm: Einige Linksautonome hatten etwas gegen seine Anwesenheit und versuchten, ihn mit Gewalt auszuschliessen, was auch gelang. Die Begründung: Er sei ein Staatsdiener. "So etwas habe ich dort noch nie erlebt", sagt Kessler, der öfters in der Rosenau Konzerte besucht. Der Vorfall wurde denn auch vom Rest des Publikums und den Organisatoren absolut nicht goutiert. Das Opfer nimmt die Pöbelei aber gelassen und verzichtet auf eine Anzeige, wie er zum "Sonntag" sagte. Zu verteidigen hätte sich der in Kampfkunst bewanderte Kessler zwar gewusst. "Das hätte aber den Anlass ruiniert", glaubt er.

 Kessler beschäftigt aber, dass es Gruppen gibt, die zu Gewalt greifen, wie etwa an den beiden Saubannerzügen diesen Monat. "Gerade die kritischen Stimmen in der Debatte über die Yuppiesierung einzelner Stadtteile muss man ernst nehmen", fordert er. Hinter den Gewaltausbrüchen auch gegen seine Person ortet er Ängste vor Veränderungen.

 Zum Diskutieren hatten die Schläger vom Freitag aber keine Lust. "Denen ging es nur um den Gewaltakt", glaubt Kessler. Die Lippe ist derweil bereits wieder am Abschwellen.  

Lukas Hausendorf

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Sonntag 30.5.10

Auf Stadtentwickler eingeschlagen

 Angepöbelt, herumgeschubst, ins Gesicht geschlagen: Links- autonome sind auf Thomas Kessler losgegangen

 Thomas Kessler hat Glück gehabt. Glück im Unglück. Der Basler Stadtentwickler hat nur eine verletzte Oberlippe davon getragen. "In zwei Tagen sieht man davon nichts mehr." Kessler versucht, den Vorfall gelassen zu nehmen. "Ich möchte das Ganze nicht überbewerten. Wer sich in seinem Amt exponiert, muss auch mal mit so etwas rechnen." Und dennoch: Nach den Ausschreitungen vom 1.Mai und den schweren Vandalenakten in der Freien Strasse vor Pfingsten ist es auch an diesem Wochenende erneut zu Gewalt aus der linksautonomen Szene gekommen.

 Freitagabend. Villa Rosenau. Kessler besucht hier ein Konzert. Auch aus beruflichen Gründen ist der ehemalige Integrationsbeauftragte an der städtischen Jugendkultur interessiert. "Es war eine tolle Atmosphäre", schwärmt Kessler auch gestern noch. Aber nicht allen Gästen passt die Anwesenheit des Staatsdieners. Sieben Personen aus der Hausbesetzerszene pöbeln Kessler an, verweigern jede Diskussion. Kessler sei "in ihrem Gesichtsfeld unerwünscht". "Sie wussten offensichtlich gar nicht, wer ich bin. Wussten nur, dass ich beim Staat arbeite."

 Dem "Frieden zuliebe" geht Kessler vor die Tür. Dort aber geht der Streit weiter. Alkohol ist im Spiel. Kessler wird weiter angepöbelt, herumgeschubst. Es folgt ein Schlag ins Gesicht. "Den Organisatoren sowie dem übrigen Publikum war die Szene sichtlich unangenehm. Einige versuchten zu schlichten." Kessler will den Vorfall keinesfalls hochspielen. Er verlässt das Areal. Bald darauf verziehen sich auch die Schläger: "Sie scheinen gemerkt zu haben, dass ihre Selbstinszenierung beim Publikum nicht gut ankam."

 Auch Stadtentwickler Kessler selber sieht den Vorfall vom Freitagabend im Zusammenhang mit den Saubannerzügen von Anfang und Mitte Monat: "Das Ganze gehört in die Debatte der ‹Modernisieruns-Kritik›, die seit Jahren geführt wird und nun hochkommt." Es gehe um ein romantisches Weltbild des Bewahrens. Dabei seien es nur ganz wenige, die tatsächlich Gewalt ausübten. Die grosse Mehrheit sei diskussionsbereit.

 Die Vorfälle zeigten vorab, wie wichtig es sei, dass die Diskussion nun verstärkt geführt wird. Auf eine Anzeige will Kessler denn auch verzichten. "Wir lösen die Jugendprobleme sicher nicht repressiv. Dies kann nur eine letzte Massnahme sein", ist Kessler überzeugt. Und nochmals: "Es braucht die Debatte."Daniel Ballmer

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Sonntag 30.5.10

"Ich kann verstehen, dass einem Geschäftsbesitzer der Kragen platzt"

 Der Basler Datenschutzbeauftragte Beat Rudin pocht auf die gesetzlichen Grundlagen der Videoüberwachung

Von Bojan Stula

 Nach den schweren Vandalenakten am 1.Mai und vor Pfingsten wird wieder der Ruf nach mehr Überwachungskameras laut. Der Basler Datenschutz stellt aber die Sinnfrage.

 Beat Rudin, nach den jüngsten Vandalenakten in der Basler Innenstadt ist der Ruf nach stärkerer Videoüberwachung wieder aufgekommen. Lassen sich die Forderungen mit dem Datenschutz vereinbaren?

 Beat Rudin: Ich kann verstehen, dass einem betroffenen Geschäftsbesitzer der Kragen platzt und der Ruf nach Massnahmen laut wird. Ob Videoüberwachung die richtige Lösung ist, das muss aber noch genau angeschaut werden. Ausserdem ist Videoüberwachung nicht gleich Videoüberwachung.

 Wie meinen Sie das?

 Wenn die Kameras bloss einen Überblick verschaffen und auf den Aufnahmen keine Personen oder Fahrzeuge zu identifizieren sind, wenn man also nur feststellen kann, dass eine Menschengruppe sich in der Streitgasse Richtung Freie Strasse bewegt, dann ist das etwas anderes, als wenn man auf den Aufnahmen erkennen kann, dass Sie mit dem Chefredaktor einer Konkurrenzzeitung oder der Frau Ihres Chefs durch das Pfeffergässlein gehen. Aus Datenschutzsicht relevant ist die zweite Variante, weil hier eben Personendaten bearbeitet werden. Ausserdem ist es nicht dasselbe, ob die Aufnahmen bloss aufgezeichnet und nur in bestimmten Fällen später ausgewertet werden oder ob sie in einer Zentrale online ausgewertet werden und nötigenfalls Sicherheitsleute alarmiert werden können.

 Was sagen Sie denn nun zur Forderung nach einer flächendeckenden Videoüberwachung in Basel?

 Vielleicht müssen wir zur Abgrenzung auf eine weitere Unterscheidung hinweisen: Nur wenn Behörden des Kantons oder der Gemeinden Daten bearbeiten, ist das kantonale Datenschutzgesetz anwendbar und der kantonale Datenschutzbeauftragte für die Aufsicht zuständig. Wenn Private wie etwa Geschäftsinhaber eine Videoüberwachung betreiben, müssen sie sich an das Bundesdatenschutzgesetz halten. Dort gibt es aber im Unterschied zu kantonalen Gesetzen keine separate Bestimmung zur Videoüberwachung. Klar ist, dass private Videoüberwachung nicht in den öffentlichen Raum "hinausschauen" darf.

 Bleiben wir bei der Videoüberwachung durch kantonale Behörden: Welche Zugeständnisse beim Thema Videoüberwachung in Basel wären Sie als Datenschützer bereit einzugehen?

 (lacht) Halt, es ist nicht Sache des Datenschutzbeauftragten zu sagen, wie weit Videoüberwachung gehen darf! Wie viel Überwachung es in Basel geben soll und darf, das ist ein Frage, welche politisch zu entscheiden ist. Videoüberwachung muss den gesetzlichen Vorgaben entsprechen, und die werden im politischen Entscheidverfahren von Regierung und Parlament festgesetzt und vielleicht sogar vom Stimmvolk entschieden.

 Gerade nach Vandalenakten wie am Freitag vor Pfingsten fordert die Öffentlichkeit empört ein härteres Durchgreifen. Wenn die Mehrheit der Öffentlichkeit für eine härtere Gangart ist, dann kann man doch auch bedenkenlos die Videoüberwachung verstärken, oder? Oder gilt für den Datenschutz das demokratische Mehrheitsprinzip nicht?

 Doch, und die Mehrheit im Grossen Rat hat 2004 den Videoüberwachungs-Paragraphen ins Datenschutzgesetz eingefügt. Das Referendum wurde nicht ergriffen, weil die Öffentlichkeit offenbar mit dieser Regelung einverstanden war. Seither gelten diese Vorgaben und sie verlangen für Videoüberwachung eine gesetzliche Grundlage. Diese gesetzliche Grundlage fehlt zurzeit für eine flächendeckende Videoüberwachung - wobei noch zu diskutieren wäre, was unter "flächendeckend" verstanden wird: Soll wirklich jedes Gässlein und jede Strassenecke im Kanton gefilmt werden? Wenn es einen flächendeckenden Ausbau der Videoüberwachung geben sollte, müsste der Gesetzgeber zuerst die Grundlage in einem Gesetz schaffen. Der Basler Grosse Rat hat das Thema bei der Beratung des Informations- und Datenschutzgesetzes in der Juni-Sitzung auf dem Tisch. Ich persönlich hoffe nur, dass die Videoüberwachungsfrage die Einführung des Öffentlichkeitsprinzips und die längst fällige Revision der Datenschutzvorschriften nicht allzu sehr verzögert.

 Wo liegen die konkreten Gefahren einer flächendeckenden Videoüberwachung?

 Staatliche Videoüberwachung muss wie jedes staatliche Handeln nicht nur eine gesetzliche Grundlage haben, sondern sie muss auch verhältnismässig sein. Sie darf also nicht mehr tun, als nötig ist, damit der Zweck noch erreicht werden kann. Da wird schnell klar: Muss oder soll die Polizei von Ihnen jederzeit wissen, mit wem Sie sich - schon wieder! - wo im öffentlichen Raum aufhalten, wohin Sie gehen? Soll Sie erkennen, wo Sie einkaufen, zu welcher Ärztin Sie gehen, wann Sie von einem Restaurantbesuch zurückkehren- und vielleicht auch in welchem Zustand? Ich denke, das ist nicht das Bild vom Staat, in welchem wir gerne leben möchten.

 Gegen Überwachungskameras können nur jene sein, die etwas zu verbergen haben, sagen die Befürworter. Was sagt der Datenschutzbeauftragte?

 Diese naive Behauptung wird durch die Wiederholung nicht wahrer. Hand aufs Herz: Gibt es in Ihrem Leben nichts, von dem Sie nicht möchten, dass es alle wissen? Oder vielleicht auch nur, dass es die Polizei nicht weiss? Wenn wir ganz ehrlich sind, dann haben wir alle doch ein paar kleine Bereiche, in denen wir die Regeln oder Erwartungen der anderen gelegentlich etwas ritzen. Soll es möglich sein, Sie künftig dafür zu bestrafen? Dann wird der Schritt zum Überwachungsstaat immer kleiner.

 Das ist ein etwas schwammiges Argument.

 Es kommt noch eine andere, entscheidende Frage ins Spiel: Wirkt Videoüberwachung überhaupt? Wie wirkt sie? Kann sie die Erwartungen, die wir in sie setzen, überhaupt erfüllen? Also in der Schlussabrechnung: Haben wir letztlich bloss die unerwünschten Nebenwirkungen, ohne dass Videoüberwachung das bringt, was wir ursprünglich von ihr erwartet haben?

 Was sagt der aktuelle Forschungsstand über Sinn und Präventionsnutzen von Überwachungskameras?

 Die kriminologische Evaluationsforschung zeigt, dass Videoüberwachung gegen bestimmte Delikte in geeigneten Umgebungen durchaus präventiv wirken kann, zum Beispiel gegen Diebstahl oder Sachbeschädigung in Parkhäusern. Wenig Wirkung zeigt sich gegen Delikte allgemein in innerstädtischen Zentren sowie gegen Gewaltdelikte wie Körperverletzung oder Raub. Bei vielen Evaluationen lässt sich der Nutzen auch nicht einfach der Videoüberwachung zurechnen, weil ein ganzer Mix von Massnahmen ergriffen wurde wie die Verbesserung der Lichtverhältnisse, mehr Präsenz von Polizei oder bauliche Massnahmen. Ausserdem lernen auch die Übeltäter, sich gegen Videoüberwachung zu "schützen". Oder sie weichen einfach in nicht überwachte Gebiete aus. Die Frage ist also: Was dürfen wir von Videoüberwachung überhaupt erwarten? Hängen wir nicht einem Wunschbild nach, wenn wir meinen, dass Videoüberwachung unsere gesellschaftlichen Probleme löst? Ist das Geld, welches die Einrichtung von Überwachungssystemen kostet, wirklich gut investiert, wenn die erwartete Wirkung ausbleibt?

 Hätten Sie ein persönliches Rezept, wie man solche Gewaltexzesse wie am Freitag vor Pfingsten verhindern könnte?

 Sie meinen doch nicht etwa, ich hätte ein Patentrezept dagegen! Mit diesen Problemen haben sich schon grössere Fachleute herumgeschlagen. Ich denke, dass schon eine stärkere Präsenz von Polizeikräften mehr auszurichten vermag also blosse Videoüberwachung. Letztlich bin ich aber überzeugt, dass es ein Mix von verschiedenen Massnahmen sein muss. Videoüberwachung muss auf jeden Fall in ein grösseres Sicherheitskonzept eingebettet sein. Ich kann mir vorstellen, dass sie in einem solchen Gesamtzusammenhang an bestimmten Orten ihren Teil zur Lösung beitragen kann. Dann ist aber klar festzulegen, welcher Zweck damit verfolgt wird, welche Art von Videoüberwachung eingesetzt wird, ob sie immer oder nur zeitweise eingeschaltet wird, ob eine Onlineauswertung vorgesehen ist und ähnliche Fragen.

 Sicherheitsdirektor Hanspeter Gass betont immer wieder, dass er zusätzliche Videokameras nur als "taktisches Instrument" einsetzen möchte. Wie glaubwürdig ist aus Ihrer Sicht diese Behauptung?

 Wenn Herr Gass damit eine bloss nichtpersonenbezogene Videoüberwachung meint, mit der nicht die einzelne Person identifiziert, sondern nur die Bewegung eines "Saubannerzugs" erkannt werden kann, damit Einsatzkräfte rasch an die richtige Stelle geschickt werden können, dann werden damit keine Personendaten bearbeitet. Eine solche Überwachung kann aus Datenschutzsicht ohne gesetzliche Grundlage eingerichtet werden - sofern die Kameras tatsächlich nicht mehr können. Sobald aber ein Bildausschnitt herangezoomt werden kann oder die Auflösung der Aufnahmen so gut ist, dass es durch Vergrösserung möglich wird, Personen zu identifizieren, dann sind wir eben in jenem Bereich, für den Verfassung und Datenschutzgesetz eine gesetzliche Grundlage voraussetzen.

 Haben Sie das Gefühl, dass politisch konservative Kräfte die jüngsten Vandalenzüge missbrauchen könnten, um härtere Überwachungs- und Sicherheitsstandards im öffentlichen Raum durchzusetzen? Oder tun sie es bereits?

 Die Forderung nach Massnahmen ist verständlich. Wichtig ist meiner Meinung nach aber, dass man sich unaufgeregt über geeignete - ich betone: geeignete - Massnahmen unterhält und nicht in einen Aktionismus verfällt. Das gilt parteiunabhängig. Letztlich geht es darum, mit einem vernünftigen Einsatz von Ressourcen eine tatsächliche Wirkung zu erreichen und nicht Steuergelder zu verschleudern mit Massnahmen, die höchstens eine Scheinsicherheit vermitteln. Eine Untersuchung in Luzern hat übrigens gezeigt, dass die Leute auf dem videoüberwachten Bahnhofplatz seither eher das Gefühl haben, es sei unsicherer - deshalb brauche es ja Videoüberwachung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Nebenwirkung das ist, was sich Geschäftsinhaber in der Innenstadt wünschen!

 Sie müssen von Amtswegen immer wieder als "Gegenspieler" und "Verhinderer" von Begehrlichkeiten der Sicherheitsbehörden auftreten. Wie belastend ist diese Funktion für Sie?

 (schmunzelt) Ich leide nicht darunter, falls Sie das meinen. Erstens habe ich Sicherheitsbehörden erlebt, mit denen wir auf sachlicher Ebene das Für und Wider erörtern können. Zweitens sind wir ja nicht einfach Verhinderer, sondern Verbesserer, weil wir helfen, dass die staatlichen Behörden einen wichtigen Teil ihrer Aufgabe besser erfüllen können: die Achtung der Grundrechte der Personen, über welche sie Daten bearbeiten. Und drittens bin ich überzeugt, dass der Einsatz für den Schutz der Privatheit in einer Zeit, die durch technologische und gesellschaftliche Entwicklungen echt herausgefordert ist, eine wertvolle und schöne Aufgabe ist.

 Die einen aber bestimmt manchmal schier verzweifeln lässt.

 Ein Bundesdatenschutzbeauftragter hat einmal auf die Frage, ob er Optimist sei, geantwortet: Wenn ich Optimist wäre, wäre ich nicht Datenschutzbeauftragter. Für mich gilt es genau das Gegenteil: Weil ich Optimist bin, bin ich Datenschutzbeauftragter. Ich glaube nämlich daran, dass wir etwas positiv beeinflussen können! Und dass uns die entsprechenden Herausforderungen ausgehen werden, das befürchte ich wirklich nicht.

 "Ist das Geld für Überwachungssysteme wirklich gut investiert, wenn die erwartete Wirkung ausbleibt?"

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 Zur Person

 Der 1956 geborene, im unteren Baselbiet aufgewachsene Jurist Dr. Beat Rudin war von 1992 bis 2001 Datenschutzbeauftragter des Kantons Baselland, dann Geschäftsführer der Stiftung für Datenschutz und Informationssicherheit und seit 2003 Lehrbeauftragter für öffentliches Recht an der Uni Basel. 2009 wurde er vom Grossen Rat zum Datenschutzbeauftragten des Kantons Basel-Stadt gewählt. (bz)

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Basler Zeitung 29.5.10

Polizeipräsenz und Videoüberwachung sind nicht die Lösung für die Sachbeschädigungen

 Der Saubannerzug ist ernst zu nehmen

 Christian Mensch

 Nach der Schlacht von Nancy, es war das Jahr 1477, waren Urner und Schwyzer Kriegsknechte überhaupt nicht einverstanden, wie die Beute verteilt wurde. Sie rotteten sich zusammen und zogen gegen Genf, um sich selbst die versprochene Brandschatzsumme zu holen. Da die Rebellen in ihrem Wappen einen Eber führten, ist der Zug der Freischärler als Saubannerzug in die Geschichte eingegangen.

 Am Freitag vergangener Woche führte der Zug lediglich von der Steinenvorstadt in die obere Freie Strasse. Dort waren es einige wenige Gewalttätige, die, mit Hämmern bewaffnet, Schaufenster zertrümmerten und einen Schaden von gut einer halben Million Franken anrichteten.

 Jugendlicher Frust

Die Staatsanwaltschaft bezeichnete den Gewaltausbruch als Saubannerzug - und traf damit den Kern wohl genauer, als sie gedacht hatte: Beiden Ereignissen liegt ein tiefsitzender Frust jugendlicher Banden zugrunde. Beide sind Rebellionen gegen eine obrigkeitliche Ordnung. In beiden Fällen braucht es offenbar eine gewisse Zeit der Orientierungslosigkeit, bis die Staatsmacht zu geeigneten Massnahmen findet.

 Man muss den Vergleich nicht strapazieren und darf die jüngsten Schadensattacken auch nicht verklären, nur weil der historische Saubannerzug als archaische Aktion mit einer Nähe zum fasnächtlichen Treiben durchaus nicht nur negativ besetzt in unser Geschichtsverständnis eingegangen ist. Doch die Analogie kann helfen, die Attacken und deren Ursachen zu verstehen. Was aus der historischen Forschung bekannt ist, kann für den aktuellen Vorfall vermutet werden: Es braucht eine gewisse Verrohung der Sitten, bevor es zu ungebremsten Gewaltausbrüchen kommt; im späten Mittelalter sprach man von "allgemeiner Kriegslust". Unter den Aktivisten herrschte ein Gefühl, in dieser Gesellschaft überflüssig sein; nach der Schlacht von Nancy war die Truppe nicht mehr gefragt, heute würde man von Jugendarbeitslosigkeit sprechen. Und es gibt ein im Kollektiv aufgeputschtes Gefühl, zu kurz gekommen zu sein; die mittelalterlichen Freischärler sahen sich um die Kriegsdividende geprellt, die Jugendlichen von heute meinen, ihnen stehe ein grösseres Kuchenstück vom kapitalistischen Wohlstand zu.

 Die öffentliche Debatte im Nachgang zu den schweren Sachbeschädigungen orientiert sich derzeit aber nicht an den Tätern. Vielmehr stehen Präventionsforderungen im Raum wie eine stärkere und permanente Polizeipräsenz sowie eine verstärkte Videoüberwachung der Allmend. Diese Begehren sind allerdings zu simpel, um der Lösung einen Schritt näher zu kommen. Einerseits völlig selbstverständlich muss es sein, dass die Polizei den Einsatz ihrer Kräfte flexibel gestaltet und sie an die jeweilige Sicherheitsbedrohung anpasst; gegen einen Saubannerzug, wie er vergangene Woche stattfand, hilft dies jedoch nur beschränkt. Andererseits befremdlich ist die Forderung der sonst meist liberal denkenden Gewerbler, eine Videoüberwachung sei die Lösung; eine solche wäre nicht nur ein unverhältnismässiger Eingriff in die Persönlichkeitssphäre jedes Einzelnen, sondern auch unnütz im Enttarnen vermummter Gestalten.

 Genau hinschauen

Am Ziel, die Gewaltausbrüche zu stoppen, gibt es nichts zu deuteln. Doch dazu heisst es, genauer hinzuschauen, wo die Gewalt entsteht und wie sie begründet ist. Das bedeutet, es ist ernst zu nehmen, wenn im Umkreis der Krawallisten ein Mangel an Freiräumen beklagt wird. Konkret: Die Szene der Hausbesetzer, aus denen sich die Gewalttäter mutmasslich absplittern, verschwindet nicht einfach dadurch, dass es derzeit in der Stadt keine besetzten Häuser mehr gibt. Einverstanden: Solche Lösungsansätze sind schwieriger zu entwickeln, als die Forderung nach mehr Polizei und mehr Überwachung zu erfüllen ist. Und so einfach wie im Mittelalter geht es schon gar nicht mehr: Nachdem jeder Freischärler je zwei Gulden und genügend Wein erhalten hatte, brachen sie ihren Saubannerzug ab. christian.mensch@baz.ch

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Basellandschaftliche Zeitung 28.5.10

Staat soll für Schäden aufkommen

 Bei chaotischen Demos soll Kanton büssen

 Der Basler Gewerbedirektor Peter Malama will den Staat in die Pflicht nehmen: Werden bei bewilligten Demonstrationen Sachbeschädigungen angerichtet, soll der Kanton die Kosten übernehmen. Malama will sein Anliegen nun in den Nationalrat bringen. "Einerseits sollen diejenigen zur Verantwortung gezogen werden, die eine Bewilligung erteilen. Und anderseits sollen die Ladenbesitzer geschützt werden", begründet der FDP-Nationalrat seine Überlegung. Denn die Versicherungen seien nicht mehr bereit, für die Schäden aufzukommen. Mit der Massnahme würde die Polizei allenfalls auch schneller bei Randalierern eingreifen. Malamas Vorschlag löst alles andere als Begeisterung aus. (YDU)Seite 21

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Kanton soll für Schäden blechen

 Basler Gewerbedirektor Peter Malama will den Staat bei bewilligten Demos zur Kasse bitten

 Laut Peter Malama sind die Versicherungen nicht mehr dazu bereit, für die Sachbeschädigungen an den Demos aufzukommen. Deshalb sollen die Steuerzahler daran glauben.

 Yen Duong

 Der Basler Gewerbedirektor Peter Malama kommt wegen des Saubannumzugs vom letzten Freitag einfach nicht zur Ruhe. Dies, obwohl der FDP-Nationalrat sich mit dem Basler Sicherheitsdirektor und Parteikollegen Hanspeter Gass vorgestern darauf einigen konnte, dass die Polizei künftig an den Hotspots Heuwaage-Steinen-Barfüsserplatz-Freie Strasse-Marktplatz mehr Präsenz markiert (die bz berichtete). Malama will sich damit jedoch nicht zufrieden geben: "Es stellt sich die Frage, ob inskünftig nicht der Staat bei bewilligten Demonstrationen - wie einer Anti-WEF-Demo - für die Sachbeschädigungen zur Kasse gebeten werden soll. Denn er hat ja die Bewilligung dafür ausgesprochen", meint Malama. Allerdings soll der Staat nur dann zahlen, wenn die Veranstalter nicht selbst dazu in der Lage sind. Sprich: eigentlich in allen Fällen.

 Vorstoss im Nationalrat

 Der Gewerbedirektor will nun einen entsprechenden Vorstoss im Nationalrat einreichen. Ob er sich auch lokal dafür einsetzen wird, ist noch offen. Klar ist hingegen laut Malama, dass das Gewerbe bei bewilligten und unbewilligten Demonstrationen sowie bei Saubannzügen immer mit hohen Sachbeschädigungen konfrontiert ist - im aktuellsten Fall sind es rund 600000 Franken. "Ich weiss von zwei Fällen, in denen die Versicherungen nicht mehr bereit sind, die Schäden zu decken. Wer soll es dann tun?", fragt sich Malama.

 Es könne nicht sein, dass der Gewerbler für die Reparatur seines Schaufensters bis zu 30000 Franken zahlen muss, obwohl ihn kein Verschulden trifft. "Auf der einen Seite soll der Staat dafür zur Verantwortung gezogen werden, wenn er eine Bewilligung erteilt. Auf der anderen Seite soll der Ladenbesitzer vor Schäden geschützt werden", erklärt der FDP-Nationalrat weiter. In seiner Wahrnehmung hat die Polizei in der Vergangenheit bei Randalierern zu spät eingegriffen. Wenn der Staat für die Schäden aufkommen müsste, könnte sich dies ändern, hofft Malama.

 Das Basler Justiz- und Sicherheitsdepartement will sich nicht zu Malamas Idee äussern. "Es ist das Recht jedes Legislativpolitikers, Vorstösse einzureichen. Es ist nicht an der Verwaltung, dies zum jetzigen Zeitpunkt zu kommentieren", sagt Mediensprecher Martin Schütz. Gar nicht gut kommt Peter Malamas Vorschlag bei der grossrätlichen Justiz-, Sicherheits- und Sportkommission (JSSK) an. So meint Mitglied André Auderset (LDP): "Es kann nicht sein, dass die Steuerzahler für die Schäden aufkommen müssen. Die Veranstalter müssen zur Kasse gebeten werden." Dass Malama auf diese Idee komme, überrasche ihn.

 "Staat ist nicht Schuld"

 Erstaunt ist auch Tanja Soland. "Es ist lustig, dass dies ausgerechnet ein Bürgerlicher, der immer Steuersenkungen verlangt, vorschlägt", meint die SP-Grossrätin. Zudem erlaube die Polizei mit ihrer Bewilligung für eine Demonstration keine Sachbeschädigungen. "Schäden haben nichts mit Demos zu tun. Der Staat ist nicht Schuld daran", stellt Soland klar. Vielmehr solle man schauen, dass man die Täter findet und zur Rechenschaft ziehen kann.

 SVP-Präsident Sebastian Frehner steht der Idee ebenfalls kritisch gegenüber. "Es leuchtet mir nicht ein, weshalb der Staat die Kosten übernehmen soll." Geht es nach Frehner, sollen die Veranstalter dafür büssen müssen. Er fragt sich ohnehin, ob Malamas Vorschlag mit dem Demonstrationsrecht einher geht.

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30 JAHRE ZÜRI BRÄNNT
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swissinfo 31.5.10

Im heissen Sommer 1980, als Zürich brannte

swissinfo

 Vor 30 Jahren rissen junge Menschen Zürich aus seinem diskreten Bankgeschäfts-Alltag und stellten die Stadt auf den Kopf. Einen heissen Sommer lang "brannte" Zürich, im Namen einer alternativen Kultur und Kunst von unten.

 "Züri brännt" sang oder kreischte vielmehr die junge Sängerin der Zürcher Band TNT. Die wilde, nur 44 Sekunden kurze Punk-Eruption brachte das Lebensgefühl der aufbegehrenden Jugend in der Limmatstadt in jenem heissen Sommer auf den Punkt. Am 30. Mai 1980 versammelte sich vor dem Opernhaus eine grosse Menge zorniger junger Menschen. Sie waren gekommen, um gegen die 60 Millionen Franken zu protestieren, mit denen die Stadtregierung das angejahrte Symbol der Hochkultur sanieren wollte.Es war der Beginn der Zürcher Jugendunruhen, die es sofort in die Schlagzeilen der nationalen und internationalen Medien schafften. Sie präsentierten einer perplexen Öffentlichkeit Bilder mit eingeschlagenen Schaufenstern, geschlossenen Läden, brennenden Autos und einer überforderten Polizei. Die Bilanz der Strassenschlachten: Tausende Verhaftete, unzählige Verletzte, ein Todesopfer."Jede Woche kam es zu stundenlangen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei, welche die Strassen mit Tränengas füllte - es war wie in einem Kriegsgebiet", erinnert sich die Olivia Heussler gegenüber swissinfo.ch.

 Lebendige Geschichte, nicht nur auf Bildern

 Als Augenzeugin hatte sie damals die Unruhen in ihrer Stadt mit der Kamera begleitet. Die besten Bilder vereint sie im Band "Zürich, Sommer 1980", den Heussler zum 30. Jahrestag der Unruhen publiziert hat.Die Zürcher Unruhen waren Teil einer europaweiten Bewegung, in der eine rebellische Jugend für mehr kulturelle Freiräume kämpfte. Dies als Kampfansage an die traditionelle, "verschlafene" Kultur für eine satte Bürgerelite, die mit Millionensummen subventioniert wurde.

 "AJZ subito!"

 Ausdruck dieses Kulturverständnisses: Das Zürcher Nachtleben hatte reglementsgemäss um 23 Uhr zu enden, Tanzveranstaltungen waren an religiösen Feiertagen strikt verboten, und die Zürcher Stadtregierung tat sich äusserst schwer, Rockmusik als legitime Kulturform anzuerkennen.Ihre eigene Kultur wollten die "Bewegten" ausserhalb der existierenden Orte und Institutionen in einem Autonomen Jugendzentrum, AJZ genannt, veranstalten. "AJZ subito!" skandierten die Demonstranten deshalb in der Bahnhofstrasse.

 Bereicherung

 "Zürich gehört heute zu den besten Kulturstädten Europas, weil die damalige Gegenkultur später Teil der Kulturpolitik wurde", sagt Hanspeter Kriesi, Professor für politische Wissenschaften an der Universität Zürich. In den 1970er-Jahren hätten die Behörden starrköpfig und mit Unverständnis auf die Jugendforderungen reagiert, so der Politologe gegenüber swissinfo.chKriesi sieht die Zürcher Jugendunruhen als Folge einer wachsenden Frustration in dieser Dekade darüber, dass Musiker, Schauspieler und Künstler einer neuen Generation von der Verteilung der Geldern aus dem städtischen Kultur-Fördertopf ausgeschlossen waren.

 Spirale der Gewalt

 Die Bewegung wollte ihre Vorstellungen von Kulturschaffen in eigenen Jugend- und Kulturzentren verwirklichen. Das politische Establishment lehnte diese Forderungen aber rundweg ab. Darauf schritten die Bewegten zur Tat, besetzten leer stehende Fabrikräume und riefen diese kurzerhand zu alternativen, sprich nichtkommerziellen und selbstverwalteten Jugend- und Kulturzentren aus.Die Polizei schaute dem Treiben nicht lange zu und räumte die Besetzungen wieder. Offizieller Grund: Dort würden Drogen gehandelt und konsumiert.

 60-Mio. Franken-Provokation

 Eine zentrale Rolle begann nun ein stillgelegter Industriebetrieb am rechten Seeufer zu spielen: Die Rote Fabrik. Von den Behörden zum Abbruch geplant, stimmten Stadtzürcherinnen und Stadtzürcher an der Urne deren Erhaltung und Umwandlung in ein Kulturzentrum zu.Die Stadtregierung schaltete immer noch auf stur und sprach für die Renovation des Opernhauses einen stolzen, um nicht zu sagen provokativen Kredit von 60 Mio. Franken. Vollends ins Fettnäpfchen trat die Stadtregierung mit dem Plan, den Opernbetrieb während der Bauarbeiten ausgerechnet in der - Roten Fabrik weiter zu führen.Die Wut über solch mangelndes politisches Fingerspitzengefühl entlud sich am eingangs erwähnten 30. Mai 1980 bei der Demonstration vor dem Opernhaus. Unterstützt von einer Menschenmenge, die von einem Konzert des Reggae-Übervaters Bob Marley kamen, kam es rasch zur Auseinandersetzung, die als Opernhaus-Krawall in die Geschichte einging. Dieser Opernhaus-Krawall, später auch besungen vom österreichischen Rap-Pionier Falco, läutete den heissen Zürcher Sommer 1980 ein.

 Bis zur Selbstverbrennung

 "Es herrschte eine riesige Wut darüber, dass die Jungen von den Kultursubventionen ausgeschlossen waren", sagt Louis Frölicher. Der heutige Mitarbeiter der Roten Fabrik erlebte die Jugendunruhen als 27-jähriger Teilnehmer. "Wir fanden, die Forderung nach Jugendzentren ist offensichtlich, aber als Antwort schickte die Stadt die Polizei, welche die Besetzer rausprügelte", so Frölicher"Wir hatten utopischen Ideen, wie wir die Gesellschaft mit Kultur verändern wollten, aber keine Räume, uns auszudrücken", sagt Olivia Heussler. "Da kamen wir halt auf den Strassen zusammen - Studenten, Arbeiter, Künstler und Intellektuelle - alle, die unzufrieden waren." Eine junge Frau war derart verzweifelt, dass sie sich in der Öffentlichkeit mit Benzin übergoss und anzündete - sie starb an ihren Verbrennungen. Ein Demonstrationsteilnehmer verlor bei einem Polizeieinsatz durch ein Gummigeschoss ein Auge. Viele Menschen hätten bei den rigorosen Polizeieinsätzen bleibende gesundheitliche Schäden erlitten, so Olivia Heussler.

 Später Sieg an der Urne

 Von Zürich griffen die Unruhen auch auf die Jugend in anderen Schweizer Städten über, wie in Bern, Basel, Lausanne und Genf. Nirgends wurden die Auseinandersetzungen aber härter geführt als an der Limmat. Nach einem heissen Sommer voller gewalttätiger Auseinandersetzungen erkannten die Stadtoberen die Zeichen der Zeit und überliessen, widerwillig zwar, den Bewegten die Rote Fabrik als Kulturzentrum.1987 honorierte die Zürcher Bevölkerung an der Urne das vielfältige kulturelle Angebot der Betreiber und verlieh der Roten Fabrik den definitiven Status als Kulturzentrum. Wichtigste Konsequenz: Der Betrieb wird neu mit einem Beitrag aus dem städtischen Kulturbudget unterstützt.

 Romantische Sommerabende am See

 Die Rote Fabrik funktioniert bis heute und ist etabliert als nicht mehr wegzudenkender Veranstaltungsort, der das kulturelle Leben der Stadt mit Konzerte und Ausstellungen bereichert. Und das nicht zu knappe Angebot an Restaurants mit dem "Ziegel oh Lac", dem direkt am See gelegenen, romantischen Restaurant. Der auch baugeschichtlich interessante Ziegelstein-Komplex ist noch aus einem anderen Grund wichtig: Die Rote Fabrik vermietet Kulturschaffenden Ateliers zu günstigen Preisen, dank derer sich Künstler, Tänzerinnen etc. ohne allzu grossen Druck weiter entwickeln können.

 Neue Konflikte

 Auch wenn der kulturpolitische Druck mit der Wende von 1987 stark nachgelassen hat, sind an der Limmat immer noch Spannungen spürbar. Heute sind es in erster Linie Hooligans, die im Rahmen von Fussballspielen gewalttätige Ausschreitungen anzetteln. Oder der antikapitalistisch ausgerichtete so genannte Schwarze Block, der vor allem in der Nachdemonstration zum Tag der Arbeit am 1. Mai die Konfrontation mit der Polizei sucht.Aber auch die alternative Kulturszene muss, wenn auch nur noch ab und an, ihren Platz verteidigen. So vor zwei Jahren, als die Stadtbevölkerung einen Antrag einer Rechtspartei ablehnte, die öffentlichen Kredite für das Cabaret Voltaire zu kappen. Dabei handelt es sich um jenes Haus, in dem Anfang des 20. Jahrhunderts die legendäre Dada-Bewegung gegründet worden war."Manchmal werde ich immer noch wütend über Bürokraten, die in ihren Büros sitzen und bestimmen, was Kunst sein soll", sagt Olivia Heussler. Aus ihrer Äusserung weht ein Hauch von Stimmung aus jenem heissen Zürcher Sommer 1980 herüber in die Gegenwart. Matthew Allen in Zurich, swissinfo.ch (Übertragung aus dem Englischen: Renat Künzi)

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Limmattaler Tagblatt 31.5.10

Die Bewegung als Lebensgefühl

 Christoph Schaubs Sommer 1980 und warum ihn die Bewegung erwachsen machte

 Vor 30 Jahren gehörte Christoph Schaub zu den Demonstranten, die beim Opernhaus die Zürcher Jugendbewegung lostraten. Zwei Jahre lang lebte und filmte der Regisseur die "Bewegig". Eine Zeit der zweiten Geburt, wie er rückblickend sagt.

 Martin Reichlin

 Die Geburt der "Bewegung" überraschte alle, selbst jene, die sie einleiteten. Rund 200 Menschen hatten sich am 30. Mai 1980 vor dem Opernhaus versammelt, um gegen einen 60-Millionen-Kredit für dessen Umbau zu protestieren. Unter ihnen war auch Christoph Schaub, damals 22 und Germanistikstudent. "Wir waren nicht hingegangen in der Erwartung: So jetzt passierts", erzählt der Filmemacher ("Sternenberg", "Giulias Verschwinden"). Doch dann forderte die Polizei die Demonstranten auf, den Platz zu räumen. Es kam zu Scharmützeln, die sich zum Krawall ausweiten, als die Besucher eines Bob-Marley-Konzerts vom Hallenstadion her in der Innenstadt eintrafen und sich an den Auseinandersetzungen beteiligten. "Auf einmal gings los, die ganze Nacht und den nächsten Tag hindurch", erinnert sich Schaub. "Unglaublich, wie viele Leute und wie viel Power plötzlich da waren." Diese Power sollte in den nächsten zwei Jahren in Bewegung bleiben. Doch während ab 1981 die Probleme innerhalb der "Bewegung" zunahmen, bleibt dem "Bewegten" der Sommer 1980 als Periode kreativer Freiheit in Erinnerung. "Von einem Moment zum anderen war da diese Bewegung, spontan, libertär, emotional. Wir riefen dadaistische Parolen wie ‹Macht aus dem Staat Gurkensalat› oder ‹Nieder mit den Alpen - freie Sicht aufs Mittelmeer›, konnten handeln, uns ausleben, Leute treffen, Frauen kennen lernen ... Es war faszinierend. Ein Lebensgefühl, das ich voll auslebte."

 War Ihnen denn stets klar, worum es ging?

 Christoph Schaub: "Nein, dazu war die Bewegung zu intuitiv und irgendwie auch reiner Selbstzweck. Selbst die Forderung nach einem AJZ, das ab Juni unser Hauptanliegen wurde, war in meinen Augen eine Verlegenheitslösung, um gegenüber den Medien und der Stadt etwas Konkretes verlangen zu können."

 Waren Sie damals an Politik interessiert?

 Schaub: "Ich war in der Mittelschule politisch aktiv und hatte Kontakt zu politischen Strömungen wie dem Feminismus oder - über meinen Bruder - dem Maoismus. Das war mir aber alles zu dogmatisch. Bis heute interessieren mich Emotionen mehr als Theorien."

 Mitte 1981 wurde Schaub Mitglied des Videoladens. Die 1976 gegründete Video- und Filmproduktionsgenossen-schaft dokumentierte Demos und Aktionen aus der Perspektive der Bewegung, um "die Geschichtsschreibung nicht dem Fernsehen zu überlassen", so der Regisseur. "Mit Video, so die Idee, lässt sich gut Propaganda machen. Wie mit einem Flugblatt." Bekanntester Streifen des Videoladens ist der im November 1980 erstmals gezeigte Film "Züri brännt".

 War es für Sie ein Unterschied, ob Sie an einer Demo teilnahmen oder ob Sie durch das Objektiv beobachteten?

 Schaub: "Zu Anfang war das noch identisch. Im einen Moment hat man gefilmt, im nächsten Augenblick wurde die Kamera versteckt und man ging demonstrieren. Das hat sich dann aber geändert."

 Inwiefern?

 Schaub: "Ich merkte, dass Filme für mich über den politischen Kontext hinausgehen müssen. Und, dass er sich als Medium politischer Arbeit nicht wirklich eignete, denn die Produktion war aufwändig und langsam. Nicht zuletzt stösst man schnell auf die Frage nach dem eigenen Standpunkt. Will ich nur ‹Bestätigungsfernsehen› machen, das die Bewegung bejubelt und die Polizei ausbuht?"

 Nicht zuletzt sei die Bewegung immer introvertierter geworden und habe sich in interne Auseinandersetzungen verstrickt, sagt Christoph Schaub, der auch Mitbegründer des Kinos Riff-Raff ist: "Das war für mich nicht mehr interessant."

 Ab wann fühlten Sie sich nicht mehr als "Bewegter"?

 Schaub: "Der Abschluss kam mit dem Film ‹AJZ im Herbst›. Wir hatten uns vorgenommen, die Probleme der Bewegung zu benennen, statt alles schönzureden: Dass das AJZ zu einem Drogenladen verkommen war, in dem Frauen von besoffenen Typen vergewaltigt wurden. Dass nicht nur die bösen Bullen, sondern auch die Bewegung destruktiv war. Dass das AJZ ein Selbstbedienungsladen war, in dem sich manche an den Subventionen bereicherten. Aber die Kritik stiess auf heftigen Widerspruch und wir wurden als Nestbeschmutzer hingestellt."

 Was ist von der Bewegung geblieben?

 Schaub: "Für mich persönlich war es wie eine zweite Geburt und der Eintritt ins Erwachsenenleben. Insofern gehöre ich zu den ‹Bewegungssiegern›. Ich konnte auf unglaublich interessante Art meine Welt entdecken und Erfahrungen sammeln, die mich als Filmregisseur weitergebracht haben. Gesellschaftlich und politisch hat die ‹Bewegig› den Grundstein für ein buntes und lebendiges Zürich gelegt. Vielleicht hätte diese Entwicklung im Zuge der Globalisierung sowieso stattgefunden. Aber 1980 ging es halt eben auch darum: dass Zürich langweilig und spiessig war."

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 Züri brännt

 Mit dem Opernhauskrawall brach am 30.Mai 1980 in Zürich die Zeit der "Bewegung" an. Demonstrationen und Ausschreitungen, die sich an der Forderung nach Raum für alternative Kultur und ein autonomes Jugendzentrum (AJZ) kristallisierten, hielten die Stadt bis zum Abbruch des AJZ am 28.März 1982 in Atem. Zu den Kulturbetrieben, die aus dieser Zeit hervorgingen, gehören die Rote Fabrik und das Jugendhaus Dynamo. In loser Folge stellen wir Ihnen Menschen vor, die in der Jugendbewegung eine Rolle spielten. Bereits erschienen: Achmed von Wartburg, Ex-Punk, Ex-Stadtratskandidat. (liz)

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Sonntagszeitung 30.5.10

Unsere Besten

 Sponti-Sprüche aus den Achtzigerjahren

 1. "Macht aus dem Staat Gurkensalat"

 Die anarchistische Parole für alle Fälle.

 2. "Gott ist tot. Nietzsche ist tot. ... und mir ist auch schon ganz schlecht"

 Die nihilistische Selbsterkenntnis für depressive Stunden.

 3. "Alle wollen zurück zur Natur - nur nicht zu Fuss"

 Die ökologische Erklärung der Faulheit.

 4. "Ich wollt, ich wär ein Teppich - dann könnte ich jeden Morgen liegen bleiben.

 Die philosophische Verbrämung der Faulheit.

 5. "Sadisten, meldet euch als Polizisten"

 Die zynische Form der Rekrutierungspolitik.

 Zum 30. Jahrestag der Zürcher Jugendunruhen siehe auch "Nachspiel", Seite 40.

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Nachspiel

 Die Kunst des Krawalls

Christian Hubschmid

 "Aber subito!" - die SP der Stadt Zürich motzt wie ein Häufchen Autonomer. Die Beizer jammern, sie müssten "wie Tote" die Fussball-WM feiern. Der Tonfall der heftig aufgeflammten Diskussion über das Verbot, in Zürcher Gartenbeizen WM-Spiele zu übertragen, erinnert schwer an den theatralischen Politslang der Kulturleichen, die genau heute vor 30 Jahren "Leben in die Tote Fabrik" forderten. Nur, dass es beim heutigen Protest nicht mehr um Kultur, sondern nur noch um Fussball geht.

 Aber damals, am 30. Mai 1980, waren noch Geist und Muse die Triebfedern der Rebellion. Unter dem Slogan "Rock als Revolte" versammelten sich einige Dutzend Jugendliche vor dem Opernhaus, um gegen die ungerechte Verteilung der städtischen Kulturausgaben zu demonstrieren. Am selben Abend sang Bob Marley im Hallenstadion, und nachdem sein legendäres Konzert mit den Worten "emancipate yourself from mental slavery" ausgeklungen war, strömten Hunderte von aufgeputschten Fans in die Innenstadt, wo sich die kleine Demo zum ersten grossen Krawall ausweitete. Von da an ging es los mit den Kunst und Anti-Kunst-Happenings: Nacktdemos, dadaistische Sabotierungen von Fernsehsendungen, die Zertrümmerung der Chagall-Fenster - alles eine einzige Performance.

 Selbst der brutale Polizeieinsatz mutete als Regieeinfall an. Der damalige Opernhaus-Direktor Claus Helmut-Drese fühlte sich beim Vorrücken der Polizei in Kampfanzügen und mit Schilden an eine "moderne Lohengrin-Inszenierung" erinnert. Konsequenterweise verlegte er die Prügelszene aus der Oper "Meistersinger in Nürnberg" nach Zürich. Schaut man sich heute Videos vom ominösen Opernhauskrawall am 30. Mai 1980 an, wirken die verunsicherten Polizisten zwar eher wie Laienschauspieler, die sich Mut angetrunken haben, damit sie mit Gummigeschossen und Tränengas um sich ballern können.

 War der Opernhauskrawall nun Politik oder Kunst? Die Antwort gibt eine Archivaufnahme des Zürcher Piratenradios Banana, das am 30. Mai 1980 den Demo-Flyer zitierte und seine Hörer ermunterte, "ein bisschen Fantasie" zu zeigen, dann würde es an diesem Abend "bestimmt lustig" werden. Auf dem Flyer stand: "Einladung zu einem unvergesslichen Opernabend."

 Zum 30. Jahrestag der Opernhaus-Krawalle: "Zur(e)ich brennt", Europa-Verlag, 255 S., 26.90 Fr. Besser ist "Wir wollen alles, und zwar subito!" von Heinz Nigg, Limmat-Verlag, 2001

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Tagesanzeiger 29.5.10

Vom Protest zur Dauerparty

 30 Jahre nach dem Opernhauskrawall: Wie die Jugendunruhen Zürich verändert haben.

Von Dario Venutti

 Am Sonntag jährt sich einer der wichtigsten Tage Zürichs zum 30. Mal. Kaum jemand wird es merken. Kein Politiker wird eine Rede halten, niemand wird eine Gedenktafel enthüllen. Doch was am 30. Mai 1980 als Opernhauskrawall und Jugendrevolte begann, ist heute in alle Poren der Stadt eingedrungen. Die Errungenschaften sind eine Selbstverständlichkeit geworden. Die Bewegung der 80er-Jahre, die ohne "Máximo Líder" und weitgehend auch ohne Schriften von Marx und Mao auskam, hat Zürich kulturell umgepflügt.

 Die Revolte hatte der Stadt anfänglich sehr wehgetan. Es war ungehörig, dass Jugendliche in einem reichen und wohlanständigen Land gewaltsam Raum für selbstbestimmte kulturelle Aktivitäten erkämpften. Eine Million Franken hatte die Stadt 1980 für Alternativkultur reserviert. Bis der Betrag zu Beginn der 90er-Jahre auf 11 Millionen angestiegen war, wurde manche Scheibe zerschlagen, manche Barrikade errichtet und viel Tränengas vergossen.

 Das Packeis ist geschmolzen

 "Doch die Bewegung war auch emanzipatorisch", sagt Hugo Bütler, der langjährige Chefredaktor der NZZ. Als der Krawall ausbrach, kommentierte er die Strassenschlachten im Wehret-den-Anfängen-Ton. Heute sieht Bütler das Positive daran: "Die Bewegung hat dem Kleinunternehmertum wichtige Impulse verliehen." Der Slogan "Mehr Zebras, weniger Streifen" manifestiert sich heute in einer wilden Gastro-, Party- und Klubszene. Das Packeis ist geschmolzen. Die freie Sicht aufs Mittelmeer gibt es zwar nicht, dennoch ist Zürich mediterraner geworden.

 Welche Öde 1980 für Jugendliche herrschte, ist heute kaum vorstellbar. Der Blick in den "Zürcher Wochenkalender" vom 23. Mai 1980 kommt einer Zeitreise gleich: Ganze zwei Zeitungsspalten, eingepfercht zwischen der Gottesdienstordnung, weisen auf kulturelle Anlässe hin: Sommerkonzert des Musikvereins Eintracht Höngg, "Das Sparschwein" von Bertolt Brecht im Neumarkt-Theater, ein Galaabend im Opernhaus. Das Einzige, das die Bezeichnung Jugendkultur verdient, ist das Konzert von Bob Marley im Hallenstadion. Ein Teil der Konzertbesucher beteiligte sich dann am Opernhauskrawall.

 "Wer nach Mitternacht ein Bier trinken wollte, musste ins ‹Rössli› nach Stäfa oder ins ‹Ugly› nach Richterswil. Doch wer wollte schon aufs Land fahren?", sagt Richard Wolff. Der 53-jährige Stadtsoziologe ist ein lebendiger Beweis, dass sich die 80er mit ihren Forderungen nach Autonomie, Freiräumen und kreativer Selbstverwirklichung durchgesetzt haben. Eine Generation früher wäre Wolff vielleicht auf einem Lehrstuhl der Universität gelandet. Er aber begründete das Stadtforschungsnetzwerk Inura in Zürich-West mit - eine vom Staat weitgehend unabhängige Denkfabrik, die im Juni einen Kongress zu globaler Stadtentwicklung organisiert.

 Jetzt! Alles! Sofort!

 Die 68er traten den Marsch durch die Institutionen an, weil sie an die Veränderbarkeit des Staates glaubten. Das war bei den 80ern kaum mehr der Fall: Sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie der Kapitalismus überwunden werden kann, wollte nur eine Minderheit. Und nur ganz wenige schlossen sich dem bewaffneten Kampf der Sandinisten in Nicaragua an.

 Die meisten waren wie Kinder: Sie wollten alles - und zwar sofort. "Sie fragten sich, was sie konkret aus ihrem Leben machen können", sagt Hugo Bütler. Und die Kinder der Bewegung gaben sich die Antwort gleich selber - als Gastrounternehmer, Klubbesitzer, Sozialarbeiter, psychologische Berater. "Ein Marsch durch die Gesellschaft", wie es Richard Wolff nennt. Irgendwann setzte sich bei den Behörden die Einsicht durch, dass man die Bedürfnisse ausserhalb des damaligen Mainstreams nicht nur niederknüppeln, sondern auch subventionieren kann. Auf diese Weise entstanden die Rote Fabrik, das Xenix oder das Theater Spektakel - bis die alternative Jugendkultur selber zum Mainstream wurde. Wenn in der Tonhalle Lasershows blitzen und im Kunsthaus eine Lounge mit Chill-out-Sound eingerichtet wird, ist das heute nicht mehr der Rede wert.

 Vor 30 Jahren bezeichnete Stadtpräsident Sigmund Widmer Rockmusik als Lärm. Heute dagegen lächeln Stadträte bei der Eröffnung eines neuen Klubs zusammen mit dem Sponsorvertreter der Grossbank in die Kamera.

 Der Opernhauskrawall ist die Chiffre dafür, dass aus dem Fixerraum im AJZ das staatliche Heroinabgabeprogramm wurde. Dass das illegale Radio von Roger Schawinski zum liberalisierten Mediengesetz führte. Dass die Aktivisten von damals die Werber und Chefredaktoren von heute sind. Und dass sich heute jeder ohne Weiteres Künstler nennen kann - ohne die Absolution der Hochkultur.

 Am Ende der Geschichte?

 Wo fast alles erlaubt und subventioniert wird und keine starren Konventionen mehr herrschen - gibt es da noch Potenzial für einen Protest? Oder haben die Kinder der 80er Bewegung schon ein Leben als Dauerparty?

 "Die Bewegung hat vieles erkämpft, aber auch einiges wieder verloren", sagt ein junger Künstler, der anonym bleiben möchte. "Subvention ist nur ein anderes Wort für Geld. Wer Subventionen annimmt, verkauft seine Autonomie und geht faule Kompromisse ein", sagt er, der sich selber als "Möchtegärn-Aktivisten" bezeichnet.

 Das Dilemma der heutigen Jugend bestehe darin, dass die Subversion zum Label geworden ist: Damit schmücken sich Bars und Klubs, und Leute tragen T-Shirts im Alltag, auf denen "subversiv" steht. "Wenn die Werbung selbst Autos und Rasierklingen als revolutionär anpreist - wie soll dann der Widerstand aussehen?", fragt der "Möchtegärn-Aktivist".

 Trotzdem sei die Zeit für einen Protest wieder reif: Viele Jugendliche hätten keine echten Freiräume, weil die unterdessen etablierten Lokale zu teuer und verkrustet geworden sind. "Versuchen Sie mal, in Zürich ein Konzert zu organisieren, das nicht den Massengeschmack bedient, keinen Eintritt kostet und an dem das Bier billig ist. Das geht heute nur illegal."

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 Zürcher Jugendunruhen

 "Freie Sicht aufs Mittelmeer"

 Mit dem Opernhauskrawall am 30. Mai 1980 begann in Zürich ein heisser Sommer. Die Demonstration von rund 200 Personen aus dem Umfeld der "Aktionsgruppe Rote Fabrik", die gegen einen 60-Millionen-Kredit für den Opernumbau protestierte, weitete sich zur Jugendrevolte aus. Das greifbarste Anliegen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen war die Forderung nach einem autonomen Jugendzentrum (AJZ). Ein solches wurde im Juni 1980 auf dem Areal des heutigen Carparkplatzes auch eröffnet, jedoch nach Polizeirazzien mehrmals wieder geschlossen, im März 1982 definitiv. Die Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten wurden mit heute kaum vorstellbarer Härte geführt: Die Sachschäden gingen in die Millionen, Läden wurden geplündert, Polizisten in Kampfmontur und Gummigeschosse prägten das Stadtbild. Im Lauf der Unruhen wurden gegen 4000 Personen verhaftet und rund 1000 Strafverfahren eingeleitet. An den Demonstrationen beteiligten sich bis zu 10 000 Personen. (dv.)

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NZZ 29.5.10

Als in Zürich die Jugend rebellierte

 30 Jahre nach dem Opernhauskrawall: Zwei neue Dokumentationen zu den achtziger Unruhen und ihren Folgen

 Am 30. Mai 1980 kam es nach einer Demonstration vor dem Opernhaus zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Jugendlichen, die mehr Freiräume einforderten. Es war die Initialzündung für die Zürcher "Bewegung".

 Marc Tribelhorn

 Scheinbar aus heiterem Himmel brachen vor 30 Jahren im behaglichen Zürich, später auch in anderen Schweizer Städten Jugendkrawalle aus - die heftigsten seit 1968. "D Bewegig", als die sich die jungen Unzufriedenen bald verstanden, forderte mit einem Autonomen Jugendzentrum (AJZ) Raum für selbstbestimmte kulturelle Aktivitäten und lehnte sich auf gegen eine als spiessig wahrgenommene bürgerliche Daseinsordnung und ihr Leistungsprinzip.

 Dabei verblüfften und provozierten die selbsternannten "Kulturleichen der Stadt" manchmal mit dadaistisch anmutender Kreativität: "Freie Sicht aufs Mittelmeer" oder "Macht aus dem Staat Gurkensalat" wurde etwa skandiert, der Kampf für mehr Freiheit und gegen Konformismus und Konsumismus propagiert. Die Jugendlichen erschreckten aber auch durch ihre hohe Gewaltbereitschaft: wöchentliche Massendemonstrationen, Strassenschlachten mit der Polizei, brennende Barrikaden, fliegende Pflastersteine, zertrümmerte Schaufenster und Plünderungen. Nicht nur in der Schweiz rieb man sich verwundert die Augen, auch die internationale Presse zeigte sich überrascht von der "Revolte im Schokoladen-Paradies". In Deutschland fragte man sich: "Warum Jugendrebellion gerade in der braven, friedlichen Schweiz?"

 "Alles kaputtschlagen"

 Mit dem Opernhauskrawall vom 30. Mai war der "heisse" Sommer 1980 eingeläutet worden. Damals demonstrierten mehrere hundert Jugendliche für alternative Kulturangebote und gegen einen Kredit von über 60 Millionen Franken für den geplanten Opernhausumbau. Der Aufmarsch artete in wüste Scharmützel mit der Polizei aus, die die ganze Nacht andauerten. 30 Jahre später sind nun zwei Bücher erschienen, die sich den Geschehnissen widmen, die bis Ende 1981 nicht nur Tausende Festnahmen, Hunderte Verletzte und Sachschäden in Millionenhöhe zur Folge hatten, sondern auch Vorboten einer Liberalisierungswelle waren, ohne die es das heutige Zürich mit seiner Event-Kultur kaum gäbe. Der von Lars Schultze-Kossack herausgegebene Sammelband "Zür(e)ich brennt" hat den ambitionierten Anspruch, "verschiedenste Meinungen und Positionen" abzubilden und damit einen "umfassenden Überblick" über die Ereignisse in Zürich 1980 zu geben. Auf rund 250 Seiten sind zahlreiche damals erschienene Zeitungsartikel, Essays, Gedichte und Flugschriften versammelt, die Einblick in die Zeit geben, als Zürich brannte.

 "Bewegte" wie der Schriftsteller Reto Hänny schildern ihre Erfahrungen an Demonstrationen und mit der Polizei. In einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" von damals erklären Jugendliche ihren Unmut und den Hang zur gewalttätigen "action": "In dieser Stadt erlebst du überall eine Atmosphäre der Repression, die dich total fertigmacht" ist etwa zu lesen, oder von der "Bereitschaft, alles kaputtzuschlagen, was uns kaputtmacht". Während sich beispielsweise der "Sonntags-Blick" in der Ausgabe nach dem Opernhauskrawall lediglich empörte über "die Spontis, die Polit-Rocker", die "tobten und plünderten", versuchte in der NZZ der nachmalige Chefredaktor Hugo Bütler, neben aller Kritik die Denkweisen hinter den Unruhen zu ergründen.

 Aber auch aktuellere Einordnungen und Analysen von Journalisten oder damaligen Aktivisten und Verantwortungsträgern wie Stadtrat Thomas Wagner oder Opernhausdirektor Claus Helmut Drese werden geliefert. Die Wirkungsmacht des achtziger Protests beschreibt etwa Kenneth Angst, einst wortgewaltiger Kommentator der Bewegung und Jahre später der NZZ. Laut seinen Ausführungen ist das "Packeis von einst geschmolzen", die subversive Gegenkultur von früher heute gesellschaftlich anerkannt. Er verweist auf etablierte Institutionen wie die Rote Fabrik, das Xenix-Kino oder das Theaterhaus Gessnerallee, die der Bewegung entsprungen sind. Zudem habe eine Liberalisierung und Internationalisierung der Gastro-, Klub- und Musikszene stattgefunden. Doch er schlägt auch kritische Töne an, denn laut Angst befeuerte der letzte grosse Jugendprotest, wenn auch ungewollt, eine umfassende Ökonomisierung des Freizeit- und Kulturbetriebs, die den öffentlichen Raum gnadenlos an die Kräfte des Marktes ausliefert. Mit Fotos wird der Sammelband abgerundet, der aber trotz der gelungenen Zusammenstellung nicht an Heinz Niggs ähnlich konzipiertes Standardwerk "Wir wollen alles, und zwar subito" von 2001 herankommt.

 Zürich im Ausnahmezustand

 Die Publikation "Zürich Sommer 1980" ist - abgesehen von einem Essay des Philosophen Stefan Zweifel - ganz den Bildern der Jugendrevolte gewidmet. Als Aktivistin der Bewegung und mit einem Presseausweis ausgerüstet, dokumentierte Olivia Heussler vor 30 Jahren das Geschehen mit ihrem Fotoapparat hautnah.

 Die nun erschienenen 56 grossformatigen Schwarzweissbilder zeigen ein Zürich im Ausnahmezustand: Demonstrationen und Vollversammlungen, das AJZ, Spass und Gewalt suchende Jugendliche, martialisch sich gerierende Polizisten, Wasserwerfer, Gummigeschosse und immer wieder dicke Tränengasschwaden. Zusammengefasst: eine eindrückliche Bilderschau, die die Heftigkeit der damaligen Auseinandersetzungen zu illustrieren vermag.

 Lars Schultze-Kossack et al.: Zür(e)ich brennt. Zürich 2010. 255 S., Fr. 27.-. Olivia Heussler: Zürich Sommer 1980. Zürich 2010. 120 S., Fr. 70.-.

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St. Galler Tagblatt 29.5.10

"Repression allein ist gefährlich"

 Choreographieverbot, Stimmungsboykott, teurere Stehplätze: Zwischen dem FC St. Gallen und den Fans kriselt es. FCSG-Präsident Michael Hüppi erklärt, dass er weiterhin an den Dialog glaubt - und was er zum Reizthema Pyro denkt.

 Herr Hüppi, wie haben Sie die Stimmung in der AFG Arena während der letzten paar Heimspiele der Saison 2009/10 erlebt?

 Michael Hüppi: Die Atmosphäre ist kaputt, das ist klar. Der Verwaltungsrat des FC St. Gallen bedauert die aktuelle Situation im Stadion. Eine AFG Arena ohne Stimmung ist nur halb so interessant - auch und gerade für die Mannschaft auf dem Platz.

 Heisst das, dass Sie das Choreographieverbot - es löste den Stimmungsboykott aus - auf die neue Saison hin aufheben werden?

 Hüppi: Das ist das Ziel. Es hängt davon ab, wie die Gespräche während der Sommerpause mit den Vertretern des Fan-Dachverbands 1879 (DV) laufen.

 Sind solche Gespräche geplant? Ein Vertreter des DV hat vergangene Woche in unserer Zeitung erklärt, man warte, "bis der Verein einen Schritt auf uns zu macht".

 Hüppi: Ich habe dem DV über unseren Fan-Verantwortlichen mehrfach ausrichten lassen, dass wir zum Dialog bereit sind. Wozu es nicht kommen wird: dass wir uns für das Choreographieverbot entschuldigen - wie es Teile der Fans fordern.

 Kritisiert wird auch, dass der Fan-Dachverband über die Medien vom Verbot erfahren hat.

 Hüppi: Wir hatten damals schlicht vergessen, den DV vorab zu informieren. Das war unbestritten ein Fehler; damit hat der Verwaltungsrat der Gesprächskultur geschadet.

 Welche Ergebnisse könnte der Dialog mit den Fans denn bringen - gerade in bezug auf Choreographien?

 Hüppi: Nochmals: Wir müssen gemeinsam eine Lösung finden, damit wir das Verbot aufheben können. Das Ziel muss sein, dass während der Vorbereitung zu den Choreographien keine Pyros ins Stadion gebracht werden…

 …wofür der Fan-Dachverband nach wie vor Beweise fordert.

 Hüppi: Solche Beweise wurden nie in Aussicht gestellt. Ich kann mir zudem nicht vorstellen, dass die Polizei und die Sicherheitsverantwortlichen der AFG Arena in diesem Punkt nicht die Wahrheit sagen.

 Stichwort Pyro: Der DV will oder kann sich offenbar nicht davon distanzieren. Was sagen Sie zu dieser Haltung?

 Hüppi: Vergangene Saison haben wir über 100 000 Franken Busse wegen Pyros bezahlt. Ich glaube zudem, dass das Abbrennen von Feuerwerk in einer Menschenmenge gefährlich ist. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis etwas passiert. Das wäre das Schlimmste für den Fussball. Ich habe aber trotz allem Verständnis, wenn die Fans sagen, Pyro gehöre zu ihrer Kultur.

 Wäre es für Sie demnach denkbar, den Einsatz von Pyro im Stadion kontrolliert - zur bestimmten Zeit an einem fixen Ort - zu erlauben?

 Hüppi: Der Verband und die Liga haben bestimmt, dass Pyro verboten ist. Das haben wir umzusetzen. Und selbst wenn: Der Wunsch nach Selbstbestimmung ist in der Fankurve so gross, dass man eine solche Lösung wohl ablehnen würde.

 Danach wären mehr Kontrollen der einzige Ausweg?

 Hüppi: Man kann auch an die Vernunft der Fans appellieren. Nur die repressive Schiene zu fahren bedeutet, dass irgendwann die Polizei bei Pyros eingreifen muss. Das ist gefährlich und teuer.

 Mit Ihrer Aussage, dass der FCSG die Sicherheitskosten von rund 500 000 Franken nicht mehr bezahlen könne, haben Sie ja bereits im April aufhorchen lassen.

 Hüppi: Die Betriebs AG AFG Arena hat von diesen Schulden meines Wissens unterdessen die Hälfte zurückgezahlt. Die Verhandlungen mit der Stadt St. Gallen, wie man die Kosten in Zukunft verteilen soll, laufen weiter. Weil diese Gespräche von der Betriebs AG geführt werden, habe ich aber keine Detailkenntnisse.

 Wie steht es denn momentan um die Finanzen des Vereins?

 Hüppi: Die Situation ist nach wie vor angespannt. Wir arbeiten auch in der Sommerpause mit Hochdruck daran, Mittel zu generieren. Um dauerhaft aus dem finanziellen Tief zu kommen, zielen wir an, mittelfristig in der Europa League mitzuspielen.

 Mehreinnahmen erhofft sich der Verein auch von den nun verteuerten Stehplatztickets. Was prompt zu Kritik geführt hat.

 Hüppi: Ich bin mir bewusst, dass wir mit diesem Entscheid viele Unschuldige bestrafen. Wir mussten aber in der vergangenen Saison für Kameras, zusätzliches Sicherheitspersonal und bauliche Anpassungen grosse Summen investieren - und die Verursacher sollen diese Kosten übernehmen.

 Obwohl es in der Rückrunde von Seiten der Heim-Fans keine Ausschreitungen gab?

 Hüppi: Es ging auch bei diesen Massnahmen vor allem darum, zu verhindern, dass Pyro ins Stadion kommt.

 Was offensichtlich nicht funktioniert hat.

 Hüppi: Nein, die Situation hat sich in der Rückrunde sogar verschlechtert. Vielleicht bringen die höheren Preise für die Stehplätze jetzt auch ein bisschen Ruhe in die Fankurve. Wir wollen und brauchen eine gute, möglichst laute Stimmung im Stadion - aber ohne illegale Exzesse.

 Interview: Urs-Peter Zwingli

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BZ 29.5.10

Fussball

 Noch bleibt es bei der Finalissima

 Obschon die Fussballklubs sich unisono gegen das Finalissima-System aussprechen, will das Schweizer Fernsehen vorderhand daran festhalten - und damit auch an einem brisanten Saisonauftaktspiel: YB gegen Basel.

 Roger Müller hat den Mund wohl etwas voll genommen. Anfang Woche hatte der Sprecher der Swiss Football League (SFL) erklärt: "Wenn sich die Mehrheit der Fussballklubs dafür ausspricht, werden wir die Spielpläne am Anfang der Saison für die ganze Saison erstellen." Das hätte das Ende des Finalissima-Systems bedeutet, mit dem Liga und Fernsehen heute einen besonderen Showdown zum Ende der Meisterschaft inszenieren. Hätte. Zwar haben die Klubs gestern an einer ausserordentlichen Generalversammlung einstimmig für das Ende der Finalissima votiert, doch ändern tut sich deshalb vorderhand nichts: "Um das System zu ändern, brauchen wir nämlich noch das Einverständnis unserer TV-Partner SRG und Teleclub", sagt Roger Müller ernüchtert.

 Das Schweizer Fernsehen will derzeit aber nicht über eine Vertragsänderung sprechen. "Wir warten ab, bis die SFL mit uns Kontakt aufnimmt", lautet die lapidare Erklärung von Mediensprecher David Affentranger. Bei anderer Gelegenheit hatte der TV-Mann allerdings darauf hingewiesen, wie wichtig die Finalissima und damit das aktuelle System für den Sender ist: Die Übertragung des Endspiels BSC Young Boys - FC Basel bescherte dem Schweizer Fernsehen nämlich traumhafte Einschaltquoten. 747000 Personen verfolgten das Spiel auf SF zwei und verhalfen dem Sender zu einen Marktanteil von 55,6 Prozent. Zum Vergleich: Durchschnittlich nur 264000 Personen (22,2 Prozent Marktanteil) verfolgten die vier übertragenen Super-League-Spiele der Vorrunde.

 "Auftaktissima" YB - Basel

 Der öffentliche Sender foutiert sich also um die Sicherheitskosten, die der Öffentlichkeit bei derartigen Risikospielen entstehen. Sein Vertrag mit der Fussballliga schreibt nicht nur die Planung einer Finalissima vor, sondern auch die Planung für einen emotional geladenen und somit publikumswirksamen Saisonauftakt. Entweder muss der Meisterklub gegen den Zweitplatzierten antreten oder der Meister gegen den Cupsieger. Für den Saisonstart Mitte Juli gibt es darum gemäss Vertrag nur eine mögliche Paarung: YB - Basel - jene Konstellation also, die vor zwei Wochen mit abgebrannten Feuerwerkskörpern und Ausschreitungen beinahe im Chaos endete.

 Samstags keine Spiele mehr

 Ob sich eine Abkehr von der Finalissima tatsächlich positiv auf die Sicherheit im Stadion auswirken würde, daran zweifelt man indes nicht nur beim Fernsehen, sondern auch bei Klubs und Polizei. "Zu einer alles entscheidenden Direktbegegnung kommt es so oder so am Meisterschaftsende", lautet die einhellige Meinung.

 Roger Schneeberger, Generalsekretär der kantonalen Justiz- und Polizeidirektorenkonferenz, lässt durchblicken, dass aus seiner Sicht unverhältnismässig Wind um das Thema gemacht wird. "Von 130 Spielen kann man durch die Abschaffung der Finalissima nur gerade eines entschärfen", sagt er. Effizienter wäre es, über alternative Spieltage nachzudenken. Die Erfahrung zeige nämlich, dass es an Spielen unter der Woche kaum je Probleme gebe, während man an Wochenenden regelmässig mit Hooligans zu kämpfen habe. An Samstagen hätten die Chaoten Zeit, sich vor dem Spiel zu treffen, Alkohol zu konsumieren und sich gegenseitig anzustacheln. An Werktagen dagegen kämen die Fans müde von der Arbeit und nüchtern zum Spiel.

 Polizei guckt in die Röhre

 Die Polizeidirektoren haben die Idee bereits konkretisiert. "Wir haben jüngst in einer Vereinbarung vorgeschlagen, dass die Anspielzeit jedes Spiels künftig von den Behörden bewilligt werden muss", sagt KKJPD-Vizepräsidentin Karin Keller-Sutter. Alle Kantone hätten dem Papier zugestimmt. "Nur die Klubs wollten davon nichts wissen und wiesen sie zurück - mit Hinweis auf bestehende Verträge mit dem Fernsehen."

 Pascal Schwendener

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BIG BROTHER INTERNET
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Sonntag 30.5.10

"Ein solches Szenario macht mir Angst"

 Computer-Guru Anton Gunzinger über Google, Facebook und die Daten-Schnüffelei

von Sandro Brotz und Nadja Pastega

 Google und Facebook sind erst der Anfang der Schnüffelei im Internet. Jetzt sagt der preisgekrönte ETH-Professor und IT-Unternehmer Anton Gunzinger, wo die Gefahren im Netz liegen.

 Herr Gunzinger, der eidgenössische Datenschützer Hanspeter Thür willdie gesetzlichen Bestimmungen fürGoogle und andere Anbieter verschärfen. Gehen Sie mit ihm einig?

 Anton Gunzinger: Es gibt Applikationen, bei denen es eine Verschärfung braucht. Aber nicht wegen des Vorfalls mit Street View, sondern weil Unternehmen wie Google, Facebook und Twitter enorm viele Daten sammeln. Der Umgang mit diesen Daten ist - wenn sie richtig verknüpft werden - enorm heikel.

 Konkret?

 Der Risikoreichste ist aus meiner Sicht der Finanzdienstleister Swift. Über dieses Netz laufen alle elektronischen Kontobewegungen. Die Amerikaner erhalten eine Kopie davon - mit der fragwürdigen Begründung der Terrorbekämpfung. Wenn man diese Daten nach Unternehmen sortiert und mit den öffentlich zugänglichen Informationen kombiniert, ist die Firma "nackt": Die Kunden, die Zahlungen und die Umsätze werden sichtbar. Damit wird es möglich, die gesamte Schweizer Wirtschaft auszuspionieren. Das finde ich unzulässig. Man dürfte diese Daten nicht herausgeben.

 Handelsinteressen sind eben wichtiger als der Datenschutz.

 Dann muss das Volk aber auch informiert werden. Es kann nicht sein, dass einerseits um den Datenschutz ein so grosses Aufheben gemacht wird und andererseits ohne unser Wissen alle möglichen Daten an andere Staaten weitergegeben werden.

 Für Sie ein Verhältnisblödsinn?

 So ist es. Der Datenschützer geht gegen Google vor und gleichzeitig werden im Hintergrund weit wichtigere Daten weitergegeben.

 Dennoch stimmen Sie dem Datenschützer zu, dass es in gewissenBereichen schärfere Gesetze braucht. Wo genau?

 Für Organisationen, die Zugang zu vielen Informationen haben, braucht es klare Richtlinien. Ich denke zum Beispiel an Swisscom, Bluewin oder andere Internet-Anbieter. Bei der Bluewin-Set-Top-Box werden alle Passwörter und mindestens temporär auch alle aufgerufenen Websites zentral gespeichert. Damit hat der Internet-Provider Zugang zu enorm vielen privaten Informationen.

 Hat Bluewin diese Risiken erkannt?

 Ich hoffe es, gehe aber eher davon aus, dass Veränderungen erst nach einem Schadenfall eingeleitet werden.

 Was kann passieren?

 Es ist über kurz oder lang damit zu rechnen, dass personalisierte Daten verkauft werden - so wie die Banken-CDs. Das Dilemma besteht darin, dass die Leute, die im Unternehmen die IT unter sich haben, im Notfall Zugang zu allen Daten haben müssen. Gleichzeitig muss jedoch sichergestellt werden, dass die Daten nicht unkontrolliert abfliessen können.

 Wo sehen Sie bei Facebook die grösste Gefahr?

 Der Benutzer hat keine Kontrolle über die Daten, die er auf Facebook oder Twitter stellt. Alle Rechte sind bei Facebook. Somit kann mit den Daten auch Handel betrieben werden. Wenn jemand zum Beispiel über Rennwagen berichtet, kann Facebook diese Information an Autohersteller weitergeben. Oder wenn jemand über die Ferien auf Madagaskar schreibt, kann ein Ferienanbieter bedient werden. Solche zielgerichtete Werbung ist für Firmen sehr interessant. Zudem könnten sich auch Kriminelle für die Daten interessieren, um herauszufinden, was sich damit erpressen lässt.

 Sprechen wir über E-Voting. Welche Gefahren lauern beim elektronischen Abstimmen und Wählen?

 Es besteht die Möglichkeit, die Wahlresultate zu manipulieren. Das System muss absolut verlässlich sein in der Auszählung der Stimmen und die Anonymität gewährleisten. Deshalb brauchtes Software von mindestens zwei verschiedenen Herstellern, die unabhängig voneinander die Stimmen nachzählen. Es ist zwingend ein Vier-Augen-Prinzip nötig.

 Ist dieses Bewusstsein in Bundesbern vorhanden?

 Ich vermute, das ist den Politikern noch zu wenig bewusst. Laien können nicht wissen, was es für Schwierigkeiten geben kann.

 Vielleicht sollten wir einfach weiterhin mit Zetteln an die Urne gehen.

 Dieses System ist aufgrund des Vier-Augen-Prinzips relativ fälschungssicher. Die E-Voting-Software ist so komplex, dass nur der Experte beurteilen kann, ob alles korrekt abläuft. Das ist äusserst anspruchsvoll. Zettel zählen ist einfach und nachprüfbar. Bei den IT-Systemen braucht es hingegen Experten.

 Ob Swift, Google oder E-Voting: Braucht es einen Mister IT, der sich auf Regierungsebene damit befasst?

 Das wäre sehr wichtig. Der Bundesrat muss sich beraten lassen. Es braucht ein Team im Hintergrund, das Szenarien durchspielt. Ich hoffe, dass es eine solche Task-Force gibt. Alles andere wäre fahrlässig. Die IT-Revolution hat solch entscheidende Auswirkungen, dass es ein Privacy-Konzept braucht. Das ist unumgänglich.

 Was sagen Sie dazu, dass auf derVersichertenkarte die ganze Krankheitsgeschichte gespeichert werden soll?

 Für den Arzt hat es den Vorteil, dass er im Notfall sofort Zugriff auf alle Informationen hat. Der Nachteil ist, dass an jedem Ort mit geeigneter Technologie alle Bewegungen registriert werden können. Wollen wir das wirklich? Ich persönlich möchte das nicht. Ich trage lieber ein medizinisches Restrisiko, als dass meine Daten überall verfügbar sind.

 Und wenn solche Chip-Karten obligatorisch werden?

 Das würde heissen, dass damit jede Bewegung kontrolliert werden kann und wir keine Intimsphäre mehr haben. Das wäre für mich schlimmer als Big Brother. Das dürfen wir nie tun.

 Sie sind ein Insider. Macht Ihnen diese Entwicklung Angst?

 Ja. Ein solches Szenario macht mir Angst. Doch ich bin guter Hoffnung, dass wir als Gemeinschaft sinnvolle Grenzen setzen werden, sodass die positiven Seiten der IT überwiegen.

 ETH-Professor Anton Gunzinger.

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 Das Computer-Genie

 Anton Gunzinger sorgte mit demHochleistungscomputer "Giga Booster" (3,6 Milliarden Rechenoperationenin einer Sekunde) weltweit für Aufsehen. Er wurde 1994 vom "Time Magazine"als einziger Schweizer in die Liste der100 wichtigsten Persönlichkeiten aufgenommen. Der Weg des Bauernsohns aus dem Jura führte von der ETH Zürich zur Gründung der Firma Supercomputing Systems AG. Im Zürcher Technopark sind rund 70 Mitarbeiter tätig. Gunzinger stammt aus Welschenrohr SO.

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Zentralschweiz am Sonntag 30.5.10

Internetüberwachung

 Das neue Schnüffel-System lässt auf sich warten

Eva Novak, Bern

 Mobiles Internet und MMS bleiben für Kriminelle vorderhand sichere Kommunikationsmittel: Der Bund hat die Beschaffung eines Überwachungssystems gestoppt.

 Sei es für Kinderpornografie, organisiertes Verbrechen oder für Drogenhandel: Auch Kriminelle bedienen sich gerne neuer Technologien wie MMS oder Internet-Telefonie. Derlei Missbrauch will der Bundesrat mit einer Revision des "Bundesgesetzes betreffend die Überwachung des Post- und Fermeldeverkehrs" (Büpf) einen Riegel schieben, die er letzte Woche in die Vernehmlassung geschickt hat.

 Dies soll auch als Rechtsgrundlage für die Einführung eines neuen Informatiksystems dienen, das die Daten für die Strafverfolgungsbehörden verarbeitet. Dieses "Interception System Schweiz" (ISS) hat unter anderem zum Ziel, eine ganze Reihe von Überwachungen zu ermöglichen, die bisher nicht oder nur sehr schwer möglich waren - von MMS-Meldungen bis zum mobilen Internet.

 Rechtliche Vorbehalte

 Doch es harzt. Gemäss einem internen Protokoll der Arbeitsgruppe Kommunikationsüberwachung, das unserer Zeitung vorliegt, hat Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf das beschaffungsreife Projekt vergangenen Dezember aus rechtlichen Gründen gestoppt. Die Vertragsunterzeichnung mit dem gewählten Lieferanten wurde abgebrochen und eine Neuausschreibung unter neuen Vorgaben bei den fünf ursprünglichen sowie bei zwei neuen Anbietern vorgenommen. Daraus resultiere eine Verzögerung von "wahrscheinlich einem Jahr", heisst es im Protokoll. Vor Mitte bis Ende 2011 könne das System nicht in Betrieb genommen werden.

 Lücke bei den Ermittlungen

 "Für die Strafverfolgungsbehörden ist die Situation unerträglich", beklagt die Arbeitsgruppe, in der sämtliche Betroffenen - von den Usern über die Strafverfolger bis zu den Telekom-Anbietern - vertreten sind. "Nach wie vor können keine MMS-Meldungen überwacht werden, und Internetüberwachung ist nur als teure und zeitaufwendige Spezialmöglichkeit durchzuführen", wird moniert. Die Kantone stossen sich zudem daran, dass sie zwar rund 10 Millionen Franken pro Jahr zahlen müssten, aber kein Mitspracherecht beim Büpf hätten.

 "Wir haben bei Bundesrätin Widmer-Schlumpf Gesprächsbedarf angemeldet", bestätigt Roger Schneeberger, Generalsekretär der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren. Bei der Justizministerin sei das Anliegen auf offene Ohren gestossen. In einem Schreiben habe Widmer-Schlumpf vorgestern Freitag zugesichert, sie wolle die Anliegen der Kantone "prioritär behandeln". Noch vor dem Sommer solle etwas gehen, so Schneeberger.

 Jahre bis zur Einführung

 Man habe während der Evaluation festgestellt, dass im technischen Bereich eine Entwicklung stattgefunden habe, die man berücksichtigen und rechtlich beurteilen wolle, erklärt Guido Balmer, Sprecher des Justiz- und Polizeidepartementes, die Verzögerung. Die aktuelle Planung sehe vor, das ISS mit dem Inkrafttreten des neuen Büpf vollständig in Betrieb zu nehmen. Das könne allerdings angesichts des ordentlichen Gesetzesweges samt Referendumsmöglichkeit Jahre dauern, räumt Balmer ein.

 Zumal das neue Gesetz einiges Konfliktpotenzial enthält: So sollen die Anbieter von Telekom-Dienstleistungen sowie Internet-Zugängen künftig zwar zur Überwachung verpflichtet, dafür jedoch vom Staat nicht mehr entschädigt werden. Bei Swisscom, Cablecom & Co. stösst diese Absicht naturgemäss auf wenig Gegenliebe.

 Vorläufig herrsche das nackte Chaos, konstatiert ein für Anbieter tätiger Software-Entwickler, der anonym bleiben möchte. Die gesetzlichen Grundlagen seien ebenso unklar wie die technischen Anforderungen an die Systeme, welche die Provider ihrerseits entwickeln müssten, um die gewünschten Daten ans ISS liefern zu können. "Die Telekom-Anbieter haben absolut keine Anzeichen, in welche Richtung es gehen soll." Also machen sie, so der Software-Entwickler, vorderhand nichts und warten erstmal ab, während findige Kriminelle weiterhin ungestört ihren Machenschaften nachgehen können.

 eva.novak@neue-lz.ch

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ANTI-ATOM
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Berner Oberländer 31.5.10

Entscheid über neues AKW

 BKW engagiert sich in der Abstimmung

 Falls das Berner Stimmvolk über das Projekt "Mühleberg II" abstimmen kann, will die BKW im Abstimmungskampf mitmischen.

 Der Energiekonzern BKW will sich vehement für den Bau eines neuen Atomkraftwerkes in Mühleberg einsetzen. Falls das Berner Stimmvolk über die Stellungnahme des Kantons zum Projekt abstimmen kann, will sich die BKW im Abstimmungskampf engagieren. Nach Meinung von Fritz Kilchenmann, dem heute nach 16 Jahren abtretenden BKW-Präsidenten, muss sich der Stromkonzern sogar "zwingend einschalten". Auch wenn dies den AKW-Gegnern missfällt.

 Laut Fritz Kilchenmann, der nach wie vor davon überzeugt ist, dass der Regierungsrat das Projekt nicht will, bleiben der Schweiz zwei Varianten: Entweder werden ein oder zwei neue Atomkraftwerke gebaut - oder neue Gaskraftwerke. "Wenn das Schweizervolk alle neuen AKW ablehnt, müsste die Politik reagieren und Gaskraftwerke ermöglichen, denen sie faktisch soeben den Riegel geschoben hat", sagt er. Die BKW könne das Projekt in Utzenstorf jederzeit reaktivieren.

 Segnet das Volk den Bau neuer AKW ab, muss Mühleberg laut Fritz Kilchenmann den Zuschlag erhalten. "Mühleberg ist geografisch günstig positioniert, und es ist ein gutes Projekt", meint der 64-Jährige. Bekämen Gösgen und/oder Beznau den Vorzug, befänden sich alle Schweizer AKW innerhalb weniger Kilometer. "Das Risiko eines flächendeckenden Stromausfalles ist dadurch grösser, als wenn die Produktion von Kernenergie verteilt wäre", hält Fritz Kilchenmann weiter fest.phm/drh

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Fritz Kilchenmann, abtretender BKW-Präsident

 "Entweder AKW oder Gaskraftwerke"

 Nach 16 Jahren ist Schluss: BKW-Präsident Fritz Kilchenmann hat heute seinen letzten Arbeitstag. Das hindert ihn nicht daran, weiter für neue Atomkraftwerke zu werben und höhere Strompreise zu rechtfertigen.

 Herr Kilchenmann, wie hoch war Ihre letzte Stromrechnung?

 Fritz Kilchenmann: (überlegt) In unserer Gemeinde erhalten wir die Strom- , Wasser- und Abwasserrechnung jeweils zusammen, und die beträgt pro Quartal zwischen 400 und 500 Franken. Ich schätze, dass der Strom 150 bis 200 Franken ausmacht.

 Bald wird der Strom teurer, die BKW wird im Sommer die neuen Tarife bekannt geben. Dann werden Sie nicht mehr BKW-Präsident, sondern normaler BKW-Kunde sein. Was hält die Privatperson Kilchenmann von höheren Strompreisen?

 Wissen Sie, wir sind doch überall mit Preiserhöhungen konfrontiert. Beim Strom hatten wir bei der BKW bis 2008 während 14 Jahren keinen Aufschlag. Aus verschiedenen Gründen gibt es nun eine Tendenz nach oben. Die Kosten für den Ausbau der Produktion und der Netze wachsen, die Wassernutzungszinsen steigen. Nicht zu vergessen sind die von der Politik beschlossenen Abgaben, welche den Strom in den kommenden Jahren zusätzlich verteuern werden. Die BKW hat schlicht keine andere Wahl, als diese Anpassungen an die Kunden weiterzugeben.

 Speziell für KMU und Grossbetriebe, die einen hohen Stromverbrauch haben, ist eine Tariferhöhung in diesen Zeiten aber doch besonders schmerzhaft.

 Ich bin manchmal erstaunt, wenn ich Unternehmer frage, wie hoch ihre Stromkosten sind. Etwa 75 Prozent wissen es gar nicht. Andere Ausgaben fallen in vielen Betrieben deutlich stärker ins Gewicht. Dann gibt es die anderen 25 Prozent, die unter den höheren Preisen leiden. Sie könnten dank des freien Marktes ihren Stromlieferanten wechseln. Das tun aber nur die allerwenigsten.

 Daraus schliessen Sie, dass die BKW mit ihren Preisen konkurrenzfähig ist?

 Es ist doch zumindest ein Zeichen dafür, dass unsere Preise, auch wenn sie in der Schweiz nicht die günstigsten sind, auch für grössere Stromverbraucher tragbar sind.

 Eine zentrale Debatte, welche die nächsten Jahre prägen wird, ist jene um den Bau neuer Atomkraftwerke. Warum soll die BKW den Zuschlag für ein AKW in Mühleberg erhalten?

 Weil Mühleberg geografisch günstig positioniert ist und weil wir ein gutes Projekt haben.

 Genau das nehmen Ihre Konkurrenten Alpiq und Axpo für sich ebenfalls in Anspruch.

 Die BKW und die Axpo werden die Ersten sein, die ihre Reaktoren aus Altersgründen vom Netz nehmen müssen. Da sollte die natürliche Reihenfolge beachtet werden. Zudem steht eine Mehrheit der Bevölkerung hinter unserem Ersatzprojekt. Und unser geografischer Vorteil ist tatsächlich gross: Zieht Mühleberg gegen Gösgen und/oder Beznau den Kürzeren, befänden sich alle Schweizer Atomkraftwerke innerhalb weniger Kilometer. Das Risiko eines flächendeckenden Stromausfalls wäre dadurch bei Naturereignissen deutlich grösser, als wenn die Produktion von Kernenergie besser verteilt wäre.

 Wie sieht das Alternativszenario der BKW aus für den Fall, dass in Mühleberg kein neues Atomkraftwerk gebaut wird?

 Es gibt zwei Varianten. Variante eins: Ein oder zwei neue Atomkraftwerke werden in Beznau und/oder Gösgen gebaut. Dann könnte sich die BKW im Rahmen einer Partnerschaft engagieren. In diesem Fall hätte den Schaden in erster Linie der Kanton Bern, weil der Standortvorteil und die damit verbundene Wertschöpfung wegfallen würden.

 Und das zweite Szenario?

 Variante zwei ist die, dass das Schweizervolk sämtliche neuen AKW ablehnt. Dann ist klar, dass die Politik reagieren und Gaskraftwerke ermöglichen müsste, denen sie faktisch soeben den Riegel geschoben hat. In diesem Fall könnte die BKW das Projekt in Utzenstorf reaktivieren.

 Das heisst, das Volk hat die Wahl zwischen zwei neuen AKW oder Gaskraftwerken?

 Genau darauf läuft es meiner Meinung nach hinaus: entweder neue AKW oder neue Gaskraftwerke. Wobei ich persönlich gar kein Gasfan bin und behaupte: Ohne Kernenergie gehts nicht.

 Sie betonen die breite Abstützung für Mühleberg in der Bevölkerung. Das grösste Problem der drei Konkurrenten bezüglich Widerstand und Kritik hat jedoch die BKW mit einer rot-grün dominierten Regierung, die nicht hinter dem AKW-Projekt steht.

 Wir haben dafür den Grossen Rat, der dahintersteht (schmunzelt). Im Übrigen hat selbst die Berner Regierung gesagt, falls in der Schweiz neue AKW gebaut würden, dann zumindest auch in Mühleberg.

 In ihrer Antwort auf eine Motion hat die Regierung jedoch kürzlich bekräftigt, dass sie Mühleberg II nicht will.

 Ich bin nach wie vor nicht davon überzeugt, dass der Regierungsrat das Projekt nicht will. Es ist natürlich nicht einfach, eine solche politische Gratwanderung zu vollziehen, ohne die BKW zu schwächen.

 Sägt die Regierung mit ihren Aussagen am BKW-Ast?

 Gefährlich ist es auf jeden Fall. Diese Bemerkung darf ich mir als abtretender Präsident erlauben. Aber ich bin überzeugt, dass der Regierung bewusst ist, welche volkswirtschaftliche Bedeutung Mühleberg für den Kanton Bern hat.

 Wie haben Sie in den letzten vier Jahren im Verwaltungsrat die Zusammenarbeit mit der rot-grünen Regierung erlebt?

 Seit ungefähr 25 Jahren ist der bernische Energiedirektor gegen Kernenergie. Trotzdem sind wir im Verwaltungsrat immer gut klargekommen. Da drückte selten das pure Parteiprogramm durch. Wir haben immer vernünftige Lösungen gefunden, auch für Mühleberg wurden uns bisher keine Steine in den Weg gelegt.

 Was sagen Sie dazu, dass der Regierungsrat die Stellungnahme zum Projekt dem Volk unterbreiten will?

 Ich kann den Entscheid nachvollziehen. Eine Prognose zum Ausgang der Abstimmung bekommen Sie von mir aber nicht. Bisherige Umfragen zeigen aber, dass es gar nicht so schlecht steht um den Rückhalt für Mühleberg.

 Ein Volksnein wäre laut Ihrem Nachfolger Urs Gasche der Todesstoss für das Projekt.

 Wenn er das so sieht, ist das seine Sache. Dazu brauche ich mich ab sofort nicht mehr zu äussern.

 Wird sich die BKW im Abstimmungskampf engagieren, obwohl Ihnen die SP das verbieten will?

 Ganz klar ja. Die BKW muss sich zwingend in den Abstimmungskampf einschalten. Die SP kann das der BKW auch nicht verbieten. Das Bundesgericht entschied mehrmals, dass sich Direktbetroffene bei Abstimmungen engagieren dürfen.

 Der Zeitplan für den Bau bis zur Inbetriebnahme neuer AKW ist eher knapp bemessen. Bestünde allenfalls die Möglichkeit, Mühleberg länger als vorgesehen am Netz zu lassen?

 Das müssen Sie die Spezialisten fragen. Ob Mühleberg wirklich nach 50 Jahren, also 2022, vom Netz muss oder ob es einen gewissen Spielraum nach oben gibt, müsste man sicherlich prüfen.

 Sie diskutieren dermassen engagiert, dass man sich kaum vorstellen kann, dass Sie nun in Pension gehen.

 Mir wird schon nicht langweilig (lacht). Ich arbeite ja noch in der Anwaltskanzlei, um mich auch dort früher oder später ebenfalls schrittweise zurückzuziehen.

 Wie ist Ihre Gemütslage, jetzt, da der Abschied von der BKW immer näher rückt?

 Die Gemütslage ist gut. In meinem Alter sollte man sich langsam zurückziehen, jüngeren Kräften Platz machen und loslassen können. Wobei es neben dem lachenden Auge natürlich auch ein weinendes gibt.

 Interview: Philippe Müller,  Dominic Ramel

 Fritz Kilchenmann (64) war seit 1987 für die BKW tätig, seit 1994 als Verwaltungsratspräsident. Seit 1992 ist er Partner in einer Berner Anwaltskanzlei. Fritz Kilchenmann ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.

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NZZ 31.5.10

Aufrüstung für den neuen AKW-Kampf

 Gegner und Befürworter buhlen um Junge - 2011 eine Serie von kantonalen Abstimmungen

 Schon im nächsten Winter wird in einigen Kantonen über neue Atomkraftwerke abgestimmt. Gegner und Befürworter müssen die Werbemillionen über mehrere Jahre hinweg einteilen.

 Davide Scruzzi

 Gäbe es in der energiepolitischen Debatte einen Preis fürs Angstmachen, hätten ihn die AKW-Gegner in den vergangenen Tagen gewonnen: mit vielbeachteten Aktionen von plötzlich wie tot umfallenden Menschen sowie der Verteilung von behördlich wirkenden Merkblättern zur radioaktiven Gefährdung. In Gösgen erlebte zudem an Pfingsten die klassische AKW-Demonstration eine Renaissance. Zweifellos hat die Atomkraft-Frage gerade für die Gegner zu viel identitätsstiftende und einende Symbolkraft, um bis zum eidgenössischen Abstimmungstermin, also bis gegen 2014, ad acta gelegt zu werden. Doch hat die Opposition gegen AKW auch in einigen Kantonsverfassungen Spuren hinterlassen, und es kommt schon nächstes Jahr zu Urnengängen - mit wenig juristischem Gewicht, aber einer nationalen Symbolwirkung, die grösser sein dürfte als bei der Waadtländer Konsultativabstimmung über die unbefristete Betriebsbewilligung des AKW Mühleberg im Herbst, als es eher um eine Spezialfrage ging. Die Waadtländer stimmten damals Nein.

 Abstimmungssonntage 2011

 In der Waadt und im Jura ist die kantonale Stellungnahme zu den drei AKW-Rahmenbewilligungsgesuchen dem obligatorischen Referendum unterstellt, in Genf, Neuenburg und im Wallis wird wohl im Rahmen eines fakultativen Referendums abgestimmt Auch im Kanton Bern wird voraussichtlich abgestimmt. Beim Bundesamt für Energie (BfE) verlangt man, dass die Kantone ungeachtet der Volksentscheide bis März 2011 eine zumindest provisorische Stellungnahme einreichen. Die Kantone werden zudem aufgefordert, alle Abstimmungen am gleichen Sonntag durchzuführen. Die Berner Regierungsrätin Barbara Egger bezweifelt aber, dass die übrigen Kantone etwa auf das in Bern schon feststehende Datum, den 13. Februar 2011, einschwenken werden. Sie hält es für wichtig, dass das Volk zu so einer Frage Stellung nimmt. Beim BfE befürchtet man aber, dass die Abstimmungen zu den Stellungnahmen, die rein konsultativen Charakter haben, zur "Politikverdrossenheit" beitragen, weil viele Bürger das Gefühl erhalten könnten, ihre Stimme bewirke nichts. Im Grunde sollen sich die Kantone ja vor allem zu technischen und raumplanerischen Fragen sowie zu den ab Herbst vorliegenden Stellungnahmen der Nuklear-Aufsichtsbehörden äussern. Gemäss BfE-Sprecherin Marianne Zünd soll dazu ein sachlicher Fragebogen verschickt werden, zudem seien aber auch politische Bemerkungen möglich.

 Zulauf für alte Gruppierungen

 Im Hinblick auf die kantonalen Urnengänge wird auch das Engagement der nationalen Interessenvereinigungen stark zunehmen. Die Befürworter verfügen wohl weiterhin über die grösseren finanziellen Mittel, doch zeichnen sich mittlerweile auch die Gegner durch professionelle Strukturen aus. Bei Swissnuclear, der Vereinigung der AKW-Betreiber, erachtet man es als besonders wichtig, dass die möglichen Standortkantone eine positive Stellungnahme abgeben - im Visier ist also vor allem die Berner Abstimmung. Es werden nun AKW-freundliche Politiker-Netzwerke entstehen. Swissnuclear-Sprecherin Sandra Kobelt geht davon aus, dass regionale Ableger öffentlicher Klubs wie die 1979 gegründete "Aktion für vernünftige Energiepolitik Schweiz" (Aves) oder die "Organisation Frauen für Energie" wachsen werden. Bei Frauen ist die Skepsis gegenüber AKW besonders hoch.

 Auch die 1976 gegründete, AKW-kritische Schweizerische Energiestiftung (SES) wächst. In den letzten beiden Jahren ist die Mitgliederzahl um ein Drittel auf 5500 angestiegen. SES-Geschäftsleiter Jürg Buri ist auch Präsident der Allianz "Nein zu neuen AKW", die über 30 Parteien und lokale, nationale und ausländische Organisationen aus dem Umwelt- und Sozialbereich vereint. Gerade über Umweltorganisationen würden auch bürgerliche Wähler erreicht, die sonst skeptisch gegenüber Anliegen der Linken seien. Gemäss Buri wird nun entschieden, wie viel Geld und Engagement in die Kantonsabstimmungen investiert werden soll und was eher für den nationalen Abstimmungskampf aufgespart wird.

 Für beide Seiten gilt es, in den nächsten Jahren um jede Stimme zu kämpfen. Die bestehenden AKW geniessen zwar eine breite Akzeptanz. In der Frage, ob neue gebaut werden sollen, ist das Volk aber gespalten. Die regelmässigen Meinungsumfragen von Swissnuclear geben an, dass seit 2005 die Befürworter neuer AKW in der Mehrheit sind (54,6 Prozent), allerdings mit wieder sinkender Tendenz. Die Zustimmungsrate ist gemäss Swissnuclear bei den 15- bis 44-Jährigen am höchsten. Eine 2008 publizierte Eurobarometer-Umfrage, die bloss nach der "Grundhaltung" fragte, zeigte für die Schweiz hingegen eine Zunahme der Kernenergiebefürworter mit dem Alter, während die Jugend eher eine ablehnende Haltung vertritt, aber mit einem sehr geringen Anteil kategorischer Gegner. Die Gruppe der bis 25-Jährigen und der etwas älteren Jahrgänge ist am ehesten noch unentschlossen und für Gegner wie Befürworter eine wichtige und ergiebige Zielgruppe.

 Es wird geschätzt, dass ein Drittel der Teilnehmer der Demonstration an Pfingsten schon vor Jahrzehnten gegen AKW war, als dies noch einen Ausdruck eines allgemeinen gesellschaftlichen Unbehagens gegenüber dem Fortschritt und dem Denken der Eliten darstellte. Im Gegensatz zu den 1970er Jahren nicht mehr unter den Demonstranten war Medienunternehmer und Nationalrat Filippo Leutenegger (fdp., Zürich). Ausschlaggebend für seine frühere Opposition seien der damals noch enge Zusammenhang mit der militärischen Nutzung gewesen sowie das nun einigermassen geklärte Problem der Entsorgung radioaktiver Abfälle. Er sei zwar immer noch "kein Freund" von AKW, aber es gebe leider noch keine klimafreundliche Alternative zu einem Ersatz der bestehenden Anlagen, trotz Effizienz-Anstrengungen und neuen erneuerbaren Energien, so Leutenegger.

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 Diskussionen auf verschiedenen Ebenen
 

 dsc. ⋅ Seit bald zwei Jahren verhandelt Alpiq (Standort Gösgen) mit Axpo und BKW (Standorte Beznau und Mühleberg) über die Beteiligungsverhältnisse bei zwei neuen AKW. Im Prinzip sind sich die Stromfirmen einig, dass die Werke gemeinsam realisiert werden sollen. Insbesondere Alpiq will aber alle drei Projekte weiter vorantreiben, um die definitive Standortwahl im Lichte der Ergebnisse des laufenden Verfahrens vorzunehmen. Seitens der Axpo wurde indes kürzlich wieder erklärt, eine entscheidende Einigung sei in den nächsten Monaten zu erwarten. Anschliessend dürften die Finanzdirektoren der Standortkantone (gleichzeitig Stromkonzern-Eigentümer) einen Ausgleich für den nicht berücksichtigten Kanton erarbeiten, nachdem erste Verhandlungen dazu abgebrochen worden sind.

 Auf Druck der ständerätlichen Energiekommission hin will sich der Bund nun vermehrt des Themas Grosskraftwerke annehmen und Bedarfs- und Rentabilitätsabklärungen durchführen, auch mit Blick auf die Frage, ob es bis zur Inbetriebnahme allfälliger neuer AKW Mitte der 2020er Jahre Gaskombikraftwerke als Übergangslösung braucht.

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Sonntagszeitung 30.5.10

"Unsere Studie hat Nagra-Infos widerlegt"

 Der Schaffhauser Regierungspräsident Erhard Meister (SVP) über Tiefenlager für Atommüll

Catherine Boss

 Bern Das Bundesamt für Energie (BFE) hat am Freitag die definitiven Standortgemeinden für ein Atommülllager bekannt gegeben und auf nächstes Jahr Studien über wirtschaftliche Folgen eines Lagers versprochen. Zu spät - findet der Kanton Schaffhausen und hat bereits eine eigene Studie erstellt.

 Herr Meister, warum hat sich Ihre Regierung mit der eigenen Studie quergestellt?

 Wir haben immer gefordert, dass solche Studien frühzeitig gemacht werden. Als das BFE unserem Wunsch nicht nachkam, haben wir es selbst an die Hand genommen. Die Bevölkerung braucht die Informationen über die wirtschaftlichen Folgen eines Lagers jetzt und nicht erst in einem Jahr oder später.

 Warum ist dies derart wichtig?

 Die Leute müssen die Konsequenzen eines Lagers kennen. Sie sind mündig genug, dass wir die Fakten auf den Tisch legen können. Die Nagra behauptet in ihren Info-Broschüren ständig, dass ein Lager sicher sei und vor allem positive Effekte auf eine Region habe. Unsere Studie hat dies widerlegt.

 Der kürzlich publizierte Bericht der Kommission für nukleare Sicherheit zeigt, dass technische Fragen offen sind, die für die Sicherheit relevant sind.

 Das stimmt - die Nagra thematisiert das zu wenig. Ich bin gegen Verharmlosungen, denn sie machen mich skeptisch.

 Sie wollen das Lager nicht vor Ihrer Haustür, trotzdem sind Sie für die Atomenergie.

 Das Dilemma ist mir bewusst. Ich bin nicht grundsätzlich gegen ein Endlager. Ich gehe davon aus, dass es einen möglichst sicheren Standort gibt, welcher aber nicht wie der Kanton Schaffhausen Teil einer grossen Agglomeration ist. Schaffhausen profiliert sich seit Jahrzehnten als grüner Kanton. Wir haben grosse Naturschutzgebiete. Auf diese besondere Identität als grüne Region am Rhein ist die Bevölkerung stolz. Da passt ein Tiefenlager wie die Faust aufs Auge.

 Der Bundesrat will in wenigen Jahren über neue AKW abstimmen lassen. Geht das, wenn bis dann kein Lagerstandort existiert?

 Das wäre nicht verantwortbar. Es ist eine Zumutung für die Bevölkerung, wenn der Bund neue AKW bewilligt, ohne eine Lösung für die Entsorgung der Abfälle zu haben.

 Ist Ihre Haltung in dieser Frage SVP-kompatibel?

 Ja, ich gehe davon aus, dass sie in der SVP Schaffhausen mehrheitsfähig ist. Wir werden das nächstens beraten.

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 Mit zwei Ellen gemessen

 Die drei Stromkonzerne Axpo, BKW und Alpiq haben sich nicht auf ein gemeinsames Ersatz-AKW geeinigt. Das verzögert das Bewilligungsverfahren um rund zehn Monate. Unproblematisch, meinte bisher Bundesrat Moritz Leuenberger. Dem Kanton Bern hat sein Amt hingegen eine dreimonatige Fristerstreckung verweigert, weil dies das Verfahren verzögere. Die Berner verlangten mehr Zeit für eine Volksbefragung zum Thema. Regierungsrätin Barbara Egger (SP): "Ich sehe nicht ein, warum wir nicht mehr Zeit erhalten und nun so hetzen müssen." Sie habe vom Bund keine schlüssige Erklärung erhalten.

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BZ 29.5.10

Kanton Bern

 SVP weibelt für AKW

 Die SVP sagt der Regierung den energiepolitischen Kampf an: Sie will für ein Ja zum neuen AKW Mühleberg einstehen.

 Die bernische SVP will nach dem Wahlsieg der Bürgerlichen den "Kampf gegen die linksideologische Energiestrategie der Berner Regierung" aufnehmen, wie sie gestern erklärte. Man setze alles daran, die Volksabstimmungen über das Energiegesetz und die Stellungnahme zum Atomkraftwerk Mühleberg zu gewinnen.

 Die Unterschriftensammlung für den Volksvorschlag gegen wichtige Teile des Energiegesetzes habe begonnen. Namentlich geht es um den obligatorischen Gebäudeenergieausweis für alle Eigentümer von Wohnbauten, deren Bau vor 1990 bewilligt worden ist, und die Förderabgabe auf dem Stromverbrauch, die der Grosse Rat im März beschlossen hat. Steuern, Abgaben und Gebühren im Kanton Bern seien schon heute hoch, und das Strompreisniveau liege jetzt schon über dem schweizerischen Durchschnitt, kritisierte die SVP auch die BKW. Weiter sprach sich die Partei explizit für den Ausbau der KWO-plus-Projekte an der Grimsel aus.
 pd

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Bund 28.5.10

Kernfrage findet den Weg auf Plakate

 Mit Anti-AKW-Plakaten von Greenpeace beginnt eine Kampagne, die im Kanton bald allgegenwärtig sein dürfte. AKW-Gegner und -Befürworter werden um die Gunst des Volks buhlen - und Millionen ausgeben.

 Sarah Nowotny

 Man denkt an Sperrgebiete, Belagerungszustände, Gefahr - und das ist gewollt. "Sie leben in Zone 2", steht auf Plakaten rund um den Berner Bahnhof. Gemeint ist, dass sich der Bahnhof nicht mehr als 20 Kilometer vom Atomkraftwerk (AKW) Mühleberg entfernt befindet. Schutzmassnahmen im Falle eines AKW-GAUs - etwa Alarmierung, Jodtabletten und Evakuierung - gebe es nur in den Zonen 1 und 2, also in unmittelbarer Nähe der Schweizer AKWs, will die Umweltschutzorganisation Greenpeace auf diese Art auch bis anhin sorglosen Passanten mitteilen.

 Die übrige Schweiz ist Zone 3, für Greenpeace gar Niemandsland in Sachen Schutz vor atomaren Ausbrüchen, wie die Organisation im Internet schreibt. "Die Behörden sehen dort keine Massnahmen vor, sollte in einem Kraftwerk etwas passieren. Dabei macht eine radioaktive Wolke nicht vor Kantons- und Gemeindegrenzen halt", sagt Urs Wittwer, Kampagnenleiter. Dass Greenpeace auf diese Weise argumentiert - ohne etwa auf die Unwahrscheinlichkeit eines Tschernobyl-artigen Vorfalls hinzuweisen -, erstaunt nicht weiter. Der momentanen Kampagne kommt indes durchaus eine besondere Bedeutung zu: Sie bildet den Auftakt zu einer umfassenden, langen und teuren Kampagne. Sowohl Gegner als auch Befürworter der Atomenergie werden in nächster Zeit immer flächendeckender im öffentlichen Raum um die Gunst des Volks buhlen - besonders im Kanton Bern.

 BKW gibt sich zugeknöpft

 Denn 2013 dürfte das Volk entscheiden, ob in der Schweiz neue AKWs gebaut werden. Bereits nächsten Februar können Bernerinnen und Berner wohl konsultativ dazu Stellung nehmen, ob sie ein neues Werk in Mühleberg befürworten. "Unsere Kampagne ist nicht auf die Berner Abstimmung zu Mühleberg ausgerichtet, aber wir sind natürlich froh über das zeitliche Zusammentreffen", sagt Wittwer. Greenpeace und andere Organisationen, die sich zu einer Allianz gegen AKWs zusammengeschlossen haben, werden wohl bald eine Kampagne folgen lassen, die explizit auf den Berner Abstimmungskampf zugeschnitten ist. "Unser Jahresbudget für Kampagnen beträgt aber weniger als 500 000 Franken, die Energiekonzerne werden bis 2013 wohl 100 Millionen aufwenden", sagt Wittwer. Im Moment hängen insgesamt 300 Greenpeace-Plakate in 12 Schweizer Städten.

 An vorderster Front gegen ein neues AKW in Mühleberg kämpft auch die Vereinigung Fokus Anti Atom. "Wir haben kein Geld, um im grossen Stil in Plakate und anderes Material zu investieren", sagt ihr Sprecher Jürg Joss. Noch sei das Thema zudem nicht brandaktuell, versuche doch Fokus Anti Atom vor Bundesverwaltungsgericht noch immer, die unbefristete Betriebsbewilligung für Mühleberg rückgängig zu machen.

 Beim Energiekonzern BKW, der in Mühleberg bauen will, gibt man sich noch zugeknöpft. "Wir nehmen die Greenpeace-Kampagne zur Kenntnis", sagt Sprecher Antonio Sommavilla. In nächster Zeit sei aber nicht vorgesehen, darauf zu reagieren. "Noch ist es für uns zu früh, um die Berner Bevölkerung im Hinblick auf die Abstimmung zu informieren." Die BKW kenne aber die Agenda und werde zu gegebener Zeit im öffentlichen Raum präsent sein. "Wie gross unser Budget für diesen Zweck sein wird, ist indes noch offen."

Die Greenpeace-Kampagne findet sich im Internet auf
http://www.sichererstrom.ch.

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BZ 28.5.10

Arbeiterdorf in Mühleberg

 BKW und Anwohner streiten um Standort

 Die BKW will die Arbeiter des geplanten AKW Mühleberg auf der Salzweid ansiedeln. Den Anwohnern schwebt anderes vor.

 Aus den schnurgeraden Erdwällen strecken Kartoffelpflanzen erste grüne Blätter ans Licht. Geht es nach dem Willen der BKW, wird hier, auf rund zehn Hektaren beim Weiler Salzweid Gemeinde Mühleberg, eine temporäre Arbeitersiedlung aufgebaut. Während des An- und Abbaus des geplanten Ersatzkernkraftwerks Mühleberg würden am östlichen Rand der Gemeinde bis zu 1700 Personen leben. Dagegen leistet die Interessengemeinschaft (IG) Salzweid Widerstand (wir berichteten).

 "Eigenes Land benutzen"

 "Wir sind nach wie vor der Ansicht, dass die BKW für die Infrastruktur eigenes Land benutzen soll", sagt Christian Minder von der IG. Der Landwirt lebt im angrenzenden Frauenkappelen, ist aber Eigentümer eines Feldes auf der Salzweid, das die BKW im Visier hat. Die IG schlägt eine eigene Variante in Marfeldingen vor, wo die BKW Grundeigentum besitzt. Am Ufer der Saane könnten eine Arbeitersiedlung und ein Infrastrukturplatz eingerichtet werden. Ein Tunnel würde diese mit der Kernkraftwerkbaustelle verbinden. Autobahnauf- und abfahrten in nächster Nähe würden das Dorf Mühleberg und Buttenried vom Verkehr entlasten, finden die IG-Mitglieder. "Diese Variante hätte die BKW von Anfang an abklären müssen. Vor allem weil dort bereits Wasser- und Abwasseranschlüsse sind", findet IG-Mitglied Bruno Känzig. Das Argument der BKW, dass dort ein Hochwassergebiet sei, will die IG nicht akzeptieren. "Für das neue Kernkraftwerk scheint die BKW ja auch eine Lösung gefunden zu haben", meint Christian Minder.

 "Zu aufwendig"

 Bei Gesprächen zwischen Vertretern der Gemeinde und der BKW habe sich herauskristallisiert, dass die Salzweid optimal sei, sagt dagegen BKW-Sprecher Antonio Sommavilla. Ein Logistikplatz mit Arbeitersiedlung an der Saane bei Marfeldingen weise "deutliche Nachteile" auf. Weil dieses Gebiet hochwassergefährdet sei, müssten Aufschüttungen gemacht und wieder abgetragen werden. Der Tunnel zur Baustelle wäre so lang, dass er belüftet werden müsste. Zudem sei das Gelände abschüssig, was den Bau von Rampen nötig machen würde. "Wir signalisierten der IG unsere Bereitschaft, die eine oder andere Kombinationsmöglichkeit mit Elementen aus ihrer Variante zu prüfen", so Sommavilla. Die ganze Infrastruktur nach Marfeldingen zu verlegen, sei sowohl kosten- als arbeitsmässig äusserst aufwendig. Die Variante der IG schneide im Vergleich zum Vorschlag der BKW und der Gemeinde deutlich schlechter ab.

 Bau noch unklar

 Ob das Ersatzkernkraftwerk Mühleberg überhaupt je gebaut wird, ist noch unklar. Derzeit prüfen die Behörden das tausendseitige Rahmenbewilligungsgesuch. Danach entscheiden National- und Ständerat. Sagen sie Ja, kann das Volk frühestens 2013 an der Urne über dieses Kernkraftwerk abstimmen. "Auch wenn das Verfahren noch lange dauert - wir wollen uns gegen die geplante Arbeitersiedlung Salzweid und den Logistikplatz engagieren, bevor es zu spät ist", erklärt IG-Mitglied Christian Minder.

Laura Fehlmann

http://www.salzweid.ch