MEDIENSPIEGEL 31.5.10
(Online-Archiv: http://www.reitschule.ch/reitschule/mediengruppe/index.html)
Heute im Medienspiegel:
- Reitschule-Kulturtipps (Rössli, Tojo)
- RaBe-Info 28. + 31.5.10
- Bollwerk: Kino-Zukunft + MieterInnen-Suche
- Kulturpolitik: Kein Rotstift
- Monopoly BE: Keine Hotels bei der Reitschule
- Quartierplanung Lorraine-Breitenrain
- Stadttauben: Wegzug ins mediale Nirgendwo
- Demorecht BE: Entfernungsartikel für nix
- Dealerszene: 15 Monate für Dr. X
- Kiss-in unter dem Baldaching
- Erich Hess: SVP-Ausschluss-Drohung
- Club-Leben Biel: Bermudadreieck
- Anti-Feminismus: René Kuhn buch-flopt
- Sans-Papiers: Portrait LU; Härtefallkommission ZH
- Nothilfe: Trotz allen Schikanen Ausreise-Verweigerung
- Ausschaffung: Sonderflug-Stop-Sorgen; 5886 Ausschaffungen 2009
- Revolte BS: Rosenau-Zwischenfall; Videoüberwachung;
Demoschäden-Staatshaftung
- 30 Jahre Züri brännt: Sommererinnerungen
- Big Brother Sport: Inti FCSG; Finalissima wird Primeur
- Big Brother Internet: Inti mit Anton Gunzinger; Nix
Überwachungssystem
- Anti-Atom: BKW-Engagement; Jugendarbeit; Nagra-Streit;
SVP-Sünneli; Plakatkrieg; Mühleberg-Arbeiterdorf
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REITSCHULE
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Di 01.06.10
20.30 Uhr - Kino Uncut - Warme Filme am Dienstag: Der Schwule
Neger Nobi, Dokumentarfilm von Wilm Huygen, Deutschland 2009
Do 03.06.10
19.00 Uhr - Frauenraum - Filmabend mit FriedensFrauen Weltweit:
"America America", Antiwar Music Video, K.P. Sasi, Indien
19.30 Uhr - Frauenraum - Filmabend mit FriedensFrauen Weltweit:
"Redefining Peace - Women Lead the Way" K.P. Sasi, Indien
20.30 Uhr - Tojo - "Run very far to come very close to say very
little" Choreographie: Manuela Imperatori.
20.30 Uhr - Kino - Südafrika jenseits des WM-Taumels: The
Mountain meets its Schadow (Im Schatten des Tafelberges), Alexander
Kleider und Daniela Michel in Kooperation mit Romin Khan Kapstadt,
Südafrika, D 2009
21.00 Uhr - Frauenraum - Filmabend mit FriedensFrauen Weltweit:
"The Marching Peace Makers", Sayed Khalid Jamal, Indien
Fr 04.06.10
20.30 Uhr - Tojo - "Run very far to come very close to say very
little" Choreographie: Manuela Imperatori.
21.00 Uhr- Vorplatz - SFS, Heads, Parzival, MC Dask (Shiva
Records) - Style:Rap und Hip Hop
Sa 05.06.10
17.00 Uhr - GrossesTor - Führung durch die Reitschule
(öffentlich, ohne Anmeldung)
20.30 Uhr - Tojo - "Run very far to come very close to say very
little" Choreographie: Manuela Imperatori.
22.00 Uhr - Dachstock - Brass & Hip Hop Explosion:
Youngblood Brass Band (Layered/USA) - Style: Brass, Funk, Hip-Hop
So 06.06.10
09.00 Uhr - Grosse Halle - Flohmarkt
13.30 Uhr - Kino - Kinderfilme am Flohmi-Sonntag: Wallace &
Gromit: Auf der Jagd nach dem Riesenkaninchen, Steve Box/Nick Park, GB
2005
Infos:
http://www.reitschule.ch
http://www.reitschulebietetmehr.ch
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kulturstattbern.derbund.ch 31.5.10
http://newsnetz-blog.ch/kulturstattbern/blog/2010/05/31/karibikrauschen-im-rossli/
Von Manuel Gnos am Montag, den 31. Mai 2010, um 12:44 Uhr
Karibikrauschen im Rössli
Ein fürchterlich verregneter Sonntagabend wars gestern. Die
Bad Bonn Kilbi steckte mir noch in den Knochen und die Ohren waren
für einen Moment ganz zufrieden mit der Ruhe um sie herum. Doch
versprochen ist versprochen und so nahm ich den Weg von der Lorraine in
die Reitschule unter die Füsse, um im Rössli dem Auftritt der
zehnköpfigen Münchner Band G. Rag Y Los Hermanos Patchekos
beizuwohnen.
http://newsnetz-blog.ch/kulturstattbern/files/2010/05/grag.JPG
G.Rag y los Hermanos Patchekos im Rössli der Reitschule
Bern, 30. Mai 2010. (Bild Manuel Gnos)
Drei Dutzend Leute taten es mir gleich - und waren nach wenigen
Minuten froh, dass sie gekommen waren. Denn wenn zehn Bayern sich
anschicken, einen beträchtlichen Teil der Volksmusiken dieser Welt
für ihr Rumpelorchester einzunehmen, kann eigentlich nicht mehr
viel schief gehen. Dann hört man auf der Kuhweid das Rauschen der
Karibik, das totentrompeten aus New Orleans, das Schmatzen des Sumpfes
in Tennesse und das Echo der Blechbläser auf dem Balkan.
Von Beginn weg hatte das Kleinorchester den richtigen Ton
getroffen und die kleine Gästeschar nahm dies dankbar an. Im
Verlaufe des Konzerts zog die Stimmung an und gegen Ende kam es gar zu
wilden, teils höchst erotisierten Tanzszenen im kleinen Lokal mit
Ausblick auf den unverwüstlichen Vorplatz. Der Band wurden die
Schnapsgläser gereicht, man wünschte sich beste Gesundheit
und war froh, an diesem Sonntagabend das traute Heim verlassen zu haben.
Hier können Sie reinhören:
http://newsnetz-blog.ch/kulturstattbern/blog/2010/05/31/karibikrauschen-im-rossli/
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NZZ am Sonntag 30.5.10
Dällebach Kari im Musical verspricht zitternde Herzlein mit
Swissness
"Huu, hu-hu-huu" haucht Raquel Rodo in der Cover-Ballade
von Mani Matters Lied über den Dällebach Kari. Vor ihrem
Auftrag für die Thuner Seespiele, welche die Lebensgeschichte des
Berner Coiffeurmeisters diesen Sommer auf die Musicalbühne hieven,
hat die 24-jährige ehemalige "Music-Star"-Teilnehmerin noch nie
vom Hauptstadt-Original gehört. Kurt Früh hat die Anekdoten,
die man sich vom Dällebach Kari erzählt, 1970 in einem
stimmigen, traurigen Film verewigt. Daran erinnern sich offenbar eher
die älteren Semester. Von denen gibt es aber genug, wie der Erfolg
des Theaterstücks "Dällebach Kari" vor vier Jahren auf dem
Gurten gezeigt hat. Für die Thuner Seespiele ist es das erste
eigens entwickelte Stück seit Beginn der Seespiele im Jahr 2003,
als "Evita" vor dem Alpenpanorama über den See erscholl. Der Text
stammt von Kurt Frühs Tochter Katja, in der Hauptrolle spielt
Hanspeter Müller-Drossaart.
Der Mut der Organisatoren ist begründet: 63 000
Zuschauer sahen sich letztes Jahr "Jesus Christ Superstar" an. Für
"Dällebach Kari" schnurrt längst die PR-Maschinerie.
Fernsehen, Radio, Printmedien begleiten das Spektakel. In der
Schaukäserei Affoltern im Emmental hat die Künstlerin
Claudine Etter eine Ausstellung eingerichtet, in der sie den "wahren
Dällebach Kari" zeige und hinter die "Maske", das "Schöne"
schaue. Schön? Ein wegen der Hasenscharte Gehänselter, eine
unglückliche Liebesgeschichte, Alkoholismus, Krebskrankheit,
Suizid - schön ist anders. Wenn schon schön, so kann damit
nur der Aussenseiter-Mythos gemeint sein, der im Laufe der Jahre aus
Dällebachs Schicksal fabriziert worden ist. Eine Tragödie im
Altstadt-Kleinformat. Der Fleischwolf Musical kann aber auch daraus die
Masse für eine Showwurst pressen. Ein Song der Thuner Seespiele
heisst "Kari isch Kult". Er beginnt so: "Der Dällebach isch
üse Maa, si Witz isch troch, isch fräch, isch e Held u cha
suufe wi nes Loch." Nicht gerade charmant. Im Refrain heisst es: "Er
isch de Gröscht, er isch unschlagbar. De Kari isch Kult, yes, he
can." Obama meets Dällebach? Fazit: "De Dällebach Kari, de
isch eifach optimal." Das ist 180 Grad an dem vorbeigezielt, was durch
Hansruedi Lerchs grundlegende Biografie von 1968 bekannt ist.
Doch Musicals wollen nicht Authentizität. Musicals
wollen Unterhaltung und Harmonie. Wie die Thuner dieses Credo umsetzen,
dem geht der Theatermusiker und Audio-Designer Pascal Nater in seinem
Musical "Die Dällebach-Macher" nach, das er im winzigen
Tojo-Theater in der Berner Reitschule aufführen wird. Eigentlich
hätte es ein journalistischer Beitrag fürs Radio werden
sollen. Nater ist eine Tendenz zu Musicals mit Swissness-Faktor
aufgefallen. Zuerst kam 2007 "Ewigi Liebi", dann folgte die stets
ausverkaufte "Kleine Niederdorfoper" am Bernhard-Theater, jetzt
"Dällebach Kari", im September "Die Schweizermacher" nach Rolf
Lyssys Film . . .
Naters Feature kam nicht zustande. "Für einen
kritischen Beitrag existieren einfach zu viele Medienpartnerschaften."
So entstand die Idee eines eigenen Musicals, das zum Teil aus
Recherche-Material besteht. Als Anti-Dällebach versteht Nater
seine Produktion keineswegs: "Ich kann ja nicht kritisieren, was noch
nicht fertig ist." Dennoch blickt er der Thuner Premiere kritisch
entgegen. "Das Ganze klingt nach Totalausverkauf eines Originals", sagt
er und ortet das Hauptproblem im Missverhältnis zwischen
gigantischer Show und "lokalem Phänomen", das als nationaler
Mythos behandelt wird".
Das traurige Leben des Coiffeurmeisters wird umoperiert
zur Ausstattungsrevue. Da zittern nicht die Blümlein in Karis
Lieblingslied, sondern die Herzlein der Zuschauer. Welcher Spruch dem
Dällebach Kari wohl dazu eingefallen wäre?
Regula Freuler
Dällebach Kari. Das Musical. Text: Katja Früh. Musik:
Moritz Schneider. Regie: Andreas Gergen. www.thunerseespiele.ch. 14. 7.
bis 28. 8.
Die Dällebach-Macher. Von und mit Pascal Nater und Michael
Glatthard. Tojo-Theater, Bern. 30. 6. bis 4. 7.
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RABE-INFO
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Mo. 31. Mai 2010
http://www.rabe.ch/uploads/tx_mcpodcast/RaBe-_Info_31._Mai_2010.mp3
- Israelischer Angriff auf Gaza-Hilfsflotte
- Kopf der Woche: Tharsika Pakeerathan ist Präsidentin des
neu gegründeten tamilischen Volksrates in der Schweiz
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Fr. 28. Mai 2010
http://www.rabe.ch/uploads/tx_mcpodcast/RaBe-_Info_28._Mai_2010.mp3
- Bericht zu Jugendgewalt: Kanton Bern will ganzheitliche
Strategie
- Vorurteile abbauen: Astrologen treten an die
Öffentlichkeit
- Letzer Akt: das Ende des Cinemastar ist in Sicht... oder doch
nicht?
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BOLLWERK
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Bund 28.5.10
Das Kino Splendid wird wiedereröffnet
Die Kinokette Kitag übernimmt das vor zwei Monaten
geschlossene Kino Splendid in der Berner Innenstadt. Damit bleiben Bern
zwei Säle mit total 350 Plätzen erhalten. Die
Wiedereröffnung des altehrwürdigen Kinos ist auf Anfang Juli
vorgesehen. Derweil surren die Projektoren im Kino Cinemastar am
Bollwerk am Samstag vorerst zum letzten Mal. Das Kino wird aus
wirtschaftlichen Gründen geschlossen. Gegen die Schliessung
kämpft eine Gruppe junger Leute. Sie planen, den Saal für
kulturelle Veranstaltungen aller Art umzunutzen. Nun sind sie auf der
Suche nach Partnern. Scheitern könnte das Projekt an den Finanzen.
(bro) - Seite 23
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Das Kino Splendid lebt weiter - für Cinemastar wird
gekämpft
Die Kinokette Kitag übernimmt die beiden
Splendid-Kinosäle, die Ende März geschlossen worden waren.
Christian Brönnimann
Totgesagte leben länger: Das altehrwürdige Kino
Splendid in der Berner Innenstadt wird auf Anfang Juli nach
dreimonatiger Schliessung wiedereröffnet. Die Kinokette Kitag
übernimmt den Betrieb der beiden Säle mit total 350
Sitzplätzen, wie das Unternehmen gestern mitteilte. "Wir glauben
an das Kinopublikum in der Berner Innenstadt", sagt Wilfried
Heinzelmann, Kitag-Verwaltungsratsmitglied. Grund für den Ausstieg
der vorherigen Splendid-Betreiberin - der Quinnie-Gruppe - waren
sinkende Besucherzahlen. Zu kämpfen haben die Kinobetreiber in der
Innenstadt mit der neuen Konkurrenz von Pathé im Einkaufszentrum
Westside.
Die zwei Splendid-Säle ermöglichten eine bessere
Programmgestaltung, sagt Heinzelmann. Das Splendid sei ein
traditionelles, gut etabliertes Kino, das vom Publikum geschätzt
werde, erläutert er die weiteren Gründe für den
Einstieg. Gleichzeitig sei klar, dass es schwierig werde, neues
Publikum dazuzugewinnen. Programmiert werden soll im Splendid im
gleichen Stil wie in den übrigen Kitag-Kinos. Mit dem
Splendid-Coup wird die Kitag in Bern neu 14 Säle bespielen.
Quinnie bleiben noch 7 Säle.
Bis zur Wiedereröffnung will Kitag die beiden
Säle leicht renovieren. Eine Auffrischung erhalten laut
Heinzelmann Bestuhlung, Wände und Böden. Zudem soll die
Technik im Hauptsaal auf den neusten Stand gebracht werden und so
3-D-Vorführungen ermöglichen.
Cinemastar vorerst zu
Das gegenteilige Schicksal erlebt das Kino Cinemastar am
Bollwerk. Hier surren die Projektoren an der Kurzfilmnacht vom Samstag
vorerst zum letzten Mal. Ebenfalls aus wirtschaftlichen Gründen
gibt Quinnie den Kinosaal mit seinen gut 200 Plätzen auf. Doch ob
im ehemaligen Kino Actualis die Lichter endgültig erlöschen,
ist noch nicht klar. Eine Gruppe junger Leute will den Kinosaal und die
benachbarte Bar retten. Die aktuellen und ehemaligen Bar- und
Kinomitarbeiter planen, den Verein Kulturwerk zu gründen und den
Kinosaal auf eigene Faust weiterzuführen - als Lokal für
kulturelle Veranstaltungen aller Art. Das Konzept: eine Reihe von
Partnern mietet sich im Lokal für eigene, regelmässige
Anlässe ein. Der Verein organisiert und koordiniert die Nutzung.
"Neuer kultureller Treffpunkt"
In diesen Tagen haben die Initianten verschiedene
Institutionen angeschrieben, um das Interesse an einem solchen Angebot
zu klären. Das Projekt hänge direkt von den
Rückmeldungen ab, sagt Mitinitiant Matthias Streit. Verschickt
wurde das Schreiben zum Beispiel an die Hochschule der Künste
Bern, an das Kunstmuseum, die Swiss Jazz School oder an die
Konzertveranstalter Bee-Flat und Be-Jazz. Mit dem Projekt soll "das
Bollwerk zu einem neuen kulturellen Treffpunkt unserer Stadt werden",
wie die Initianten im Rundbrief schreiben. Der Kinosaal habe ein
grosses Potenzial zur Förderung der hiesigen Kultur und eigne sich
ideal für Konzerte, Theater Lesungen, Vorträge und
Projektionen aller Art.
Als Startkapital benötigt der Verein laut Matthias
Streit 80 000 bis 100 000 Franken. Ein Teil, etwa 20 bis 30 Prozent,
sei bereits vorhanden. Um das Wagnis einzugehen, seien im Weiteren fixe
Zusagen für das Programm von drei bis fünf Abenden pro Woche
nötig, sagt Streit. Sobald dieses Ziel erreicht und die
Finanzierung geklärt sei, könne man loslegen. Als
frühstmöglichen Wiedereröffnungstermin nennt Streit den
kommenden August. Zuvor müssten noch diverse bauliche Anpassungen
vorgenommen werden. Nach den Plänen der Initianten würde die
Anzahl der Kinosessel reduziert und so Platz für eine Bühne
und für kleine Tische innerhalb der Reihen geschaffen. Zudem
würde die Akustik und die Lichtsituation im Saal verbessert.
"Die Zeit drängt", sagt Stefan Marthaler, der bis
dato im Cinemastar als Operateur arbeitet. Mit Quinnie habe man
vereinbart, dass das Inventar und die technische Einrichtung noch nicht
sofort abtransportiert würden. Auch die Verwaltung habe
signalisiert, dass der Verein willkommen wäre, ergänzt Micha
Dietschy von der Cinebar. Bis Mitte Juni müsse aber ein konkretes
Konzept vorliegen. Von der Verwaltung, Mössinger Immobilien, war
gestern keine Stellungnahme zur Zukunft der Liegenschaft zu erhalten.
Auf ihrer Internetseite sind die Räumlichkeiten am Bollwerk aber
nicht zur Miete ausgeschrieben.
Bekult begrüsst Bemühungen
Christian Pauli, Präsident des Dachverbands der
Berner Kulturveranstalter Bekult, begrüsst die Bemühungen der
Initianten. "Die Schliessung des Kinos ist eine Katastrophe", sagt er.
Der Ort und die Räumlichkeiten seien toll. "Das Bollwerk ist die
wohl urbanste Ecke in Bern und hat seine ganz eigene Qualität",
sagt Pauli. Um Erfolg zu haben, müsse der Verein eine spezielle
Nische finden. Denn: "Die Dichte des kulturellen Angebots in Bern ist
bereits jetzt sehr gross." Einfach werde es für die Initianten
wahrscheinlich nicht. Zu hoffen sei, so Pauli, dass sie dem
finanziellen und zeitlichen Druck standhalten können.
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Bollwerk
Suche nach Mietern ist schwierig
Leer stehende Geschäftsräume trotz zentralster
Lage: Die Situation am Bollwerk ist unbefriedigend. Die Stadt arbeitet
an Plänen zur Aufwertung.
Unmittelbar neben dem Kino Cinemastar stehen am Bollwerk
seit fast einem Jahr Geschäftsräumlichkeiten mit einer
Gesamtfläche von 700 Quadratmetern leer. Interessenten dafür
seien vorhanden, sagt der zuständige Verwalter von der Von
Graffenried AG Liegenschaften. Die Räume und die Lage an sich
seien unter anderem der hohen Passantenfrequenz wegen attraktiv. Jedoch
schrecke viele die nähere Umgebung am Bollwerk ab. Der Verwalter
sagt, es sei heute schwieriger als vor fünf Jahren, das
Geschäftslokal zu vermieten. Die Szenenbildung beim Bahnhofaufgang
Neuengasse und die Nähe zur Drogenanlaufstelle an der
Hodlerstrasse belasteten den Standort sehr. Ein weiterer negativer
Faktor seien die Veloabstellplätze auf dem Trottoir, welche die
Sicht auf die Schaufensterfront verdeckten und die Anlieferung
erschwerten. Ein Teil des Lokals wird seit Anfang Jahr unentgeltlich
für künstlerische Installationen genutzt. Die normalen
Mietkosten für die gesamte Fläche betragen rund 30 000
Franken pro Monat.
Bei der Stadt laufen seit einiger Zeit die Arbeiten
für eine schrittweise Aufwertung der baulichen Situation am
Bollwerk. Die Werkleitungen im Boden sind teilweise veraltet. Bis
spätestens in fünf Jahren müssen laut Hugo Staub,
Abteilungsleiter der städtischen Verkehrsplanung, die ersten
Leitungen ersetzt sein. Bei dieser Gelegenheit werde geprüft,
welche Verbesserungen möglich seien, um die "Verkehrsschlucht"
etwas angenehmer zu gestalten. Dies schaffe die Grundlage für
weitere Aufwertungen, beispielsweise vonseiten der SBB, sagt Staub.
Trottoir vis-à-vis unbefriedigend
Konkret erarbeitet die Verwaltung derzeit ein Betriebs-
und Gestaltungskonzept für das Bollwerk. In den nächsten
Wochen stehe eine Sitzung an, in welcher die Eckpunkte der Planung
definiert werden sollen, sagt Staub. Es gehe darum, den Strassenraum
für die nächsten Jahrzehnte zu definieren und sauber
abzugrenzen. Handlungsbedarf sieht Staub zum Beispiel beim Trottoir auf
der Seite des Bahnhofs, das derzeit stellenweise sehr eng ist.
Die Gesamtplanung der Schützenmatte am unteren Ende
des Bollwerks will der Gemeinderat nach der Abstimmung über die
Reitschul-Initiative im Herbst an die Hand nehmen. Vor einem halben
Jahr hat der Stadtrat ihn beauftragt, einen Planungskredit für die
Schützenmatte vorzulegen. (bro)
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BZ 28.5.10
Splendid
Happy End für Kino
Die Geschichte geht weiter: Das Berner Kino Splendid wird
von der Kitag übernommen und Anfang Juli wiedereröffnet.
Mitte Januar gab die Quinnie-Gruppe die Schliessung der
beiden Kinos Splendid und Cinémastar bekannt. Schuld war der
kontinuierliche Besucherrückgang seit der Eröffnung des
Multiplexkinos im Westside. Nun findet zumindest die Geschichte um das
85-jährige Splendid doch noch eine Fortsetzung. Wie die Berner
Zeitung BZ bereits Ende April berichtete, übernimmt die Kitag das
Kino und will es Anfang Juli wiedereröffnen. Das gesamte Kino soll
sanft renoviert werden, und der grosse Saal wird mit 3-D-Technologie
ausgerüstet. Damit soll das Kino auf den neusten Stand der Technik
gebracht werden.
Investition trotz Verlust
Die Übernahme erstaunt, denn die Innenstadtkinos
haben im Jahr 2008 rund 15 Prozent der Zuschauer eingebüsst.
Kitag-Verwaltungsratsmitglied Wilfried Heinzelmann erklärt die
Flucht nach vorne: "Wir glauben, dass die Leute die
innenstädtische Lage der Kinos schätzen. Deshalb haben wir
uns entschlossen, weiter zu investieren." Die Wiedereröffnung des
Kinos Splendid geschehe deshalb auch nicht auf Kosten eines anderen
Standorts, sondern solle den Zuschauern ein breiteres Filmangebot
ermöglichen, so Heinzelmann.
Cinémastar vor Schliessung
Während im Splendid die Filmprojektoren also bald
wieder leuchten, läuft im anderen Quinnie-Kino an diesem
Wochenende endgültig der letzte Akt. Die rauschende Abschiedsfeier
mit vielen Gästen und Überraschungen steigt am Freitagabend
im Cinémastar. Am Samstag macht dann die Kurzfilmnacht-Tour halt
in Bern, bevor das Kino seine Türen endgültig schliesst.
Noch vor dem letzten Abspann arbeiten ehemalige
Mitarbeiter und Sympathisanten aber bereits fieberhaft am neuen
Drehbuch. Sie haben den Verein Kulturwerk gegründet, der das Kino
und die angrenzende Bar retten soll. Das Konzept sieht vor, dass der
Kinosaal von verschiedenen Kulturorganisationen für Konzerte,
Lesungen oder Vorträge genutzt werden kann. Falls sich
genügend Interessenten finden, die regelmässig Events
veranstalten, will Kulturwerk die Räumlichkeiten weiter betreiben
und so einen kulturellen Treffpunkt schaffen. Die Initianten sind
zuversichtlich, dass es auch hier zu einem Happy End kommt.
Lukas Ninck
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20 Minuten 28.5.10
Kitag rettet Kino Splendid
BERN. Jetzt ist es definitiv: Im Kino Splendid flimmern
schon bald wieder Filme über die Leinwand. Die Kitag
übernimmt das seit Ende März geschlossene Kino und
eröffnet es nach einer sanften Renovation Anfang Juli wieder. Noch
offen ist das Schicksal des Kinos Cinemastar und der dazugehörigen
Cinebar: Zwar steigt dort heute die grosse Abschlusssause, aber
ehemalige Mitarbeiter von Bar und Kino würden das Lokal gern als
Verein "Kulturwerk" weiterbetreiben und die Lokalitäten an Firmen
und Veranstalter weitervermieten. Interessierte Firmen melden
sich unter
kulturwerkbern@gmail.com
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KULTURPOLITIK BE
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BZ 31.5.10
Tschäppät
Kein Rotstift bei der Kultur
Bern muss künftig massiv sparen. Beim Kulturbudget
will Stadtpräsident Alexander Tschäppät jedoch nicht
kürzen.
Derzeit handelt die Stadt Bern mit den Kulturinstitutionen
die Subventionsverträge für die Jahre 2012 bis 2015 aus. Geht
es nach Stadtpräsident Alexander Tschäppät, bleibt das
jährliche Kulturbudget künftig bei 33,7 Millionen Franken.
Dies, obwohl laut Prognosen der Finanzverwaltung die Stadt ab 2012
über 30 Millionen Franken jährlich einsparen muss. "Es gibt
Sparanstrengungen, die weniger Sinn machen als andere. Ein gutes
Kulturangebot macht Bern zu einem attraktiven Standort", sagt
Tschäppät im Interview.
Gleichzeitig möchte die Stadt die Kulturgelder im
kleinen Rahmen umverteilen und damit der Situation entgegenwirken, dass
die meisten Institutionen zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben
haben. Allerdings dürfte es für den Stadtpräsidenten
nicht leicht werden, dies im Stadtrat durchzusetzen. "Wenn ich einen
Akzent setze, kommt es garantiert zu einem parlamentarischen Vorstoss,
der ihn verhindert", so Tschäppät. lm
Seite 25
--
Alexander Tschäppät zur Kulturpolitik
"Meine Devise heisst kämpfen"
Die Stadt muss künftig massiv sparen. Das
Kulturbudget soll jedoch bei 33,7 Millionen Franken bleiben.
Stadtpräsident Alexander Tschäppät erklärt, wie er
das erreichen will und warum manche dennoch weniger Geld bekommen.
Herr Tschäppät, gemäss Schätzungen der
Finanzverwaltung wird die Stadt ab 2012 über 30 Millionen Franken
jährlich einsparen müssen. Wie wollen Sie da das Kulturbudget
bei 33,7 Millionen Franken halten?
Alexander Tschäppät: Meine Devise heisst
kämpfen! Es gibt Sparanstrengungen, die weniger Sinn machen als
andere. Ein gutes Kulturangebot macht Bern zu einem attraktiven
Standort. Ausserdem gehen wir davon aus, dass sich die Konjunktur ab
2012 wieder erholt und damit auch die Steuereinnahmen steigen.
Da setzen Sie aber auf das Prinzip Hoffnung. Wenn Sie in
Ihrer Direktion nicht bei der Kultur sparen, wo dann?
Der Gemeinderat hat soeben ein
Haushaltsverbesserungsprogramm eingeleitet, daher ist es noch zu
früh, Konkretes über einzelne Sparposten zu sagen.
Aber ab 2012 sollen alle Direktionen aufgabenbezogen
sparen. Kultur macht über 70 Prozent Ihres Direktionsbudgets aus.
Wir werden sicher nicht Millionen sparen zulasten der
Kultur. Es mag sein, dass es um ein paar Hunderttausend Franken geht.
Ausserdem sind die meisten Subventionen, nämlich 22 Millionen
Franken, gebunden, weil sie an Institutionen fliessen, die auch vom
Kanton und von den Regionsgemeinden unterstützt werden. Und die
anderen Kulturinstitutionen, die lediglich von der Stadt subventioniert
werden, kann ich ja nicht einfach wegsparen.
Natürlich können Sie das.
Sehen Sie, vor drei Jahren wollte ich auf das
Kornhausforum verzichten. Doch dann wurde fürs Forum lobbyiert und
mein Vorschlag vom Stadtrat abgelehnt. Dann wollte ich kürzlich
aufs Ballett beim Stadttheater verzichten…
Ich dachte, Sie seien ein Tanzfan.
Das bin ich auch! Dennoch denke ich, dass ein Ballett mit
12 Tänzern längerfristig ein Problem bekommt, auch in
finanzieller Hinsicht. Aber ich bin vom Kanton, dem grössten
Geldgeber beim Stadttheater, überstimmt worden.
Das heisst, Sie als Kulturchef konnten sich nicht
durchsetzen?
Auch als Kulturchef habe ich demokratische Regeln
einzuhalten. Der Kulturchef macht Vorschläge, aber er entscheidet
nicht. Das ist Sache des Parlaments, des Volkes oder eben des
grössten Geldgebers.
Nun schlagen Sie vor, dass das Kino Kunstmuseum
künftig einen Drittel weniger Subventionen bekommt.
Man muss sich die Frage stellen, wie viele
nichtkommerzielle Kinos wir uns als eine relativ kleine Stadt leisten
können. Wir haben das Kino Reithalle, das Kellerkino, das Kino
Cinématte, das Kino Lichtspiel und das Kino Kunstmuseum. Ein
solches Angebot hat nicht einmal Zürich oder Basel.
Fürs Kino Kunstmuseum wird aber lobbyiert.
Das ist die Krux in der Berner Kulturpolitik: Man verlangt
von mir, Akzente zu setzen. Wenn ich dann einen Akzent setze, kommt es
zu einem parlamentarischen Vorstoss, der ihn verhindert. So haben wir
seit Jahren den Status Quo, dass die meisten Institutionen zu wenig zum
Leben und zu viel zum Sterben haben.
Mit der Kürzung beim Kino Kunstmuseum nehmen Sie aber
genau dies in Kauf.
Das sehe ich anders. Jede Institution, die auf
öffentliche Gelder zurückgreifen kann, ist in einer relativ
komfortablen Situation. Wenn die Subvention gekürzt wird, hat jede
Institution zwei Möglichkeiten: Entweder sie bewegt sich nicht,
was ihre Existenz bedroht. Oder sie verstärkt die Suche nach
Sponsoren, ist kreativ und wird mit dem Zuschuss der Stadt
zurechtkommen.
Sie wollen die Gelder also umverteilen?
Ja, aber im kleinen Rahmen. Wir möchten einen
Teuerungsausgleich zahlen. Da das Budget aber nicht erhöht wird,
müssen wir das Geld irgendwo einsparen. Gleichzeitig haben wir
Schwerpunkte gesetzt, zum Beispiel beim Jazz oder bei der Camerata
Bern, die bereits mehr Geld bekommen und Erfolg haben beim Publikum.
In Bern finden rund 200 Veranstaltungen pro Woche statt.
Ist das nicht ein Überangebot?
Man darf nicht vergessen, dass viele der Veranstaltungen
auf Privatinitiative beruhen, wenn jemand einen Vortrag hält oder
ein Konzert gibt. Die Berner Vielfalt mag als Luxus erscheinen, sie ist
aber auch eine unserer Stärken.
Allerdings hat diese Vielfalt auch Nachteile. Manche
Berner Institutionen graben sich gegenseitig das Publikum ab.
Die Institutionen müssen sich untereinander besser
koordinieren, das liegt nicht in der Verantwortung der Politik.
Ausserdem sind die Publikumszahlen nicht das einzige Kriterium. Es ist
ebenso wichtig, dass die Kulturschaffenden Auftrittsmöglichkeiten
haben.
Dennoch: In Sachen zeitgenössische Musik haben wir
mehrere Veranstalter, die ein ähnliches Programm anbieten. Etwas
weniger wäre da vielleicht mehr.
Ich habe kein Problem, darüber nachzudenken.
Inwiefern?
Im Rahmen der laufenden Subventionsverhandlungen kann man
zum Beispiel diskutieren, ob es in der Dampfzentrale und im Zentrum
Paul Klee avantgardistische Musik braucht. Ich frage mich auch, ob wir
in den Leistungsvereinbarungen mit den Institutionen nicht zu viel
verlangen im Verhältnis zur Höhe der Subvention. Wie eben bei
der Dampfzentrale, die von Tanz über Rock/Pop bis zur Neuen Musik
ein grosses Spektrum anbietet. Gleichzeitig darf man bei
Veränderungen ein bestimmtes Tempo nicht überschreiten, sonst
macht weder die Gesellschaft noch die Politik mit.
Interview: Lucie Machac
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KulturVerträge
Verhandlungen
Derzeit handelt die Stadt mit den Berner
Kulturinstitutionen Leistungsverträge für die
Subventionsperiode 2012-2015 aus. Im Herbst sollen diese abgeschlossen
sein. Ende Jahr kommt das Gesamtpaket der Verträge in den
Gemeinderat. Über Subventionen, die höher sind als 75000
Franken pro Jahr, beschliesst der Stadtrat.
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MONOPOLY BE
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Bund 28.5.10
Monopoly - Nach Basel, Zürich und Genf hat nun auch Bern
seine stadteigene Variante des weltberühmten Brettspiels.
Keine Hotels bei der Reitschule
Matthias Raaflaub
Wenn die Anführer des Grosskapitals wegen der
Verschleuderung von Spargeldern öffentlich am Pranger stehen, wenn
ein ganzer Kleinstaat wegen spekulativen Finanzgeschäften der
Elite aus dem letzten Vulkan pfeift - dann braucht es einiges an Mut,
um mit einem einladend lächelnden Bankier im protzigen Frack zu
werben. Ausser dahinter steht die unerschütterliche Marke
Monopoly. Das Brettspiel lädt in einer lokalisierten Edition nun
auch in Bern zum "scheffle, scheffle, Häusle baue" ein.
Ein Grundstück an der Kramgasse, ein Hotel vor dem
Bundeshaus, der Bärenpark für schlappe 180 Monopoly-Dollar
und erst noch ohne Folgekosten und Gerichtsverfahren: "Monopoly Bern"
lässt so manchen Wunsch wahr werden. Wenn auch nicht jeden. Zwar
stehen das Klee-Museum, die Gurtenbahn oder der Casinoplatz zum
Verkauf, zur Enttäuschung einiger Kreise aber nicht die Reitschule
oder die Waldstadt. Mascha oder die "Blüemlisalp" haben es nicht
zur silbernen Spielfigur geschafft, und auch die Ereigniskarten lassen
die Stadtpolitik aussen vor. Die amerikanische Spielefirma Hasbro
kümmert sich gut um ihre Marke und lässt Veränderungen
an der Spielidee nur sehr begrenzt zu, und so harrt auch die Spielkarte
"Abzocker-Initiative", die das Spiel sofort beenden würde, noch
ihrer Verwirklichung.
Hasbro feiert heuer den 75-jährigen Geburtstag des
Monopoly. Auch wenn nachgewiesen ist, dass die Idee dazu eigentlich von
der Quäkerin Elizabeth Magie stammt. Ihr "Landlord's Game" von
1904 sollte vor den Gefahren der Grundveräusserung warnen und war
ein sozialkritisches Lehrstück gegen Monopolisten. Ihr Patent
erwarb der später als Monopoly-Erfinder gerühmte Charles
Darrow für 500 Dollar. Darrow, ein Verlierer der Wirtschaftskrise
von 1929, riskierte alles, um das Spiel verkaufen zu können. Wenig
später wurde er Millionär. Seinem Beispiel folgend, gewinnen
die Monopoly-Spieler seither ohne Schuldgefühl.
Dennoch ist die Zeit nicht ganz am Brettspiel-Klassiker
vorübergegangen. Gehandelt und gezahlt wird seit längerem mit
dem Monopoly-Dollar. Der Euro hat seinen Platz als Einheitswährung
auf den europäischen Monopoly-Auskopplungen wieder
eingebüsst. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Die
Währungsreform sei erfolgt, um den internationalen Wettbewerb der
Spieler zu vereinheitlichen, sagen die Vertreiber, aber wohl auch, um
bei den Notenbanken, Pardon, den Druckerpressen, zu sparen.
Dass die Bern-Edition einen neuen Tempowürfel
für ein schnelleres Spielerlebnis bietet, dürfen
Hauptstädter auch nicht als Affront verstehen. Dieses Extra bieten
die neueren Editionen, um die lange Startphase des Spiels
abzukürzen.
Worum es bei Monopoly auch im Jahr 2010 noch geht, machen
die Spielregeln aber nur allzu deutlich. "Ihr Ziel ist nicht nur,
unglaublich reich zu werden, sondern Sie müssen alle anderen
Spieler in den Bankrott treiben, um zu gewinnen." Auch mit 75 Jahren
geht dieses Brettspiel in der Schweiz rund 40 000 Mal pro Jahr
über den Ladentisch. Deshalb wird wohl auch die leidige
Hypothekar-Spekulation das Spielvergnügen nicht so schnell bremsen.
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BREITENRAIN/LORRAINE
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Bund 28.5.10
Events, Verkehr und Wohnen unter einem Hut
Der Gemeinderat hat die Quartierplanung für den
Stadtteil 5 Lorraine-Breitenrain in Kraft gesetzt.
Markus Dütschler
Auf 62 Seiten legt der Berner Gemeinderat dar, wie er den
Stadtteil 5 Lorraine-Breitenrain in den nächsten Jahren entwicklen
will. Wer im Dossier des Stadtplanungsamts blättert, um zu
erfahren, wo genau die Tramlinie nach Ostermundigen verlaufen wird oder
wo Parkplätze aufgehoben werden, findet keine Antwort. Die
Quartierplanung enthält Strategien, Fernziele und prinzipielle
Überlegungen. Geht es um konkrete Projekte, wird der Stadtrat
Details beraten und Kredite sprechen, und einiges wird vom Volk an der
Urne entschieden.
Konflikt wird "ausbalanciert"
Oft verstecken sich hinter gewählten Formulierungen
Konflikte. So heisst es über den Entwicklungsschwerpunkt (ESP)
Wankdorf, es bestehe das Ziel "einer kontinuierlichen Ausbalancierung
der übergeordneten Entwicklungsstrategien und der Bedürfnisse
der lokalen Bevölkerung". 2004, als der Gemeinderat einen
Verkehrsrichtplan für das Nordquartier in die Mitwirkung schickte,
erntete er harsche Kritik und "grenzenlose Enttäuschung" beim
Verein Läbigi Stadt, weil eine Wabenlösung nicht einmal als
Variante vorgeschlagen wurde. Dieses Stichwort findet sich auch in der
vorliegenden Planung nicht. Stadtplaner Christian Wiesmann sagt zum
Konflikt Wohnen und Verkehr, solche gebe es in einer Stadt immer. Es
sei die Absicht, etwa den Verkehr um das national bedeutende Stade de
Suisse und das Bedürfnis nach ruhigem Wohnen unter einen Hut zu
bringen. "Die Nutzer des Stadions sollen nicht ins Quartier
hineinfahren." Der sich im Bau befindliche Wankdorfkreisel sei ein
wichtiges Bauwerk, das genau diesem Zweck diene.
Lorraine: Kein "Schickimicki"
Die Lorraine gilt im Plan als "lebendiges Quartier" mit
einem Nebeneinander von Wohnen und Arbeiten. Die Wohnnutzung soll
verstärkt werden. Ein Beispiel: Ein Garagenbetrieb hat das
Quartier bereits verlassen, damit dort Wohnungen entstehen können.
Inzwischen sind die nomadisierenden Stadttauben mit ihren Wohnwagen
verschwunden. Vor Jahren schon monierten Kritiker, die Lorraine werde
zum Schickimicki-Viertel "gentrifiziert" und dadurch für kleine
Einkommen unerschwinglich. Die Stadtplanung schreibe nicht vor, welche
Art von Wohnungen zu bauen seien, so Wiesmann.
Projekt Quanterra auf Eis gelegt
Ein Spannungsfeld liegt auch auf dem Kasernenareal. Laut
Wiesmann hat der Kanton das Projekt Quanterra samt Hochhaus "auf Eis
gelegt". Letzteres hatte für Aufregung gesorgt. Die Stadt erachtet
das Projekt als nicht quartierverträglich. Laut Quartierplanung
sollen "im Spannungsfeld zwischen historischem Quartier und ESP neue
Nutzungen definiert werden". Vom Breitenrainplatz in Richtung Osten zum
Zentrum Paul Klee postuliert der Plan eine Fussgängerverbindung.
Derzeit gibt es viele Zäune im Bereich von Militärbauten, die
dem entgegenstehen.
Verkehrsader, aber keine Grenze
Die Hauptstrassen Nordring, Stand-, Winkelried- und
Papiermühlestrasse sowie Viktoriastrasse und -rain bilden den
Basisnetzring des Quartiers. Hier fliesst der Grossteil des Verkehrs.
Das wird auch künftig so sein, doch sieht die Quartierplanung vor,
dass die Hauptachsen nicht mehr so sehr als Trennlinien wirken. Dank
Verkehrsinseln, allenfalls sogar Übergängen oder
Unterführungen soll es leichter werden, auf die andere
Strassenseite zu gelangen. Zu den sinnlosen Leerflächen in der
Strassenmitte am Nordring, die durch Reduktion von Fahrspuren
geschaffen wurden, äusserte sich Wiesmann nicht. Es sei aber die
Absicht, gewonnene Flächen so zu nützen, dass Fussgänger
oder Velofahrer wirklich davon profitierten.
Tramlinie nach Ostermundigen
Über die Tramlinie nach Ostermundigen, die der Route
des 10er-Busses folgen wird, heisst es: Der Schienenstrang solle so ins
Quartier integriert werden, dass er es nicht trenne. Der Aareraum, die
prägende Flussschlaufe, soll als Naherholungsgebiet aufgewertet
werden, womöglich durch einen Veloweg.
Die Umsetzung der Quartierplanung erfolgt in den
nächsten 10 bis 15 Jahren. Der Gemeinderat hat in der
Vergangenheit bereits Quartierplanungen für andere Stadtquartiere
in Kraft gesetzt.
---
bern.ch 26.5.10
Quartierplanung Stadtteil V: Grundlage für nachhaltige
Stadtteilentwicklung verabschiedet
Der Gemeinderat hat an seiner letzten Sitzung die
Quartierplanung Stadtteil V (Breitenrain/Lorraine) in Kraft gesetzt.
Sie ist das Resultat eines breit abgestützten Planungsprozesses,
in den unter anderen Quartiervertretungen, Fachpersonen aus den
Bereichen Bauen und Verkehr und die interessierte Öffentlichkeit
einbezogen worden sind. Die Quartierplanung ist Grundlage für
Entscheide zur Nutzung, Erschliessung und Gestaltung der Bauzonen und
zur Weiterentwicklung der bau- und planungsrechtlichen Instrumente.
Die Quartierplanung Stadtteil V zeigt auf, wie sich der
Stadtteil Breitenrain/Lorraine baulich, funktionell und bezüglich
der öffentlichen Freiräume entwickeln soll. Eine wesentliche
Voraussetzung für eine nachhaltige räumliche
Stadtteilentwicklung ist die Berücksichtigung der
Rahmenbedingungen des motorisierten Individualverkehrs (MIV) und seiner
Auswirkungen. Dies wird mit dem Teilverkehrsplan MIV gemacht. Anders
als die Quartierplanung, die mit dem vorliegenden Bericht abgeschlossen
wird, geht der Teilverkehrsplan in eine zweite Mitwirkung. Die wichtige
Koordinationsarbeit zwischen den beiden Planungen ist jedoch
sichergestellt. Einerseits liegen grossflächige Neubau- und
Umstrukturierungsgebiete im Richtplanperimeter ESP Wankdorf mit
entsprechenden Rahmenbedingungen zum Verkehr. Anderseits sind die
verfeinerten verkehrlichen Rahmenbedingungen in den bestehenden
Strukturen durch Baugesuchsverfahren zu berücksichtigen.
Städtebauliches Konzept
Der Stadtteil V gilt heute als urban und weltoffen und ist dabei
doch überschaubar und mit dem Stadtzentrum bestens verbunden: Er
wird deshalb als Wohn- und als Arbeitsort gleichermassen geschätzt
wird. Ziel der Quartierplanung ist es, günstige Voraussetzungen zu
schaffen um ein möglichst harmonisches Nebeneinander der
verschiedenen räumlichen Nutzungen (Wohnen, Arbeiten, sich
Erholen) und das Wohlbefinden der Bevölkerung zu
gewährleisten. So soll das Wohnungsangebot insbesondere im Bereich
der grossen Wohnungen erhöht und die Qualität des
Wohnumfeldes bereits bestehender Wohnungen erhalten werden. Dies soll
einerseits durch eine klar spürbare Trennung zwischen Eventzone
und Wohnquartieren geschehen. Anderseits müssen wichtige
nützliche Infrastrukturen (z.B. Allmend) bequem und direkt
erreichbar sein. Diese sind zudem auch guten Voraussetzungen von denen
Firmen und Dienstleistungsbetriebe profitieren können.
Schwerpunktthemen für die nächsten Jahre
Zur Umsetzung der Ziele sind deshalb für die nächsten
zehn bis fünfzehn Jahren folgende Schwerpunktthemen in der
Quartierplanung festgehalten:
* ESP Wankdorf: mit dem Ziel einer kontinuierlichen
Ausbalancierung der übergeordneten Entwicklungsstrategien und den
Bedürfnissen der lokalen Bevölkerung.
* Lorraine: Ihre Anziehungskraft als lebendiges Quartier basiert
auf dem Nebeneinander von Wohnen und Arbeiten sowie ihrer
unverwechselbarerer Identität bestimmt durch die kleinteiligen
Strukturen. Die heutige charakteristische Nutzungsmischung soll sich
zugunsten der Wohnnutzung entwickeln.
* Kasernenareal: Für den markanten Orientierungsort im
Spannungsfeld zwischen historischem Quartier und ESP sollen neue
Nutzungen definiert werden.
* Breitenrainplatz: seine Funktion als Quartierzentrum mit
vielschichtigen Nutzungen und unterschiedlichen
Aufenthaltsqualitäten wird gestärkt. Dazu wird der Platz
inklusive die Verkehrsführung umgestaltet und eine
Fusswegverbindung zwischen Breitenrainplatz und Zentrum Paul Klee
geplant.
* Basisnetzring: er wird gebildet durch Nordring, Standstrasse,
Winkelriedstrasse Papiermühlestrasse, Viktoriastrasse und
Viktoriarain. An ihm werden durch Massnahmen die unterschiedlichen
stadträumlichen Achsen aufgewertet, wodurch u.a. auch die
nachbarschaftliche und grossräumige Vernetzung verbessert wird.
* Aareraum: seine Qualitäten als urbane durchgehende
Parklandschaft mit ökologischen Funktionen wird für
zukünftige Generationen erhalten und weiterentwickelt.
* Tram Region Bern: Gute räumliche Integration des Trams
Ostermundigen - Köniz.
Der Bericht kann hier heruntergeladen werden
http://www.bern.ch/leben_in_bern/wohnen/planen/aktuell/quartier/quartierplanung_stadtteil_v
Informationsdienst der Stadt Bern
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STADTTAUBEN
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Bund 28.5.10
Niemand weiss, wo "Stadttauben" sind
Die "Stadttauben" haben das Grundstück in
Bern-Brünnen über die Pfingsttage geräumt, wie die Stadt
gestern mitteilte. Das von ihnen beanspruchte Terrain sollen sie
gemäss einer Anwohnerin sauber hinterlassen haben. Wohin sie
gezogen sind, ist nicht bekannt.
Mit dem Wegzug ist die alternative Gruppe dem
städtischen Ultimatum - das Areal bis zum 31. Mai verlassen zu
haben - nachgekommen. Das Angebot eines Gebrauchsleihvertrages für
das Areal Wankdorf-City vom 31. Mai bis 31. August hat sie bis jetzt
jedoch nicht angenommen. Anders die Stadtnomaden, die auf das
offerierte Gelände umziehen wollen. "Die Stadttauben haben es
abgelehnt, kurzfristig mit dem Verein Alternative auf dem gleichen
Platz zu wohnen und in eine Dreimonatslösung im Sinne des runden
Tischs einzusteigen", sagt Roland Meyer, Generalsekretär der
Direktion für Finanzen, Personal und Informatik.
Trotz der Verhandlungen zwischen
Ex-Regierungsstatthalterin Regula Mader und den "Stadttauben" habe man
keine einvernehmliche Lösung gefunden. Damit sei das Mandat
zwischen Stadt und Frau Mader beendet. Das Angebot für
Wankdorf-City und das dreimonatige Rotationsprinzip, an dem die Stadt
bis zur Schaffung einer experimentellen Wohnzone festhalten will, stehe
den "Stadttauben" nach wie vor offen. Für Kompromisse ist man
nicht bereit. "Sollten die ‹Stadttauben› erneut ein städtisches
Gelände besetzen, wird die Stadt umgehend die erforderlichen
Schritte für eine Räumung einleiten", sagt Meyer. (reh)
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20 Minuten 28.5.10
Stadttauben sind aus Bümpliz weggezogen
BERN. Am 19. Mai hat die Stadt Bern die Besetzer eines
Grundstücks in Bern-Bümpliz, die so genannten Stadttauben,
aufgefordert, dieses bis Ende Mai zu verlassen (20 Minuten berichtete).
Wie die Stadt gestern mitteilte, sind die Wohnwagen nun aus dem Gebiet
abgezogen. Ihr neuer Aufenthalt ist unbekannt. Das Angebot der Stadt,
bis Ende August das Areal Wankdorf City zu benutzen, haben die
Stadttauben bis jetzt aber nicht angenommen.
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DEMO-RECHT BE
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Bund 29.5.10
Samstagsinterview
Leitartikel
Der Entfernungsartikel verfehlt sein Ziel und unterläuft
das grundsätzliche Rechtsempfinden .
Symbolische Gesetze nützen nichts
Christian Brönnimann
Soll mit bis zu 5000 Franken gebüsst werden
können, wer eine Kundgebung nicht verlässt, wenn er von der
Polizei dazu aufgefordert wird? Über diese Frage wird in der Stadt
Bern in zwei Wochen abgestimmt. Zur Diskussion steht der sogenannte
Entfernungsartikel als Ergänzung des städtischen
Kundgebungsreglements. Die entsprechende Volksinitiative war unter den
Eindrücken der Anti-SVP-Krawalle vom 6. Oktober 2007 von einem
bürgerlichen Komitee lanciert worden. Laut den Initianten soll
damit die Polizeiarbeit vereinfacht und die Prävention
verstärkt werden. Zudem wird ein Paradigmawechsel angestrebt. Denn
nach heutiger Regelung können nur die Organisatoren einer aus dem
Ruder gelaufenen Kundgebung juristisch belangt werden, nicht aber die
Teilnehmer - sofern diesen kein weiteres Delikt nachgewiesen werden
kann.
Das Problem von randalierenden Demonstranten ist
unbestritten. Wer mit Bierflaschen oder Pflastersteinen in Richtung
Polizei wirft, Schaufenster zertrümmert oder Autos demoliert, ist
ohne Frage zu verfolgen und zu bestrafen. Aber: Damit hat der
Entfernungsartikel nichts zu tun. Auch nach dem aktuellen kantonalen
Polizeigesetz, Artikel 29, kann die Polizei "Personen von einem Ort
vorübergehend wegweisen oder fernhalten, wenn der begründete
Verdacht besteht, dass sie oder andere, die der gleichen Ansammlung
zuzurechnen sind, die öffentliche Sicherheit und Ordnung
gefährden oder stören". Der Auftrag an die Polizei ist damit
bereits heute sonnenklar. Wenn eine Demonstration zu eskalieren droht,
hat die Polizei einzugreifen, um ihren obersten Auftrag - die Wahrung
von Ruhe und Ordnung - zu erfüllen. Wann dieser Zeitpunkt gekommen
ist, liegt im Ermessensspielraum der Kommandoleitung. Weder verhindert
der Entfernungsartikel Ausschreitungen, noch verändert er die
praktische Polizeiarbeit.
Die Argumentation ist paradox
Der gewichtige Unterschied, den der Entfernungsartikel mit
sich bringen würde, betrifft das juristische Nachspiel. Neu
wären Kundgebungsteilnehmer ihrer blossen Anwesenheit wegen
bestrafbar - und zwar unabhängig davon, ob eine Demonstration
bewilligt ist oder nicht. Begründet wird dies damit, dass so bei
Ausschreitungen die Schuldigen endlich zur Rechenschaft gezogen werden
könnten und nicht nur die Demo-Organisatoren.
Diese Argumentation ist paradox. Denn wer sich aktiv an
Ausschreitungen beteiligt, kann schon heute wegen Landfriedensbruch
oder Sachbeschädigung bestraft werden. Die Schwierigkeit, die
wirklichen Täter zu eruieren und ihnen die Vergehen nachzuweisen,
bleibt mit dem Entfernungsartikel bestehen. Den Kreis der
Gesetzesbrecher und potenziell zu Bestrafenden auf alle Anwesenden
auszudehnen, ist keine gute Antwort auf das Problem - und es
unterläuft das grundsätzliche Rechtsempfinden: Wer eine
Fensterscheibe einwirft und sich aus dem Staub macht, kommt ungeschoren
davon, wer friedlich für seine Anliegen einsteht, kann - zumindest
theoretisch - dafür bestraft werden.
Der Artikel ist ein Papiertiger
Der Berner Sicherheitsdirektor Reto Nause (CVP) sagte
jüngst im "Bund" zum Vermummungsverbot und dessen Anwendung bei
einem Saubannerzug von Fussballfans: "Man kann die Vermummten schon aus
der Menge reissen, aber dann hat man Krieg." Ähnliches gilt
für den Entfernungsartikel. Würde er von der Polizei
angewandt, ohne dass die Geschehnisse dies legitimierten, trüge
dies eher zur Eskalation einer Situation als zu deren Beruhigung bei.
Rechtfertigen die Umstände die polizeiliche Auflösung einer
Kundgebung, dann genügen die heutigen Gesetze. Der
Entfernungsartikel verkäme zu einem Papiertiger wie das
Vermummungsverbot. Die Erfahrung zeigt, dass Letzteres kaum
präventive Wirkung hat. Wieso sollte dies beim Entfernungsartikel
anders sein?
In der Wissenschaftstheorie besagt ein bekannter Lehrsatz
des Philosophen Wilhelm von Ockham, der unter dem Namen "Ockhams
Rasiermesser" in die Geschichte eingegangen ist, dass ein theoretisches
Konstrukt möglichst einfach zu halten und Unnötiges
wegzulassen ist. Übertragen auf die Politik, bedeutet dies, dass
Papiertiger in Gesetzesbüchern nichts verloren haben.
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DEALERSZENE BE
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Bund 28.5.10
Fall Dr. X: Der Kanton gibt Versäumnisse zu
Ein Berner Arzt ist gestern vom Kreisgericht Bern-Laupen
zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 15 Monaten verurteilt worden. Er
hatte jahrelang starke Beruhigungsmittel an Drogenabhängige
verkauft - ohne die Bewilligung des Kantonsarztes eingeholt zu haben.
Die Behörden schauten den Machenschaften von Dr. X, wie der
Allgemeinmediziner auf der Gasse hiess, über Jahre hinweg tatenlos
zu.
Spätestens 2003 hätte die Gesundheits- und
Fürsorgedirektion (GEF) einschreiten müssen: Swissmedic
informierte den Kanton, dass Dr. X der grösste
Rohypnol-Bezüger der Schweiz sei. Dennoch geschah nichts. "Diese
Panne hätte nicht passieren dürfen", räumt GEF-Stabschef
Jean-Philippe Jeannerat ein. Ein Grund für das Versäumnis
könnte bei der damaligen Amtsübergabe im Kantonsapothekeramt
liegen. Inzwischen seien aber Massnahmen ergriffen worden. (jäg)-
Seite 25
--
Das Urteil gegen Dr. X belastet den Kanton und erfreut die
Fachleute
Dr. X wird zu einer bedingten Freiheitsstrafe verurteilt -
der Kanton räumt eine "Panne" ein.
Simon Jäggi
Jean-Philippe Jeannerat, Stabschef der kantonalen
Gesundheits- und Fürsorgedirektion (GEF), will nichts
beschönigen: "Eine solche Panne darf nicht passieren." In der
Affäre um Dr. X, der jahrelang ohne Bewilligung starke
Beruhigungsmittel an Drogenabhängige verkaufte, habe die GEF ihre
aufsichtsrechtliche Funktion "nicht optimal wahrgenommen", räumt
Jeannerat ein.
Die Behörden sind bereits 1994 auf den heute
57-jährigen Allgemeinmediziner aufmerksam gemacht worden, da
dieser unerlaubterweise Grosspackungen von Medikamenten abgegeben
hatte. 1999 rügte der damalige Kantonsarzt Dr. X erstmals wegen
des unbewilligten Verkaufs von Benzodiazepinen. Spätestens 2003
hätten Konsequenzen folgen müssen: Damals meldete sich
nämlich Swissmedic. Der Zulassungs- und Aufsichtsbehörde
für Heilmittel war aufgefallen, dass Dr. X die "schweizweit
grössten Mengen an Rohypnol" bezog. Swissmedic schrieb in dem
Brief, der dem "Bund" vorliegt: "Falls sich Verdachtsmomente
erhärten, bitten wir Sie, die nötigen rechtlichen Schritte
(Strafanzeige) zu unternehmen."
Doch nichts geschah. Warum? Den genauen Ablauf des
Versäumnisses konnte Stabschef Jeannerat gestern nicht
rekonstruieren. Aber er gibt zu: "Es ist tatsächlich
problematisch, dass wir aufgrund dieser Information nicht gehandelt
haben." Der Fall sei zwar in den Akten geblieben, wurde aber nicht
behandelt. Und auch Swissmedic meldete sich nicht mehr. Ein Grund
für das Versäumnis könnte in der Amtsübergabe im
Kantonsapothekeramt liegen: Anfangs 2003 gab Niklaus Tüller seinen
Posten ab. Und auch die anderen Verantwortlichen dieser "Panne" sind
nicht mehr im Amt: Regierungsrat Samuel Bhend (SP) und Kantonsarzt
Anton Seiler.
Neuer Wind im GEF?
Und offenbar weht ein neuer Wind im GEF, was die Abgabe
von Benzodiazepinen angeht. Die beiden neuen Amtsinhaber, Kantonsarzt
Thomas Schochat und Kantonsapotheker Samuel Steiner, waren es
nämlich, die Dr. X anzeigten und ihm ein einjähriges
Berufsverbot aufbrummten. "Das Problem wurde in der Zwischenzeit
erkannt", sagt Jeannerat. Regierungsrat Philippe Perrenoud (SP) habe
Massnahmen angeordnet. Die Abläufe seien heute systematisch
definiert, die Zusammenarbeit zwischen den Ämtern sei besser und
das Know-how der Mitarbeiter höher. Und auch rechtlich habe sich
die Lage verbessert (mit dem neuen Medizinalberufsgesetz).
Dennoch bleibt es schwierig, einem Arzt illegale
Machenschaften zu beweisen. Jeannerat: "Die Verwaltung braucht mehr als
nur einfache Hinweise, um ein Verfahren einleiten zu können. Wir
benötigen Zeugenaussagen." Gerade Drogenabhängige sind aber
oftmals nicht bereit, Aussagen zu machen, da sie sich nicht selber
belasten wollen.
Kein Einzelfall
Auch daher stösst das Urteil bei Drogen-Fachpersonen
auf Genugtuung. Dr. X war in der Szene schon lange bekannt und
berüchtigt. Erleichtert nimmt etwa Barbara Mühlheim die
Verurteilung zur Kenntnis: Die Betriebsleiterin der
heroingestützten Behandlung Koda und Grossrätin (Grüne)
glaubt, dass das Urteil Signalwirkung haben wird. Denn Dr. X ist zwar
ein Fall von massivem Ausmass - nicht aber ein Einzelfall: Es habe
immer wieder Ärzte gegeben, die ohne Bewilligung Beruhigungsmittel
verschrieben hätten.
"Solche Ärzte torpedieren eine erfolgreiche
Behandlung der Drogenabhängigen", sagt Mühlheim. Der Grund:
Langzeitabhängige, die bei Koda in Behandlung sind, erhalten
häufig Benzodiazepine verabreicht. Diese müssen aber unter
Aufsicht eingenommen werden. Viele Abhängige sind
mehrfachabhängig - neben Heroin und Kokain werden auf der Gasse
auch Beruhigungsmittel wie Dormicum konsumiert, das Dr. X in grossen
Mengen abgab. Der Arzt gab an, Benzodiazepine zu verschreiben, um die
Sucht nach härteren Drogen zu senken. "Diese Behauptung hat sich
in der Praxis nicht bewahrheitet", sagt Mühlheim. Benzodiazepine
seien eine eigenständige Sucht und führten nicht dazu, dass
die Heroinsucht zurückgehe.
Die Abgabe von Benzodiazepinen muss vom Kantonsarzt
bewilligt werden - was Dr. X nie getan hat. Das Ziel dieses
Kontrollmechanismus: Die Behandlung der Drogenabhängigen geschieht
koordiniert. Im Fall von Dr. X gab es Drogenabhängige, die
ärztlich kontrolliert Benzodiazepine verschrieben bekamen - und
von Dr. X zusätzlich Beruhigungsmittel erhielten, teils in grossen
Mengen. Dass diese wohl auch gedealt wurden, muss angenommen werden.
Die Preise der Beruhigungsmittel auf der Gasse sind bis zu zehnmal
höher als in der Apotheke. Auch stand Dr. X nie oder sehr selten
im Austausch mit Koda.
Häufiger Missbrauch
Was ein solch fehlender Austausch zur Folge haben kann,
haben die Koda-Fachleute immer wieder erlebt. Mühlheim: "Wir
versuchen auch den Nebenkonsum in den Griff zu bekommen, dies ist aber
nicht möglich, wenn die Abhängigen aus irgendeiner Quelle
noch zusätzlich Benzodiazepine erhalten." Ein Problem stellen die
Beruhigungsmedikamente auch im Zusammenwirken mit anderen Drogen dar.
"Man weiss etwa, dass viele der schweren Delikte in Kombination von
Rohypnol und Alkohol stattfinden", sagt Mühlheim. Auch bekannt
ist, dass Benzodiazepin-Medikamente sehr häufig nicht aus
medizinischen Gründen eingenommen werden - über 70 Prozent
schätzen Studien diesen Anteil. Die Benzodiazepine, die rasch zu
einer starken Abhängigkeit führen, sind nicht nur auf der
Gasse ein Problem, "Benzo-Sucht" ist auch in Altersheimen ein Thema.
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Urteil im Fall Dr. X
"Wer helfen will, geht anders vor"
Der Allgemeinmediziner, der illegal Drogenabhängige
mit Beruhigungsmitteln versorgte, erhält eine bedingte
Freiheitsstrafe.
Etwas, das dem Kreisgericht Bern-Laupen bei der
Beurteilung des Falls Dr. X aufgefallen ist: die Krankengeschichten.
Die Unterlagen also, in denen Ärzte Informationen über die
Behandlung ihrer Patienten festhalten. "Eines praktizierenden Arztes
waren diese Krankengeschichten nicht würdig", sagte gestern
Gerichtspräsident Jean-Pierre Vicari bei der
Urteilsbegründung. Medizinisches sei dort kaum zu finden gewesen,
die Papiere hätten Rechnungen geglichen.
Das Kreisgericht verurteilte gestern den Berner Hausarzt
wegen eines schweren Verstosses gegen das Betäubungsmittelgesetz.
Dr. X, wie er auf der Gasse genannt wird, habe fast zehn Jahre lang
hohe Mengen an Benzodiazepinen an Drogenabhängige verkauft - ohne
dies dem Kantonsarzt zu melden. Er erhält eine bedingte
Freiheitsstrafe von 15 Monaten. Weiter muss der Arzt eine Geldstrafe
von 5000 Franken bezahlen, eine Ersatzforderung von 143 000 Franken und
die Prozesskosten.
Die Ersatzforderung entspricht dem Gewinn, der dem Arzt
nachgewiesen werden konnte. Das Gericht nahm dem Angeklagten nicht ab,
dass es ihm bei den illegalen Verkäufen von stark abhängig
machenden Beruhigungsmitteln hauptsächlich darum ging, den Leuten
helfen zu wollen. Finanzielle Aspekte seien wahrscheinlich wichtiger
gewesen, meinte Vicari. Dr. X habe drogenabhängige Patienten oft
nur rudimentär untersucht und ihre Aussagen kaum kontrolliert. Wer
nur einen "Hauch von Ahnung" in diesem Bereich habe, wisse, dass es im
Umgang mit Abhängigen mehr als bloss medizinische Behandlung
benötige. "Wer helfen will, geht anders vor", so Vicari. Zudem
seien die Mengen - in einem Fall zum Beispiel 3000 Tabletten aufs Mal -
teils medizinisch nicht mehr zu begründen gewesen. Er habe damit
auch in Kauf nehmen müssen, dass die bewilligungspflichtigen
Benzodiazepine auf der Gasse weiterverkauft wurden. (jäg)
---
BZ 28.5.10
Illegaler Medikamentenhandel
Dr. X muss seinen Gewinn abgeben
Dr. X muss seinen Gewinn aus dem illegalen Medikamentenhandel an
den Staat abliefern. Während Jahren hat er Drogensüchtige mit
Betäubungsmitteln versorgt. Gestern wurde er zu 15 Monaten bedingt
verurteilt.
Die meisten Zeugenaussagen im Verfahren gegen den Berner
Hausarzt Doktor X stammen von drogenabhängigen Personen.
Entsprechend vorsichtig habe das Kreisgericht VIII Bern-Laupen diese
Aussagen bewertet, sagte Gerichtspräsident Jean-Pierre Vicari bei
der gestrigen Urteilsverkündung. Trotzdem sei aufgefallen, dass
alle Zeugen im Kern das gleiche gesagt hätten: "Die
Abhängigen konnten selber bestimmen, wie viele Tabletten sie vom
angeklagten Arzt erhalten möchten - und genau diese Menge haben
sie bei entsprechender Barzahlung in dessen Praxis auch bekommen."
Bei den angesprochenen Medikamenten handelt es sich um
verschreibungspflichtige Beruhigungsmittel, die unters
Betäubungsmittelgesetz fallen. Für Ärzte sind diese
Pillen für 50 Rappen pro Stück erhältlich. Auf dem
Drogenmarkt erzielen sie Preise von bis zu fünf Franken.
Drogengeld fliesst zum Staat
"Als Mediziner hatte der Angeklagte unbegrenzten Zugang zu
diesen Medikamenten", sagte der Gerichtspräsident. In den Jahren
2000 bis 2010 habe der Arzt Pillen im Wert von mindestens 270 000
Franken verkauft und dabei einen Reingewinn von 143 000 Franken
erzielt. Diesen Betrag muss Doktor X nun dem Staat abliefern. "Es darf
nicht sein, dass jemand durch Verbrechen Gewinn erzielt."
Er habe den drogenabhängigen Patienten doch nur
helfen wollen, hatte der Berner Hausarzt während der Befragung am
Mittwochmorgen ausgesagt. Damit diese weniger harte Drogen konsumieren,
habe er sie illegal mit Beruhigungsmitteln versorgt.
Der Gerichtspräsident entgegnete: Wer
Drogenabhängige ohne vertiefte medizinische Abklärung mit
Betäubungsmitteln versorge, der helfe diesen Menschen nicht. Ganz
im Gegenteil: "Er nimmt ihre Probleme kaum richtig ernst."
Ein weiteres Indiz in diese Richtung seien die
Krankengeschichten, die in der Praxis des Angeklagten beschlagnahmt
wurden. "Diese Dokumente sehen nicht aus wie seriös geführte
Krankengeschichten, sondern wie Drogenabrechnungen", sagte Jean-Pierre
Vicari.
Auch die enormen Mengen der abgegebenen
Betäubungsmitteln liessen das Gericht aufhorchen. "Sie nahmen in
Kauf, dass ein Teil der Pillen auf dem Drogenmarkt landet", sagte der
Gerichtspräsident zum Angeklagten. "Wir glaubten ihnen zwar, dass
sie von einigen abhängigen Patienten unter Druck gesetzt worden
sind." Aber dieser Druck sei selbstverschuldet.
Der Arzt arbeitet wieder
Das Gericht verurteilte Doktor X zu einer bedingten
Freiheitsstrafe von 15 Monaten und einer Busse von 5000 Franken. Seit
Februar hat der Verurteilte seine Praxis in der Stadt nach einem
einjährigen Berufsverbot wieder aufgenommen. Er liebe seinen
Beruf, bei dem er Menschen helfen könne.
Tobias Habegger
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KISS-IN
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20 Minuten 28.5.10
Gays rufen auf zum Massen-Knutschen in Bern
BERN. Unter dem Berner Baldachin wird im Juni
geküsst, was die Lippen hergeben: Am ersten Deutschschweizer
Kiss-in knutschen Homo-Pärchen für mehr Toleranz.
Junge Schwule und Lesben aus der ganzen Schweiz lassen am
19. Juni in Bern ihre Lippen sprechen: Mit kollektivem Knutschen wollen
sie ein Zeichen für Toleranz setzen. "Die Öffentlichkeit soll
wahrnehmen, dass es überall homosexuelle Jugendliche gibt und dass
sie selbstbewusst sind", sagt Florian Vock von den homosexuellen
Jungsozialisten, den GaynossInnen.
Noch immer sind schmusende Lesben oder sich küssende
Schwule in der Öffentlichkeit ein seltener Anblick: "Viele haben
Angst vor negativen Reaktionen", weiss Uwe Splittdorf von Pink Cross.
Und die ist begründet: "Tauschen Gays öffentlich
Zärtlichkeiten aus, drohen ihnen tätliche Angriffe", sagt
Splittdorf, der telefonisch Opfer homophober Gewalt berät. Andere
zeigen ihre Abscheu ohne Fäuste: "Sie drehen sich angeekelt weg
oder bringen dumme Sprüche", so Vock.
Der Trend zum gemeinsamen Protest-Knutschen heisst Kiss-in
und kommt aus Frankreich. In Bern wird um 19 Uhr losgeküsst -
danach gehts zur Purplemoon-Party in die Reithalle. "Wir hoffen auf
zahlreiche Teilnehmer, vor allem Jugendliche", so Vock. NINA JECker
http://www.gaynossinnen.ch
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ERICH HESS
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Bund 28.5.10
SVP-Fraktion droht Hess mit Ausschluss
Stadt Bern - Die SVP-Plus-Fraktion setzt ihren
Präsidenten unter Druck: Erich Hess soll seinen Stadtratssitz
abgeben, verlangt die Fraktion. An einer Sitzung am Dienstagabend
sprach sich eine Mehrheit für einen entsprechenden Antrag aus, wie
"20 Minuten" vermeldete. Hintergrund: Hess sitzt neu im
Kantonsparlament. Ein Ehrenkodex der SVP würde ein Doppelmandat
untersagen - bislang macht Hess aber keine Anstalten, sich daran zu
halten. Er kündete lediglich an, im Sommer das
Fraktionspräsidium abzugeben. "Ich lasse mich nicht unter Druck
setzen", sagt Hess auf Anfrage. Er werde sich aber anfangs
nächster Woche entscheiden, ob er im Stadtrat bleibe. Für
Hess ist klar, dass er nicht sofort zurücktritt. Zuerst will er
die Nachfolge des Fraktionspräsidiums geregelt haben. Auch will er
dabei sein, wenn seine Initiative zum Verkauf der Reitschule in den Rat
kommt.
Die SVP-Plus-Fraktion droht Hess mit Ausschluss, wenn er
seinen Sitz nicht abgibt. Es ist ein offenes Geheimniss, dass er
parteiintern nicht nur Freunde hat. Ist der Antrag ein Zeichen
dafür, dass die Hausmacht des streitbaren Vorzeigepolterers
schwindet? Der Präsident der Stadtberner SVP, Peter Bernasconi,
will den Fraktions-Entscheid nicht so gedeutet haben. Aus Parteisicht
sei es besser, wenn die Sitze auf verschiedene Köpfe verteilt
seien. Auch Hess gibt sich gelassen: "Es ist meine freie Entscheidung,
ob ich das Doppelmandat behalten will", sagt er. Die Fraktion habe gar
keine Möglichkeit, ihn auszuschliessen, sagt Hess mit Verweis auf
die Partei-Statuten. Einen solchen Entscheid müsse die
Parteiversammlung treffen - mit einer Zweidrittelmehrheit. (jäg)
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CLUB-LEBEN BIEL
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BZ 31.5.10
Im "Bermudadreieck" eskalieren Gewalt und Dealerei
Die zunehmende Gewalt und Drogendealerei im
"Bermudadreieck" verunsichert den Sicherheitsdienst des Gaskessels. Der
Polizei sind trotz meist schnellen Einsätzen weitgehend die
Hände gebunden.
Kein Wochenende ohne Schlägereien, Lärm und
Sachbeschädigungen. Das "Bermudadreieck", Biels Ausgehmeile, ist
deshalb im Visier der Polizei. Um das unruhige Gebiet zu befrieden,
schwebt der Bieler Sicherheitsdirektorin, Barbara Schwickert, eine
Lösung vor: Sie will einige Nachtclubs aus diesem Stadtteil ins
Industriegebiet umsiedeln.
Gut bekannt unter Polizisten ist Nexhat Schärmeli,
Einsatzleiter des Sicherheitsdienstes des Autonomen Jugendzentrums
(AJZ) im Gaskessel. Immer häufiger ruft er die Polizei zu Hilfe,
wenn auf dem Parkplatz vor dem "Kessel" Schlägereien losgehen.
Besonders in diesem Jahr beklagt Schärmeli eine extreme Zunahme
von Gewalt und Drogendealerei in seinem Gebiet. Laut Schärmeli
stammen die Dealer hauptsächlich aus Nigeria, Angola und der
Elfenbeinküste. "Die Polizei", so Schärmeli, "ist zwar immer
sehr schnell da." Doch entweder seien die Schläger oder Dealer bei
deren Eintreffen längst entwischt, oder die Polizisten hätten
zu wenig Beweise in der Hand, um die Personen festzunehmen.
Nicht nur beim "Kessel"
Einer, der über das Leben im "Bermudadreieck"
Bescheid weiss, ist der grünliberale Stadtrat Hans-Ulrich
Köhli. Er bestätigt zwar die Aussage des Einsatzleiters,
betont aber, dass sich dies nicht nur auf die Umgebung des "Kessels"
beschränke, sondern für das ganze Gebiet gelte. "Die meisten
Schlägereien ereignen sich an der Alexander-Schöni-,
Kontroll- und Gartenstrasse", so Köhli, der besonders unter
Jugendlichen einen zunehmenden Kokainkonsum feststellt. "Kokain", so
Köhli, "macht aggressiv. Deshalb auch die vielen
Schlägereien." Er ist seit den Anfängen des Gaskessels im
Verein AJZ aktiv mit dabei und daher über die Konsumgewohnheiten
von Jugendlichen auf dem Laufenden. Die Zunahme des Kokainkonsums
erklärt sich Köhli durch die Drogenpolitik des Bundes, welche
seit 2008 Anbau und Konsum von Cannabis unter Strafe stellt. Durch die
verstärkte Repression sei nun weniger und teureres Cannabis auf
dem Markt. Als Folge davon würden die Konsumenten auf das billige
Kokain ausweichen.
"Kokainschwemme"
Köhlis These will Bernhard Hiltbrand, Chef der
Regionalfahndung Biel-Seeland, nicht bestätigen. Seiner Meinung
nach wird der Bedarf an Cannabis gedeckt. "Die Situation", so
Hiltbrand, "hat mit der Nachfrage zu tun." Der Preiszerfall des Kokains
setze sich seit den 80er-Jahren fort: "Damals kostete das Gramm an die
500, heute noch etwa 50 Franken." Dass eine "Kokainschwemme" besteht,
bestätigt auch André Schneider, Gruppenleiter der
Betäubungsmittelgruppe der Regionalfahndung Biel-Seeland. Dies sei
anhand der Sicherstellungen erwiesen. Man habe aber noch keine
schlüssige Antwort auf die Frage, wo der Grund dafür liege.
Die Drogenfahndung muss laut Schneider Schwerpunkte
setzen: "Wir sind hinter den grossen Mengen her." Der Konsum von Kokain
sei eine Übertretung und werde mit einer Busse abgetan,
während Kleindealer oft mit wenigen Monaten und meist bedingten
Haftstrafen davonkämen. Ob Schwickerts Idee für eine
entspanntere Situation im "Bermudadreieck" sorgen würde, kann
Schneider nicht sagen. Auch er hält aber den Ansatz
grundsätzlich für vielversprechend.
Grund zur Resignation sieht Schneider trotz allem nicht:
"Drogenfahnder sind ein wenig wie Pitbulls", sagt er, "dranbleiben und
weitermachen."
Brigitte Jeckelmann/bt
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ANTI-FEMINISMUS
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20 Minuten 28.5.10
"Frauenhasser"-Buch ist ein absoluter Flop
LUZERN. Das Buch von Ex-SVP-Mann René Kuhn ist im
Buchhandel ein totaler Flop. Schuld sind laut Kuhn die "linken
Buchhändlerinnen".
"Zurück zur Frau: Weg mit den Mannsweibern und
Vogelscheuchen - ein Tabubruch": In seinem Buch rechnet der ehemalige
Präsident der Stadtluzerner SVP gnadenlos mit der Emanzipation ab.
Zu interessieren scheint das aber nur die wenigsten - im Buchhandel ist
sein Werk kaum gefragt: "Die Nachfrage ist sehr mässig, wir haben
bislang drei Exemplare verkauft", sagt Heidi Schuppisser,
Filialleiterin der Buchhandlung Stocker in Luzern. Gesamtschweizerisch
wurden bei Lüthy Balmer Stocker sowie auf Buchhaus.ch gerade mal
elf Bücher verkauft. Ähnlich klingt es bei Orell Füssli,
wo das Buch landesweit 20-mal über die Ladentheke ging. Ex Libris
und Amazon.de wollen keine Verkaufszahlen bekannt geben.
Kuhn hat laut eigener Aussage bis letzten Mittwoch online
rund 3650 Exemplare ausgeliefert. Für ihn ist klar, warum das Buch
im Handel floppt: "Der Buchhandel ist in der Hand von linken
Feministinnen." Er wisse von einem Mann, der in Luzern das Buch kaufen
wollte. Die Buchhändlerin habe diesen als Erstes gefragt, ob er
ein Frauenhasser sei. Anschliessend habe sie sich sogar geweigert, ein
Exemplar zu bestellen. "Es ist eine Abneigung da, darum wird das Buch
nicht aufgelegt", so Kuhn. Dies bestätigt ein grosser
Buchhändler, der nicht namentlich erwähnt und "mit dem Namen
Kuhn in Verbindung gebracht" werden möchte.
Daniela Gigor
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SANS-PAPIERS
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NLZ 29.5.10
Sans-Papiers
Ohne Papiere, aber voller Hoffnung
Von Dave Schläpfer
Er geht zur Schule, spielt Fussball. Kisimba ist ein ganz
normaler Teenager. Einmal abgesehen davon, dass er illegal in Luzern
lebt.
"Zuerst ging alles gut", sagt Kisimba* in Schweizer
Mundart mit leichtem Akzent. Der 16-Jährige hat am grossen
Holztisch in einem der Räume der Notschlafstelle in der Stadt
Luzern Platz genommen. Man merkt: Dieses Interview zu geben ist
für den gebürtigen Kongolesen nicht einfach. Doch er
hält sich tapfer. Sieben Jahre alt ist Kisimba bei der Einreise in
die Schweiz im Jahr 2001 gewesen. "Doch etwa drei Jahre später hat
Bern uns den Ausweis weggenommen - ich habe das alles nie ganz
verstanden", führt er aus. In den letzten neun Jahren hat der
Jugendliche an mehreren Orten des Kantons Luzern gewohnt. Zurzeit
absolviert Kisimba die letzten Monate der 3. Oberstufe in einer Schule
in der Stadt Luzern.
5000 Papierlose in Luzern
Kisimba ist ein Sans-Papier. Einer von rund 90 000
schweizweit, wobei die Schätzungen enorm auseinandergehen. Im
Kanton Luzern vermutet das Sozialamt etwa 5000 Fälle. Jugendliche
ohne Ausweis sind jedoch selten. Mit seinem Vater lebt der Teenager in
einer Notunterkunft in Luzern. Wo genau, darf nicht geschrieben werden.
"Auch aus Sicherheitsgründen", wie Ursula Stadelmann von der
Notschlafstelle, die beim Gespräch dabei ist, anmerkt. Kisimbas
Mutter ist an einer Krankheit gestorben, als dieser noch klein war. Das
Vater-Sohn-Gespann lebt von der Nothilfe. Das bedeutet: Die beiden
erhalten ein Dach über dem Kopf, und die Kosten für die
Krankenversicherung werden übernommen. Zudem bekommt jeder Bargeld
in der Höhe von 10 Franken pro Tag für Essen und andere
Bedürfnisse. "Die Finanzen waren immer ein Problem, es ist schon
sehr hart", sagt Kisimba. In seiner Freizeit betätigt sich der
Jugendliche vor allem sportlich: "Ich bin in einem Fussballverein und
viel mit Freunden zusammen."
Studium wäre kein Problem
Wie seine Mitschüler steht Kisimba unmittelbar vor
dem Eintritt ins Berufsleben. Doch während das Schnuppern und sich
Bewerben für eine Lehre für die anderen
selbstverständlich ist, blieb dies dem Schwarzafrikaner
zunächst verwehrt. Denn von Gesetzes wegen darf er ohne
gültigen Ausweis zwar in die Schule gehen, aber nicht arbeiten.
Auch wenn Kisimba ein guter Schüler ist: Für den Wechsel in
die Kantonsschule - Studieren wäre legal - reicht sein
Notendurchschnitt nicht aus. "Ein einziges Mal bin ich in eine
Schnupperlehre gegangen. Plötzlich hiess es, dass ich nicht
durfte. Das war hart für mich", blickt Kisimba zurück. Denn
eine Lehre zu machen, liegt dem 16-Jährigen sehr am Herzen. Ihm
schweben ganz bestimmte Berufsfelder vor: "Ich könnte mir eine
Lehre vorstellen als Koch, beim Strassenbau oder im Detailhandel. Am
besten etwas, wo man mit Leuten in Kontakt kommt. Für mich ist
wichtig, dass mir der Beruf gefällt."
Profitiert von Ausnahmeregelung
Jetzt scheint sich nach langem Bangen Kisimbas Wunsch zu
erfüllen - denn politisch ist Bewegung in die Sache gekommen. "Im
Sinne einer Ausnahmeregelung unterstützen wir die Bemühungen
von Kisimba und versuchen in Zusammenarbeit mit der kantonalen
Dienststelle Soziales und Gesellschaft und dem Amt für Migration
zu erwirken, dass er die entsprechenden Bewilligungen erhält",
sagt Christian Spieler von der Sozialhilfe der Stadt Luzern. "Dies
wegen der positiven Signale aus dem Ständerat sowie dem Lausanner
Entscheid, Sans-Papiers in der städtischen Verwaltung eine Lehre
zu ermöglichen" (siehe Kasten). Auch dazu beigetragen hätten
die beiden eingereichten Postulate zum Thema in Kanton und Stadt
Luzern. Da diese jedoch vom Regierungs- respektive vom Stadtrat noch
nicht beantwortet worden sind, fehlt eine generelle gesetzliche
Grundlage bis dato.
Doch nun läuft ihm Zeit davon
Dass er nun voraussichtlich mit Bewerbungen starten kann,
freut Kisimba sehr. Auch wenn er wegen des fortgeschrittenen
Zeitpunktes gewisse Zweifel hegt, dass es mit dem Finden eines Jobs
noch vor dem Beginn des neuen Schuljahres klappt. Für diesen Fall
bleibt ihm immer noch die Möglichkeit, das 10. Schuljahr zu
besuchen. So oder so nimmt diese neue Perspektive ihm ein Stück
seiner Sorgen. Denn seine spezielle Lebenssituation haben den
Jugendlichen über viele Jahre psychisch sehr belastet: "Ich hatte
grosse Ängste. Auch wegen einer möglichen Ausschaffung."
Kisimba tupft sich aufkommende Tränen ab. Es gehe schon, "kein
Problem", sagt er an Ursula Stadelmann gewandt. Und dann, gefasster:
"Mittlerweile kann ich besser damit umgehen."
Geflohen vor Krieg und Armut
Sein Vater, mit dem er sich sehr verbunden fühlt,
habe ihm dabei geholfen: "Er hat mir immer wieder Mut gemacht",
erzählt Kisimba. Als Sans-Papier bleibt seinem Vater die Jobsuche
und das Arbeiten verwehrt; er ist oft zu Hause. "Ihm geht es nur um
mich. Er will, dass ich ein gutes Leben habe und versucht uns beide
durchzubringen." Sein Vater, mit dem er sich auf Französisch, in
der Muttersprache Singala oder aber auch auf Deutsch unterhalte,
erzähle ihm viel vom Kongo. "Auch dort kann man ein schönes
Leben führen, aber nur, wenn man finanziell gutgestellt ist", sagt
Kisimba. Sein Vater sei mit ihm damals aus der Heimat fortgegangen -
wegen des Krieges und der Armut. "So sind wir nach Europa gekommen und
dann in die Schweiz, um eine Zukunft zu haben."
Heikle Situation mit der Polizei
In der Schulklasse fühlt sich der Teenager wohl. Die
Lehrer und einige seiner Kollegen wissen von seiner Situation. "Es ist
möglich, Freunde nach Hause einzuladen, aber dann muss ich ihnen
natürlich alles erzählen. Das ist nicht immer einfach." Dass
Kisimba seine Wohnadresse nicht jedermann nennen darf, hat auch schon
zu Problemen geführt. Etwa als er im Zug einmal sein Abonnement
nicht dabei hatte und er natürlich auch keine Ausweispapiere zur
Identifizierung vorweisen konnte. Schliesslich konnte die Angelegenheit
über einen Anruf bei der Polizei geklärt werden. Ein anderes
Mal geriet er in eine Personenkontrolle. Dies, weil sich ein Kollege
nicht korrekt verhalten hatte. Auch hier ging alles gut aus.
"Ich bin zuversichtlich"
Was wünscht sich Kisimba für die Zukunft? "Es
wäre schön, wenn ich nun eine Lehrstelle finden könnte.
Und längerfristig gesehen natürlich noch schöner, wenn
es möglich würde, eine Aufenthaltsbewilligung zu erhalten."
Wenn es mit der Berufsausbildung klappt, könnte sich der Kongolese
durchaus vorstellen, wieder in seine Heimat zurückzukehren. "Ich
bin zuversichtlich, dass alles gut kommt. Es besteht noch Hoffnung."
Hinweis: * Name der Redaktion bekannt.
david.schlaepfer@neue-lz.ch
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Zugang zu Lehre soll erleichtert werden
Über die Anzahl der Sans-Papiers in der Schweiz gibt
es keine genauen Zahlen. Laut einer Studie des Bundesamtes für
Migration leben schätzungsweise 90 000 Personen ohne
Ausweispapiere in der Schweiz. Andere Studien kommen auf die doppelte
Anzahl. Grob kann man Sans-Papiers in drei Hauptkategorien unterteilen:
ehemalige Saisonniers, von ausserhalb von Europa stammende
Arbeitsimmigranten mit niedriger Qualifikation sowie abgewiesene
Asylsuchende.
Die Problematik war während rund drei Jahrzehnten
einer grossen Mehrheit der Schweizer nahezu unbekannt. 2001 schafften
sich Sans-Papiers mit der Besetzung einer Kirche in Fribourg und einem
Manifest national Gehör. Nach wie vor dürfen die Betroffenen
nicht legal arbeiten. Heiraten ist zwar von Gesetzes wegen nicht
verboten, faktisch aber sehr schwer bis unmöglich.
Spezielle Lehrstellen schaffen
Die Ankündigung des Lausanner Stadtrats, Jugendlichen
den Zugang zu einer Lehrstelle in der Stadtverwaltung zu
ermöglichen, hat diesen Februar für eine kontroverse
Diskussion gesorgt. In seiner Sitzung vom 20. April hat eine knappe
Mehrheit der Staatspolitischen Kommission des Ständerates zwei
Motionen zu Gunsten von Sans-Papiers-Kindern und -Jugendlichen
gutgeheissen und empfiehlt diese zur Annahme im Ständerat.
Gefordert wurde, diesen einen Zugang zu Berufslehren sowie zu
Krankenkassen und zur Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Auch
Luzern soll prüfen, ob die Schaffung von Lehrstellen für
jugendliche ohne geregelten Aufenthalt in der städtischen
Verwaltung möglich ist. Dies wird in einem Postulat von Edith
Lanfranconi-Laube (Grüne), Nina Laky (Juso) und Ylfete Fanaj (SP)
und Désirée Stocker (Grünliberale) gefordert. Auf
kantonaler Ebene ist ein Postulat von Heidi Rebsamen (Grüne) mit
dem gleichen Ansinnen hängig. Zudem wurde im vergangenen November
von Lathan Suntharalingam (SP) und anderen Unterzeichnenden eine Motion
über die Einreichung einer Kantonsinitiative zum Thema eingereicht.
Hinweis: Mehr Informationen gibt es bei http://www.sans-papiers.ch und http://www.asylnetz.ch
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NZZ 28.5.10
5 von 31 Härtefallgesuchen anders beurteilt
Halbjahresbilanz der kantonalen Härtefallkommission
Die kantonale Härtefallkommission hat im letzten
Halbjahr 31 Härtefallgesuche beurteilt. In 26 Fällen teilte
die Kommission die Einschätzung des Migrationsamts. 2 Gesuche hat
Sicherheitsdirektor Hans Hollenstein positiv entschieden.
vö. ⋅ Seit der konstituierenden Sitzung im November
2009 hat die kantonale Härtefallkommission an 6 Sitzungen 31
Fälle beurteilt. Wie der Regierungsrat im Rahmen einer
Halbjahresbilanz am Donnerstag weiter mitteilte, hatte das
Migrationsamt von sich aus ein Gesuch positiv und 30 Gesuche negativ
beurteilt. Die Einschätzung der Härtefallkommission deckte
sich in 26 Fällen mit jener des Migrationsamts.
Ein Entscheid steht noch aus
In 5 Fällen, die das Migrationsamt negativ beurteilt
hatte, gelangte also die Kommission zu einer anderen Beurteilung.
Gemäss Communiqué hat der zuständige
Sicherheitsdirektor Hans Hollenstein inzwischen in 4 Fällen einen
Stichentscheid gefällt. In 2 Fällen folgte er der Empfehlung
der Kommission, in 2 weiteren Fällen entschied er sich
gegenteilig. Für die beiden auch vom Sicherheitsdirektor positiv
beurteilten Gesuche ist die abschliessende Zustimmung des Bundes noch
ausstehend. Laut Pressemitteilung wird die Sicherheitsdirektion den 5.
Fall erst entscheiden, wenn ihr die schriftliche Empfehlung der
Härtefallkommission vorliegt. Weder der Präsident der
Härtefallkommission, Harry Kalt, noch der Sicherheitsdirektor
wollten zu den strittigen Fällen Auskunft geben. Wegen des
Amtsgeheimnisses und aus Datenschutzgründen sei dies nicht
möglich, sagte die Kommunikationsbeauftragte Jolanda van de Graaf
auf Anfrage.
Die Härtefallkommission prüft nur Fälle, in
denen der negative Entscheid des Migrationsamts rechtlich nicht
anfechtbar ist. Zu diesem Kreis gehören abgewiesene Asylbewerber
und Asylsuchende mit einem Nichteintretensentscheid. Ausserdem
zählen dazu Personen, die in der Schweiz noch nie ein
Bewilligungsverfahren durchlaufen haben. Diese Beschränkung, die
Fälle ausschliesst, die etwa durch Scheidung zu Sans-Papiers
geworden sind, hat auch praktische Gründe: Da es im Kanton
Zürich jährlich über 3000 entsprechende
Härtefallgesuche gibt, wäre der Aufwand für die
Kommission zu gross.
Breit abgestütztes Gremium
Die Idee einer Härtefallkommission brachte Hans
Hollenstein Ende 2008 ins Spiel. Damals war mit der Besetzung der
Zürcher Predigerkirche durch Sans-Papiers das Migrationsamt unter
Beschuss geraten. Unter anderem mit dem Versprechen, ein
unabhängiges Gremium zur Beurteilung der Härtefallgesuche
einzusetzen, gelang es Hollenstein, die Wogen zu glätten. Vor
einem Jahr beschloss der Regierungsrat die Wiedereinführung der
2002 abgeschafften Härtefallkommission. Im September folgte die
Wahl des neunköpfigen Gremiums, dem die kantonale Beauftragte
für Integrationsfragen, Julia Morais, sowie Vertreter der Kirchen,
Hilfswerke und Gemeinden angehören.
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Tagesanzeiger 28.5.10
Nur zwei anerkannte Härtefälle
Häne Stefan
Zürich - Linke Kreise haben vergeblich gehofft: Die
Härtefallkommission ist nicht die grosse Gegenspielerin des
kantonalen Migrationsamts. In den ersten sechs Monaten ihres Bestehens
hat die Kommission 31 Fälle unter die Lupe genommen. In 26 davon
ist sie zur gleichen Einschätzung wie das Migrationsamt gelangt:
Sie hat das Gesuch um eine Härtefallbewilligung abgelehnt.
Das Gremium beurteilt die Gesuche von abgewiesenen
Asylbewerbern, von Sans-Papiers sowie Personen mit einem
Nichteintretensentscheid (NEE). In fünf Fällen empfahl das
Gremium in Abweichung vom Migrationsamt, das Gesuch gutzuheissen. Von
diesen hat Hans Hollenstein (CVP) 2 Gesuche positiv und 2 negativ
beurteilt; als Sicherheitsdirektor muss er von Gesetzes wegen den
Stichentscheid fällen. Der fünfte Fall ist noch hängig.
Einer der beiden abschlägigen Entscheide betrifft den
18-jährigen Kolumbianer Juan Montana, der wegen einer Hatz auf
eine Zürcher Gymiklasse im Februar für Schlagzeilen gesorgt
hat. Montanas Anwalt hat gegen den Entscheid Hollensteins Rekurs
eingelegt.
Nicht erhärten lässt sich anhand der neuen
Zahlen die Vermutung der SVP, wonach das Gremium eine Ansammlung von
Dienern der "Asylindustrie" sei. Präsident Harry Kalt (FDP), bis
2007 Gerichtspräsident am Bezirksgericht Dielsdorf, versichert
denn auch, die neunköpfige Härtefallkommission sei nicht
politisch gesteuert. (sth)
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NOTHILFE
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Bund 28.5.10
Sozialhilfe-Stopp bewegt nicht alle zur Ausreise
Jeder siebte Asylbewerber mit negativem Entscheid bleibt
in der Schweiz, obwohl der Bund für das tägliche Leben bloss
acht Franken zur Verfügung stellt. Die SVP möchte Hilfswerke
bestrafen, die Menschen mit Nothilfe zusätzlich unterstützen.
David Schaffner
Wer sich mit acht Franken pro Tag durchschlagen muss,
kehrt dem vermeintlichen Paradies Schweiz den Rücken zu und kehrt
in seine Heimat zurück. Mit dieser Massnahme wollte der
frühere Bundesrat Christoph Blocher jene Asylsuchenden zur
Ausreise bewegen, die trotz ablehnendem Entscheid hier blieben und
teilweise jahrelang von der Sozialhilfe lebten. Seit Anfang 2008
erhalten alle Asylsuchenden mit negativem Entscheid nur noch Nothilfe
von rund acht Franken pro Tag. Für jene Flüchtlinge, auf
deren Gesuch der Bund gar nicht erst eintritt, gilt der
Sozialhilfe-Stopp bereits seit April 2004.
Eine Studie des Bundesamtes für Migration (BFM) zeigt
nun, dass trotz der Reduktion auf Nothilfe viele Personen in der
Schweiz bleiben: Rund 30 Prozent der insgesamt 4699
Nothilfe-Bezüger aus dem zweiten Quartal 2009 haben ihren
negativen Entscheid bereits 2005 oder früher erhalten. Sie leben
also trotz Nothilfe seit vier Jahren oder länger in der Schweiz.
Bei fast der Hälfte der Fälle (44 Prozent) datiert der
Entscheid aus der Zeit vor 2008. Von sämtlichen Personen, die seit
2004 Nothilfe erhalten haben, haben indes 85 Prozent laut der Studie
das Land verlassen.
Alte und Frauen bleiben länger
"Ein Wundermittel ist der Soziahilfe-Stopp nicht", sagt
daher BFM-Direktor Alard du Bois-Reymond. "Insgesamt bewerten wir die
Massnahme positiv." Der Sockel von 15 Prozent Langzeitbezüger
lasse sich dadurch erklären, dass diese Menschen - unter anderem
wegen langer Asylverfahren - schon länger hier seien und teilweise
früher Sozialhilfe bekommen hätten. "Wer schon seit Jahren in
der Schweiz ist, hat ein Netzwerk aufgebaut und sich mit der Situation
arrangiert", erklärt du Bois-Reymond.
Andere Personen blieben länger in der Schweiz, weil
sie Mangels Kooperation ihres Herkunftslandes gar nicht
zurückgeschafft werden könnten oder weil noch Rechtsbegehren
hängig seien. Generell stellt die Studie fest, dass ältere
Menschen, Frauen und Familien länger in der Schweiz blieben.
Eine weitere Ursache für das unerwartet lange
Verharren mit bloss acht Franken täglich könnte das
Engagement von Privatpersonen oder kleinen Hilfswerken sein, die den
abgewiesenen Asylsuchenden verschiedene Hilfsleistungen zukommen
lassen. "Es besteht die Problematik, dass gewisse Kreise die
Nothilfe-Massname unterwandern", sagt du Bois-Reymond. "Wir werden
dieses Phänomen genauer anschauen." Ein Verbot wäre laut du
Bois-Reymond indes "unverhältnismässig".
Anders sieht dies SVP-Nationalrat Hans Fehr: "Wer
Abgewiesenen hilft, verstösst gegen das Gesetz und muss mit Busse
bestraft werden. Wenn Hilfswerke mit Subventionen Hilfe leisten,
müssen wir ihnen die Gelder kürzen." Wenn die Subventionen
zweckgebunden seien, hält dies auch du Bois-Reymond für
gerechtfertigt.
SP sieht christliche Tradition
Kein Verständnis für solche Zwangsmassnahmen hat
SP-Nationalrat Andy Tschümperlin: "Menschen in Not zu helfen, ist
eine christliche Tradition." Er wie auch die Schweizerische
Flüchtlingshilfe interpretieren die hohe Zahl der
Langzeitbezüger anders: "Es sind Menschen, die tatsächlich
und begründet Angst davor haben, in ihre Heimat
zurückzukehren", sagt Tschümperlin. Er verlangt daher, dass
der Bund diesen Menschen eine Chance gibt, zu bleiben.
Grosse Unterschiede stellt das BFM zwischen den Kantonen
fest: Während in der Waadt und Zürich (siehe Box und Grafik)
sehr viele leben, ist ihre Anzahl in Bern durchschnittlich hoch. In den
nächsten Monaten diskutiert das Amt neue Massnahmen, um auch die
Langzeitbezüger zur Ausreise zu bewegen.
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Kritik vom Chef des Bundesamts für Migration
Zürich kontert die Vorwürfe aus Bern
Laut BFM-Chef Alard du Bois-Reymond hat Zürich das
schlechteste Nothilferegime aller Kantone. Das Zürcher Sozialamt
weist die Kritik entschieden zurück.
Daniel Foppa
Die Vorwürfe sind happig. Alard du Bois-Reymond,
Direktor des Bundesamts für Migration (BFM), sagte am
Mittwochabend in der "Rundschau" des Schweizer Fernsehens: "Die Kantone
haben beim Nothilferegime einen Handlungsspielraum. Zürich ist
leider im Vergleich zwischen den Kantonen der schlechteste Kanton."
Tatsächlich zeigt die gestern publizierte Studie,
dass Zürich zusammen mit der Waadt die höchste Quote von
Langzeit-Nothilfebezügern hat: So waren in beiden Kantonen 36
Prozent der Nothilfebezüger bereits seit mindestens vier Jahren
rechtskräftig abgewiesen.
In Zürich hält man gar nichts von der Kritik aus
Bern. "Herr du Bois-Reymond ist neu im Amt. Er kennt die Materie zu
wenig", sagt Ruedi Hofstetter, Chef des kantonalen Sozialamts. Laut
Hofstetter führen verschiedene Faktoren dazu, dass sich abgelehnte
Asylbewerber in Zürich länger gegen eine Ausreise wehren als
anderswo. "Zürich ist mit seinen Agglomerationen attraktiv
für diese Personen. Hier treffen sie in kurzer Fahrdistanz auf ein
Netzwerk von Bekannten und Hilfsorganisationen." Es bringe nichts, die
Nothilfe weiter zu kürzen. "In die Lücke würden sofort
Unterstützungskomitees springen", sagt Hofstetter.
Der Amtschef betont, dass Zürich in mehreren
Bereichen strenger sei als andere Kantone: "Ein Teil der abgewiesenen
Asylbewerber muss alle sieben Tage die Nothilfe neu beantragen und die
Unterkunft wechseln." Zudem erhalten die Nothilfebezüger kein
Bargeld, sondern Essensgutscheine. Doch auch solche Massnahmen wirkten
beschränkt: "Man kann ihnen auch alles streichen. Sie bleiben
trotzdem hier", sagt Hofstetter.
Es fehlt der Platz
Von den rund 1200 rechtskräftig abgewiesenen
Asylbewerbern im Kanton Zürich leben etwa 600 in
Nothilfe-Unterkünften und 180 in Ausschaffungs- oder
Untersuchungshaft. Gut 400 Personen - vor allem Familien - sind
hingegen wegen fehlender Plätze in den Nothilfe-Unterkünften
in den Gemeinden untergebracht. Dort erhalten sie normale
Unterstützung nach Asylansätzen. Müsste der Kanton nicht
zusätzliche Liegenschaften zur Verfügung stellen, damit auch
diese Leute auf Nothilfe gesetzt werden können?
"Wir finden keine weiteren Unterkünfte", sagt
Hofstetter. Zivilschutzanlagen seien zum Beispiel in Gemeindebesitz.
Und diese wehrten sich durch alle Instanzen hindurch, wenn der Kanton
in ihrem Ort eine Nothilfe-Unterkunft einrichten wolle.
---
NLZ 28.5.10
Asylwesen
Nothilfekonzept ist laut Flüchtlingshilfe gescheitert
Für abgewiesene Asylbewerber gibts bloss zu essen,
ein Bett und Notfallmedizin. Für viele ist dies immer noch besser
als eine Rückkehr.
sda/kä. Seit dem 1. Januar 2008 erhalten abgewiesene
Asylbewerber nur noch Nothilfe anstatt Sozialhilfe. Sie kriegen zu
essen, ein Dach über dem Kopf, Kleider und eine medizinische
Notfallversorgung. Das Ziel der verschärften Praxis: Wer in der
Schweiz nicht als Flüchtling anerkannt ist, soll das Land
möglichst rasch wieder verlassen. Doch die Nothilfe entfaltet
nicht eine so stark abschreckende Wirkung, wie ursprünglich
erwartet. Zu diesem Fazit kommt der Bericht "Langzeitbezug von Nothilfe
durch weggewiesene Asylsuchende", der im Auftrag des Bundesamtes
für Migration (BFM) erstellt und gestern veröffentlicht
wurde. Weggewiesene Asylbewerber würden die beiden Optionen
Nothilfe und Rückkehr gegeneinander abwägen. "Die Nothilfe
bietet zum Teil mehr, als sie in ihrem Heimatland erwarten
können", so die Autoren. Offenbar spielt auch die Angst vor dem
Gesichtsverlust bei einer Rückkehr eine Rolle.
15 Prozent bleiben
In Zahlen heisst das: 293 (15 Prozent) der 1952
Asylbewerber, die im ersten Halbjahr 2008 einen rechtskräftigen
Abweisungsentscheid erhalten haben, befanden sich im zweiten Quartal
2009 trotz Nothilfe noch in der Schweiz. Zu diesen Personen gesellen
sich die so genannten "Langzeitbezüger". Im zweiten Quartal 2009
bezogen laut der Studie 4699 Personen Nothilfe.
Davon wiesen 2093 (44 Prozent) einen Wegweisungsentscheid
auf, der vor 2008 rechtskräftig wurde; bei 1413 Personen (30
Prozent) datiert der Entscheid aus dem Jahr 2005 oder früher. Das
Fazit der Studie: "Der Sozialhilfestopp hat den dauerhaften Verbleib
einer Minderheit der Weggewiesenen nicht verhindert." Zur Dauer des
Nothilfebezugs trug als wesentlicher Faktor auch das Herkunftsland bei.
Zudem sind sich diese Abgewiesenen bewusst, dass sie eine Heimschaffung
durch nicht kooperatives Verhalten behindern können. Hinzu kommen
die kantonale Wegweisungspraxis und die individuelle Situation der
Abgewiesenen. So bleiben Alte, Frauen, Paare und Familien trotz
Nothilfe länger.
Dass Personen länger bleiben und sich mit Nothilfe
begnügen, hängt ferner von hängigen Rechtsmitteln ab.
Zudem verzeichnen Kantone mit liberalerer Härtefallpraxis und
grösseren Sympathien für Asylbewerber in der
Zivilgesellschaft längere Aufenthalte. Nicht zuletzt spielt der
Erfolg des Bundes bei der Rückführungspolitik eine Rolle.
Meist finden sich die Langzeitbezüger in grösseren Kantonen
und Agglomerationsgemeinden.
Allerdings hätten die Kantone Einfluss, im Rahmen der
Nothilfe auf die Zahl der Langzeitbezüger einzuwirken. Zwei
Handlungsmöglichkeiten der Kantone ortet die Studie im
Zusammenspiel von Kooperationsanreizen und Sanktionen. Zudem
schlägt sie genügend Haftplätze sowie ausreichend
Polizeieinsätze bei Zuführungen zu
Identitätsabklärungen vor.
Flüchtlingshilfe übt Kritik
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH)
interpretiert die Studienergebnisse als Scheitern des Nothilfekonzepts.
Sprecher Adrian Hauser: "Es ist nicht erwiesen, dass damit mehr
abgewiesene Asylbewerber ausreisen. Die Nothilfe trifft vor allem die
verletzlichen Personen, Frauen, Kinder, Betagte, hart. Die Kinderrechte
sind nicht gewahrt, weil es kein Recht auf Schulbesuch für die
betroffenen Kinder gibt." In einer gemeinsamen Stellungnahme halten
SFH, Amnesty International Schweiz, Solidarité sans
frontières und die Schweizerische Beobachtungsstelle für
Asyl- und Ausländerrecht fest, "dass die Nothilfe offensichtlich
für immer mehr abgewiesene Asylsuchende zu einem
menschenunwürdigen Dauerzustand wird".
Nothilfe: Link zur Studie unter www.zisch.ch/bonus
--
Nothilfe: Studie "Langzeitbezug von Nothilfe durch weggewiesene
Asylsuchende
http://www.bfm.admin.ch/etc/medialib/data/migration/asyl_schutz_vor_verfolgung/sozialhilfe.Par.0013.File.tmp/ber-langzeitbezug-nothilfe-d.pdf
---
20 Minuten 28.5.10
Jeder 7. Abgewiesene reist nicht aus
BERN. Trotz Nothilfe reist fast jeder siebte abgewiesene
Asylbewerber nicht aus. Bei diesen 15 Prozent müssen die Kantone
damit rechnen, sie als Langzeitbezüger zu behalten. Die seit zwei
Jahren geltende Nothilfe in Form von Lebensmitteln, Notunterkunft und
Notfallmedizin habe ihr Ziel damit nicht voll erreicht, so eine vom
Bundesamt für Migration in Auftrag gegebene Studie. Für die
15 Prozent, die trotz Nothilfe bleiben, stelle die Rückkehr in die
Heimat die abschreckendere Variante dar. Die Gründe dafür
seien allerdings in der Schweiz nicht asylrelevant. Kantone und Bund
prüfen nun Massnahmen.
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AUSSCHAFFUNG
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Bund 31.5.10
Stopp der Ausschaffungsflüge verschärft Situation in
Gefängnissen
Die Pläne für ein Containergefängnis in
Witzwil bleiben auch nach grünem Licht für Sonderflüge
pendent.
Anita Bachmann
Die Gefängnisse im Kanton Bern sind so voll, dass der
zuständige Polizeidirektor Hans-Jürg Käser (FDP)
Pläne für ein Containergefängnis ausarbeiten liess. "Die
Platzsituation ist prekär", sagt Käser. Die Anstalten und
Regionalgefängnisse sind gegen hundert Prozent voll, in anderen
Kantonen zum Teil sogar über hundert Prozent. "Die Pläne
für das Containergefängnis liegen pfannenfertig in der
Schublade", sagt Käser. Geplant sind 38 zusätzliche
Gefängnisplätze in Containern, die auf dem Areal der
Anstalten Witzwil aufgestellt würden ("Bund" vom 19. April).
Aufgebaut und in Betrieb genommen werden könnte das
Containergefängnis innert sechs Monaten. Kosten soll es 900 000
Franken, ein Betrag, welcher in der alleinigen Kompetenz der Regierung
liegt.
Wenn die Ausschaffungsflüge für abgewiesene
Asylsuchende in den nächsten Monaten nicht wieder aufgenommen
würden, müssten die Pläne für das
Containergefängnis realisiert werden, sagte Käser noch vor
kurzem. Dann würde er mit dem Vorhaben noch vor den Sommerferien
in die Regierung gehen. Vorletzten Freitag gab das Bundesamt für
Migration (BFM) grünes Licht, die Ausschaffungsflüge wieder
aufzunehmen. Laut BFM sollen die ersten Flüge in drei bis vier
Wochen durchgeführt werden. Das dürfte auch in den Berner
Gefängnissen zu einer gewissen Entspannung der Situation
führen. Gestoppt wurden die Flüge, nachdem am 17. März
ein Nigerianer auf dem Flughafen Kloten kurz vor dem Ausschaffungsflug
gestorben war.
20 Prozent sind Nigerianer
Das Ausschaffungsgefängnis mit knapp 40 Plätzen
befindet sich im Kanton Bern in den Anstalten Witzwil. Laut
Migrationsdienst sind zurzeit 85 Personen in Ausschaffungshaft; wer in
Witzwil nicht Platz hat, sitzt in den Regionalgefängnissen. Ab
sofort könne der Kanton Bern nun wieder
Ausschaffungshäftlinge für Sonderflüge anmelden, ausser
für Nigeria, sagt Florian Düblin, Leiter des kantonalen
Migrationsdienstes. Gesamtschweizerisch machen die nigerianischen
Staatsangehörigen 20 Prozent der Ausschaffungshäftlinge aus,
sagt Urs von Arb vom BFM. Dass nach wie vor keine Nigerianer
ausgeflogen werden könnten, bezeichnet er als Einschränkung.
Im Kanton Bern befinden sich im Moment 14 Nigerianer in
Ausschaffungshaft.
Ob die Sistierung der Ausschaffungsflüge zu einem
Rückstau in den Gefängnissen geführt habe, sei schwierig
zu beurteilen, sagt von Arb. Letztes Jahr seien mit 43
Sonderflügen 360 Personen ausgeschafft worden. Ein Stopp von zwei
Monaten sei deshalb vermutlich nicht so schlimm. Auch im Kanton Bern
sei dies schwierig einzuschätzen, weil Personen zum Teil nur
kurzfristig in Haft genommen würden, um sie einer Delegation
vorzuführen, und auch immer wieder Leute entlassen würden,
sagt Claudia Ransberger vom kantonalen Migrationsdienst. Zudem
sässen viele sogenannte Dublin-Fälle in Ausschaffungshaft,
die unabhängig von Flügen in Drittstaaten ausgeschafft
würden. Vor dem Stichtag des Todesfalls des Nigerianers sassen mit
75 Ausschaffungshäftlingen 10 Personen weniger in Berner
Gefängnissen ein als aktuell. In der Ungewissheit darum, wann
Nigerianer überhaupt wieder ausgeflogen werden könnten, sei
man im Kanton Bern zurückhaltend, solche Personen zurzeit in Haft
zu nehmen, sagt Florian Düblin. Im Gegensatz zum Kanton Waadt
wurden im Kanton Bern aber keine Nigerianer aufgrund des Flugstopps aus
der Haft entlassen.
Auf Druck der Kantone
Unabhängig von der Entwicklung im Asylwesen bleibt
die Planung für ein Containergefängnis pendent. Die
Pläne hätten nur indirekt mit den Ausschaffungsflügen zu
tun, sagt Käser. Auch die zusätzlichen Haftplätze, die
im neuen Regionalgefängnis Burgdorf entstehen, seien nicht
explizit für die Ausschaffungshaft vorgesehen.
Kritik übt der Menschenrechtsverein Augenauf an den
Plänen für das Containergefängnis. "Wir befürchten,
dass die Bedingungen für Ausschaffungshäftlinge in einem
solchen Provisorium noch schlechter sind", sagt Karin Jenni von
Augenauf Bern. Als unhaltbar bezeichnet sie die Wiederaufnahme der
Ausschaffungsflüge, besonders weil die Untersuchungen zum
Todesfall des Nigerianers noch nicht abgeschlossen seien. Dieses
Vorgehen zeige, dass weitere Todesfälle bei Ausschaffungen in Kauf
genommen werden. Man gehe davon aus, dass auf Druck der Kantone das BFM
grünes Licht zur Wiederaufnahme der Sonderflüge gegeben habe.
---
Landbote 28.5.10
Bilanz 2009: Ausschaffung von 5886 Ausländern
2009 hat die Polizei rund 5886 Personen via Flughafen
Zürich zwangsausgeschafft.
Zürich - 292 der ausgeschafften Personen haben sich
dabei mit Händen und Füssen gewehrt und wurden daraufhin
besonders stark gefesselt und in ein Sonderflugzeug gesetzt.
Das Asylgesetz schreibt vor, dass Personen, deren
Asylgesuch abgelehnt wurde oder sich illegal in der Schweiz aufhalten,
das Land verlassen müssen. Geschieht dies freiwillig, werden die
Betroffenen durch die Polizei bis zum Flugzeug begleitet, das sie
darauf alleine besteigen. Falls sich diese derart widersetzen, dass
diese Form der Rückführung nicht möglich ist, werden sie
gefesselt und von zwei Polizisten in einem Linienflug begleitet. Wenn
die alleinige Begleitung durch Polizisten nicht ausreicht, werden
renitente Personen "in einem Sonderflug mit einer verstärkten
Fesselung zurückgeführt". Dies war im vergangenen Jahr in
rund fünf Prozent der Zwangsausschaffungen der Fall, wie gestern
der Zürcher Regierungsrat in einer veröffentlichten Antwort
auf eine Interpellation aus dem Kantonsrat schreibt.
"Verstärkte Fesselung" bedeutet etwa, dass renitente
Personen auf einem Rollstuhl festgebunden und zum Flugzeug
transportiert werden. "Je nach Verhalten" werden ihnen Fuss-, Knie-,
Arm- und Handfesseln sowie ein Kopfschutz angezogen. Wie es weiter
heisst, wurden von 2006 bis heute ab Zürich 111 Sonderflüge
mit insgesamt 1282 Personen durchgeführt. Diese Flüge seien
von der Kantonspolizei Zürich organisiert und grösstenteils
auch begleitet worden. (sda)
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NZZ 28.5.10
"Verstärkte Fesselungen"
Regierungsrat legt Zahlen zu Ausschaffungen vor
rsr. ⋅ Im vergangenen Jahr mussten 5886 Personen aus der
ganzen Schweiz über den Flughafen Zürich ausgeschafft werden.
Zeigen sie sich für eine normale Rückführung - gefesselt
und von zwei Polizisten in einem Linienflug begleitet - zu renitent,
werden sie per Sonderflug mit "verstärkter Fesselung"
ausgeschafft. Wie der Regierungsrat in Beantwortung einer
Interpellation erklärt hat, betraf dieses Vorgehen 2009 knapp 5
Prozent (292 Personen).
Moskitohutnetze gegen Spucke
Die "verstärkte Fesselung" war laut Regierungsrat
besonders im Hinblick auf solche Sonderflüge entwickelt und
ärztlich überprüft worden und kennt unterschiedliche
Eskalationsstufen: "Je nach Verhalten der Rückzuführenden
werden ihnen Fuss-, Knie-, Arm- und Handfesseln angezogen." Auch ein
Helm zum Schutz vor Stürzen zählt zum Sortiment sowie -
sollte der Gefesselte andere bespucken - ein Moskitohutnetz. Im
Flugzeug könnten die Fesseln dann gelockert werden. Ein Arzt
überprüfe zudem vor dem Flug die Transportfähigkeit;
eine medikamentöse Ruhigstellung der Häftlinge sei aber in
allen Fällen verboten, schreibt die Regierung weiter.
Kanton bereitet alle Flüge vor
Die Interpellation war von Vertretern der AL und der
Grünen nach dem Tod eines 29-jährigen
Ausschaffungshäftlings aus Nigeria vor einem derartigen Flug Mitte
März eingereicht worden. Die Sonderflüge waren danach vom
Bundesamt für Migration eingestellt worden, sind aber seit Ende
letzter Woche wieder zulässig (NZZ 22. 5. 10). Die Kantonspolizei
Zürich führt jeweils die Flugvorbereitung, zu der auch die
Fesselung zählt, im Auftrag des Bundes für alle Kantone am
Flughafen durch. Für den Transport nach Kloten und die Begleitung
während des Fluges sind jedoch die einzelnen Kantone
zuständig.
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REVOLTE BS
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Basler Zeitung 31.5.10
Stadtentwickler an Konzert verletzt
Basel. Thomas Kessler verzichtet nach Angriff von
Schlägern auf Anzeige
Alan Cassidy
Stadt- und Kantonsentwickler Thomas Kessler wurde an einem
Konzert in der Villa Rosenau von Schlägern angegriffen und
verletzt.
Eigentlich wollte sich Thomas Kessler am Freitagabend in
der besetzten Villa Rosenau bloss ein Konzert anhören - privat und
auch nicht zum ersten Mal, wie er sagt. Doch der Abend endete nicht wie
geplant: Mehrere Personen pöbelten ihn an und schlugen auf ihn
ein. Der Leiter der Abteilung Kantons- und Stadtentwicklung im
Präsidialdepartement bestätigt einen Bericht der
"Sonntags-bz".
Bei den Angreifern handle es sich um etwa sieben Leute,
von denen einige offenbar früher in der Villa Rosenau gewohnt
hätten, sagt Kessler zur BaZ. Die Täter hätten nicht
genau gewusst, wer er sei, hätten ihn aber als Staatsangestellten
erkannt und als "Behördensau" beschimpft. Als sie ihn
aufforderten, die Villa Rosenau zu verlassen, habe er
"dagegengehalten": "Ich wollte wissen, was ihre Motivation ist, mich
hinauszuwerfen." Der Versuch, die Angreifer in eine Diskussion zu
verwickeln, schlug fehl. Nachdem Kessler, der mehrere Kampfsportarten
beherrscht, durch einen Faustschlag ins Gesicht leicht verletzt wurde,
nahm er ein Taxi und ging. "Dem Frieden zuliebe", wie er sagt.
Kessler betont, er wolle den Vorfall auf keinen Fall
hochspielen. Den anderen Konzertbesuchern sei die Szene sehr unangenehm
gewesen, niemand habe sich mit den Schlägern solidarisiert. Auf
eine Anzeige verzichtet Kessler, weil diese eine "politische
Komponente" hätte und ein "falsches Signal" gegenüber der
Hausbesetzerszene setzen würde. Der Angriff der Schläger habe
sich "gegen den Staat" gerichtet.
Debatte
Ein Angriff gegen ein Behördenmitglied, Chaotenzüge
durch die Innenstadt - im Gespräch sucht Kessler nach
Erklärungen für die Gewaltbereitschaft in Teilen der
autonomen Szene. Es herrsche Diskussionsbedarf: Die Forderungen der
Hausbesetzer nach Freiräumen müssten ernst genommen, die
gesellschaftliche Debatte mit allen Beteiligten verstärkt werden.
Deshalb verschanze er sich nicht hinter dem Schreibtisch, sondern suche
als Exponent des Staats das Gespräch mit den Betroffenen. Das will
Kessler auch weiterhin tun. Und: Konzerte in der Villa Rosenau werde er
wieder besuchen.
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20 Minuten 31.5.10
Stadtentwickler kassierte Prügel
BASEL. Linksautonome schlugen den obersten Basler
Stadtentwickler, als er ein Konzert in der Villa Rosenau besuchte.
Thomas Kessler nimmts gelassen.
Eine geschwollene Oberlippe ist das Andenken, das Thomas
Kessler von seinem Besuch in der Villa Rosenau am Freitagabend mitnahm:
Einige Linksautonome hatten etwas gegen seine Anwesenheit und
versuchten, ihn mit Gewalt auszuschliessen, was auch gelang. Die
Begründung: Er sei ein Staatsdiener. "So etwas habe ich dort noch
nie erlebt", sagt Kessler, der öfters in der Rosenau Konzerte
besucht. Der Vorfall wurde denn auch vom Rest des Publikums und den
Organisatoren absolut nicht goutiert. Das Opfer nimmt die Pöbelei
aber gelassen und verzichtet auf eine Anzeige, wie er zum "Sonntag"
sagte. Zu verteidigen hätte sich der in Kampfkunst bewanderte
Kessler zwar gewusst. "Das hätte aber den Anlass ruiniert", glaubt
er.
Kessler beschäftigt aber, dass es Gruppen gibt, die
zu Gewalt greifen, wie etwa an den beiden Saubannerzügen diesen
Monat. "Gerade die kritischen Stimmen in der Debatte über die
Yuppiesierung einzelner Stadtteile muss man ernst nehmen", fordert er.
Hinter den Gewaltausbrüchen auch gegen seine Person ortet er
Ängste vor Veränderungen.
Zum Diskutieren hatten die Schläger vom Freitag aber
keine Lust. "Denen ging es nur um den Gewaltakt", glaubt Kessler. Die
Lippe ist derweil bereits wieder am Abschwellen.
Lukas Hausendorf
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Sonntag 30.5.10
Auf Stadtentwickler eingeschlagen
Angepöbelt, herumgeschubst, ins Gesicht geschlagen:
Links- autonome sind auf Thomas Kessler losgegangen
Thomas Kessler hat Glück gehabt. Glück im
Unglück. Der Basler Stadtentwickler hat nur eine verletzte
Oberlippe davon getragen. "In zwei Tagen sieht man davon nichts mehr."
Kessler versucht, den Vorfall gelassen zu nehmen. "Ich möchte das
Ganze nicht überbewerten. Wer sich in seinem Amt exponiert, muss
auch mal mit so etwas rechnen." Und dennoch: Nach den Ausschreitungen
vom 1.Mai und den schweren Vandalenakten in der Freien Strasse vor
Pfingsten ist es auch an diesem Wochenende erneut zu Gewalt aus der
linksautonomen Szene gekommen.
Freitagabend. Villa Rosenau. Kessler besucht hier ein
Konzert. Auch aus beruflichen Gründen ist der ehemalige
Integrationsbeauftragte an der städtischen Jugendkultur
interessiert. "Es war eine tolle Atmosphäre", schwärmt
Kessler auch gestern noch. Aber nicht allen Gästen passt die
Anwesenheit des Staatsdieners. Sieben Personen aus der
Hausbesetzerszene pöbeln Kessler an, verweigern jede Diskussion.
Kessler sei "in ihrem Gesichtsfeld unerwünscht". "Sie wussten
offensichtlich gar nicht, wer ich bin. Wussten nur, dass ich beim Staat
arbeite."
Dem "Frieden zuliebe" geht Kessler vor die Tür. Dort
aber geht der Streit weiter. Alkohol ist im Spiel. Kessler wird weiter
angepöbelt, herumgeschubst. Es folgt ein Schlag ins Gesicht. "Den
Organisatoren sowie dem übrigen Publikum war die Szene sichtlich
unangenehm. Einige versuchten zu schlichten." Kessler will den Vorfall
keinesfalls hochspielen. Er verlässt das Areal. Bald darauf
verziehen sich auch die Schläger: "Sie scheinen gemerkt zu haben,
dass ihre Selbstinszenierung beim Publikum nicht gut ankam."
Auch Stadtentwickler Kessler selber sieht den Vorfall vom
Freitagabend im Zusammenhang mit den Saubannerzügen von Anfang und
Mitte Monat: "Das Ganze gehört in die Debatte der
‹Modernisieruns-Kritik›, die seit Jahren geführt wird und nun
hochkommt." Es gehe um ein romantisches Weltbild des Bewahrens. Dabei
seien es nur ganz wenige, die tatsächlich Gewalt ausübten.
Die grosse Mehrheit sei diskussionsbereit.
Die Vorfälle zeigten vorab, wie wichtig es sei, dass
die Diskussion nun verstärkt geführt wird. Auf eine Anzeige
will Kessler denn auch verzichten. "Wir lösen die Jugendprobleme
sicher nicht repressiv. Dies kann nur eine letzte Massnahme sein", ist
Kessler überzeugt. Und nochmals: "Es braucht die Debatte."Daniel
Ballmer
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Sonntag 30.5.10
"Ich kann verstehen, dass einem Geschäftsbesitzer der
Kragen platzt"
Der Basler Datenschutzbeauftragte Beat Rudin pocht auf die
gesetzlichen Grundlagen der Videoüberwachung
Von Bojan Stula
Nach den schweren Vandalenakten am 1.Mai und vor Pfingsten
wird wieder der Ruf nach mehr Überwachungskameras laut. Der Basler
Datenschutz stellt aber die Sinnfrage.
Beat Rudin, nach den jüngsten Vandalenakten in der
Basler Innenstadt ist der Ruf nach stärkerer Videoüberwachung
wieder aufgekommen. Lassen sich die Forderungen mit dem Datenschutz
vereinbaren?
Beat Rudin: Ich kann verstehen, dass einem betroffenen
Geschäftsbesitzer der Kragen platzt und der Ruf nach Massnahmen
laut wird. Ob Videoüberwachung die richtige Lösung ist, das
muss aber noch genau angeschaut werden. Ausserdem ist
Videoüberwachung nicht gleich Videoüberwachung.
Wie meinen Sie das?
Wenn die Kameras bloss einen Überblick verschaffen
und auf den Aufnahmen keine Personen oder Fahrzeuge zu identifizieren
sind, wenn man also nur feststellen kann, dass eine Menschengruppe sich
in der Streitgasse Richtung Freie Strasse bewegt, dann ist das etwas
anderes, als wenn man auf den Aufnahmen erkennen kann, dass Sie mit dem
Chefredaktor einer Konkurrenzzeitung oder der Frau Ihres Chefs durch
das Pfeffergässlein gehen. Aus Datenschutzsicht relevant ist die
zweite Variante, weil hier eben Personendaten bearbeitet werden.
Ausserdem ist es nicht dasselbe, ob die Aufnahmen bloss aufgezeichnet
und nur in bestimmten Fällen später ausgewertet werden oder
ob sie in einer Zentrale online ausgewertet werden und
nötigenfalls Sicherheitsleute alarmiert werden können.
Was sagen Sie denn nun zur Forderung nach einer
flächendeckenden Videoüberwachung in Basel?
Vielleicht müssen wir zur Abgrenzung auf eine weitere
Unterscheidung hinweisen: Nur wenn Behörden des Kantons oder der
Gemeinden Daten bearbeiten, ist das kantonale Datenschutzgesetz
anwendbar und der kantonale Datenschutzbeauftragte für die
Aufsicht zuständig. Wenn Private wie etwa Geschäftsinhaber
eine Videoüberwachung betreiben, müssen sie sich an das
Bundesdatenschutzgesetz halten. Dort gibt es aber im Unterschied zu
kantonalen Gesetzen keine separate Bestimmung zur
Videoüberwachung. Klar ist, dass private Videoüberwachung
nicht in den öffentlichen Raum "hinausschauen" darf.
Bleiben wir bei der Videoüberwachung durch kantonale
Behörden: Welche Zugeständnisse beim Thema
Videoüberwachung in Basel wären Sie als Datenschützer
bereit einzugehen?
(lacht) Halt, es ist nicht Sache des
Datenschutzbeauftragten zu sagen, wie weit Videoüberwachung gehen
darf! Wie viel Überwachung es in Basel geben soll und darf, das
ist ein Frage, welche politisch zu entscheiden ist.
Videoüberwachung muss den gesetzlichen Vorgaben entsprechen, und
die werden im politischen Entscheidverfahren von Regierung und
Parlament festgesetzt und vielleicht sogar vom Stimmvolk entschieden.
Gerade nach Vandalenakten wie am Freitag vor Pfingsten
fordert die Öffentlichkeit empört ein härteres
Durchgreifen. Wenn die Mehrheit der Öffentlichkeit für eine
härtere Gangart ist, dann kann man doch auch bedenkenlos die
Videoüberwachung verstärken, oder? Oder gilt für den
Datenschutz das demokratische Mehrheitsprinzip nicht?
Doch, und die Mehrheit im Grossen Rat hat 2004 den
Videoüberwachungs-Paragraphen ins Datenschutzgesetz
eingefügt. Das Referendum wurde nicht ergriffen, weil die
Öffentlichkeit offenbar mit dieser Regelung einverstanden war.
Seither gelten diese Vorgaben und sie verlangen für
Videoüberwachung eine gesetzliche Grundlage. Diese gesetzliche
Grundlage fehlt zurzeit für eine flächendeckende
Videoüberwachung - wobei noch zu diskutieren wäre, was unter
"flächendeckend" verstanden wird: Soll wirklich jedes
Gässlein und jede Strassenecke im Kanton gefilmt werden? Wenn es
einen flächendeckenden Ausbau der Videoüberwachung geben
sollte, müsste der Gesetzgeber zuerst die Grundlage in einem
Gesetz schaffen. Der Basler Grosse Rat hat das Thema bei der Beratung
des Informations- und Datenschutzgesetzes in der Juni-Sitzung auf dem
Tisch. Ich persönlich hoffe nur, dass die
Videoüberwachungsfrage die Einführung des
Öffentlichkeitsprinzips und die längst fällige Revision
der Datenschutzvorschriften nicht allzu sehr verzögert.
Wo liegen die konkreten Gefahren einer
flächendeckenden Videoüberwachung?
Staatliche Videoüberwachung muss wie jedes staatliche
Handeln nicht nur eine gesetzliche Grundlage haben, sondern sie muss
auch verhältnismässig sein. Sie darf also nicht mehr tun, als
nötig ist, damit der Zweck noch erreicht werden kann. Da wird
schnell klar: Muss oder soll die Polizei von Ihnen jederzeit wissen,
mit wem Sie sich - schon wieder! - wo im öffentlichen Raum
aufhalten, wohin Sie gehen? Soll Sie erkennen, wo Sie einkaufen, zu
welcher Ärztin Sie gehen, wann Sie von einem Restaurantbesuch
zurückkehren- und vielleicht auch in welchem Zustand? Ich denke,
das ist nicht das Bild vom Staat, in welchem wir gerne leben
möchten.
Gegen Überwachungskameras können nur jene sein,
die etwas zu verbergen haben, sagen die Befürworter. Was sagt der
Datenschutzbeauftragte?
Diese naive Behauptung wird durch die Wiederholung nicht
wahrer. Hand aufs Herz: Gibt es in Ihrem Leben nichts, von dem Sie
nicht möchten, dass es alle wissen? Oder vielleicht auch nur, dass
es die Polizei nicht weiss? Wenn wir ganz ehrlich sind, dann haben wir
alle doch ein paar kleine Bereiche, in denen wir die Regeln oder
Erwartungen der anderen gelegentlich etwas ritzen. Soll es möglich
sein, Sie künftig dafür zu bestrafen? Dann wird der Schritt
zum Überwachungsstaat immer kleiner.
Das ist ein etwas schwammiges Argument.
Es kommt noch eine andere, entscheidende Frage ins Spiel:
Wirkt Videoüberwachung überhaupt? Wie wirkt sie? Kann sie die
Erwartungen, die wir in sie setzen, überhaupt erfüllen? Also
in der Schlussabrechnung: Haben wir letztlich bloss die
unerwünschten Nebenwirkungen, ohne dass Videoüberwachung das
bringt, was wir ursprünglich von ihr erwartet haben?
Was sagt der aktuelle Forschungsstand über Sinn und
Präventionsnutzen von Überwachungskameras?
Die kriminologische Evaluationsforschung zeigt, dass
Videoüberwachung gegen bestimmte Delikte in geeigneten Umgebungen
durchaus präventiv wirken kann, zum Beispiel gegen Diebstahl oder
Sachbeschädigung in Parkhäusern. Wenig Wirkung zeigt sich
gegen Delikte allgemein in innerstädtischen Zentren sowie gegen
Gewaltdelikte wie Körperverletzung oder Raub. Bei vielen
Evaluationen lässt sich der Nutzen auch nicht einfach der
Videoüberwachung zurechnen, weil ein ganzer Mix von Massnahmen
ergriffen wurde wie die Verbesserung der Lichtverhältnisse, mehr
Präsenz von Polizei oder bauliche Massnahmen. Ausserdem lernen
auch die Übeltäter, sich gegen Videoüberwachung zu
"schützen". Oder sie weichen einfach in nicht überwachte
Gebiete aus. Die Frage ist also: Was dürfen wir von
Videoüberwachung überhaupt erwarten? Hängen wir nicht
einem Wunschbild nach, wenn wir meinen, dass Videoüberwachung
unsere gesellschaftlichen Probleme löst? Ist das Geld, welches die
Einrichtung von Überwachungssystemen kostet, wirklich gut
investiert, wenn die erwartete Wirkung ausbleibt?
Hätten Sie ein persönliches Rezept, wie man
solche Gewaltexzesse wie am Freitag vor Pfingsten verhindern
könnte?
Sie meinen doch nicht etwa, ich hätte ein
Patentrezept dagegen! Mit diesen Problemen haben sich schon
grössere Fachleute herumgeschlagen. Ich denke, dass schon eine
stärkere Präsenz von Polizeikräften mehr auszurichten
vermag also blosse Videoüberwachung. Letztlich bin ich aber
überzeugt, dass es ein Mix von verschiedenen Massnahmen sein muss.
Videoüberwachung muss auf jeden Fall in ein grösseres
Sicherheitskonzept eingebettet sein. Ich kann mir vorstellen, dass sie
in einem solchen Gesamtzusammenhang an bestimmten Orten ihren Teil zur
Lösung beitragen kann. Dann ist aber klar festzulegen, welcher
Zweck damit verfolgt wird, welche Art von Videoüberwachung
eingesetzt wird, ob sie immer oder nur zeitweise eingeschaltet wird, ob
eine Onlineauswertung vorgesehen ist und ähnliche Fragen.
Sicherheitsdirektor Hanspeter Gass betont immer wieder,
dass er zusätzliche Videokameras nur als "taktisches Instrument"
einsetzen möchte. Wie glaubwürdig ist aus Ihrer Sicht diese
Behauptung?
Wenn Herr Gass damit eine bloss nichtpersonenbezogene
Videoüberwachung meint, mit der nicht die einzelne Person
identifiziert, sondern nur die Bewegung eines "Saubannerzugs" erkannt
werden kann, damit Einsatzkräfte rasch an die richtige Stelle
geschickt werden können, dann werden damit keine Personendaten
bearbeitet. Eine solche Überwachung kann aus Datenschutzsicht ohne
gesetzliche Grundlage eingerichtet werden - sofern die Kameras
tatsächlich nicht mehr können. Sobald aber ein Bildausschnitt
herangezoomt werden kann oder die Auflösung der Aufnahmen so gut
ist, dass es durch Vergrösserung möglich wird, Personen zu
identifizieren, dann sind wir eben in jenem Bereich, für den
Verfassung und Datenschutzgesetz eine gesetzliche Grundlage
voraussetzen.
Haben Sie das Gefühl, dass politisch konservative
Kräfte die jüngsten Vandalenzüge missbrauchen
könnten, um härtere Überwachungs- und
Sicherheitsstandards im öffentlichen Raum durchzusetzen? Oder tun
sie es bereits?
Die Forderung nach Massnahmen ist verständlich.
Wichtig ist meiner Meinung nach aber, dass man sich unaufgeregt
über geeignete - ich betone: geeignete - Massnahmen unterhält
und nicht in einen Aktionismus verfällt. Das gilt
parteiunabhängig. Letztlich geht es darum, mit einem
vernünftigen Einsatz von Ressourcen eine tatsächliche Wirkung
zu erreichen und nicht Steuergelder zu verschleudern mit Massnahmen,
die höchstens eine Scheinsicherheit vermitteln. Eine Untersuchung
in Luzern hat übrigens gezeigt, dass die Leute auf dem
videoüberwachten Bahnhofplatz seither eher das Gefühl haben,
es sei unsicherer - deshalb brauche es ja Videoüberwachung. Ich
kann mir nicht vorstellen, dass diese Nebenwirkung das ist, was sich
Geschäftsinhaber in der Innenstadt wünschen!
Sie müssen von Amtswegen immer wieder als
"Gegenspieler" und "Verhinderer" von Begehrlichkeiten der
Sicherheitsbehörden auftreten. Wie belastend ist diese Funktion
für Sie?
(schmunzelt) Ich leide nicht darunter, falls Sie das
meinen. Erstens habe ich Sicherheitsbehörden erlebt, mit denen wir
auf sachlicher Ebene das Für und Wider erörtern können.
Zweitens sind wir ja nicht einfach Verhinderer, sondern Verbesserer,
weil wir helfen, dass die staatlichen Behörden einen wichtigen
Teil ihrer Aufgabe besser erfüllen können: die Achtung der
Grundrechte der Personen, über welche sie Daten bearbeiten. Und
drittens bin ich überzeugt, dass der Einsatz für den Schutz
der Privatheit in einer Zeit, die durch technologische und
gesellschaftliche Entwicklungen echt herausgefordert ist, eine
wertvolle und schöne Aufgabe ist.
Die einen aber bestimmt manchmal schier verzweifeln
lässt.
Ein Bundesdatenschutzbeauftragter hat einmal auf die
Frage, ob er Optimist sei, geantwortet: Wenn ich Optimist wäre,
wäre ich nicht Datenschutzbeauftragter. Für mich gilt es
genau das Gegenteil: Weil ich Optimist bin, bin ich
Datenschutzbeauftragter. Ich glaube nämlich daran, dass wir etwas
positiv beeinflussen können! Und dass uns die entsprechenden
Herausforderungen ausgehen werden, das befürchte ich wirklich
nicht.
"Ist das Geld für Überwachungssysteme wirklich
gut investiert, wenn die erwartete Wirkung ausbleibt?"
--
Zur Person
Der 1956 geborene, im unteren Baselbiet aufgewachsene
Jurist Dr. Beat Rudin war von 1992 bis 2001 Datenschutzbeauftragter des
Kantons Baselland, dann Geschäftsführer der Stiftung für
Datenschutz und Informationssicherheit und seit 2003 Lehrbeauftragter
für öffentliches Recht an der Uni Basel. 2009 wurde er vom
Grossen Rat zum Datenschutzbeauftragten des Kantons Basel-Stadt
gewählt. (bz)
---
Basler Zeitung 29.5.10
Polizeipräsenz und Videoüberwachung sind nicht die
Lösung für die Sachbeschädigungen
Der Saubannerzug ist ernst zu nehmen
Christian Mensch
Nach der Schlacht von Nancy, es war das Jahr 1477, waren
Urner und Schwyzer Kriegsknechte überhaupt nicht einverstanden,
wie die Beute verteilt wurde. Sie rotteten sich zusammen und zogen
gegen Genf, um sich selbst die versprochene Brandschatzsumme zu holen.
Da die Rebellen in ihrem Wappen einen Eber führten, ist der Zug
der Freischärler als Saubannerzug in die Geschichte eingegangen.
Am Freitag vergangener Woche führte der Zug lediglich
von der Steinenvorstadt in die obere Freie Strasse. Dort waren es
einige wenige Gewalttätige, die, mit Hämmern bewaffnet,
Schaufenster zertrümmerten und einen Schaden von gut einer halben
Million Franken anrichteten.
Jugendlicher Frust
Die Staatsanwaltschaft bezeichnete den Gewaltausbruch als
Saubannerzug - und traf damit den Kern wohl genauer, als sie gedacht
hatte: Beiden Ereignissen liegt ein tiefsitzender Frust jugendlicher
Banden zugrunde. Beide sind Rebellionen gegen eine obrigkeitliche
Ordnung. In beiden Fällen braucht es offenbar eine gewisse Zeit
der Orientierungslosigkeit, bis die Staatsmacht zu geeigneten
Massnahmen findet.
Man muss den Vergleich nicht strapazieren und darf die
jüngsten Schadensattacken auch nicht verklären, nur weil der
historische Saubannerzug als archaische Aktion mit einer Nähe zum
fasnächtlichen Treiben durchaus nicht nur negativ besetzt in unser
Geschichtsverständnis eingegangen ist. Doch die Analogie kann
helfen, die Attacken und deren Ursachen zu verstehen. Was aus der
historischen Forschung bekannt ist, kann für den aktuellen Vorfall
vermutet werden: Es braucht eine gewisse Verrohung der Sitten, bevor es
zu ungebremsten Gewaltausbrüchen kommt; im späten Mittelalter
sprach man von "allgemeiner Kriegslust". Unter den Aktivisten herrschte
ein Gefühl, in dieser Gesellschaft überflüssig sein;
nach der Schlacht von Nancy war die Truppe nicht mehr gefragt, heute
würde man von Jugendarbeitslosigkeit sprechen. Und es gibt ein im
Kollektiv aufgeputschtes Gefühl, zu kurz gekommen zu sein; die
mittelalterlichen Freischärler sahen sich um die Kriegsdividende
geprellt, die Jugendlichen von heute meinen, ihnen stehe ein
grösseres Kuchenstück vom kapitalistischen Wohlstand zu.
Die öffentliche Debatte im Nachgang zu den schweren
Sachbeschädigungen orientiert sich derzeit aber nicht an den
Tätern. Vielmehr stehen Präventionsforderungen im Raum wie
eine stärkere und permanente Polizeipräsenz sowie eine
verstärkte Videoüberwachung der Allmend. Diese Begehren sind
allerdings zu simpel, um der Lösung einen Schritt näher zu
kommen. Einerseits völlig selbstverständlich muss es sein,
dass die Polizei den Einsatz ihrer Kräfte flexibel gestaltet und
sie an die jeweilige Sicherheitsbedrohung anpasst; gegen einen
Saubannerzug, wie er vergangene Woche stattfand, hilft dies jedoch nur
beschränkt. Andererseits befremdlich ist die Forderung der sonst
meist liberal denkenden Gewerbler, eine Videoüberwachung sei die
Lösung; eine solche wäre nicht nur ein
unverhältnismässiger Eingriff in die
Persönlichkeitssphäre jedes Einzelnen, sondern auch
unnütz im Enttarnen vermummter Gestalten.
Genau hinschauen
Am Ziel, die Gewaltausbrüche zu stoppen, gibt es nichts zu
deuteln. Doch dazu heisst es, genauer hinzuschauen, wo die Gewalt
entsteht und wie sie begründet ist. Das bedeutet, es ist ernst zu
nehmen, wenn im Umkreis der Krawallisten ein Mangel an Freiräumen
beklagt wird. Konkret: Die Szene der Hausbesetzer, aus denen sich die
Gewalttäter mutmasslich absplittern, verschwindet nicht einfach
dadurch, dass es derzeit in der Stadt keine besetzten Häuser mehr
gibt. Einverstanden: Solche Lösungsansätze sind schwieriger
zu entwickeln, als die Forderung nach mehr Polizei und mehr
Überwachung zu erfüllen ist. Und so einfach wie im
Mittelalter geht es schon gar nicht mehr: Nachdem jeder
Freischärler je zwei Gulden und genügend Wein erhalten hatte,
brachen sie ihren Saubannerzug ab. christian.mensch@baz.ch
---
Basellandschaftliche Zeitung 28.5.10
Staat soll für Schäden aufkommen
Bei chaotischen Demos soll Kanton büssen
Der Basler Gewerbedirektor Peter Malama will den Staat in
die Pflicht nehmen: Werden bei bewilligten Demonstrationen
Sachbeschädigungen angerichtet, soll der Kanton die Kosten
übernehmen. Malama will sein Anliegen nun in den Nationalrat
bringen. "Einerseits sollen diejenigen zur Verantwortung gezogen
werden, die eine Bewilligung erteilen. Und anderseits sollen die
Ladenbesitzer geschützt werden", begründet der
FDP-Nationalrat seine Überlegung. Denn die Versicherungen seien
nicht mehr bereit, für die Schäden aufzukommen. Mit der
Massnahme würde die Polizei allenfalls auch schneller bei
Randalierern eingreifen. Malamas Vorschlag löst alles andere als
Begeisterung aus. (YDU)Seite 21
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Kanton soll für Schäden blechen
Basler Gewerbedirektor Peter Malama will den Staat bei
bewilligten Demos zur Kasse bitten
Laut Peter Malama sind die Versicherungen nicht mehr dazu
bereit, für die Sachbeschädigungen an den Demos aufzukommen.
Deshalb sollen die Steuerzahler daran glauben.
Yen Duong
Der Basler Gewerbedirektor Peter Malama kommt wegen des
Saubannumzugs vom letzten Freitag einfach nicht zur Ruhe. Dies, obwohl
der FDP-Nationalrat sich mit dem Basler Sicherheitsdirektor und
Parteikollegen Hanspeter Gass vorgestern darauf einigen konnte, dass
die Polizei künftig an den Hotspots
Heuwaage-Steinen-Barfüsserplatz-Freie Strasse-Marktplatz mehr
Präsenz markiert (die bz berichtete). Malama will sich damit
jedoch nicht zufrieden geben: "Es stellt sich die Frage, ob
inskünftig nicht der Staat bei bewilligten Demonstrationen - wie
einer Anti-WEF-Demo - für die Sachbeschädigungen zur Kasse
gebeten werden soll. Denn er hat ja die Bewilligung dafür
ausgesprochen", meint Malama. Allerdings soll der Staat nur dann
zahlen, wenn die Veranstalter nicht selbst dazu in der Lage sind.
Sprich: eigentlich in allen Fällen.
Vorstoss im Nationalrat
Der Gewerbedirektor will nun einen entsprechenden Vorstoss
im Nationalrat einreichen. Ob er sich auch lokal dafür einsetzen
wird, ist noch offen. Klar ist hingegen laut Malama, dass das Gewerbe
bei bewilligten und unbewilligten Demonstrationen sowie bei
Saubannzügen immer mit hohen Sachbeschädigungen konfrontiert
ist - im aktuellsten Fall sind es rund 600000 Franken. "Ich weiss von
zwei Fällen, in denen die Versicherungen nicht mehr bereit sind,
die Schäden zu decken. Wer soll es dann tun?", fragt sich Malama.
Es könne nicht sein, dass der Gewerbler für die
Reparatur seines Schaufensters bis zu 30000 Franken zahlen muss, obwohl
ihn kein Verschulden trifft. "Auf der einen Seite soll der Staat
dafür zur Verantwortung gezogen werden, wenn er eine Bewilligung
erteilt. Auf der anderen Seite soll der Ladenbesitzer vor Schäden
geschützt werden", erklärt der FDP-Nationalrat weiter. In
seiner Wahrnehmung hat die Polizei in der Vergangenheit bei
Randalierern zu spät eingegriffen. Wenn der Staat für die
Schäden aufkommen müsste, könnte sich dies ändern,
hofft Malama.
Das Basler Justiz- und Sicherheitsdepartement will sich
nicht zu Malamas Idee äussern. "Es ist das Recht jedes
Legislativpolitikers, Vorstösse einzureichen. Es ist nicht an der
Verwaltung, dies zum jetzigen Zeitpunkt zu kommentieren", sagt
Mediensprecher Martin Schütz. Gar nicht gut kommt Peter Malamas
Vorschlag bei der grossrätlichen Justiz-, Sicherheits- und
Sportkommission (JSSK) an. So meint Mitglied André Auderset
(LDP): "Es kann nicht sein, dass die Steuerzahler für die
Schäden aufkommen müssen. Die Veranstalter müssen zur
Kasse gebeten werden." Dass Malama auf diese Idee komme,
überrasche ihn.
"Staat ist nicht Schuld"
Erstaunt ist auch Tanja Soland. "Es ist lustig, dass dies
ausgerechnet ein Bürgerlicher, der immer Steuersenkungen verlangt,
vorschlägt", meint die SP-Grossrätin. Zudem erlaube die
Polizei mit ihrer Bewilligung für eine Demonstration keine
Sachbeschädigungen. "Schäden haben nichts mit Demos zu tun.
Der Staat ist nicht Schuld daran", stellt Soland klar. Vielmehr solle
man schauen, dass man die Täter findet und zur Rechenschaft ziehen
kann.
SVP-Präsident Sebastian Frehner steht der Idee
ebenfalls kritisch gegenüber. "Es leuchtet mir nicht ein, weshalb
der Staat die Kosten übernehmen soll." Geht es nach Frehner,
sollen die Veranstalter dafür büssen müssen. Er fragt
sich ohnehin, ob Malamas Vorschlag mit dem Demonstrationsrecht einher
geht.
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30 JAHRE ZÜRI BRÄNNT
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swissinfo 31.5.10
Im heissen Sommer 1980, als Zürich brannte
swissinfo
Vor 30 Jahren rissen junge Menschen Zürich aus seinem
diskreten Bankgeschäfts-Alltag und stellten die Stadt auf den
Kopf. Einen heissen Sommer lang "brannte" Zürich, im Namen einer
alternativen Kultur und Kunst von unten.
"Züri brännt" sang oder kreischte vielmehr die
junge Sängerin der Zürcher Band TNT. Die wilde, nur 44
Sekunden kurze Punk-Eruption brachte das Lebensgefühl der
aufbegehrenden Jugend in der Limmatstadt in jenem heissen Sommer auf
den Punkt. Am 30. Mai 1980 versammelte sich vor dem Opernhaus eine
grosse Menge zorniger junger Menschen. Sie waren gekommen, um gegen die
60 Millionen Franken zu protestieren, mit denen die Stadtregierung das
angejahrte Symbol der Hochkultur sanieren wollte.Es war der Beginn der
Zürcher Jugendunruhen, die es sofort in die Schlagzeilen der
nationalen und internationalen Medien schafften. Sie präsentierten
einer perplexen Öffentlichkeit Bilder mit eingeschlagenen
Schaufenstern, geschlossenen Läden, brennenden Autos und einer
überforderten Polizei. Die Bilanz der Strassenschlachten: Tausende
Verhaftete, unzählige Verletzte, ein Todesopfer."Jede Woche kam es
zu stundenlangen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der
Polizei, welche die Strassen mit Tränengas füllte - es war
wie in einem Kriegsgebiet", erinnert sich die Olivia Heussler
gegenüber swissinfo.ch.
Lebendige Geschichte, nicht nur auf Bildern
Als Augenzeugin hatte sie damals die Unruhen in ihrer
Stadt mit der Kamera begleitet. Die besten Bilder vereint sie im Band
"Zürich, Sommer 1980", den Heussler zum 30. Jahrestag der Unruhen
publiziert hat.Die Zürcher Unruhen waren Teil einer europaweiten
Bewegung, in der eine rebellische Jugend für mehr kulturelle
Freiräume kämpfte. Dies als Kampfansage an die traditionelle,
"verschlafene" Kultur für eine satte Bürgerelite, die mit
Millionensummen subventioniert wurde.
"AJZ subito!"
Ausdruck dieses Kulturverständnisses: Das
Zürcher Nachtleben hatte reglementsgemäss um 23 Uhr zu enden,
Tanzveranstaltungen waren an religiösen Feiertagen strikt
verboten, und die Zürcher Stadtregierung tat sich äusserst
schwer, Rockmusik als legitime Kulturform anzuerkennen.Ihre eigene
Kultur wollten die "Bewegten" ausserhalb der existierenden Orte und
Institutionen in einem Autonomen Jugendzentrum, AJZ genannt,
veranstalten. "AJZ subito!" skandierten die Demonstranten deshalb in
der Bahnhofstrasse.
Bereicherung
"Zürich gehört heute zu den besten
Kulturstädten Europas, weil die damalige Gegenkultur später
Teil der Kulturpolitik wurde", sagt Hanspeter Kriesi, Professor
für politische Wissenschaften an der Universität Zürich.
In den 1970er-Jahren hätten die Behörden starrköpfig und
mit Unverständnis auf die Jugendforderungen reagiert, so der
Politologe gegenüber swissinfo.chKriesi sieht die Zürcher
Jugendunruhen als Folge einer wachsenden Frustration in dieser Dekade
darüber, dass Musiker, Schauspieler und Künstler einer neuen
Generation von der Verteilung der Geldern aus dem städtischen
Kultur-Fördertopf ausgeschlossen waren.
Spirale der Gewalt
Die Bewegung wollte ihre Vorstellungen von Kulturschaffen
in eigenen Jugend- und Kulturzentren verwirklichen. Das politische
Establishment lehnte diese Forderungen aber rundweg ab. Darauf
schritten die Bewegten zur Tat, besetzten leer stehende
Fabrikräume und riefen diese kurzerhand zu alternativen, sprich
nichtkommerziellen und selbstverwalteten Jugend- und Kulturzentren
aus.Die Polizei schaute dem Treiben nicht lange zu und räumte die
Besetzungen wieder. Offizieller Grund: Dort würden Drogen
gehandelt und konsumiert.
60-Mio. Franken-Provokation
Eine zentrale Rolle begann nun ein stillgelegter
Industriebetrieb am rechten Seeufer zu spielen: Die Rote Fabrik. Von
den Behörden zum Abbruch geplant, stimmten Stadtzürcherinnen
und Stadtzürcher an der Urne deren Erhaltung und Umwandlung in ein
Kulturzentrum zu.Die Stadtregierung schaltete immer noch auf stur und
sprach für die Renovation des Opernhauses einen stolzen, um nicht
zu sagen provokativen Kredit von 60 Mio. Franken. Vollends ins
Fettnäpfchen trat die Stadtregierung mit dem Plan, den
Opernbetrieb während der Bauarbeiten ausgerechnet in der - Roten
Fabrik weiter zu führen.Die Wut über solch mangelndes
politisches Fingerspitzengefühl entlud sich am eingangs
erwähnten 30. Mai 1980 bei der Demonstration vor dem Opernhaus.
Unterstützt von einer Menschenmenge, die von einem Konzert des
Reggae-Übervaters Bob Marley kamen, kam es rasch zur
Auseinandersetzung, die als Opernhaus-Krawall in die Geschichte
einging. Dieser Opernhaus-Krawall, später auch besungen vom
österreichischen Rap-Pionier Falco, läutete den heissen
Zürcher Sommer 1980 ein.
Bis zur Selbstverbrennung
"Es herrschte eine riesige Wut darüber, dass die
Jungen von den Kultursubventionen ausgeschlossen waren", sagt Louis
Frölicher. Der heutige Mitarbeiter der Roten Fabrik erlebte die
Jugendunruhen als 27-jähriger Teilnehmer. "Wir fanden, die
Forderung nach Jugendzentren ist offensichtlich, aber als Antwort
schickte die Stadt die Polizei, welche die Besetzer rausprügelte",
so Frölicher"Wir hatten utopischen Ideen, wie wir die Gesellschaft
mit Kultur verändern wollten, aber keine Räume, uns
auszudrücken", sagt Olivia Heussler. "Da kamen wir halt auf den
Strassen zusammen - Studenten, Arbeiter, Künstler und
Intellektuelle - alle, die unzufrieden waren." Eine junge Frau war
derart verzweifelt, dass sie sich in der Öffentlichkeit mit Benzin
übergoss und anzündete - sie starb an ihren Verbrennungen.
Ein Demonstrationsteilnehmer verlor bei einem Polizeieinsatz durch ein
Gummigeschoss ein Auge. Viele Menschen hätten bei den rigorosen
Polizeieinsätzen bleibende gesundheitliche Schäden erlitten,
so Olivia Heussler.
Später Sieg an der Urne
Von Zürich griffen die Unruhen auch auf die Jugend in
anderen Schweizer Städten über, wie in Bern, Basel, Lausanne
und Genf. Nirgends wurden die Auseinandersetzungen aber härter
geführt als an der Limmat. Nach einem heissen Sommer voller
gewalttätiger Auseinandersetzungen erkannten die Stadtoberen die
Zeichen der Zeit und überliessen, widerwillig zwar, den Bewegten
die Rote Fabrik als Kulturzentrum.1987 honorierte die Zürcher
Bevölkerung an der Urne das vielfältige kulturelle Angebot
der Betreiber und verlieh der Roten Fabrik den definitiven Status als
Kulturzentrum. Wichtigste Konsequenz: Der Betrieb wird neu mit einem
Beitrag aus dem städtischen Kulturbudget unterstützt.
Romantische Sommerabende am See
Die Rote Fabrik funktioniert bis heute und ist etabliert
als nicht mehr wegzudenkender Veranstaltungsort, der das kulturelle
Leben der Stadt mit Konzerte und Ausstellungen bereichert. Und das
nicht zu knappe Angebot an Restaurants mit dem "Ziegel oh Lac", dem
direkt am See gelegenen, romantischen Restaurant. Der auch
baugeschichtlich interessante Ziegelstein-Komplex ist noch aus einem
anderen Grund wichtig: Die Rote Fabrik vermietet Kulturschaffenden
Ateliers zu günstigen Preisen, dank derer sich Künstler,
Tänzerinnen etc. ohne allzu grossen Druck weiter entwickeln
können.
Neue Konflikte
Auch wenn der kulturpolitische Druck mit der Wende von
1987 stark nachgelassen hat, sind an der Limmat immer noch Spannungen
spürbar. Heute sind es in erster Linie Hooligans, die im Rahmen
von Fussballspielen gewalttätige Ausschreitungen anzetteln. Oder
der antikapitalistisch ausgerichtete so genannte Schwarze Block, der
vor allem in der Nachdemonstration zum Tag der Arbeit am 1. Mai die
Konfrontation mit der Polizei sucht.Aber auch die alternative
Kulturszene muss, wenn auch nur noch ab und an, ihren Platz
verteidigen. So vor zwei Jahren, als die Stadtbevölkerung einen
Antrag einer Rechtspartei ablehnte, die öffentlichen Kredite
für das Cabaret Voltaire zu kappen. Dabei handelt es sich um jenes
Haus, in dem Anfang des 20. Jahrhunderts die legendäre
Dada-Bewegung gegründet worden war."Manchmal werde ich immer noch
wütend über Bürokraten, die in ihren Büros sitzen
und bestimmen, was Kunst sein soll", sagt Olivia Heussler. Aus ihrer
Äusserung weht ein Hauch von Stimmung aus jenem heissen
Zürcher Sommer 1980 herüber in die Gegenwart. Matthew Allen
in Zurich, swissinfo.ch (Übertragung aus dem Englischen: Renat
Künzi)
---
Limmattaler Tagblatt 31.5.10
Die Bewegung als Lebensgefühl
Christoph Schaubs Sommer 1980 und warum ihn die Bewegung
erwachsen machte
Vor 30 Jahren gehörte Christoph Schaub zu den
Demonstranten, die beim Opernhaus die Zürcher Jugendbewegung
lostraten. Zwei Jahre lang lebte und filmte der Regisseur die
"Bewegig". Eine Zeit der zweiten Geburt, wie er rückblickend sagt.
Martin Reichlin
Die Geburt der "Bewegung" überraschte alle, selbst
jene, die sie einleiteten. Rund 200 Menschen hatten sich am 30. Mai
1980 vor dem Opernhaus versammelt, um gegen einen 60-Millionen-Kredit
für dessen Umbau zu protestieren. Unter ihnen war auch Christoph
Schaub, damals 22 und Germanistikstudent. "Wir waren nicht hingegangen
in der Erwartung: So jetzt passierts", erzählt der Filmemacher
("Sternenberg", "Giulias Verschwinden"). Doch dann forderte die Polizei
die Demonstranten auf, den Platz zu räumen. Es kam zu
Scharmützeln, die sich zum Krawall ausweiten, als die Besucher
eines Bob-Marley-Konzerts vom Hallenstadion her in der Innenstadt
eintrafen und sich an den Auseinandersetzungen beteiligten. "Auf einmal
gings los, die ganze Nacht und den nächsten Tag hindurch",
erinnert sich Schaub. "Unglaublich, wie viele Leute und wie viel Power
plötzlich da waren." Diese Power sollte in den nächsten zwei
Jahren in Bewegung bleiben. Doch während ab 1981 die Probleme
innerhalb der "Bewegung" zunahmen, bleibt dem "Bewegten" der Sommer
1980 als Periode kreativer Freiheit in Erinnerung. "Von einem Moment
zum anderen war da diese Bewegung, spontan, libertär, emotional.
Wir riefen dadaistische Parolen wie ‹Macht aus dem Staat Gurkensalat›
oder ‹Nieder mit den Alpen - freie Sicht aufs Mittelmeer›, konnten
handeln, uns ausleben, Leute treffen, Frauen kennen lernen ... Es war
faszinierend. Ein Lebensgefühl, das ich voll auslebte."
War Ihnen denn stets klar, worum es ging?
Christoph Schaub: "Nein, dazu war die Bewegung zu intuitiv
und irgendwie auch reiner Selbstzweck. Selbst die Forderung nach einem
AJZ, das ab Juni unser Hauptanliegen wurde, war in meinen Augen eine
Verlegenheitslösung, um gegenüber den Medien und der Stadt
etwas Konkretes verlangen zu können."
Waren Sie damals an Politik interessiert?
Schaub: "Ich war in der Mittelschule politisch aktiv und
hatte Kontakt zu politischen Strömungen wie dem Feminismus oder -
über meinen Bruder - dem Maoismus. Das war mir aber alles zu
dogmatisch. Bis heute interessieren mich Emotionen mehr als Theorien."
Mitte 1981 wurde Schaub Mitglied des Videoladens. Die 1976
gegründete Video- und Filmproduktionsgenossen-schaft dokumentierte
Demos und Aktionen aus der Perspektive der Bewegung, um "die
Geschichtsschreibung nicht dem Fernsehen zu überlassen", so der
Regisseur. "Mit Video, so die Idee, lässt sich gut Propaganda
machen. Wie mit einem Flugblatt." Bekanntester Streifen des Videoladens
ist der im November 1980 erstmals gezeigte Film "Züri brännt".
War es für Sie ein Unterschied, ob Sie an einer Demo
teilnahmen oder ob Sie durch das Objektiv beobachteten?
Schaub: "Zu Anfang war das noch identisch. Im einen Moment
hat man gefilmt, im nächsten Augenblick wurde die Kamera versteckt
und man ging demonstrieren. Das hat sich dann aber geändert."
Inwiefern?
Schaub: "Ich merkte, dass Filme für mich über
den politischen Kontext hinausgehen müssen. Und, dass er sich als
Medium politischer Arbeit nicht wirklich eignete, denn die Produktion
war aufwändig und langsam. Nicht zuletzt stösst man schnell
auf die Frage nach dem eigenen Standpunkt. Will ich nur
‹Bestätigungsfernsehen› machen, das die Bewegung bejubelt und die
Polizei ausbuht?"
Nicht zuletzt sei die Bewegung immer introvertierter
geworden und habe sich in interne Auseinandersetzungen verstrickt, sagt
Christoph Schaub, der auch Mitbegründer des Kinos Riff-Raff ist:
"Das war für mich nicht mehr interessant."
Ab wann fühlten Sie sich nicht mehr als "Bewegter"?
Schaub: "Der Abschluss kam mit dem Film ‹AJZ im Herbst›.
Wir hatten uns vorgenommen, die Probleme der Bewegung zu benennen,
statt alles schönzureden: Dass das AJZ zu einem Drogenladen
verkommen war, in dem Frauen von besoffenen Typen vergewaltigt wurden.
Dass nicht nur die bösen Bullen, sondern auch die Bewegung
destruktiv war. Dass das AJZ ein Selbstbedienungsladen war, in dem sich
manche an den Subventionen bereicherten. Aber die Kritik stiess auf
heftigen Widerspruch und wir wurden als Nestbeschmutzer hingestellt."
Was ist von der Bewegung geblieben?
Schaub: "Für mich persönlich war es wie eine
zweite Geburt und der Eintritt ins Erwachsenenleben. Insofern
gehöre ich zu den ‹Bewegungssiegern›. Ich konnte auf unglaublich
interessante Art meine Welt entdecken und Erfahrungen sammeln, die mich
als Filmregisseur weitergebracht haben. Gesellschaftlich und politisch
hat die ‹Bewegig› den Grundstein für ein buntes und lebendiges
Zürich gelegt. Vielleicht hätte diese Entwicklung im Zuge der
Globalisierung sowieso stattgefunden. Aber 1980 ging es halt eben auch
darum: dass Zürich langweilig und spiessig war."
--
Züri brännt
Mit dem Opernhauskrawall brach am 30.Mai 1980 in
Zürich die Zeit der "Bewegung" an. Demonstrationen und
Ausschreitungen, die sich an der Forderung nach Raum für
alternative Kultur und ein autonomes Jugendzentrum (AJZ)
kristallisierten, hielten die Stadt bis zum Abbruch des AJZ am
28.März 1982 in Atem. Zu den Kulturbetrieben, die aus dieser Zeit
hervorgingen, gehören die Rote Fabrik und das Jugendhaus Dynamo.
In loser Folge stellen wir Ihnen Menschen vor, die in der
Jugendbewegung eine Rolle spielten. Bereits erschienen: Achmed von
Wartburg, Ex-Punk, Ex-Stadtratskandidat. (liz)
---
Sonntagszeitung 30.5.10
Unsere Besten
Sponti-Sprüche aus den Achtzigerjahren
1. "Macht aus dem Staat Gurkensalat"
Die anarchistische Parole für alle Fälle.
2. "Gott ist tot. Nietzsche ist tot. ... und mir ist auch
schon ganz schlecht"
Die nihilistische Selbsterkenntnis für depressive
Stunden.
3. "Alle wollen zurück zur Natur - nur nicht zu Fuss"
Die ökologische Erklärung der Faulheit.
4. "Ich wollt, ich wär ein Teppich - dann könnte
ich jeden Morgen liegen bleiben.
Die philosophische Verbrämung der Faulheit.
5. "Sadisten, meldet euch als Polizisten"
Die zynische Form der Rekrutierungspolitik.
Zum 30. Jahrestag der Zürcher Jugendunruhen siehe
auch "Nachspiel", Seite 40.
--
Nachspiel
Die Kunst des Krawalls
Christian Hubschmid
"Aber subito!" - die SP der Stadt Zürich motzt wie
ein Häufchen Autonomer. Die Beizer jammern, sie müssten "wie
Tote" die Fussball-WM feiern. Der Tonfall der heftig aufgeflammten
Diskussion über das Verbot, in Zürcher Gartenbeizen WM-Spiele
zu übertragen, erinnert schwer an den theatralischen Politslang
der Kulturleichen, die genau heute vor 30 Jahren "Leben in die Tote
Fabrik" forderten. Nur, dass es beim heutigen Protest nicht mehr um
Kultur, sondern nur noch um Fussball geht.
Aber damals, am 30. Mai 1980, waren noch Geist und Muse
die Triebfedern der Rebellion. Unter dem Slogan "Rock als Revolte"
versammelten sich einige Dutzend Jugendliche vor dem Opernhaus, um
gegen die ungerechte Verteilung der städtischen Kulturausgaben zu
demonstrieren. Am selben Abend sang Bob Marley im Hallenstadion, und
nachdem sein legendäres Konzert mit den Worten "emancipate
yourself from mental slavery" ausgeklungen war, strömten Hunderte
von aufgeputschten Fans in die Innenstadt, wo sich die kleine Demo zum
ersten grossen Krawall ausweitete. Von da an ging es los mit den Kunst
und Anti-Kunst-Happenings: Nacktdemos, dadaistische Sabotierungen von
Fernsehsendungen, die Zertrümmerung der Chagall-Fenster - alles
eine einzige Performance.
Selbst der brutale Polizeieinsatz mutete als Regieeinfall
an. Der damalige Opernhaus-Direktor Claus Helmut-Drese fühlte sich
beim Vorrücken der Polizei in Kampfanzügen und mit Schilden
an eine "moderne Lohengrin-Inszenierung" erinnert. Konsequenterweise
verlegte er die Prügelszene aus der Oper "Meistersinger in
Nürnberg" nach Zürich. Schaut man sich heute Videos vom
ominösen Opernhauskrawall am 30. Mai 1980 an, wirken die
verunsicherten Polizisten zwar eher wie Laienschauspieler, die sich Mut
angetrunken haben, damit sie mit Gummigeschossen und Tränengas um
sich ballern können.
War der Opernhauskrawall nun Politik oder Kunst? Die
Antwort gibt eine Archivaufnahme des Zürcher Piratenradios Banana,
das am 30. Mai 1980 den Demo-Flyer zitierte und seine Hörer
ermunterte, "ein bisschen Fantasie" zu zeigen, dann würde es an
diesem Abend "bestimmt lustig" werden. Auf dem Flyer stand: "Einladung
zu einem unvergesslichen Opernabend."
Zum 30. Jahrestag der Opernhaus-Krawalle: "Zur(e)ich
brennt", Europa-Verlag, 255 S., 26.90 Fr. Besser ist "Wir wollen alles,
und zwar subito!" von Heinz Nigg, Limmat-Verlag, 2001
---
Tagesanzeiger 29.5.10
Vom Protest zur Dauerparty
30 Jahre nach dem Opernhauskrawall: Wie die Jugendunruhen
Zürich verändert haben.
Von Dario Venutti
Am Sonntag jährt sich einer der wichtigsten Tage
Zürichs zum 30. Mal. Kaum jemand wird es merken. Kein Politiker
wird eine Rede halten, niemand wird eine Gedenktafel enthüllen.
Doch was am 30. Mai 1980 als Opernhauskrawall und Jugendrevolte begann,
ist heute in alle Poren der Stadt eingedrungen. Die Errungenschaften
sind eine Selbstverständlichkeit geworden. Die Bewegung der
80er-Jahre, die ohne "Máximo Líder" und weitgehend auch
ohne Schriften von Marx und Mao auskam, hat Zürich kulturell
umgepflügt.
Die Revolte hatte der Stadt anfänglich sehr wehgetan.
Es war ungehörig, dass Jugendliche in einem reichen und
wohlanständigen Land gewaltsam Raum für selbstbestimmte
kulturelle Aktivitäten erkämpften. Eine Million Franken hatte
die Stadt 1980 für Alternativkultur reserviert. Bis der Betrag zu
Beginn der 90er-Jahre auf 11 Millionen angestiegen war, wurde manche
Scheibe zerschlagen, manche Barrikade errichtet und viel Tränengas
vergossen.
Das Packeis ist geschmolzen
"Doch die Bewegung war auch emanzipatorisch", sagt Hugo
Bütler, der langjährige Chefredaktor der NZZ. Als der Krawall
ausbrach, kommentierte er die Strassenschlachten im
Wehret-den-Anfängen-Ton. Heute sieht Bütler das Positive
daran: "Die Bewegung hat dem Kleinunternehmertum wichtige Impulse
verliehen." Der Slogan "Mehr Zebras, weniger Streifen" manifestiert
sich heute in einer wilden Gastro-, Party- und Klubszene. Das Packeis
ist geschmolzen. Die freie Sicht aufs Mittelmeer gibt es zwar nicht,
dennoch ist Zürich mediterraner geworden.
Welche Öde 1980 für Jugendliche herrschte, ist
heute kaum vorstellbar. Der Blick in den "Zürcher Wochenkalender"
vom 23. Mai 1980 kommt einer Zeitreise gleich: Ganze zwei
Zeitungsspalten, eingepfercht zwischen der Gottesdienstordnung, weisen
auf kulturelle Anlässe hin: Sommerkonzert des Musikvereins
Eintracht Höngg, "Das Sparschwein" von Bertolt Brecht im
Neumarkt-Theater, ein Galaabend im Opernhaus. Das Einzige, das die
Bezeichnung Jugendkultur verdient, ist das Konzert von Bob Marley im
Hallenstadion. Ein Teil der Konzertbesucher beteiligte sich dann am
Opernhauskrawall.
"Wer nach Mitternacht ein Bier trinken wollte, musste ins
‹Rössli› nach Stäfa oder ins ‹Ugly› nach Richterswil. Doch
wer wollte schon aufs Land fahren?", sagt Richard Wolff. Der
53-jährige Stadtsoziologe ist ein lebendiger Beweis, dass sich die
80er mit ihren Forderungen nach Autonomie, Freiräumen und
kreativer Selbstverwirklichung durchgesetzt haben. Eine Generation
früher wäre Wolff vielleicht auf einem Lehrstuhl der
Universität gelandet. Er aber begründete das
Stadtforschungsnetzwerk Inura in Zürich-West mit - eine vom Staat
weitgehend unabhängige Denkfabrik, die im Juni einen Kongress zu
globaler Stadtentwicklung organisiert.
Jetzt! Alles! Sofort!
Die 68er traten den Marsch durch die Institutionen an,
weil sie an die Veränderbarkeit des Staates glaubten. Das war bei
den 80ern kaum mehr der Fall: Sich den Kopf darüber zu zerbrechen,
wie der Kapitalismus überwunden werden kann, wollte nur eine
Minderheit. Und nur ganz wenige schlossen sich dem bewaffneten Kampf
der Sandinisten in Nicaragua an.
Die meisten waren wie Kinder: Sie wollten alles - und zwar
sofort. "Sie fragten sich, was sie konkret aus ihrem Leben machen
können", sagt Hugo Bütler. Und die Kinder der Bewegung gaben
sich die Antwort gleich selber - als Gastrounternehmer, Klubbesitzer,
Sozialarbeiter, psychologische Berater. "Ein Marsch durch die
Gesellschaft", wie es Richard Wolff nennt. Irgendwann setzte sich bei
den Behörden die Einsicht durch, dass man die Bedürfnisse
ausserhalb des damaligen Mainstreams nicht nur niederknüppeln,
sondern auch subventionieren kann. Auf diese Weise entstanden die Rote
Fabrik, das Xenix oder das Theater Spektakel - bis die alternative
Jugendkultur selber zum Mainstream wurde. Wenn in der Tonhalle
Lasershows blitzen und im Kunsthaus eine Lounge mit Chill-out-Sound
eingerichtet wird, ist das heute nicht mehr der Rede wert.
Vor 30 Jahren bezeichnete Stadtpräsident Sigmund
Widmer Rockmusik als Lärm. Heute dagegen lächeln
Stadträte bei der Eröffnung eines neuen Klubs zusammen mit
dem Sponsorvertreter der Grossbank in die Kamera.
Der Opernhauskrawall ist die Chiffre dafür, dass aus
dem Fixerraum im AJZ das staatliche Heroinabgabeprogramm wurde. Dass
das illegale Radio von Roger Schawinski zum liberalisierten
Mediengesetz führte. Dass die Aktivisten von damals die Werber und
Chefredaktoren von heute sind. Und dass sich heute jeder ohne Weiteres
Künstler nennen kann - ohne die Absolution der Hochkultur.
Am Ende der Geschichte?
Wo fast alles erlaubt und subventioniert wird und keine
starren Konventionen mehr herrschen - gibt es da noch Potenzial
für einen Protest? Oder haben die Kinder der 80er Bewegung schon
ein Leben als Dauerparty?
"Die Bewegung hat vieles erkämpft, aber auch einiges
wieder verloren", sagt ein junger Künstler, der anonym bleiben
möchte. "Subvention ist nur ein anderes Wort für Geld. Wer
Subventionen annimmt, verkauft seine Autonomie und geht faule
Kompromisse ein", sagt er, der sich selber als
"Möchtegärn-Aktivisten" bezeichnet.
Das Dilemma der heutigen Jugend bestehe darin, dass die
Subversion zum Label geworden ist: Damit schmücken sich Bars und
Klubs, und Leute tragen T-Shirts im Alltag, auf denen "subversiv"
steht. "Wenn die Werbung selbst Autos und Rasierklingen als
revolutionär anpreist - wie soll dann der Widerstand aussehen?",
fragt der "Möchtegärn-Aktivist".
Trotzdem sei die Zeit für einen Protest wieder reif:
Viele Jugendliche hätten keine echten Freiräume, weil die
unterdessen etablierten Lokale zu teuer und verkrustet geworden sind.
"Versuchen Sie mal, in Zürich ein Konzert zu organisieren, das
nicht den Massengeschmack bedient, keinen Eintritt kostet und an dem
das Bier billig ist. Das geht heute nur illegal."
--
Zürcher Jugendunruhen
"Freie Sicht aufs Mittelmeer"
Mit dem Opernhauskrawall am 30. Mai 1980 begann in
Zürich ein heisser Sommer. Die Demonstration von rund 200 Personen
aus dem Umfeld der "Aktionsgruppe Rote Fabrik", die gegen einen
60-Millionen-Kredit für den Opernumbau protestierte, weitete sich
zur Jugendrevolte aus. Das greifbarste Anliegen der Jugendlichen und
jungen Erwachsenen war die Forderung nach einem autonomen Jugendzentrum
(AJZ). Ein solches wurde im Juni 1980 auf dem Areal des heutigen
Carparkplatzes auch eröffnet, jedoch nach Polizeirazzien mehrmals
wieder geschlossen, im März 1982 definitiv. Die
Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten wurden mit
heute kaum vorstellbarer Härte geführt: Die Sachschäden
gingen in die Millionen, Läden wurden geplündert, Polizisten
in Kampfmontur und Gummigeschosse prägten das Stadtbild. Im Lauf
der Unruhen wurden gegen 4000 Personen verhaftet und rund 1000
Strafverfahren eingeleitet. An den Demonstrationen beteiligten sich bis
zu 10 000 Personen. (dv.)
---
NZZ 29.5.10
Als in Zürich die Jugend rebellierte
30 Jahre nach dem Opernhauskrawall: Zwei neue
Dokumentationen zu den achtziger Unruhen und ihren Folgen
Am 30. Mai 1980 kam es nach einer Demonstration vor dem
Opernhaus zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und
Jugendlichen, die mehr Freiräume einforderten. Es war die
Initialzündung für die Zürcher "Bewegung".
Marc Tribelhorn
Scheinbar aus heiterem Himmel brachen vor 30 Jahren im
behaglichen Zürich, später auch in anderen Schweizer
Städten Jugendkrawalle aus - die heftigsten seit 1968. "D
Bewegig", als die sich die jungen Unzufriedenen bald verstanden,
forderte mit einem Autonomen Jugendzentrum (AJZ) Raum für
selbstbestimmte kulturelle Aktivitäten und lehnte sich auf gegen
eine als spiessig wahrgenommene bürgerliche Daseinsordnung und ihr
Leistungsprinzip.
Dabei verblüfften und provozierten die
selbsternannten "Kulturleichen der Stadt" manchmal mit dadaistisch
anmutender Kreativität: "Freie Sicht aufs Mittelmeer" oder "Macht
aus dem Staat Gurkensalat" wurde etwa skandiert, der Kampf für
mehr Freiheit und gegen Konformismus und Konsumismus propagiert. Die
Jugendlichen erschreckten aber auch durch ihre hohe Gewaltbereitschaft:
wöchentliche Massendemonstrationen, Strassenschlachten mit der
Polizei, brennende Barrikaden, fliegende Pflastersteine,
zertrümmerte Schaufenster und Plünderungen. Nicht nur in der
Schweiz rieb man sich verwundert die Augen, auch die internationale
Presse zeigte sich überrascht von der "Revolte im
Schokoladen-Paradies". In Deutschland fragte man sich: "Warum
Jugendrebellion gerade in der braven, friedlichen Schweiz?"
"Alles kaputtschlagen"
Mit dem Opernhauskrawall vom 30. Mai war der "heisse"
Sommer 1980 eingeläutet worden. Damals demonstrierten mehrere
hundert Jugendliche für alternative Kulturangebote und gegen einen
Kredit von über 60 Millionen Franken für den geplanten
Opernhausumbau. Der Aufmarsch artete in wüste Scharmützel mit
der Polizei aus, die die ganze Nacht andauerten. 30 Jahre später
sind nun zwei Bücher erschienen, die sich den Geschehnissen
widmen, die bis Ende 1981 nicht nur Tausende Festnahmen, Hunderte
Verletzte und Sachschäden in Millionenhöhe zur Folge hatten,
sondern auch Vorboten einer Liberalisierungswelle waren, ohne die es
das heutige Zürich mit seiner Event-Kultur kaum gäbe. Der von
Lars Schultze-Kossack herausgegebene Sammelband "Zür(e)ich brennt"
hat den ambitionierten Anspruch, "verschiedenste Meinungen und
Positionen" abzubilden und damit einen "umfassenden Überblick"
über die Ereignisse in Zürich 1980 zu geben. Auf rund 250
Seiten sind zahlreiche damals erschienene Zeitungsartikel, Essays,
Gedichte und Flugschriften versammelt, die Einblick in die Zeit geben,
als Zürich brannte.
"Bewegte" wie der Schriftsteller Reto Hänny schildern
ihre Erfahrungen an Demonstrationen und mit der Polizei. In einem
Interview mit dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" von damals
erklären Jugendliche ihren Unmut und den Hang zur
gewalttätigen "action": "In dieser Stadt erlebst du überall
eine Atmosphäre der Repression, die dich total fertigmacht" ist
etwa zu lesen, oder von der "Bereitschaft, alles kaputtzuschlagen, was
uns kaputtmacht". Während sich beispielsweise der "Sonntags-Blick"
in der Ausgabe nach dem Opernhauskrawall lediglich empörte
über "die Spontis, die Polit-Rocker", die "tobten und
plünderten", versuchte in der NZZ der nachmalige Chefredaktor Hugo
Bütler, neben aller Kritik die Denkweisen hinter den Unruhen zu
ergründen.
Aber auch aktuellere Einordnungen und Analysen von
Journalisten oder damaligen Aktivisten und Verantwortungsträgern
wie Stadtrat Thomas Wagner oder Opernhausdirektor Claus Helmut Drese
werden geliefert. Die Wirkungsmacht des achtziger Protests beschreibt
etwa Kenneth Angst, einst wortgewaltiger Kommentator der Bewegung und
Jahre später der NZZ. Laut seinen Ausführungen ist das
"Packeis von einst geschmolzen", die subversive Gegenkultur von
früher heute gesellschaftlich anerkannt. Er verweist auf
etablierte Institutionen wie die Rote Fabrik, das Xenix-Kino oder das
Theaterhaus Gessnerallee, die der Bewegung entsprungen sind. Zudem habe
eine Liberalisierung und Internationalisierung der Gastro-, Klub- und
Musikszene stattgefunden. Doch er schlägt auch kritische Töne
an, denn laut Angst befeuerte der letzte grosse Jugendprotest, wenn
auch ungewollt, eine umfassende Ökonomisierung des Freizeit- und
Kulturbetriebs, die den öffentlichen Raum gnadenlos an die
Kräfte des Marktes ausliefert. Mit Fotos wird der Sammelband
abgerundet, der aber trotz der gelungenen Zusammenstellung nicht an
Heinz Niggs ähnlich konzipiertes Standardwerk "Wir wollen alles,
und zwar subito" von 2001 herankommt.
Zürich im Ausnahmezustand
Die Publikation "Zürich Sommer 1980" ist - abgesehen
von einem Essay des Philosophen Stefan Zweifel - ganz den Bildern der
Jugendrevolte gewidmet. Als Aktivistin der Bewegung und mit einem
Presseausweis ausgerüstet, dokumentierte Olivia Heussler vor 30
Jahren das Geschehen mit ihrem Fotoapparat hautnah.
Die nun erschienenen 56 grossformatigen Schwarzweissbilder
zeigen ein Zürich im Ausnahmezustand: Demonstrationen und
Vollversammlungen, das AJZ, Spass und Gewalt suchende Jugendliche,
martialisch sich gerierende Polizisten, Wasserwerfer, Gummigeschosse
und immer wieder dicke Tränengasschwaden. Zusammengefasst: eine
eindrückliche Bilderschau, die die Heftigkeit der damaligen
Auseinandersetzungen zu illustrieren vermag.
Lars Schultze-Kossack et al.: Zür(e)ich brennt.
Zürich 2010. 255 S., Fr. 27.-. Olivia Heussler: Zürich Sommer
1980. Zürich 2010. 120 S., Fr. 70.-.
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BIG BROTHER SPORT
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St. Galler Tagblatt 29.5.10
"Repression allein ist gefährlich"
Choreographieverbot, Stimmungsboykott, teurere
Stehplätze: Zwischen dem FC St. Gallen und den Fans kriselt es.
FCSG-Präsident Michael Hüppi erklärt, dass er weiterhin
an den Dialog glaubt - und was er zum Reizthema Pyro denkt.
Herr Hüppi, wie haben Sie die Stimmung in der AFG
Arena während der letzten paar Heimspiele der Saison 2009/10
erlebt?
Michael Hüppi: Die Atmosphäre ist kaputt, das
ist klar. Der Verwaltungsrat des FC St. Gallen bedauert die aktuelle
Situation im Stadion. Eine AFG Arena ohne Stimmung ist nur halb so
interessant - auch und gerade für die Mannschaft auf dem Platz.
Heisst das, dass Sie das Choreographieverbot - es
löste den Stimmungsboykott aus - auf die neue Saison hin aufheben
werden?
Hüppi: Das ist das Ziel. Es hängt davon ab, wie
die Gespräche während der Sommerpause mit den Vertretern des
Fan-Dachverbands 1879 (DV) laufen.
Sind solche Gespräche geplant? Ein Vertreter des DV
hat vergangene Woche in unserer Zeitung erklärt, man warte, "bis
der Verein einen Schritt auf uns zu macht".
Hüppi: Ich habe dem DV über unseren
Fan-Verantwortlichen mehrfach ausrichten lassen, dass wir zum Dialog
bereit sind. Wozu es nicht kommen wird: dass wir uns für das
Choreographieverbot entschuldigen - wie es Teile der Fans fordern.
Kritisiert wird auch, dass der Fan-Dachverband über
die Medien vom Verbot erfahren hat.
Hüppi: Wir hatten damals schlicht vergessen, den DV
vorab zu informieren. Das war unbestritten ein Fehler; damit hat der
Verwaltungsrat der Gesprächskultur geschadet.
Welche Ergebnisse könnte der Dialog mit den Fans denn
bringen - gerade in bezug auf Choreographien?
Hüppi: Nochmals: Wir müssen gemeinsam eine
Lösung finden, damit wir das Verbot aufheben können. Das Ziel
muss sein, dass während der Vorbereitung zu den Choreographien
keine Pyros ins Stadion gebracht werden…
…wofür der Fan-Dachverband nach wie vor Beweise
fordert.
Hüppi: Solche Beweise wurden nie in Aussicht
gestellt. Ich kann mir zudem nicht vorstellen, dass die Polizei und die
Sicherheitsverantwortlichen der AFG Arena in diesem Punkt nicht die
Wahrheit sagen.
Stichwort Pyro: Der DV will oder kann sich offenbar nicht
davon distanzieren. Was sagen Sie zu dieser Haltung?
Hüppi: Vergangene Saison haben wir über 100 000
Franken Busse wegen Pyros bezahlt. Ich glaube zudem, dass das Abbrennen
von Feuerwerk in einer Menschenmenge gefährlich ist. Es ist nur
eine Frage der Zeit, bis etwas passiert. Das wäre das Schlimmste
für den Fussball. Ich habe aber trotz allem Verständnis, wenn
die Fans sagen, Pyro gehöre zu ihrer Kultur.
Wäre es für Sie demnach denkbar, den Einsatz von
Pyro im Stadion kontrolliert - zur bestimmten Zeit an einem fixen Ort -
zu erlauben?
Hüppi: Der Verband und die Liga haben bestimmt, dass
Pyro verboten ist. Das haben wir umzusetzen. Und selbst wenn: Der
Wunsch nach Selbstbestimmung ist in der Fankurve so gross, dass man
eine solche Lösung wohl ablehnen würde.
Danach wären mehr Kontrollen der einzige Ausweg?
Hüppi: Man kann auch an die Vernunft der Fans
appellieren. Nur die repressive Schiene zu fahren bedeutet, dass
irgendwann die Polizei bei Pyros eingreifen muss. Das ist
gefährlich und teuer.
Mit Ihrer Aussage, dass der FCSG die Sicherheitskosten von
rund 500 000 Franken nicht mehr bezahlen könne, haben Sie ja
bereits im April aufhorchen lassen.
Hüppi: Die Betriebs AG AFG Arena hat von diesen
Schulden meines Wissens unterdessen die Hälfte zurückgezahlt.
Die Verhandlungen mit der Stadt St. Gallen, wie man die Kosten in
Zukunft verteilen soll, laufen weiter. Weil diese Gespräche von
der Betriebs AG geführt werden, habe ich aber keine
Detailkenntnisse.
Wie steht es denn momentan um die Finanzen des Vereins?
Hüppi: Die Situation ist nach wie vor angespannt. Wir
arbeiten auch in der Sommerpause mit Hochdruck daran, Mittel zu
generieren. Um dauerhaft aus dem finanziellen Tief zu kommen, zielen
wir an, mittelfristig in der Europa League mitzuspielen.
Mehreinnahmen erhofft sich der Verein auch von den nun
verteuerten Stehplatztickets. Was prompt zu Kritik geführt hat.
Hüppi: Ich bin mir bewusst, dass wir mit diesem
Entscheid viele Unschuldige bestrafen. Wir mussten aber in der
vergangenen Saison für Kameras, zusätzliches
Sicherheitspersonal und bauliche Anpassungen grosse Summen investieren
- und die Verursacher sollen diese Kosten übernehmen.
Obwohl es in der Rückrunde von Seiten der Heim-Fans
keine Ausschreitungen gab?
Hüppi: Es ging auch bei diesen Massnahmen vor allem
darum, zu verhindern, dass Pyro ins Stadion kommt.
Was offensichtlich nicht funktioniert hat.
Hüppi: Nein, die Situation hat sich in der
Rückrunde sogar verschlechtert. Vielleicht bringen die
höheren Preise für die Stehplätze jetzt auch ein
bisschen Ruhe in die Fankurve. Wir wollen und brauchen eine gute,
möglichst laute Stimmung im Stadion - aber ohne illegale Exzesse.
Interview: Urs-Peter Zwingli
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BZ 29.5.10
Fussball
Noch bleibt es bei der Finalissima
Obschon die Fussballklubs sich unisono gegen das
Finalissima-System aussprechen, will das Schweizer Fernsehen vorderhand
daran festhalten - und damit auch an einem brisanten
Saisonauftaktspiel: YB gegen Basel.
Roger Müller hat den Mund wohl etwas voll genommen.
Anfang Woche hatte der Sprecher der Swiss Football League (SFL)
erklärt: "Wenn sich die Mehrheit der Fussballklubs dafür
ausspricht, werden wir die Spielpläne am Anfang der Saison
für die ganze Saison erstellen." Das hätte das Ende des
Finalissima-Systems bedeutet, mit dem Liga und Fernsehen heute einen
besonderen Showdown zum Ende der Meisterschaft inszenieren. Hätte.
Zwar haben die Klubs gestern an einer ausserordentlichen
Generalversammlung einstimmig für das Ende der Finalissima
votiert, doch ändern tut sich deshalb vorderhand nichts: "Um das
System zu ändern, brauchen wir nämlich noch das
Einverständnis unserer TV-Partner SRG und Teleclub", sagt Roger
Müller ernüchtert.
Das Schweizer Fernsehen will derzeit aber nicht über
eine Vertragsänderung sprechen. "Wir warten ab, bis die SFL mit
uns Kontakt aufnimmt", lautet die lapidare Erklärung von
Mediensprecher David Affentranger. Bei anderer Gelegenheit hatte der
TV-Mann allerdings darauf hingewiesen, wie wichtig die Finalissima und
damit das aktuelle System für den Sender ist: Die Übertragung
des Endspiels BSC Young Boys - FC Basel bescherte dem Schweizer
Fernsehen nämlich traumhafte Einschaltquoten. 747000 Personen
verfolgten das Spiel auf SF zwei und verhalfen dem Sender zu einen
Marktanteil von 55,6 Prozent. Zum Vergleich: Durchschnittlich nur
264000 Personen (22,2 Prozent Marktanteil) verfolgten die vier
übertragenen Super-League-Spiele der Vorrunde.
"Auftaktissima" YB - Basel
Der öffentliche Sender foutiert sich also um die
Sicherheitskosten, die der Öffentlichkeit bei derartigen
Risikospielen entstehen. Sein Vertrag mit der Fussballliga schreibt
nicht nur die Planung einer Finalissima vor, sondern auch die Planung
für einen emotional geladenen und somit publikumswirksamen
Saisonauftakt. Entweder muss der Meisterklub gegen den Zweitplatzierten
antreten oder der Meister gegen den Cupsieger. Für den Saisonstart
Mitte Juli gibt es darum gemäss Vertrag nur eine mögliche
Paarung: YB - Basel - jene Konstellation also, die vor zwei Wochen mit
abgebrannten Feuerwerkskörpern und Ausschreitungen beinahe im
Chaos endete.
Samstags keine Spiele mehr
Ob sich eine Abkehr von der Finalissima tatsächlich
positiv auf die Sicherheit im Stadion auswirken würde, daran
zweifelt man indes nicht nur beim Fernsehen, sondern auch bei Klubs und
Polizei. "Zu einer alles entscheidenden Direktbegegnung kommt es so
oder so am Meisterschaftsende", lautet die einhellige Meinung.
Roger Schneeberger, Generalsekretär der kantonalen
Justiz- und Polizeidirektorenkonferenz, lässt durchblicken, dass
aus seiner Sicht unverhältnismässig Wind um das Thema gemacht
wird. "Von 130 Spielen kann man durch die Abschaffung der Finalissima
nur gerade eines entschärfen", sagt er. Effizienter wäre es,
über alternative Spieltage nachzudenken. Die Erfahrung zeige
nämlich, dass es an Spielen unter der Woche kaum je Probleme gebe,
während man an Wochenenden regelmässig mit Hooligans zu
kämpfen habe. An Samstagen hätten die Chaoten Zeit, sich vor
dem Spiel zu treffen, Alkohol zu konsumieren und sich gegenseitig
anzustacheln. An Werktagen dagegen kämen die Fans müde von
der Arbeit und nüchtern zum Spiel.
Polizei guckt in die Röhre
Die Polizeidirektoren haben die Idee bereits
konkretisiert. "Wir haben jüngst in einer Vereinbarung
vorgeschlagen, dass die Anspielzeit jedes Spiels künftig von den
Behörden bewilligt werden muss", sagt KKJPD-Vizepräsidentin
Karin Keller-Sutter. Alle Kantone hätten dem Papier zugestimmt.
"Nur die Klubs wollten davon nichts wissen und wiesen sie zurück -
mit Hinweis auf bestehende Verträge mit dem Fernsehen."
Pascal Schwendener
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BIG BROTHER INTERNET
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Sonntag 30.5.10
"Ein solches Szenario macht mir Angst"
Computer-Guru Anton Gunzinger über Google, Facebook
und die Daten-Schnüffelei
von Sandro Brotz und Nadja Pastega
Google und Facebook sind erst der Anfang der
Schnüffelei im Internet. Jetzt sagt der preisgekrönte
ETH-Professor und IT-Unternehmer Anton Gunzinger, wo die Gefahren im
Netz liegen.
Herr Gunzinger, der eidgenössische Datenschützer
Hanspeter Thür willdie gesetzlichen Bestimmungen fürGoogle
und andere Anbieter verschärfen. Gehen Sie mit ihm einig?
Anton Gunzinger: Es gibt Applikationen, bei denen es eine
Verschärfung braucht. Aber nicht wegen des Vorfalls mit Street
View, sondern weil Unternehmen wie Google, Facebook und Twitter enorm
viele Daten sammeln. Der Umgang mit diesen Daten ist - wenn sie richtig
verknüpft werden - enorm heikel.
Konkret?
Der Risikoreichste ist aus meiner Sicht der
Finanzdienstleister Swift. Über dieses Netz laufen alle
elektronischen Kontobewegungen. Die Amerikaner erhalten eine Kopie
davon - mit der fragwürdigen Begründung der
Terrorbekämpfung. Wenn man diese Daten nach Unternehmen sortiert
und mit den öffentlich zugänglichen Informationen kombiniert,
ist die Firma "nackt": Die Kunden, die Zahlungen und die Umsätze
werden sichtbar. Damit wird es möglich, die gesamte Schweizer
Wirtschaft auszuspionieren. Das finde ich unzulässig. Man
dürfte diese Daten nicht herausgeben.
Handelsinteressen sind eben wichtiger als der Datenschutz.
Dann muss das Volk aber auch informiert werden. Es kann
nicht sein, dass einerseits um den Datenschutz ein so grosses Aufheben
gemacht wird und andererseits ohne unser Wissen alle möglichen
Daten an andere Staaten weitergegeben werden.
Für Sie ein Verhältnisblödsinn?
So ist es. Der Datenschützer geht gegen Google vor
und gleichzeitig werden im Hintergrund weit wichtigere Daten
weitergegeben.
Dennoch stimmen Sie dem Datenschützer zu, dass es in
gewissenBereichen schärfere Gesetze braucht. Wo genau?
Für Organisationen, die Zugang zu vielen
Informationen haben, braucht es klare Richtlinien. Ich denke zum
Beispiel an Swisscom, Bluewin oder andere Internet-Anbieter. Bei der
Bluewin-Set-Top-Box werden alle Passwörter und mindestens
temporär auch alle aufgerufenen Websites zentral gespeichert.
Damit hat der Internet-Provider Zugang zu enorm vielen privaten
Informationen.
Hat Bluewin diese Risiken erkannt?
Ich hoffe es, gehe aber eher davon aus, dass
Veränderungen erst nach einem Schadenfall eingeleitet werden.
Was kann passieren?
Es ist über kurz oder lang damit zu rechnen, dass
personalisierte Daten verkauft werden - so wie die Banken-CDs. Das
Dilemma besteht darin, dass die Leute, die im Unternehmen die IT unter
sich haben, im Notfall Zugang zu allen Daten haben müssen.
Gleichzeitig muss jedoch sichergestellt werden, dass die Daten nicht
unkontrolliert abfliessen können.
Wo sehen Sie bei Facebook die grösste Gefahr?
Der Benutzer hat keine Kontrolle über die Daten, die
er auf Facebook oder Twitter stellt. Alle Rechte sind bei Facebook.
Somit kann mit den Daten auch Handel betrieben werden. Wenn jemand zum
Beispiel über Rennwagen berichtet, kann Facebook diese Information
an Autohersteller weitergeben. Oder wenn jemand über die Ferien
auf Madagaskar schreibt, kann ein Ferienanbieter bedient werden. Solche
zielgerichtete Werbung ist für Firmen sehr interessant. Zudem
könnten sich auch Kriminelle für die Daten interessieren, um
herauszufinden, was sich damit erpressen lässt.
Sprechen wir über E-Voting. Welche Gefahren lauern
beim elektronischen Abstimmen und Wählen?
Es besteht die Möglichkeit, die Wahlresultate zu
manipulieren. Das System muss absolut verlässlich sein in der
Auszählung der Stimmen und die Anonymität gewährleisten.
Deshalb brauchtes Software von mindestens zwei verschiedenen
Herstellern, die unabhängig voneinander die Stimmen
nachzählen. Es ist zwingend ein Vier-Augen-Prinzip nötig.
Ist dieses Bewusstsein in Bundesbern vorhanden?
Ich vermute, das ist den Politikern noch zu wenig bewusst.
Laien können nicht wissen, was es für Schwierigkeiten geben
kann.
Vielleicht sollten wir einfach weiterhin mit Zetteln an
die Urne gehen.
Dieses System ist aufgrund des Vier-Augen-Prinzips relativ
fälschungssicher. Die E-Voting-Software ist so komplex, dass nur
der Experte beurteilen kann, ob alles korrekt abläuft. Das ist
äusserst anspruchsvoll. Zettel zählen ist einfach und
nachprüfbar. Bei den IT-Systemen braucht es hingegen Experten.
Ob Swift, Google oder E-Voting: Braucht es einen Mister
IT, der sich auf Regierungsebene damit befasst?
Das wäre sehr wichtig. Der Bundesrat muss sich
beraten lassen. Es braucht ein Team im Hintergrund, das Szenarien
durchspielt. Ich hoffe, dass es eine solche Task-Force gibt. Alles
andere wäre fahrlässig. Die IT-Revolution hat solch
entscheidende Auswirkungen, dass es ein Privacy-Konzept braucht. Das
ist unumgänglich.
Was sagen Sie dazu, dass auf derVersichertenkarte die
ganze Krankheitsgeschichte gespeichert werden soll?
Für den Arzt hat es den Vorteil, dass er im Notfall
sofort Zugriff auf alle Informationen hat. Der Nachteil ist, dass an
jedem Ort mit geeigneter Technologie alle Bewegungen registriert werden
können. Wollen wir das wirklich? Ich persönlich möchte
das nicht. Ich trage lieber ein medizinisches Restrisiko, als dass
meine Daten überall verfügbar sind.
Und wenn solche Chip-Karten obligatorisch werden?
Das würde heissen, dass damit jede Bewegung
kontrolliert werden kann und wir keine Intimsphäre mehr haben. Das
wäre für mich schlimmer als Big Brother. Das dürfen wir
nie tun.
Sie sind ein Insider. Macht Ihnen diese Entwicklung Angst?
Ja. Ein solches Szenario macht mir Angst. Doch ich bin
guter Hoffnung, dass wir als Gemeinschaft sinnvolle Grenzen setzen
werden, sodass die positiven Seiten der IT überwiegen.
ETH-Professor Anton Gunzinger.
--
Das Computer-Genie
Anton Gunzinger sorgte mit demHochleistungscomputer "Giga
Booster" (3,6 Milliarden Rechenoperationenin einer Sekunde) weltweit
für Aufsehen. Er wurde 1994 vom "Time Magazine"als einziger
Schweizer in die Liste der100 wichtigsten Persönlichkeiten
aufgenommen. Der Weg des Bauernsohns aus dem Jura führte von der
ETH Zürich zur Gründung der Firma Supercomputing Systems AG.
Im Zürcher Technopark sind rund 70 Mitarbeiter tätig.
Gunzinger stammt aus Welschenrohr SO.
---
Zentralschweiz am Sonntag 30.5.10
Internetüberwachung
Das neue Schnüffel-System lässt auf sich warten
Eva Novak, Bern
Mobiles Internet und MMS bleiben für Kriminelle
vorderhand sichere Kommunikationsmittel: Der Bund hat die Beschaffung
eines Überwachungssystems gestoppt.
Sei es für Kinderpornografie, organisiertes
Verbrechen oder für Drogenhandel: Auch Kriminelle bedienen sich
gerne neuer Technologien wie MMS oder Internet-Telefonie. Derlei
Missbrauch will der Bundesrat mit einer Revision des "Bundesgesetzes
betreffend die Überwachung des Post- und Fermeldeverkehrs"
(Büpf) einen Riegel schieben, die er letzte Woche in die
Vernehmlassung geschickt hat.
Dies soll auch als Rechtsgrundlage für die
Einführung eines neuen Informatiksystems dienen, das die Daten
für die Strafverfolgungsbehörden verarbeitet. Dieses
"Interception System Schweiz" (ISS) hat unter anderem zum Ziel, eine
ganze Reihe von Überwachungen zu ermöglichen, die bisher
nicht oder nur sehr schwer möglich waren - von MMS-Meldungen bis
zum mobilen Internet.
Rechtliche Vorbehalte
Doch es harzt. Gemäss einem internen Protokoll der
Arbeitsgruppe Kommunikationsüberwachung, das unserer Zeitung
vorliegt, hat Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf das
beschaffungsreife Projekt vergangenen Dezember aus rechtlichen
Gründen gestoppt. Die Vertragsunterzeichnung mit dem
gewählten Lieferanten wurde abgebrochen und eine Neuausschreibung
unter neuen Vorgaben bei den fünf ursprünglichen sowie bei
zwei neuen Anbietern vorgenommen. Daraus resultiere eine
Verzögerung von "wahrscheinlich einem Jahr", heisst es im
Protokoll. Vor Mitte bis Ende 2011 könne das System nicht in
Betrieb genommen werden.
Lücke bei den Ermittlungen
"Für die Strafverfolgungsbehörden ist die
Situation unerträglich", beklagt die Arbeitsgruppe, in der
sämtliche Betroffenen - von den Usern über die Strafverfolger
bis zu den Telekom-Anbietern - vertreten sind. "Nach wie vor
können keine MMS-Meldungen überwacht werden, und
Internetüberwachung ist nur als teure und zeitaufwendige
Spezialmöglichkeit durchzuführen", wird moniert. Die Kantone
stossen sich zudem daran, dass sie zwar rund 10 Millionen Franken pro
Jahr zahlen müssten, aber kein Mitspracherecht beim Büpf
hätten.
"Wir haben bei Bundesrätin Widmer-Schlumpf
Gesprächsbedarf angemeldet", bestätigt Roger Schneeberger,
Generalsekretär der Konferenz der kantonalen Justiz- und
Polizeidirektoren. Bei der Justizministerin sei das Anliegen auf offene
Ohren gestossen. In einem Schreiben habe Widmer-Schlumpf vorgestern
Freitag zugesichert, sie wolle die Anliegen der Kantone "prioritär
behandeln". Noch vor dem Sommer solle etwas gehen, so Schneeberger.
Jahre bis zur Einführung
Man habe während der Evaluation festgestellt, dass im
technischen Bereich eine Entwicklung stattgefunden habe, die man
berücksichtigen und rechtlich beurteilen wolle, erklärt Guido
Balmer, Sprecher des Justiz- und Polizeidepartementes, die
Verzögerung. Die aktuelle Planung sehe vor, das ISS mit dem
Inkrafttreten des neuen Büpf vollständig in Betrieb zu
nehmen. Das könne allerdings angesichts des ordentlichen
Gesetzesweges samt Referendumsmöglichkeit Jahre dauern, räumt
Balmer ein.
Zumal das neue Gesetz einiges Konfliktpotenzial
enthält: So sollen die Anbieter von Telekom-Dienstleistungen sowie
Internet-Zugängen künftig zwar zur Überwachung
verpflichtet, dafür jedoch vom Staat nicht mehr entschädigt
werden. Bei Swisscom, Cablecom & Co. stösst diese Absicht
naturgemäss auf wenig Gegenliebe.
Vorläufig herrsche das nackte Chaos, konstatiert ein
für Anbieter tätiger Software-Entwickler, der anonym bleiben
möchte. Die gesetzlichen Grundlagen seien ebenso unklar wie die
technischen Anforderungen an die Systeme, welche die Provider
ihrerseits entwickeln müssten, um die gewünschten Daten ans
ISS liefern zu können. "Die Telekom-Anbieter haben absolut keine
Anzeichen, in welche Richtung es gehen soll." Also machen sie, so der
Software-Entwickler, vorderhand nichts und warten erstmal ab,
während findige Kriminelle weiterhin ungestört ihren
Machenschaften nachgehen können.
eva.novak@neue-lz.ch
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ANTI-ATOM
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Berner Oberländer 31.5.10
Entscheid über neues AKW
BKW engagiert sich in der Abstimmung
Falls das Berner Stimmvolk über das Projekt
"Mühleberg II" abstimmen kann, will die BKW im Abstimmungskampf
mitmischen.
Der Energiekonzern BKW will sich vehement für den Bau
eines neuen Atomkraftwerkes in Mühleberg einsetzen. Falls das
Berner Stimmvolk über die Stellungnahme des Kantons zum Projekt
abstimmen kann, will sich die BKW im Abstimmungskampf engagieren. Nach
Meinung von Fritz Kilchenmann, dem heute nach 16 Jahren abtretenden
BKW-Präsidenten, muss sich der Stromkonzern sogar "zwingend
einschalten". Auch wenn dies den AKW-Gegnern missfällt.
Laut Fritz Kilchenmann, der nach wie vor davon
überzeugt ist, dass der Regierungsrat das Projekt nicht will,
bleiben der Schweiz zwei Varianten: Entweder werden ein oder zwei neue
Atomkraftwerke gebaut - oder neue Gaskraftwerke. "Wenn das
Schweizervolk alle neuen AKW ablehnt, müsste die Politik reagieren
und Gaskraftwerke ermöglichen, denen sie faktisch soeben den
Riegel geschoben hat", sagt er. Die BKW könne das Projekt in
Utzenstorf jederzeit reaktivieren.
Segnet das Volk den Bau neuer AKW ab, muss Mühleberg
laut Fritz Kilchenmann den Zuschlag erhalten. "Mühleberg ist
geografisch günstig positioniert, und es ist ein gutes Projekt",
meint der 64-Jährige. Bekämen Gösgen und/oder Beznau den
Vorzug, befänden sich alle Schweizer AKW innerhalb weniger
Kilometer. "Das Risiko eines flächendeckenden Stromausfalles ist
dadurch grösser, als wenn die Produktion von Kernenergie verteilt
wäre", hält Fritz Kilchenmann weiter fest.phm/drh
Seite 3
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Fritz Kilchenmann, abtretender BKW-Präsident
"Entweder AKW oder Gaskraftwerke"
Nach 16 Jahren ist Schluss: BKW-Präsident Fritz
Kilchenmann hat heute seinen letzten Arbeitstag. Das hindert ihn nicht
daran, weiter für neue Atomkraftwerke zu werben und höhere
Strompreise zu rechtfertigen.
Herr Kilchenmann, wie hoch war Ihre letzte Stromrechnung?
Fritz Kilchenmann: (überlegt) In unserer Gemeinde
erhalten wir die Strom- , Wasser- und Abwasserrechnung jeweils
zusammen, und die beträgt pro Quartal zwischen 400 und 500
Franken. Ich schätze, dass der Strom 150 bis 200 Franken ausmacht.
Bald wird der Strom teurer, die BKW wird im Sommer die
neuen Tarife bekannt geben. Dann werden Sie nicht mehr
BKW-Präsident, sondern normaler BKW-Kunde sein. Was hält die
Privatperson Kilchenmann von höheren Strompreisen?
Wissen Sie, wir sind doch überall mit
Preiserhöhungen konfrontiert. Beim Strom hatten wir bei der BKW
bis 2008 während 14 Jahren keinen Aufschlag. Aus verschiedenen
Gründen gibt es nun eine Tendenz nach oben. Die Kosten für
den Ausbau der Produktion und der Netze wachsen, die
Wassernutzungszinsen steigen. Nicht zu vergessen sind die von der
Politik beschlossenen Abgaben, welche den Strom in den kommenden Jahren
zusätzlich verteuern werden. Die BKW hat schlicht keine andere
Wahl, als diese Anpassungen an die Kunden weiterzugeben.
Speziell für KMU und Grossbetriebe, die einen hohen
Stromverbrauch haben, ist eine Tariferhöhung in diesen Zeiten aber
doch besonders schmerzhaft.
Ich bin manchmal erstaunt, wenn ich Unternehmer frage, wie
hoch ihre Stromkosten sind. Etwa 75 Prozent wissen es gar nicht. Andere
Ausgaben fallen in vielen Betrieben deutlich stärker ins Gewicht.
Dann gibt es die anderen 25 Prozent, die unter den höheren Preisen
leiden. Sie könnten dank des freien Marktes ihren Stromlieferanten
wechseln. Das tun aber nur die allerwenigsten.
Daraus schliessen Sie, dass die BKW mit ihren Preisen
konkurrenzfähig ist?
Es ist doch zumindest ein Zeichen dafür, dass unsere
Preise, auch wenn sie in der Schweiz nicht die günstigsten sind,
auch für grössere Stromverbraucher tragbar sind.
Eine zentrale Debatte, welche die nächsten Jahre
prägen wird, ist jene um den Bau neuer Atomkraftwerke. Warum soll
die BKW den Zuschlag für ein AKW in Mühleberg erhalten?
Weil Mühleberg geografisch günstig positioniert
ist und weil wir ein gutes Projekt haben.
Genau das nehmen Ihre Konkurrenten Alpiq und Axpo für
sich ebenfalls in Anspruch.
Die BKW und die Axpo werden die Ersten sein, die ihre
Reaktoren aus Altersgründen vom Netz nehmen müssen. Da sollte
die natürliche Reihenfolge beachtet werden. Zudem steht eine
Mehrheit der Bevölkerung hinter unserem Ersatzprojekt. Und unser
geografischer Vorteil ist tatsächlich gross: Zieht Mühleberg
gegen Gösgen und/oder Beznau den Kürzeren, befänden sich
alle Schweizer Atomkraftwerke innerhalb weniger Kilometer. Das Risiko
eines flächendeckenden Stromausfalls wäre dadurch bei
Naturereignissen deutlich grösser, als wenn die Produktion von
Kernenergie besser verteilt wäre.
Wie sieht das Alternativszenario der BKW aus für den
Fall, dass in Mühleberg kein neues Atomkraftwerk gebaut wird?
Es gibt zwei Varianten. Variante eins: Ein oder zwei neue
Atomkraftwerke werden in Beznau und/oder Gösgen gebaut. Dann
könnte sich die BKW im Rahmen einer Partnerschaft engagieren. In
diesem Fall hätte den Schaden in erster Linie der Kanton Bern,
weil der Standortvorteil und die damit verbundene Wertschöpfung
wegfallen würden.
Und das zweite Szenario?
Variante zwei ist die, dass das Schweizervolk
sämtliche neuen AKW ablehnt. Dann ist klar, dass die Politik
reagieren und Gaskraftwerke ermöglichen müsste, denen sie
faktisch soeben den Riegel geschoben hat. In diesem Fall könnte
die BKW das Projekt in Utzenstorf reaktivieren.
Das heisst, das Volk hat die Wahl zwischen zwei neuen AKW
oder Gaskraftwerken?
Genau darauf läuft es meiner Meinung nach hinaus:
entweder neue AKW oder neue Gaskraftwerke. Wobei ich persönlich
gar kein Gasfan bin und behaupte: Ohne Kernenergie gehts nicht.
Sie betonen die breite Abstützung für
Mühleberg in der Bevölkerung. Das grösste Problem der
drei Konkurrenten bezüglich Widerstand und Kritik hat jedoch die
BKW mit einer rot-grün dominierten Regierung, die nicht hinter dem
AKW-Projekt steht.
Wir haben dafür den Grossen Rat, der dahintersteht
(schmunzelt). Im Übrigen hat selbst die Berner Regierung gesagt,
falls in der Schweiz neue AKW gebaut würden, dann zumindest auch
in Mühleberg.
In ihrer Antwort auf eine Motion hat die Regierung jedoch
kürzlich bekräftigt, dass sie Mühleberg II nicht will.
Ich bin nach wie vor nicht davon überzeugt, dass der
Regierungsrat das Projekt nicht will. Es ist natürlich nicht
einfach, eine solche politische Gratwanderung zu vollziehen, ohne die
BKW zu schwächen.
Sägt die Regierung mit ihren Aussagen am BKW-Ast?
Gefährlich ist es auf jeden Fall. Diese Bemerkung
darf ich mir als abtretender Präsident erlauben. Aber ich bin
überzeugt, dass der Regierung bewusst ist, welche
volkswirtschaftliche Bedeutung Mühleberg für den Kanton Bern
hat.
Wie haben Sie in den letzten vier Jahren im Verwaltungsrat
die Zusammenarbeit mit der rot-grünen Regierung erlebt?
Seit ungefähr 25 Jahren ist der bernische
Energiedirektor gegen Kernenergie. Trotzdem sind wir im Verwaltungsrat
immer gut klargekommen. Da drückte selten das pure Parteiprogramm
durch. Wir haben immer vernünftige Lösungen gefunden, auch
für Mühleberg wurden uns bisher keine Steine in den Weg
gelegt.
Was sagen Sie dazu, dass der Regierungsrat die
Stellungnahme zum Projekt dem Volk unterbreiten will?
Ich kann den Entscheid nachvollziehen. Eine Prognose zum
Ausgang der Abstimmung bekommen Sie von mir aber nicht. Bisherige
Umfragen zeigen aber, dass es gar nicht so schlecht steht um den
Rückhalt für Mühleberg.
Ein Volksnein wäre laut Ihrem Nachfolger Urs Gasche
der Todesstoss für das Projekt.
Wenn er das so sieht, ist das seine Sache. Dazu brauche
ich mich ab sofort nicht mehr zu äussern.
Wird sich die BKW im Abstimmungskampf engagieren, obwohl
Ihnen die SP das verbieten will?
Ganz klar ja. Die BKW muss sich zwingend in den
Abstimmungskampf einschalten. Die SP kann das der BKW auch nicht
verbieten. Das Bundesgericht entschied mehrmals, dass sich
Direktbetroffene bei Abstimmungen engagieren dürfen.
Der Zeitplan für den Bau bis zur Inbetriebnahme neuer
AKW ist eher knapp bemessen. Bestünde allenfalls die
Möglichkeit, Mühleberg länger als vorgesehen am Netz zu
lassen?
Das müssen Sie die Spezialisten fragen. Ob
Mühleberg wirklich nach 50 Jahren, also 2022, vom Netz muss oder
ob es einen gewissen Spielraum nach oben gibt, müsste man
sicherlich prüfen.
Sie diskutieren dermassen engagiert, dass man sich kaum
vorstellen kann, dass Sie nun in Pension gehen.
Mir wird schon nicht langweilig (lacht). Ich arbeite ja
noch in der Anwaltskanzlei, um mich auch dort früher oder
später ebenfalls schrittweise zurückzuziehen.
Wie ist Ihre Gemütslage, jetzt, da der Abschied von
der BKW immer näher rückt?
Die Gemütslage ist gut. In meinem Alter sollte man
sich langsam zurückziehen, jüngeren Kräften Platz machen
und loslassen können. Wobei es neben dem lachenden Auge
natürlich auch ein weinendes gibt.
Interview: Philippe Müller, Dominic Ramel
Fritz Kilchenmann (64) war seit 1987 für die BKW
tätig, seit 1994 als Verwaltungsratspräsident. Seit 1992 ist
er Partner in einer Berner Anwaltskanzlei. Fritz Kilchenmann ist
verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.
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NZZ 31.5.10
Aufrüstung für den neuen AKW-Kampf
Gegner und Befürworter buhlen um Junge - 2011 eine
Serie von kantonalen Abstimmungen
Schon im nächsten Winter wird in einigen Kantonen
über neue Atomkraftwerke abgestimmt. Gegner und Befürworter
müssen die Werbemillionen über mehrere Jahre hinweg einteilen.
Davide Scruzzi
Gäbe es in der energiepolitischen Debatte einen Preis
fürs Angstmachen, hätten ihn die AKW-Gegner in den
vergangenen Tagen gewonnen: mit vielbeachteten Aktionen von
plötzlich wie tot umfallenden Menschen sowie der Verteilung von
behördlich wirkenden Merkblättern zur radioaktiven
Gefährdung. In Gösgen erlebte zudem an Pfingsten die
klassische AKW-Demonstration eine Renaissance. Zweifellos hat die
Atomkraft-Frage gerade für die Gegner zu viel
identitätsstiftende und einende Symbolkraft, um bis zum
eidgenössischen Abstimmungstermin, also bis gegen 2014, ad acta
gelegt zu werden. Doch hat die Opposition gegen AKW auch in einigen
Kantonsverfassungen Spuren hinterlassen, und es kommt schon
nächstes Jahr zu Urnengängen - mit wenig juristischem
Gewicht, aber einer nationalen Symbolwirkung, die grösser sein
dürfte als bei der Waadtländer Konsultativabstimmung
über die unbefristete Betriebsbewilligung des AKW Mühleberg
im Herbst, als es eher um eine Spezialfrage ging. Die Waadtländer
stimmten damals Nein.
Abstimmungssonntage 2011
In der Waadt und im Jura ist die kantonale Stellungnahme
zu den drei AKW-Rahmenbewilligungsgesuchen dem obligatorischen
Referendum unterstellt, in Genf, Neuenburg und im Wallis wird wohl im
Rahmen eines fakultativen Referendums abgestimmt Auch im Kanton Bern
wird voraussichtlich abgestimmt. Beim Bundesamt für Energie (BfE)
verlangt man, dass die Kantone ungeachtet der Volksentscheide bis
März 2011 eine zumindest provisorische Stellungnahme einreichen.
Die Kantone werden zudem aufgefordert, alle Abstimmungen am gleichen
Sonntag durchzuführen. Die Berner Regierungsrätin Barbara
Egger bezweifelt aber, dass die übrigen Kantone etwa auf das in
Bern schon feststehende Datum, den 13. Februar 2011, einschwenken
werden. Sie hält es für wichtig, dass das Volk zu so einer
Frage Stellung nimmt. Beim BfE befürchtet man aber, dass die
Abstimmungen zu den Stellungnahmen, die rein konsultativen Charakter
haben, zur "Politikverdrossenheit" beitragen, weil viele Bürger
das Gefühl erhalten könnten, ihre Stimme bewirke nichts. Im
Grunde sollen sich die Kantone ja vor allem zu technischen und
raumplanerischen Fragen sowie zu den ab Herbst vorliegenden
Stellungnahmen der Nuklear-Aufsichtsbehörden äussern.
Gemäss BfE-Sprecherin Marianne Zünd soll dazu ein sachlicher
Fragebogen verschickt werden, zudem seien aber auch politische
Bemerkungen möglich.
Zulauf für alte Gruppierungen
Im Hinblick auf die kantonalen Urnengänge wird auch
das Engagement der nationalen Interessenvereinigungen stark zunehmen.
Die Befürworter verfügen wohl weiterhin über die
grösseren finanziellen Mittel, doch zeichnen sich mittlerweile
auch die Gegner durch professionelle Strukturen aus. Bei Swissnuclear,
der Vereinigung der AKW-Betreiber, erachtet man es als besonders
wichtig, dass die möglichen Standortkantone eine positive
Stellungnahme abgeben - im Visier ist also vor allem die Berner
Abstimmung. Es werden nun AKW-freundliche Politiker-Netzwerke
entstehen. Swissnuclear-Sprecherin Sandra Kobelt geht davon aus, dass
regionale Ableger öffentlicher Klubs wie die 1979 gegründete
"Aktion für vernünftige Energiepolitik Schweiz" (Aves) oder
die "Organisation Frauen für Energie" wachsen werden. Bei Frauen
ist die Skepsis gegenüber AKW besonders hoch.
Auch die 1976 gegründete, AKW-kritische
Schweizerische Energiestiftung (SES) wächst. In den letzten beiden
Jahren ist die Mitgliederzahl um ein Drittel auf 5500 angestiegen.
SES-Geschäftsleiter Jürg Buri ist auch Präsident der
Allianz "Nein zu neuen AKW", die über 30 Parteien und lokale,
nationale und ausländische Organisationen aus dem Umwelt- und
Sozialbereich vereint. Gerade über Umweltorganisationen
würden auch bürgerliche Wähler erreicht, die sonst
skeptisch gegenüber Anliegen der Linken seien. Gemäss Buri
wird nun entschieden, wie viel Geld und Engagement in die
Kantonsabstimmungen investiert werden soll und was eher für den
nationalen Abstimmungskampf aufgespart wird.
Für beide Seiten gilt es, in den nächsten Jahren
um jede Stimme zu kämpfen. Die bestehenden AKW geniessen zwar eine
breite Akzeptanz. In der Frage, ob neue gebaut werden sollen, ist das
Volk aber gespalten. Die regelmässigen Meinungsumfragen von
Swissnuclear geben an, dass seit 2005 die Befürworter neuer AKW in
der Mehrheit sind (54,6 Prozent), allerdings mit wieder sinkender
Tendenz. Die Zustimmungsrate ist gemäss Swissnuclear bei den 15-
bis 44-Jährigen am höchsten. Eine 2008 publizierte
Eurobarometer-Umfrage, die bloss nach der "Grundhaltung" fragte, zeigte
für die Schweiz hingegen eine Zunahme der
Kernenergiebefürworter mit dem Alter, während die Jugend eher
eine ablehnende Haltung vertritt, aber mit einem sehr geringen Anteil
kategorischer Gegner. Die Gruppe der bis 25-Jährigen und der etwas
älteren Jahrgänge ist am ehesten noch unentschlossen und
für Gegner wie Befürworter eine wichtige und ergiebige
Zielgruppe.
Es wird geschätzt, dass ein Drittel der Teilnehmer
der Demonstration an Pfingsten schon vor Jahrzehnten gegen AKW war, als
dies noch einen Ausdruck eines allgemeinen gesellschaftlichen
Unbehagens gegenüber dem Fortschritt und dem Denken der Eliten
darstellte. Im Gegensatz zu den 1970er Jahren nicht mehr unter den
Demonstranten war Medienunternehmer und Nationalrat Filippo Leutenegger
(fdp., Zürich). Ausschlaggebend für seine frühere
Opposition seien der damals noch enge Zusammenhang mit der
militärischen Nutzung gewesen sowie das nun einigermassen
geklärte Problem der Entsorgung radioaktiver Abfälle. Er sei
zwar immer noch "kein Freund" von AKW, aber es gebe leider noch keine
klimafreundliche Alternative zu einem Ersatz der bestehenden Anlagen,
trotz Effizienz-Anstrengungen und neuen erneuerbaren Energien, so
Leutenegger.
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Diskussionen auf verschiedenen Ebenen
dsc. ⋅ Seit bald zwei Jahren verhandelt Alpiq (Standort
Gösgen) mit Axpo und BKW (Standorte Beznau und Mühleberg)
über die Beteiligungsverhältnisse bei zwei neuen AKW. Im
Prinzip sind sich die Stromfirmen einig, dass die Werke gemeinsam
realisiert werden sollen. Insbesondere Alpiq will aber alle drei
Projekte weiter vorantreiben, um die definitive Standortwahl im Lichte
der Ergebnisse des laufenden Verfahrens vorzunehmen. Seitens der Axpo
wurde indes kürzlich wieder erklärt, eine entscheidende
Einigung sei in den nächsten Monaten zu erwarten. Anschliessend
dürften die Finanzdirektoren der Standortkantone (gleichzeitig
Stromkonzern-Eigentümer) einen Ausgleich für den nicht
berücksichtigten Kanton erarbeiten, nachdem erste Verhandlungen
dazu abgebrochen worden sind.
Auf Druck der ständerätlichen Energiekommission
hin will sich der Bund nun vermehrt des Themas Grosskraftwerke annehmen
und Bedarfs- und Rentabilitätsabklärungen durchführen,
auch mit Blick auf die Frage, ob es bis zur Inbetriebnahme
allfälliger neuer AKW Mitte der 2020er Jahre Gaskombikraftwerke
als Übergangslösung braucht.
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Sonntagszeitung 30.5.10
"Unsere Studie hat Nagra-Infos widerlegt"
Der Schaffhauser Regierungspräsident Erhard Meister
(SVP) über Tiefenlager für Atommüll
Catherine Boss
Bern Das Bundesamt für Energie (BFE) hat am Freitag
die definitiven Standortgemeinden für ein Atommülllager
bekannt gegeben und auf nächstes Jahr Studien über
wirtschaftliche Folgen eines Lagers versprochen. Zu spät - findet
der Kanton Schaffhausen und hat bereits eine eigene Studie erstellt.
Herr Meister, warum hat sich Ihre Regierung mit der
eigenen Studie quergestellt?
Wir haben immer gefordert, dass solche Studien
frühzeitig gemacht werden. Als das BFE unserem Wunsch nicht
nachkam, haben wir es selbst an die Hand genommen. Die Bevölkerung
braucht die Informationen über die wirtschaftlichen Folgen eines
Lagers jetzt und nicht erst in einem Jahr oder später.
Warum ist dies derart wichtig?
Die Leute müssen die Konsequenzen eines Lagers
kennen. Sie sind mündig genug, dass wir die Fakten auf den Tisch
legen können. Die Nagra behauptet in ihren Info-Broschüren
ständig, dass ein Lager sicher sei und vor allem positive Effekte
auf eine Region habe. Unsere Studie hat dies widerlegt.
Der kürzlich publizierte Bericht der Kommission
für nukleare Sicherheit zeigt, dass technische Fragen offen sind,
die für die Sicherheit relevant sind.
Das stimmt - die Nagra thematisiert das zu wenig. Ich bin
gegen Verharmlosungen, denn sie machen mich skeptisch.
Sie wollen das Lager nicht vor Ihrer Haustür,
trotzdem sind Sie für die Atomenergie.
Das Dilemma ist mir bewusst. Ich bin nicht
grundsätzlich gegen ein Endlager. Ich gehe davon aus, dass es
einen möglichst sicheren Standort gibt, welcher aber nicht wie der
Kanton Schaffhausen Teil einer grossen Agglomeration ist. Schaffhausen
profiliert sich seit Jahrzehnten als grüner Kanton. Wir haben
grosse Naturschutzgebiete. Auf diese besondere Identität als
grüne Region am Rhein ist die Bevölkerung stolz. Da passt ein
Tiefenlager wie die Faust aufs Auge.
Der Bundesrat will in wenigen Jahren über neue AKW
abstimmen lassen. Geht das, wenn bis dann kein Lagerstandort existiert?
Das wäre nicht verantwortbar. Es ist eine Zumutung
für die Bevölkerung, wenn der Bund neue AKW bewilligt, ohne
eine Lösung für die Entsorgung der Abfälle zu haben.
Ist Ihre Haltung in dieser Frage SVP-kompatibel?
Ja, ich gehe davon aus, dass sie in der SVP Schaffhausen
mehrheitsfähig ist. Wir werden das nächstens beraten.
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Mit zwei Ellen gemessen
Die drei Stromkonzerne Axpo, BKW und Alpiq haben sich
nicht auf ein gemeinsames Ersatz-AKW geeinigt. Das verzögert das
Bewilligungsverfahren um rund zehn Monate. Unproblematisch, meinte
bisher Bundesrat Moritz Leuenberger. Dem Kanton Bern hat sein Amt
hingegen eine dreimonatige Fristerstreckung verweigert, weil dies das
Verfahren verzögere. Die Berner verlangten mehr Zeit für eine
Volksbefragung zum Thema. Regierungsrätin Barbara Egger (SP): "Ich
sehe nicht ein, warum wir nicht mehr Zeit erhalten und nun so hetzen
müssen." Sie habe vom Bund keine schlüssige Erklärung
erhalten.
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BZ 29.5.10
Kanton Bern
SVP weibelt für AKW
Die SVP sagt der Regierung den energiepolitischen Kampf
an: Sie will für ein Ja zum neuen AKW Mühleberg einstehen.
Die bernische SVP will nach dem Wahlsieg der
Bürgerlichen den "Kampf gegen die linksideologische
Energiestrategie der Berner Regierung" aufnehmen, wie sie gestern
erklärte. Man setze alles daran, die Volksabstimmungen über
das Energiegesetz und die Stellungnahme zum Atomkraftwerk
Mühleberg zu gewinnen.
Die Unterschriftensammlung für den Volksvorschlag
gegen wichtige Teile des Energiegesetzes habe begonnen. Namentlich geht
es um den obligatorischen Gebäudeenergieausweis für alle
Eigentümer von Wohnbauten, deren Bau vor 1990 bewilligt worden
ist, und die Förderabgabe auf dem Stromverbrauch, die der Grosse
Rat im März beschlossen hat. Steuern, Abgaben und Gebühren im
Kanton Bern seien schon heute hoch, und das Strompreisniveau liege
jetzt schon über dem schweizerischen Durchschnitt, kritisierte die
SVP auch die BKW. Weiter sprach sich die Partei explizit für den
Ausbau der KWO-plus-Projekte an der Grimsel aus.
pd
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Bund 28.5.10
Kernfrage findet den Weg auf Plakate
Mit Anti-AKW-Plakaten von Greenpeace beginnt eine
Kampagne, die im Kanton bald allgegenwärtig sein dürfte.
AKW-Gegner und -Befürworter werden um die Gunst des Volks buhlen -
und Millionen ausgeben.
Sarah Nowotny
Man denkt an Sperrgebiete, Belagerungszustände,
Gefahr - und das ist gewollt. "Sie leben in Zone 2", steht auf Plakaten
rund um den Berner Bahnhof. Gemeint ist, dass sich der Bahnhof nicht
mehr als 20 Kilometer vom Atomkraftwerk (AKW) Mühleberg entfernt
befindet. Schutzmassnahmen im Falle eines AKW-GAUs - etwa Alarmierung,
Jodtabletten und Evakuierung - gebe es nur in den Zonen 1 und 2, also
in unmittelbarer Nähe der Schweizer AKWs, will die
Umweltschutzorganisation Greenpeace auf diese Art auch bis anhin
sorglosen Passanten mitteilen.
Die übrige Schweiz ist Zone 3, für Greenpeace
gar Niemandsland in Sachen Schutz vor atomaren Ausbrüchen, wie die
Organisation im Internet schreibt. "Die Behörden sehen dort keine
Massnahmen vor, sollte in einem Kraftwerk etwas passieren. Dabei macht
eine radioaktive Wolke nicht vor Kantons- und Gemeindegrenzen halt",
sagt Urs Wittwer, Kampagnenleiter. Dass Greenpeace auf diese Weise
argumentiert - ohne etwa auf die Unwahrscheinlichkeit eines
Tschernobyl-artigen Vorfalls hinzuweisen -, erstaunt nicht weiter. Der
momentanen Kampagne kommt indes durchaus eine besondere Bedeutung zu:
Sie bildet den Auftakt zu einer umfassenden, langen und teuren
Kampagne. Sowohl Gegner als auch Befürworter der Atomenergie
werden in nächster Zeit immer flächendeckender im
öffentlichen Raum um die Gunst des Volks buhlen - besonders im
Kanton Bern.
BKW gibt sich zugeknöpft
Denn 2013 dürfte das Volk entscheiden, ob in der
Schweiz neue AKWs gebaut werden. Bereits nächsten Februar
können Bernerinnen und Berner wohl konsultativ dazu Stellung
nehmen, ob sie ein neues Werk in Mühleberg befürworten.
"Unsere Kampagne ist nicht auf die Berner Abstimmung zu Mühleberg
ausgerichtet, aber wir sind natürlich froh über das zeitliche
Zusammentreffen", sagt Wittwer. Greenpeace und andere Organisationen,
die sich zu einer Allianz gegen AKWs zusammengeschlossen haben, werden
wohl bald eine Kampagne folgen lassen, die explizit auf den Berner
Abstimmungskampf zugeschnitten ist. "Unser Jahresbudget für
Kampagnen beträgt aber weniger als 500 000 Franken, die
Energiekonzerne werden bis 2013 wohl 100 Millionen aufwenden", sagt
Wittwer. Im Moment hängen insgesamt 300 Greenpeace-Plakate in 12
Schweizer Städten.
An vorderster Front gegen ein neues AKW in Mühleberg
kämpft auch die Vereinigung Fokus Anti Atom. "Wir haben kein Geld,
um im grossen Stil in Plakate und anderes Material zu investieren",
sagt ihr Sprecher Jürg Joss. Noch sei das Thema zudem nicht
brandaktuell, versuche doch Fokus Anti Atom vor
Bundesverwaltungsgericht noch immer, die unbefristete
Betriebsbewilligung für Mühleberg rückgängig zu
machen.
Beim Energiekonzern BKW, der in Mühleberg bauen will,
gibt man sich noch zugeknöpft. "Wir nehmen die Greenpeace-Kampagne
zur Kenntnis", sagt Sprecher Antonio Sommavilla. In nächster Zeit
sei aber nicht vorgesehen, darauf zu reagieren. "Noch ist es für
uns zu früh, um die Berner Bevölkerung im Hinblick auf die
Abstimmung zu informieren." Die BKW kenne aber die Agenda und werde zu
gegebener Zeit im öffentlichen Raum präsent sein. "Wie gross
unser Budget für diesen Zweck sein wird, ist indes noch offen."
Die Greenpeace-Kampagne findet sich im Internet auf
http://www.sichererstrom.ch.
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BZ 28.5.10
Arbeiterdorf in Mühleberg
BKW und Anwohner streiten um Standort
Die BKW will die Arbeiter des geplanten AKW Mühleberg
auf der Salzweid ansiedeln. Den Anwohnern schwebt anderes vor.
Aus den schnurgeraden Erdwällen strecken
Kartoffelpflanzen erste grüne Blätter ans Licht. Geht es nach
dem Willen der BKW, wird hier, auf rund zehn Hektaren beim Weiler
Salzweid Gemeinde Mühleberg, eine temporäre Arbeitersiedlung
aufgebaut. Während des An- und Abbaus des geplanten
Ersatzkernkraftwerks Mühleberg würden am östlichen Rand
der Gemeinde bis zu 1700 Personen leben. Dagegen leistet die
Interessengemeinschaft (IG) Salzweid Widerstand (wir berichteten).
"Eigenes Land benutzen"
"Wir sind nach wie vor der Ansicht, dass die BKW für
die Infrastruktur eigenes Land benutzen soll", sagt Christian Minder
von der IG. Der Landwirt lebt im angrenzenden Frauenkappelen, ist aber
Eigentümer eines Feldes auf der Salzweid, das die BKW im Visier
hat. Die IG schlägt eine eigene Variante in Marfeldingen vor, wo
die BKW Grundeigentum besitzt. Am Ufer der Saane könnten eine
Arbeitersiedlung und ein Infrastrukturplatz eingerichtet werden. Ein
Tunnel würde diese mit der Kernkraftwerkbaustelle verbinden.
Autobahnauf- und abfahrten in nächster Nähe würden das
Dorf Mühleberg und Buttenried vom Verkehr entlasten, finden die
IG-Mitglieder. "Diese Variante hätte die BKW von Anfang an
abklären müssen. Vor allem weil dort bereits Wasser- und
Abwasseranschlüsse sind", findet IG-Mitglied Bruno Känzig.
Das Argument der BKW, dass dort ein Hochwassergebiet sei, will die IG
nicht akzeptieren. "Für das neue Kernkraftwerk scheint die BKW ja
auch eine Lösung gefunden zu haben", meint Christian Minder.
"Zu aufwendig"
Bei Gesprächen zwischen Vertretern der Gemeinde und
der BKW habe sich herauskristallisiert, dass die Salzweid optimal sei,
sagt dagegen BKW-Sprecher Antonio Sommavilla. Ein Logistikplatz mit
Arbeitersiedlung an der Saane bei Marfeldingen weise "deutliche
Nachteile" auf. Weil dieses Gebiet hochwassergefährdet sei,
müssten Aufschüttungen gemacht und wieder abgetragen werden.
Der Tunnel zur Baustelle wäre so lang, dass er belüftet
werden müsste. Zudem sei das Gelände abschüssig, was den
Bau von Rampen nötig machen würde. "Wir signalisierten der IG
unsere Bereitschaft, die eine oder andere Kombinationsmöglichkeit
mit Elementen aus ihrer Variante zu prüfen", so Sommavilla. Die
ganze Infrastruktur nach Marfeldingen zu verlegen, sei sowohl kosten-
als arbeitsmässig äusserst aufwendig. Die Variante der IG
schneide im Vergleich zum Vorschlag der BKW und der Gemeinde deutlich
schlechter ab.
Bau noch unklar
Ob das Ersatzkernkraftwerk Mühleberg überhaupt
je gebaut wird, ist noch unklar. Derzeit prüfen die Behörden
das tausendseitige Rahmenbewilligungsgesuch. Danach entscheiden
National- und Ständerat. Sagen sie Ja, kann das Volk
frühestens 2013 an der Urne über dieses Kernkraftwerk
abstimmen. "Auch wenn das Verfahren noch lange dauert - wir wollen uns
gegen die geplante Arbeitersiedlung Salzweid und den Logistikplatz
engagieren, bevor es zu spät ist", erklärt IG-Mitglied
Christian Minder.
Laura Fehlmann
http://www.salzweid.ch