MEDIENSPIEGEL 17.6.10
(Online-Archiv: http://www.reitschule.ch/reitschule/mediengruppe/index.html)

Heute im Medienspiegel:
- Reitschule-Kulturtipps (Holzwerkstatt, DS, FR, GH)
- Demorecht BE: Woz zum Entfernungsartikel
- Wagenplätze: SVP gegen alternative Wohnzonen
- Sexwork BE: Schwarzarbeit wegen Verschärfungen
- RaBe-Info 16.+17.6.10
- Knast-Demo FR: Todesschuss-Wut
- Squat LU: Geissmättli verbrettert
- Police LU: Quartierverein gegen SIP
- Bahnpolizei: Regelungen
- Sans-Papiers: Perspektivlos
- Flüchtlingstag: Talentreich
- Weltwoche vs Nigerianer
- Autonome Schule ZH: Tag der offenen Türe
- Narrenkraut: ZH diskutiert legale Abgabe
- Autonome Zellen hinter Gittern
- Sempach: Wieder Party ab 2011
- Anti-Atom: SG-Ausstieg bis 2050

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REITSCHULE
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Do 17.06.10
20.30 Uhr - Kino - Baskenland - Soliveranstaltung

Fr 18.06.10
21.00 Uhr - Holzwerkstatt - Liz Allbee (t); Päd Conca (cl); Frank Heierli - (cello) - Ob Solo & Trio: It's improvised new/freejazz-experimental-rock

Sa 19.06.10
17.00 Uhr - GrossesTor - Führung durch die Reitschule (öffentlich, ohne Anmeldung)
22.00 Uhr - Frauenraum - Anklang (Programm siehe frauenraum.ch)
23.00 Uhr - Dachstock - Dachstock Darkside: Noisia (Vision Rec/NL), Deejaymf (cryo.ch), VCA (Biotic Rec/CH), Kenobi (drumandbass.ch). Style: Drumnbass

So 20.06.10
21.00 Uhr - Dachstock - The Necks (Fish of Milk, ReR/AUS). Style: Eclectic & Ambient Jazz

Infos:
http://www.reitschule.ch
http://www.reitschulebietetmehr.ch

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Freitag den 18. Juni um 21.00 Uhr in der Holzwerkstatt der Reitschule in
Bern

Solo: Liz Allbee(t) http://www.lizallbee.net/

Liz Allbee's work spans many genres including improvisation, new music,
electronic composition, noise, weird pop, minimalist/maximalist brawls,
kind-of-free-jazz and experimental rock. She has played with a wide
array of musicians, including Anthony Braxton, Wadada Leo Smith, Hans
Grusel, Gino Robair, Birgit Uhler, Fabrizio Spera, George Cremaschi,
Yugen Noh Theater, SFSound, and with members of Caroliner, Sun City
Girls, and Rova Saxophone Quartet. She lives in Oakland, CA.

"Allbee is no slouch, a sharp and gifted musician with a highly
developed personality and a warped sense of humour……”

Solo: Paed Conca(cl)

Solo: Frank Heierli(cello)

Trio: Liz Allbee(t) and Paed Conca(cl) Frank Heierli(cello)

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Bund 17.6.10

Sounds The Necks

 Repetition und Atmosphäre

 "Die Necks sind die beste Band der Welt." Ein Satz, der schnell dahergesagt ist. Wenn er aber in einem Printmedium wie der "New York Times" steht, dann bekommt dieses Radikalurteil doch zusätzliches Gewicht. Dabei verkörpern The Necks auch im 22. Jahr ihres Bestehens beileibe nicht das, was man landläufig von der besten Band der Welt gewärtigen würde. Keine grossen Posen, keine gigantischen Bühnenaufbauten, keine Lautstärkenrekorde - nein, zu den Tugenden von The Necks gehören Bescheidenheit, Stille und musikalische In-sich-Gekehrtheit.

 Ambient Jazz nennt man das, was das Trio Chris Abrahams (Tasten), Tony Buck (Schlagzeug) und Lloyd Swanton (Kontrabass) anbietet. Es sind entschleunigte, gemächlich aufbauende Tracks, die auch schon mal gegen eine Stunde dauern. "Die Basis unserer Musik ist die Improvisation", geben die drei Herren an, "wir streben an, unsere Konzerte mit möglichst leeren Köpfen und möglichst wenigen Ideen anzugehen". Auch mit dem Jazz-üblichen Aufführen instrumentaler Virtuosität haben The Necks nichts am Hut. Die Stilmittel, die ihnen als Grundstoffe zur Improvisation dienen, sind Repetition und Atmosphäre. Damit bewegen sie sich nahe der Minimal Music, bleiben aber stets hochspannend und lassen auch Ausbrüche in geräuschvollere Sphären zu. Nicht das schiere Musikmachen ist das Ding von The Necks, diese Band schafft es, Raum und Zeit zu gestalten. (ane)

 Reitschule Dachstock So, 20 Juni, 21 Uhr.

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WoZ 17.6.10

Chöre

 Sprachräume

 Nicht nur die Melodien der Lieder sind wichtig, sondern auch die Texte. Dies wissen auch die Frauen des Frauenchors der Berner Reitschule und widmen ihr neustes Programm der Sprache. "Abbiam' delle belle buone lingue" ("Wir haben eine der schönsten Sprache") ist der Titel des aktuellen Programms.

 Die gut zwanzig Frauen haben unter der Leitung der Chorleiterin Adrienne Rychard ein Programm mit Liedern aus verschiedenen Sprachräumen zusammengestellt und dieses mit sprachvisuellen experimentellen Zwischenteilen angereichert. Zu hören sind unter anderen "When I Take My Sugar to Tea" ("Wenn ich meinen Liebsten zum Tee ausführe"), "Non ho l'età per amarti" ("Ich habe nicht das Alter, dich zu lieben"), mit dem die italienische Sängerin Gigliola Cinquetti den Eurovision Song Contest 1964 gewann, oder "On n'a pas tous les jours vingt ans" ("Man ist nicht ewig zwanzig Jahre alt") von Berthe Sylva. süs

 "Abbiam' delle belle buone lingue", Frauenchor der Reitschule in: Bern Kulturhof Schloss Köniz, Fr/Sa, 18./19. Juni, 21 Uhr; Karate-Dojo, Gassnerareal, Uferweg 42a, Sa, 26. Juni, 21 Uhr; F rauenraum der Reitschule, So, 27. Juni, 11 Uhr Konzert, 12 Uhr Frühstück. http://www.kulturhof.ch / http://www.frauenraum.ch

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Bund 17.6.10

Die Grosse Halle als Sportarena:

 Das Kompetenzzentrum Arbeit der Stadt Bern hat gestern den Sporttag für die Jugendlichen des Motivationssemesters in der Reitschule durchgeführt. Rund 100 Jugendliche massen sich in verschiedenen Ballsportarten. (bob)

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DEMORECHT BE
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WoZ 17.6.10

Abstimmung Bern

 Kein Entfernungsartikel

 Die Stadtberner Stimmbevölkerung hat am Sonntag eine Verschärfung des Kundgebungsreglements abgelehnt. Die Initiative "Keine gewalttätigen Demonstranten!" hatte die Einführung eines Entfernungsartikels verlangt: Die Polizei hätte danach "zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung" Kundgebungen präventiv auflösen können. TeilnehmerInnen, die sich nicht sofort entfernen, sollten mit Busse bis zu 5000 Franken bestraft werden.

 Mit 264 Stimmen Differenz war das Ergebnis äusserst knapp. Die minime Stimmbeteiligung von 22 Prozent zeigt aber, dass die Warnung vor "Demo-Chaoten" bei den BernerInnen kaum auf Interesse stiess. Der rechtsbürgerliche Verein "Bern sicher und sauber!" konnte sich zwar auf die Zustimmung der bürgerlichen Parteien und der links-grün dominierten Stadtregierung stützen, die sich offenbar bei den Geschäftsinhabern der City-Vereinigung anbiedern wollte. Selbst in der Innenstadt, dem üblichen Demoschauplatz, fiel die Initiative jedoch durch. "Bern sicher und sauber!" will nicht locker lassen und sich nun für ein Bettelverbot einsetzen. bu

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WAGENPLÄTZE
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Bund 17.6.10

SVP-Resolution gegen "Alternative Wohnzone"

(pd) (sda)

 Die SVP der Stadt Bern hat gegen das Ansinnen der Regierung, eine Zone für Wohnexperimente zu schaffen, eine Resolution verabschiedet. Der Gemeinderat wolle mit einer solchen Zone Steuergelder verschleudern, das geltende Recht brechen und die Bürgerinnen und Bürger der Stadt "dauerhaft diskriminieren", schreibt die Partei. Nur schon für die Prüfung des Anliegens an vier Standorten sehe die Stadt einen Kredit von 60 000 Franken vor. Die Leidtragenden seien "alle, die bürgerlich leben". Es sei nicht Aufgabe der Stadt, alternativen Wohnraum zu schaffen.

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SEXWORK BE
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Bund 17.6.10

"Viele Prostituierte arbeiten unter den neuen Bedingungen schwarz"

 Verschärfungen im Sexgewerbe drängen Frauen von der Halbwelt in die Unterwelt, sagt Martha Wigger, Leiterin der Beratungsstelle Xenia.

 Interview: Anita Bachmann

 Auf dem Zürcher Strassenstrich gibt es Menschenhandel, Gewalt und viele Neueinsteigerinnen. Ist die Situation in Bern vergleichbar?

 Die Situation in Zürich ist viel happiger, der Strassenstrich dort ist viel grösser als in Bern, und es gibt Häufungen von bestimmten Nationalitäten. Aber in Bern ist der Strassenstrich eine Randerscheinung, er macht weniger als fünf Prozent des ganzen Gewerbes aus.

 Gibt es im Berner Sexgewerbe viele Neueinsteigerinnen?

 Nein. Aber es gibt tatsächlich eine Zunahme von Tschechinnen, Slowakinnen oder Ungarinnen. Diese Frauen haben aber mehrheitlich bereits als Prostituierte gearbeitet, sehr oft in Österreich. Sie haben erfahren, dass sie in der Schweiz legal arbeiten und relativ gut verdienen können.

 Darunter dürften viele Roma-Frauen sein, die auch in Zürich für Aufregung sorgen.

 Man muss mit dem Begriff Roma-Frauen aufpassen, damit man nicht jemanden diskriminiert. Sie haben einen ungarischen, tschechischen oder rumänischen Pass und sind vielleicht auch noch Roma. Uns geht es um die Arbeitsbedingungen und die Sicherheit, ob eine Frau Romni ist oder nicht, spielt keine grosse Rolle.

 Man spricht trotzdem oft von Roma-Frauen, weil es in deren Umfeld Menschenhandel und Gewalt gibt.

 Menschenhandel ist in der ganzen Schweiz ein Thema, und in Zürich sind davon nicht nur Roma-Frauen betroffen. Auch in Bern gibt es Menschenhandel, das ist unbestritten. Diesen gilt es zu bekämpfen. Betroffene sollen eine unbefristete Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz bekommen, egal ob sie eine Anzeige machen wollen oder nicht. Frauenhandel wird zwar heute mehr beachtet, gibt es aber bereits seit langem.

 Zum Schutz vor Ausbeutung forderte etwa eine städtische Motion kürzlich einen Wohnwagenpark für Prostituierte.

 Es braucht sichere Arbeitsplätze, das kann auch in einem Wohnwagen sein. Gefahr der Motion war aber, dass man die Prostituierten aus den bewohnten Gebieten wegnehmen will. Orte, an denen es noch andere Leute hat, bedeuten Sicherheit.

 Ins gleiche Kapitel gehen die Schliessungen von Sexsalons, weil sie in Wohnzonen sind.

 Das ist so. Wir sehen auch, dass es in einer reinen Wohnzone Schwierigkeiten geben kann. Aber in der Stadt Bern dürfen die Salons nur in Dienstleistungszonen sein, und die gibt es kaum. Deshalb sollten Prostituierte aus Gründen der Sicherheit in den gemischten Zonen arbeiten können.

 Wurden die beiden Sexsalons im Lorrainequartier geschlossen?

 Der kleinere ist zu. Der grössere, bei dem es um hundert Frauen geht, ist noch nicht geschlossen, weil Einsprachen hängig sind. Das Problem ist, dass es kein anderes Angebot gibt für die Frauen. Wenn ein Salon geschlossen wird, können sie nicht Arbeitslosengelder beziehen, weil sie als selbstständig gelten. Sie arbeiten unter schwierigen Bedingungen weiter, zu dritt in kleinsten Räumen. Es gibt aber auch sehr viele, vor allem ältere Sexarbeiterinnen, die Sozialhilfe beziehen müssen.

 Und es gibt Verlagerungen in die Agglomeration.

 Diese Entwicklung ist nicht neu. Das Gewerbe verlagert sich aufs Land möglichst nahe an die Autobahn. Problematischer ist aber eine massive Verlagerung in Privatwohnungen. Für uns ist es schwieriger, diese Frauen zu erreichen. Denn sie arbeiten im Versteckten, und wir können ihnen auch kein Informationsmaterial vor die Türe legen.

 Haben Frauen je nach Arbeitsort - im Salon, im Hotel, privat, beim Escortservice, auf dem Strassen- oder Autostrich - andere Bedürfnisse?

 Nein. Finanzen zum Beispiel sind oft ein Thema, wenn eine Frau Schulden hat oder nicht weiss, wie sie eine Steuererklärung ausfüllen soll. Solche Bedürfnisse sind unabhängig vom Arbeitsort, genauso wie etwa psychische Probleme.

 Gefordert sind Frauen auch mit der Anmeldung beim Kanton als Selbstständigerwerbende, bei der sie einen Businessplan einreichen müssen. Warum bezeichnen Sie die Verschärfung als kontraproduktiv?

 Aus den Erfahrungen, die wir seit den Verschärfungen im letzten Oktober gemacht haben, haben wir gemerkt, dass mehr Frauen schwarzarbeiten. Schwarzarbeit bedeutet weniger Schutz für die Frauen, weil sie Angst haben, Beratungsangebote in Anspruch zu nehmen, und sie haben weniger Rechte, sich zu wehren. Ein typisches Beispiel: Eine Frau hat schon zweimal während 90 Tagen hier gearbeitet. Nach den Verschärfungen wurde ihr drittes Gesuch abgelehnt. Natürlich hat sie trotzdem weitergearbeitet und wurde Opfer von Gewalt. Weil sie schwarzarbeitete, getraute sie sich aber nicht, Anzeige zu erstatten.

 Und Sie befürchten eine finanzielle Abhängigkeit der Frauen. Können Sie dies erklären?

 Ja, eine weitere Gefahr ist die Verschuldung. Eine Frau kommt in die Schweiz und muss hier erst den ganzen Papierkram erledigen, was einige Zeit in Anspruch nimmt. Wenn der Entscheid negativ ist, fallen nicht nur die Reisekosten an, sondern auch der Erwerbsausfall während der Wartezeit. Oft können sie nicht mit leeren Händen und schon gar nicht mit Schulden nach Hause gehen und arbeiten trotzdem.

 Muss man annehmen, dass im Kanton Bern mittlerweile die Hälfte der Sexarbeiterinnen schwarzarbeitet? Die Anmeldungen gingen beinahe um die Hälfte zurück.

 Prozente kann ich keine nennen. Aber viele Frauen, die früher legal gearbeitet haben, arbeiten unter den neuen Bedingungen schwarz. Nicht zu vergessen sind die Vermieter. Wenn sie zehn Frauen brauchen, damit der Laden läuft, und sie bekommen nur drei mit einer Arbeitsbewilligung, stellen sie zusätzlich Schwarzarbeiterinnen ein. Die Betreiber dürfen den Frauen nicht beim Erstellen des Businessplans helfen, sonst gelten sie nicht mehr als selbstständig. Deshalb passiert, was in vielen grossen Saunaklubs der Fall ist: Die Betreiber ziehen sich aus der Verantwortung, dort gelten die Frauen als Saunagäste. Die Betreiber sollten aber in die Pflicht genommen werden, indem sie für Etablissements eine Betriebsbewilligung benötigen. Man spricht immer nur von den Frauen, obwohl sich im Rotlichtmilieu viel mehr Männer bewegen, vom Vermieter über den Webmaster bis zum Freier. All diese Männer werden aber nie zur Verantwortung gezogen.

 Haben Sie Hoffnung, dass man auf die Regelung zurückkommt?

 Ja, meine Hoffnung ist, dass man die Diskussion nicht nur auf der Sanktions- und Auflagenebene führt. Es braucht Angebote und Infrastruktur für das Gewerbe und die Gleichbehandlung mit anderen legalen Gewerben. Das heisst auch, dass man sich Gedanken über eine Kontingentierung machen kann, wie es bei anderen Selbstständigerwerbenden auch gemacht wird. Denn es gibt ein Überangebot an Sexarbeiterinnen.

 Was ist die Alternative zum Selbstständigenstatus?

 Das Gegenteil vom selbstständigen Arbeiten sind Arbeitsverträge. Doch da sind wir in der Geschichte stecken geblieben. Bereits zu Zeiten von Regierungsrätin Elisabeth Zölch hiess es, Prostitution ist nicht sittenwidrig und ein Arbeitsvertrag ist machbar. Bis heute ist dies im Gegensatz zu einigen anderen Kantonen in Bern nicht möglich.

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 Anmeldeverfahren

 EU-Bürgerinnen und -Bürger haben das Recht, in der Schweiz zu arbeiten. Selbstständigerwerbende dürfen pro Jahr maximal 90 Tage einem Gewerbe nachgehen. Bis letzten Herbst erfolgte die Anmeldung dafür beim Amt für Berner Wirtschaft online. Weil im Sexgewerbe Missbräuche festgestellt wurden, verschärfte der Kanton Bern die 90-Tage-Regelung. Deshalb müssen sich Prostituierte seither persönlich anmelden und unter anderem einen Businessplan vorweisen. Die Verschärfungen der Anmeldepraxis bewirkten, dass sich seit letztem September nur noch 224 Frauen als Prostituierte anmeldeten. Vorher machten im gleichen Zeitraum knapp 400 Frauen von der 90-Tage-Regelung Gebrauch. (ba)

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 Martha Wigger

 Leiterin Beratungsstelle Xenia

 Martha Wigger ist Leiterin der Beratungsstelle Xenia in Bern, die Frauen im Sexgewerbe berät. Kernthemen sind Gesundheit, die Vermittlung von Fachpersonen wie Juristen, Finanzen oder psychosoziale Beratung. Xenia betreibt auch aufsuchende Sozialarbeit. Der Verein Xenia, den es seit 1984 gibt, hat einen Leistungsvertrag mit dem Kanton. Wigger hilft bei der Ausarbeitung des kantonalen Prostitutionsgesetzes mit. (ba)

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RABE-INFO
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Do. 17. Juni 2010
http://www.rabe.ch/uploads/tx_mcpodcast/RaBe-_Info_17._Juni_2010.mp3
- Was haben Solar- Anlagen mit der Fussball-Weltmeisterschaft zu tun?
- Warum regt man sich in Frankreich über schwule Trickfilm-Fische auf?
- Warum fahren die Jugendlichen in Kabul plötzlich Skateboard?

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Mi. 16. Juni 2010
http://www.rabe.ch/uploads/tx_mcpodcast/RaBe-_Info_16._Juni_2010.mp3
- 43 Millionen Menschen auf der Flucht- traurige Bilanz der UNO Flüchtlingskommission
- 20'000 Stimmberechtigte unterschreiben- Schweiz soll homosexuelle Eltern gleichstellen
- 2010 zum letzten Mal? Heute wird über die Zukunft der Velovignette entschieden

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KNAST-DEMO FR
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WoZ 17.6.10

Freiburg - Wut über polizeiliche Todesschüsse entlädt sich an Demo.

 Rache mit Feuerwerk

 Es ist eine Demonstration des Zorns gegenüber der Polizei, am Samstag in Freiburg. "Rache für Umut" skandiert ein Teil der gut hundert Demonstrant Innen auf ihrem zunächst noch karnevalesk anmutenden Umzug durch die Altstadt.

 Der 18-jährige Umut Kiran ist Mitte April von einem Waadtländer Polizisten in einem Freiburger Autobahntunnel erschossen worden. Sieben Schüsse hat der Polizist auf den Beifahrer eines gestohlenen Autos abgefeuert, bevor das Auto ein Nagelbrett überfuhr. Als die trauernden Angehörigen aus einem Vorort von Lyon anreisten, wurde ein Bruder des Verstorbenen verhaftet. Seither sitzen er und ein weiterer mutmasslicher Autodieb in Untersuchungshaft. Der der vorsätzlichen Tötung bezichtigte Polizist durfte den Dienst bereits nach wenigen Tagen wieder aufnehmen.

 Die bewilligte Demo hat das an der Saane liegende Freiburger Zentralgefängnis zum Ziel, wo die beiden Häftlinge vermutlich einsitzen. Am Umzug nehmen eigens aus Lyon angereiste Personen teil. In Sichtweite des Gefängnisses werden Leuchtfackeln gezündet und Parolen für die Freilassung der Gefangenen skandiert. So weit geht alles gut ...

 "Kommender Aufstand"

 Ein an der Demo verteiltes Flugblatt verknüpft die "Exekution von Umut" mit dem Tod des Nigerianers Joseph Ndukaku Chiakwa im Ausschaffungsgefängnis von Kloten und dem Erstickungstod von Skander Vogt im Gefängnis von Bochuz VD. Die Folgerung: "Die Schweiz tötet." Doch der Text geht noch weiter: Die Rede ist vom "allgegenwärtigen Bürgerkrieg", der sich auch "hier und jetzt" abspiele. Es ist eine Rhetorik, die sich an ein Buch mit dem Titel "L'insurrection qui vient" ("Der kommende Aufstand") anlehnt, das in Frankreich für grosses Aufsehen gesorgt hat und auch Teile autonomer Kreise in der Schweiz beeinflusst. In poetisch-philosophischer Sprache erklärt es den politischen Aktivismus für gescheitert. Propagiert wird die "lokale Machtergreifung", die "physische Blockade der Wirtschaft" und die "Vernichtung der Polizei", um die gesellschaftliche "Katastrophe", die sich abspiele, zu überwinden. Die Ausschreitungen in den französischen Banlieues von 2005 werden als Zeichen für diesen "kommenden Aufstand" gewertet.

 Feuerwerk und Gummischrot

 Als die DemonstrantInnen am Samstag den Platz vor dem Gefängnis betreten, kommt es praktisch sofort zur Konfrontation mit der Polizei. Die Polizei setzt massiv Gummischrot ein und wird ihrerseits mit Feuerwerk und Steinen beschossen. Die Polizei spricht später von "gegen hundert Raketen", die auf sie abgefeuert worden seien. Dann verschieben sich die DemonstrantInnen in die Altstadt, von den überrascht und überfordert wirkenden Ordnungskräften zunächst nicht weiter behelligt.

 Nach einer weiteren Konfrontation vor einem Polizeiposten, dessen Fenster eingeschlagen worden sind, zerstreuen sich die DemonstrantInnen. Die Polizei verhaftet in den folgenden Stunden in der Innenstadt und am Bahnhof 47 Personen und will Anzeige wegen Landfriedensbruch, Körperverletzung und Gefährdung des Lebens erstatten. Zwei Polizisten seien durch Feuerwerkskörper verletzt worden, einer davon "schwer". Konkret soll dieser "schwere Prellungen" an einem Bein davongetragen haben und zehn Tage arbeitsunfähig sein.

 Mehrere Verhaftete beklagten ihrerseits, ihnen seien gegen ihren Widerspruch und gewaltsam DNA-Proben entnommen worden, ohne dass die Bewilligung eines Untersuchungsrichters vorgelegen habe.  

Dinu Gautier

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SQUAT LU
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Blick am Abend 16.6.10

Bretter gegen Besetzer

Niet- und nagelfest

 Das ehemalige Restaurant Geissmättli gleicht derzeit einer Festung. Um eine erneute Besetzung des Lokals zu verhindern, wurden alle Fenster mit Brettern verriegelt. In diesem Frühling hatten es Aktivisten besetzt, schlussendlich aber friedlich geräumt. Jetzt wird das "Geissmättli" umgebaut. Nach der einstigen Nutzung als Fixerraum soll schon ab kommenden Herbst wieder ein neues Restaurant eröffnen. mg

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POLICE LU
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20 Minuten 17.6.10

Quartiervereine fordern die Abschaffung der SIP

 LUZERN. Quartiervereine klagen: Wegen der Polizeifusion seien die Quartierpolizisten seit Anfang Jahr weniger vor Ort unterwegs. Sie fordern die Auflösung der SIP zugunsten der Quartierpolizei.

 "Seit der Fusion von Kantons- und Stadtpolizei Anfang Jahr sind die Quartierpolizisten weniger präsent", sagt Hugo Stadelmann, Präsident der Stadtluzerner Quartiervereine. Er sieht den Grund darin, dass die Polizisten vermehrt für andere Aufgaben eingesetzt werden. Dem widerspricht Ernst Röthlisberger von der Luzerner Polizei. "Die Quartierpolizisten sind jetzt gezielter und ausserdem neu auch nachts und am Wochenende unterwegs." Dies könne aber dazu führen, dass die Bewohner sie weniger zu Gesicht bekämen.

 Die Quartiervereine nehmen jetzt die umstrittene Einsatztruppe SIP (Sicherheit, Intervention, Prävention) ins Visier, die in der Stadt ebenfalls für Ordnung sorgen soll und rund 900 000 Franken pro Jahr kostet. "Man sollte die SIP abschaffen und das Geld in die Quartierpolizei stecken", so Stadelmann. "Wir würden der SIP keine Träne nachweinen."

 Die städtische Sicherheitsdirektorin Ursula Stämmer ist gegen eine Abschaffung der SIP: "Sie erfüllt eine Gemeindeaufgabe und hat einen anderen Auftrag als die Quartierpolizei. Sie wirkt darauf hin, dass die Polizei gar nicht erst zum Einsatz kommen muss."

 Die kantonale Polizeidirektorin Yvonne Schärli hat die Anliegen der Quartiere entgegengenommen. Bis Ende Jahr soll mit ihnen zusammen eine Evaluation vorgenommen werden.  

Markus Fehlmann

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BAHNPOLIZEI
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NZZ 17.6.10

Bahnpolizei

 Nach dem Nationalrat hat auch der Ständerat eine neue Gesetzesgrundlage für die Sicherheitsdienste im öffentlichen Verkehr einstimmig gutgeheissen. Eine Privatisierung der Bahnpolizei ist nicht mehr vorgesehen; daran war zuvor ein erster Entwurf gescheitert. Das Gesetz unterscheidet nun klar zwischen einer Transportpolizei mit entsprechenden Funktionen und einem Sicherheitsdienst mit geringeren Kompetenzen. Die Bewaffnung der Transportpolizei wird dem Bundesrat überlassen. Der Ständerat will, dass die SBB die Transportpolizei gegen Entgelt auch anderen Unternehmen zur Verfügung stellen. Mit dieser Differenz geht die Vorlage zurück an die grosse Kammer.
(wab)

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20 Minuten 17.6.10

Bewaffnung der Bahnpolizei?

 BERN. Der Ständerat hat das neue Bahnpolizeigesetz gestern einstimmig gutgeheissen. In der Vorlage nicht mehr vorgesehen ist die Privatisierung der Bahnpolizei. Das neue Gesetz unterscheidet klar zwischen einer Transportpolizei mit polizeilichen Funktionen und einem Sicherheitsdienst mit weniger Kompetenzen. Über die Bewaffnung der Bahnpolizei entscheidet der Bundesrat.

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grundrechte.ch 5.11.09

Transportpolizeigesetz

5. November 2009

Transportpolizeigesetz: Die neuen Vorlage der KVF-N

 Nach dem Scheitern des so genannten Bahnpolizeigesetzes in der Frühjahrssession hat die nationalrätliche Verkehrskommission eine neue Lösung vorgelegt, die auf eine Privatisierung der Transportpolizei verzichtet, diese aber umgekehrt mit hoheitlichen Kompetenzen ausstattet.

 Ein gleichnamiges Gesetz ist im Rahmen der Bahnreform 2 in der Frühjahrssession 2009 in der Schlussabstimmung im Nationalrat an den Widerständen von links und rechts gescheitert. Die KVF, welche bereits dieses erste "Bahnpolizeigesetz" vorberaten hatte, hat sich anschliessend rasch um einen neuen Anlauf bemüht und die Arbeiten für einen konsensfähigen neuen Gesetzesentwurf selbst an die Hand genommen. Eine Subkommission hat, unter anderem dank der Unterstützung durch das Bundesamt für Verkehr, einen neuen Entwurf vorgelegt, den die Kommission mit 21 zu 2 Stimmen zuhanden ihres Rates verabschiedet hat.

 Das Grundkonzept der Sicherheitsorgane im öffentlichen Verkehr bleibt dabei gleich wie im damaligen Vorschlag des Bundesrates: Es soll einen einfachen Sicherheitsdienst mit klar definierten Aufgaben und eine eigentliche Transportpolizei mit zusätzlichen Kompetenzen geben. Der Sicherheitsdienst kann einer privaten Organisation übertragen werden, nicht dagegen die Transportpolizei. Zudem wird die Frage der Ausrüstung und der Bewaffnung der Transportpolizei nicht auf Stufe des Gesetzes geregelt, sondern diese Kompetenz dem Bundesrat übertragen. Ein Antrag, ein Verbot von Schusswaffen im Gesetz festzuschreiben wurde mit 12 zu 3 Stimmen bei 8 Enthaltungen abgelehnt.

 Die Kommission hat die Vorlage trotz Bedenken von Seiten der Kantone, die eine sicherheits- wie staatspolitisch unerwünschte Einmischung in ihren Hoheitsbereich befürchten, mit grossem Mehr verabschiedet. Sie tat dies unter anderem auf Wunsch der Transportunternehmen, die auf eine möglichst rasch Klärung der gesetzlichen Grundlagen für ihre Sicherheitsorgane drängen - stammt doch das heute geltende Bahnpolizeigesetz aus dem Jahr 1878.

 Die positive Stellungnahme des Bundesrates vorausgesetzt, wird der Erlassentwurf voraussichtlich in der Frühjahrssession 2010 vom Nationalratsplenum behandelt werden können. Falls die weitere parlamentarische Beratung ebenfalls reibungslos vorangeht, ist es möglich, dass das neue Bahnpolizeigesetz auf den 1. Januar 2011 in Kraft treten kann, also gleichzeitig wie ursprünglich im Rahmen der Bahnreform 2 vorgesehen war.

grundrechte.ch ist dezidiert der Ansicht, dass die Aufgabe einer Transportpolizei einzig sein kann, für die Beachtung der Transport- und Benützungsvorschriften zu sorgen. Personenkontrollen, Personen anzuhalten und Personen festzunehmen muss der Kantonspolizei vorbehalten bleiben. Art. 3 (Aufgaben) und Art. 4 (Befugnisse) müssen daher zurückgestutzt werden.

 • Medienmitteilung KVF-N vom 4. November 2009
http://www.grundrechte.ch/2009/KVF_N_04112009.pdf
 • Bericht zum Transportpolizeigesetz
http://www.grundrechte.ch/2009/ed-pa-berichte-parlament-kvf-09-473.pdf
 • Entwurf Transportpolizeigesetz
http://www.grundrechte.ch/2009/ed-pa-berichte-parlament-kvf-09-473-erlass.pdf
 siehe auch
• Bahnreform 2: Rambos, Drogentests und hohe Bussen
http://www.grundrechte.ch/2007/aktuell17042007.shtml

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SANS-PAPIERS
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NZZ 17.6.10

Perspektivenlos bei Papierlosen

 Der Umgang mit Ausländern ohne Aufenthaltsrecht ist inkonsequent und unehrlich. Gesucht ist eine Verbindung von Repression und Legalisierung. Von Christoph Wehrli

Christoph Wehrli

 Es war ein sprachpolitischer Geniestreich, aus Personen, die sich widerrechtlich in einem Land aufhalten, "Sans-Papiers" zu machen und damit das rechtliche Manko auf eine Formalität, ein fehlendes Papier, zu reduzieren. Der Begriff ist aus Frankreich in die Schweiz gelangt und hat sich, elegant und praktisch, wie er ist, verbreitet. Er hat allerdings (nicht nur wegen Verwechslungen mit Asylsuchenden ohne Identitätsausweis) die Unklarheit um das Problem wohl nur vergrössert und trägt schon gar nichts zu dessen Lösung bei.

 Gerechtigkeit in der Illegalität

 Die politische Diskussion drehte sich lange vor allem um Vorstösse für eine kollektive Legalisierung des bisher illegalen Aufenthalts - oder sie fuhr sich an solchen Vorschlägen fest. Gegenwärtig scheint die Forderung nach einer "Regularisierung" keine Erfolgschance zu haben. Man führt dagegen gewichtige rechtsstaatliche Argumente an und verweist auf die Möglichkeit, in einzelnen Härtefällen Ausnahmen zu bewilligen. Das zuständige Bundesamt liess im Übrigen eine Schätzung vornehmen, wonach die Zahl der Papierlosen entgegen anderen, unbequemeren Annahmen unter der magischen Grenze von 100 000 Personen liegen dürfte.

 Die politische Bewegung zugunsten der Sans-Papiers wurde in der Folge flexibler. Im Vordergrund steht seit einiger Zeit die Forderung, Jugendlichen eine Berufslehre zu ermöglichen. Weil die Schulpflicht (oder das Recht auf Bildung) generell gilt, besuchen auch Kinder von Eltern ohne Aufenthaltsrecht die Schule, einige über die obligatorische Zeit hinaus. Die duale Lehre aber, die auch eine Anstellung einschliesst, gilt als unerlaubt. Der Nationalrat wollte nun aufgrund parlamentarischer Vorstösse diese Asymmetrie beseitigen. Der Ständerat hat am Montag gezögert und lässt zuerst die Sachlage, insbesondere die Zahlen, prüfen.

 Bei diesem Vorgehen fragt sich allerdings nicht nur, wie man "clandestins" zählen will (die Schulbehörden sehen sich nicht als Fremdenpolizei) und ob Rechtsungleichheit von der Häufigkeit der Erscheinung abhänge. Vielmehr müsste der Gesetzgeber auch eine Aussage darüber wagen, wie die weitere Zukunft der "integrierten Illegalen" oder illegal Integrierten aussehen soll. Wenn eine erfolgreiche Ausbildung zu einem Aufenthaltsrecht führen soll, wäre dies in geeigneter Form zu deklarieren und zu garantieren. Wenn man das Schicksal der heranwachsenden Sans-Papiers hingegen nur weiter in der Schwebe lassen will, gibt man den Betroffenen wie auch der Öffentlichkeit noch mehr zweideutige Signale und schiebt das Problem hinaus.

 Ist das heutige Vorgehen "von Fall zu Fall" so schlecht? Ein paar frische Beispiele aus der Praxis des Bundesverwaltungsgerichts: Ein Ecuadorianer findet 2001 rasch eine (Schwarz-)Arbeit, wird 2002 weggewiesen, bleibt in der Schweiz, ersucht 2005 erfolglos um eine Aufenthaltsbewilligung, bittet 2007 um Wiedererwägung und setzt sich jetzt durch, dies unter anderem dank dem Schulerfolg des inzwischen 15-jährigen Sohns. - Eine 11-jährige Ecuadorianerin folgt 2000 ihren Eltern in die illegale Emigration, erhält 2005 als junge Mutter eine befristete Bewilligung und kann nun in der Schweiz bleiben, wo der Vater sein Besuchsrecht wahrnehmen kann. - Ein Algerier, 1993 eingereist, absolviert hier eine Schreinerlehre, wird 2003 polizeilich angehalten, heiratet darauf seine schweizerische Freundin, lebt seit 2006 von ihr getrennt, kann aber dank guter Integration bleiben.

 Stossend sind nicht solche Urteile an sich, sondern die Vorgeschichten, die Unaufmerksamkeit oder Untätigkeit einzelner kantonaler Behörden und die Bearbeitungszeit beim Gericht, die es hartnäckigen Gesuchstellern erlauben, die Zeit für sich arbeiten zu lassen.

 Mehr-Säulen-Politik statt Polarisierung

 Mit dem Härtefall-Tropfenzähler lässt sich das Problem ohnehin nicht entscheidend vermindern. Nötig wäre eine politische Klärung, ausgehend von der Einsicht, dass einseitige Rezepte nicht funktionieren. Repression und pragmatische Grosszügigkeit sollten zusammenspielen.

 Die möglichst frühe Entdeckung von Sans-Papiers und die Durchsetzung ihrer Wegweisung sollte auch vorbeugend wirken. Mit dem Gesetz gegen Schwarzarbeit ist das Instrumentarium ergänzt worden, und im Zusammenhang mit der Personenfreizügigkeit haben Arbeitgeber mit vermehrten Kontrollen zu rechnen. Auf der anderen Seite muss der Staat über seinen Schatten springen, wenn Recht und Realität offenkundig nicht in Einklang zu bringen sind. Dazu wären politisch abgestützte Kriterien für eine Legalisierung erwünscht.

 Zwischen diesen Polen ist Sans-Papiers unter anderem die nötige Gesundheitsversorgung zu gewährleisten. Solche Existenzhilfe darf jene nicht bestärken, die entweder die Illegalität oder das soziale Problem bagatellisieren - doch die Augen vor Fakten und ihren Konsequenzen zu verschliessen, ist besonders in der Migrationspolitik geläufig.

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FLÜCHTLINGSTAG
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WoZ 17.6.10

Flüchtlingstag

 Wertloses Talent

 Es mutet schon fast zynisch an: Ausgerechnet Alard du Bois-Reymond macht sich an der Pressekonferenz zum Tag des Flüchtlings 2010 stark für deren Arbeitsintegration und schreibt im Communiqué, dass Erwerbstätigkeit sowohl eine zentrale Rolle spiele für Integration  und Gesundheit von Flüchtlingen als auch das Risiko der Straffälligkeit und der Sozialhilfeabhängigkeit verringere. Zur Erinnerung: Du Bois-Reymond ist Direktor des Bundesamtes für Migra tion (BFM), das seit Jahren die Verschärfungen des Asylgesetzes vorantreibt und den Flüchtlingsbegriff immer enger auslegt.

 "Flüchtlinge mussten alles zurücklassen - ausser ihrem Talent" lautet der Slogan der diesjährigen Kampagne der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) in Zusammenarbeit mit dem BFM und dem UNHCR, mit der auf das "brachliegende Potenzial von Flüchtlingen" aufmerksam gemacht werden soll. Die Kampagne ist wohl gut gemeint, aber arg kurzsichtig. Zum einen macht sie sich einmal mehr nur für die "echten", sprich anerkannten, Flüchtlinge stark. Das Arbeitsverbot für abgewiesene Asylsuchende und solche mit Nichteintretensentscheid, das diese Menschen in die Abhängigkeit von der staatlichen Nothilfe und in noch grössere Isolation treibt, wird mit keinem Wort erwähnt. Zum andern wird auch die Lebensrealität der vorläufig aufgenommenen Personen (mit Ausweis F) verkannt. Ein zukünftiger Arbeitgeber muss zuerst ein Gesuch beim Kanton einreichen, damit die betreffende Person überhaupt eine Arbeitsbewilligung erhält. Hinzu kommt, dass ein F-Ausweis jeweils nur für ein Jahr ausgestellt wird. Welche Lehrmeisterin, welcher Arbeitgeber stellt schon jemanden ein, der jedes Jahr seine Arbeitsbewilligung verlieren kann?

 Diesen Punkt greift Susin Park vom UNHCR-Büro zwar in ihrem Communiqué auf, vermeidet aber direkte Kritik an der Schweizer Flüchtlingspolitik. Doch weist sie darauf hin, dass viele ausländische Diplome und Studienabschlüsse in der Schweiz nicht anerkannt werden. Und ohne Diplom ist in der Schweiz Talent nicht mehr viel wert.
 
Noëmi Landolt

Veranstaltungen zum Flüchtlingstag am Samstag, 19. Juni:
http://www.fluechtlingstag.ch

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WELTWOCHE VS NIGERIANER
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Weltwoche 17.6.10

Die Geschäfte der Nigerianer

 Sein Tod sorgte für Schlagzeilen: Der Nigerianer Alex Khamma starb bei der Ausschaffung in sein Heimatland. Bis auf sein tragisches Ende verlief sein Leben so wie das vieler Landsleute: Sie leben illegal in der Schweiz und beherrschen den Kokainhandel. Schweizer Frauen helfen ihnen.

Von Daniel Glaus

 Mit dem Sonderflug vom 17. März 2010 wollte das Bundesamt für Migration (BFM) den Nigerianer Alex Khamma ausschaffen. Im Dezember 2005 hatte der damals 24-Jährige einen Asylantrag gestellt. Das BFM lehnte ab. Weil er trotzdem in der Schweiz blieb, wollte ihn der Bund mit Gewalt in seine Heimat zurückbringen.

 Die Zwangsausschaffung nahm er nicht einfach hin. Im Flughafengefängnis wehrte er sich heftig. Er griff die Polizisten an, die ihn in die Maschine bringen wollten, die das BFM gechartert hatte. Die Beamten fesselten ihn und setzten ihn auf einen Rollstuhl. Er tobte weiter - bis zur Ohnmacht. Eine halbe Stunde später war er tot.

 Wahrscheinlich hatte Khamma gesundheitliche Probleme, die die Polizisten nicht kannten. Noch untersucht die Zürcher Staatsanwaltschaft die Todesursache. BFM-Chef Alard du Bois-Reymond und ein nigerianischer Botschaftsvertreter waren Zeugen. Du Bois-Reymond stoppte zwischenzeitlich die Sonderflüge in sämtliche Länder. Nach Nigeria werden noch immer keine Ausschaffungen durchgeführt, weil das Land nur freiwillige Rückkehrer akzeptiert - und solche gibt es praktisch nicht. Im Juli will du Bois-Reymond die nigerianischen Behörden mit neuen Sicherheitsmassnahmen zum Einlenken bringen.

 Ein einziger anerkannter Flüchtling

 Das Schweizer Asylsystem ist am Anschlag. Im vergangenen Jahr haben 1786 Nigerianer einen Asylantrag gestellt. Aus keinem anderen Land haben in den letzten Jahren so viele Menschen in der Schweiz um Asyl ersucht. Derzeit kommen jeden Monat rund 150 hinzu.

 Allerdings hätten "99,5 Prozent" nicht "die geringste Chance", hierbleiben zu können, sagte du Bois-Reymond im April. Eine Mehrheit komme, um zu arbeiten, was kein Fluchtgrund sei. Viele würden kriminell. Die Statistik bestätigt das: Über die Hälfte von knapp 600 Anzeigen wegen Kokaindelikten richteten sich 2009 gegen Nigerianer. Nur einen Einzigen der meist zwischen 18 und 35 Jahre alten Männer akzeptierte das BFM 2009 als Flüchtling. Alex Khamma ist damit, bis auf seinen tragischen Tod, ein "08/15-Nigerianer", wie ein Beamter sagt, der den Fall kennt. Er gab an, aus dem Sudan zu sein, was widerlegt wurde. Im September 2006 wurde sein Gesuch definitiv abgelehnt.

 "Swiss girls are very nice!"

 Sobald abgewiesene Asylbewerber das Land verlassen müssten, erhalten sie nur noch Nothilfe. Zuletzt wohnte Khamma in der Notunterkunft Uster. Ein Zivilschutzbunker neben der Autobahn durchs Zürcher Oberland. 98 Plätze hat es. Bis auf zwei sind alle belegt. Zwei Drittel von Nigerianern. Sie hausen in Zimmern mit acht bis achtzehn Matratzen auf Kajütenbetten. Für ihren Lebensunterhalt erhalten sie pro Woche sechzig Franken in Form von Migros-Gutscheinen. Wenn nötig Kleider, Schuhe; im Notfall medizinische Hilfe.

 Über eine Art Tiefgarageneinfahrt gelangt man in den Bunker. Die Luft ist stickig. Es ist warm und feucht. Einige der Männer beenden gerade ihr Ämtli. Mit anderthalb Stunden Toilettenputzen oder Gängeschrubben können sie sich einen 5-Franken-Gutschein dazuverdienen. Arbeiten ist ihnen verboten.

 Damit Polizei und Betreuer jederzeit in die Zimmer können, hängen in den Türrahmen nur Tücher anstatt Türen. Wenige Stunden vor dem Besuch der Weltwoche hat die Polizei einen illegalen Nigerianer aus dem Bett geholt, um ihn in Ausschaffungshaft zu setzen. Zirka alle drei Monate gibt es eine Razzia. Wenn überhaupt, findet die Polizei nur kleine Mengen Cannabis, selten etwas Kokain.

 Wer mit Drogen handelt, wickelt die Geschäfte ausserhalb ab. Auch Alex Khamma fuhr regelmässig nach Zürich zum Dealen. Aber nicht nur dafür. Er suchte auch eine Frau. Eine Schweizerin zum Heiraten. Es ist der einzige Weg, zu einer Aufenthaltsbewilligung zu kommen. Illegale aus Nigeria seien darin durchaus erfolgreich, erzählen Beamte. Khammas ehemalige Zimmergenossen stehen dazu: "Swiss girls are very nice!" Sie sprächen die Frauen überall an: Unter der grossen Uhr im Zürcher Hauptbahnhof, in Parks, am See.

 Wiederholt haben die Illegalen am Bahnhof Uster auch allzu junge Frauen angesprochen - was nicht toleriert wird. Es setzt einen scharfen Verweis der Unterkunftsleitung ab. Verstossen die Illegalen gegen die Hausordnung, erhalten sie Hausverbot. Das wirke meistens, sagt die Leiterin.

 Schweizerinnen mit einem Flair für die gutgebauten und fröhlichen jungen Männer finden sich vor allem an "Afrika-Partys". Dort sei es am einfachsten, bestätigen die beiden Nigerianer. Ihre Masche ist simpel: "Hello, how are you?", lächeln und Geduld haben: 100, vielleicht 200 Körbe habe Alex kassiert. Im Sommer habe es dann geklappt, er fand eine Freundin. Eine Studentin aus Zürich. Er zog zu ihr.

 Alex war seinem Ziel einen Schritt näher: ein sicheres Nest in der Schweiz für seine Geschäfte als Drogendealer. Bei ihren Freundinnen und Frauen seien die meisten Nigerianer hochanständig - fast unterwürfig, erzählt ein Polizist. In Statistiken über häusliche Gewalt existieren illegale Nigerianer praktisch nicht. Auch andere Delikte wie Autos klauen oder Schlägereien begehen sie kaum. Nur nicht auffallen. Doch wehe, sie werden gefasst: Ein Polizist sagt, Nigerianer würden oft sehr aggressiv. "Sie schreien, spucken und schlagen wie keine andere Bevölkerungsgruppe."

 Plötzlich tauchen die Papiere auf

 Bei der Partnerwahl sind die Nigerianer pragmatisch - es geht ihnen in erster Linie darum, heiratswillige Schweizerinnen zu finden. Oder noch besser: solche, die heiraten und ein Kind haben wollen. So ist der Aufenthalt doppelt abgesichert. Steht die Hochzeit bevor, sind auch Pass und Geburtsurkunde rasch zur Hand. Papiere, die beim Asylgesuch zwecks Verschleierung der Herkunft noch als verschollen galten.

 Es sind Frauen in allen Lebenslagen, die sich auf eine Ehe mit einem illegalen Nigerianer einlassen. Ältere Singles, die geschmeichelt sind, dass ein Mann sie aufs Standesamt führen will. Oder junge, die Mitleid haben und sich verlieben. Eine Frage von Intelligenz oder Einkommen sei es auf keinen Fall, weiss ein Schweizer Beamter.

 In den vergangenen fünf bis sechs Jahren sind die Nigerianer zu Marktführern im Kokainhandel aufgestiegen. Wie ist ihnen das gelungen? Ihr Netzwerk sei "nahezu perfekt abgeschottet", weil sie Dialekt sprächen und ihre eigene Kultur pflegten, schreibt das Bundesamt für Polizei (Fedpol). Ein weiterer Teil des Erfolgsrezepts ist die Organisationsstruktur. Bei den Nigerianern ist alles flexibel. Es gibt keinen Capo wie in der Mafia und kaum blutige Kämpfe unter Konkurrenten wie zwischen Albaner-Gruppen, die den Heroinhandel beherrschen.

 Den Einstieg ins Drogengeschäft erleichtern erfahrene Landsmänner. Ein Teil der knapp 1800 legal anwesenden Nigerianer in der Schweiz bildet das Rückgrat des Drogen-Netzwerks. Die Verbindungen sind weltweit, denn in fast allen westlichen Ländern gibt es eine nigerianische Diaspora. Nigerianer sind eine Art Kokain-Qaida: Einzelpersonen oder kleine Gruppen, die einen Deal zusammen durchziehen und sich wieder trennen. Jeder arbeitet auf eigene Rechnung. Wer eine Aufenthaltsbewilligung hat, ver-kauft Handys mit SIM-Karten, macht Geld-überweisungen, versteckt Schmuggler in seiner Wohnung. Dank der Personenfreizügigkeit können Nigerianer mit einer Aufenthaltsbewilligung in ganz Europa als Touristen reisen und Geschäfte abwickeln.

 Milch trinken hilft

 Die Illegalen verkaufen auf der Strasse Ko-kainkügelchen. Arbeit gibt es für alle: Coci ist längst keine Luxusdroge mehr, sondern so günstig wie noch nie. Eine Linie gibt es schon ab zwanzig Franken. Die Nachfrage ist riesig.

 In die Schweiz gelangt das Kokain von Südamerika via Spanien und die Niederlande. Dort werden Unmengen Fracht umgeschlagen. Kontrolliert wird nur ein Bruchteil. Der reine Stoff erreicht Europa tonnenweise in Schiffscontainern oder in kleinen Mengen per Flugzeug.

 Ortsansässige Nigerianer nehmen die Ware in Empfang und wickeln die Bestellungen ihrer Landsleute ab. Diese holen den Stoff selber teilweise ab. Oder sogenannte Bodypacker transportieren ihn, verpackt in Kondomen in ihren Mägen. In sicheren Wohnungen in Bern, Basel oder Zürich scheiden sie diese Fingerlinge aus. Literweise Milch trinken hilft.

 Schweizer Frauen unterstützen die Drogenhändler zumindest passiv. Die Wohnungen gehören oft den Schweizer Frauen - sie halten die Schmuggler für Flüchtlinge und kochen auch noch für sie. Haufenweise Bargeld, mehrere Handys ihres Mannes, stundenlang zugesperrte Toiletten und Streckmittel fürs Kokain scheinen sie nicht misstrauisch zu machen. Oder sie schauen bewusst weg, weil sie Angst um die Beziehung haben. Einige helfen auch ihren dealenden Ehemännern. In Kinderwagen oder Einkaufstaschen verschieben sie das Kokain innerhalb der Schweiz. Oder sie bringen es, versteckt in Körperöffnungen, über die Grenze.

 Auch im Drogengeschäft spielt der Heiratsmarkt. Einige Dealer versuchen, ihre Kundinnen mit vorteilhaften Konditionen an sich zu binden. Bei Beschattungen von als Dealer Verdächtigten fällt der Polizei auf, dass verheiratete illegale Nigerianer oft noch mindestens eine Freundin haben. Eine Nigerianerin in der Schweiz, dazu eine Studentin - und in der Heimat Frau und Familie, die mit Geld versorgt werden. Geld aus Drogengeschäften, aber auch Sackgeld von der Schweizer Partnerin.

 50 000 Franken Entschädigung

 Alex Khammas Freundin hat schliesslich wohl Verdacht geschöpft und ihn deshalb aus der Wohnung geworfen. Im Herbst sei er zurück gewesen in der Notunterkunft, sagen seine Zimmergenossen. Khammas Suche nach einer heiratsfreudigen Schweizerin begann wieder von vorne. Doch Uster ist ein hartes Pflaster, Alex musste nach Zürich. Im Tausch gegen einen 10-Franken-Migros-Gutschein erhalten die Illegalen in der Notunterkunft fünf Marken für je eine Tageskarte des Zürcher Verkehrsverbundes. Sie ist jeweils ab neun Uhr gültig. Wer kein Geld aus Drogengeschäften hat, tauscht in Zürich weitere Gutscheine gegen Bares ein. Sans-Papiers-Anlaufstellen kaufen die Gutscheine ab.

 Am Sonntag, 13. Dezember 2009, verabschiedete Khamma sich in Uster von seinen Kollegen. Er wollte nach Zürich an eine Party und geriet in eine Polizeikontrolle. Die Polizisten nahmen ihn auf den Posten. Rasch war ihnen klar: Khamma ist nicht nur ein Illegaler, sondern auch ein Dealer - und zwar kein kleiner Fisch: Zu drei Jahren Gefängnis war er verurteilt. Die Hälfte bedingt.

 Dann ging alles rasch: Zwei Tage nach der Verhaftung wurde Ausschaffungshaft angeordnet. Die Polizei brachte ihn ins Flughafengefängnis in Zürich. Der nächste Sonderflug sollte am 17. März starten. Gegen Abend jenes Mittwochs starb der 29-Jährige. Alex Khammas Familie hat soeben eine letzte Überweisung aus der Schweiz erhalten: 50 000 Franken Entschädigung vom Bund.

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AUTONOME SCHULE ZH
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bleiberecht.ch 9.6.10

Tag der offenen Tür und Party am 18.6.

Tag der offenen Tür & Soli-Konzerte in der ASZ
Freitag, 18. Juni, Baracke Panama, 16 Uhr bis spät
Hohlstr. 170, Tramhaltestelle Güterbahnhof

Mit Konzerten von:

SON OF CORAZON
KOBAYASHI
J&L DEFER (DISCO DOOM)

DJing by

SUZANNE ZAHND
SISTA ESTA
MICROCAT

Der Verein Bildung für Alle! hat seit Januar fünf Umzüge bewältigt und feiert nun den Sommer mit einem Tag der offenen Tür in der Baracke Panama. Von 16 bis 17 Uhr erläutern die ModeratorInnen die kostenlosen Deutschkurse und die Strukturen der Autonomen Schule. Seid herzlich eingeladen! Anschliessend wird grilliert und fulminante Musik gehört: Son of Corazon legen neue Massstäbe in Sachen kulturübergreifendem Musizieren, Kobayashi verwischen Genre-Grenzen zwischen Minimal Music und Noise und J&L Defer, die beiden Köpfe von Disco Doom, tragen uns auf Bass- und Gitarrenflächen in die Nacht. Über alldem leuchtet die Aufgabe: Geld sammeln für die Aktionen des Kollektivs Bleiberecht!

* Offene Tür zu den Deutschkursen von 16 bis 17 Uhr
* Grillade mit DJ Suzanne Zahnd ab 17 Uhr
* Konzerte von Son of Corazon, Kobayashi und J&L Defer ab 20 Uhr
* DJs Sista Esta und Microcat bis spät

Bildung für Alle | Autonome Schule Zürich | Bleiberecht Zürich

Flyer als pdf
http://www.bleiberecht.ch/wp-content/uploads/2010/06/BfA_offenetuere_soli_1806201.pdf

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NARRENKRAUT
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Tagesanzeiger 17.6.10

Gemeinderat für Haschischabgabe

 Cannabis legal kaufen und rauchen - der Zürcher Gemeinderat wünscht einen Versuch.

 Von Jürg Rohrer

 Zürich - Ein Postulat der Grünen aus dem Jahr 2006, das erst gestern Abend zur Beratung kam, verlangt einen wissenschaftlich begleiteten Versuch: Cannabis soll kontrolliert zum Verkauf kommen, und wer welches auf sich trägt oder konsumiert, soll von der Polizei nicht verzeigt werden. Gleichzeitig soll die Stadt die Prävention und Aufklärung über Suchtmittel ausbauen. Matthias Probst (Grüne) sagte am Mittwochabend, Cannabis sei eine Volksdroge, und das Cannabisverbot habe versagt. Es sei an der Zeit, das Problem einmal anders anzugehen und Fakten zu liefern mittels wissenschaftlichen Erhebungen. "Wir wollen kein Kiffer-Eldorado in Zürich, sondern Erkenntnisse." Senioren in Altersheimen sollten durchaus auch in den Versuch einbezogen werden. Das solle übrigens auch ein politisches Signal nach Bern sein und dort zur Versachlichung der Debatte beitragen. Der eidgenössische Souverän habe diese Legalisierung klar abgelehnt, entgegnete Mauro Tuena (SVP), es gehe nicht an, dass dann wieder einzelne Kommunen aktiv würden. Der kriminelle Handel werde nicht verschwinden, da sich die Jugendlichen nicht registrieren lassen wollen. Auch verstehen es die Jungen nicht, wenn der Staat das Rauchen verbietet, aber das Haschrauchen erlaubt. Mehrfach betonten die SVP-Vertreter, dass es den Postulanten letztlich nicht um einen Versuch gehe, sondern um die Legalisierung.

 Der Stadtzürcher Souverän habe die Hanfinitiative mit 54 Prozent angenommen, erinnerten die Grünliberalen, die einstimmig für das Postulat waren. Deshalb stehe es der Stadt gut an, eine Vorreiterrolle zu spielen, allerdings erst für Jugendliche ab 18 Jahren. Die SP war ebenfalls für das Postulat, obwohl sie rechtliche und praktische Vorbehalte äusserte. Aber versucht sollte es zumindest werden.

 Die FDP lehnte ab, weil es nicht Aufgabe des Staats sei, Drogen zu verkaufen. Dafür fehle die Rechtsgrundlage. Es gebe ja auch keine staatliche Alkoholabgabe. Auch verstand sie nicht, was das mit Prävention zu haben solle. Der wissenschaftliche Versuch sei ohnehin nur ein Vorwand, und das Postulat im Grunde lächerlich. Die CVP räumte ein, dass die Situation heute nicht gut sei, aber ein solcher medizinisch unqualifizierter Versuch bringe nichts.

 Stadträtin Claudia Nielsen (SP) rief dazu auf, einen kühlen Kopf zu bewahren. Eine Stadt sei mit Cannabis anders konfrontiert als andere Gebiete der Schweiz. Der Stadtrat nehme deshalb das Postulat entgegen. Nach 90-minütiger Debatte überwies der Gemeinderat das Postulat mit 67 zu 49 Stimmen.

 Kommentar Seite 2

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Kommentar

 Erfrischend und unschädlich

Beat Metzler

 Beat Metzler über den Wunsch des Zürcher Gemeinderats, Haschisch zu verkaufen.

 Sich legal einen Joint drehen? Darauf hofft in der Schweiz keiner mehr. Dabei galt das Land noch um die Jahrtausendwende als Kifferparadies Mitteleuropas. Doch vor etwa drei Jahren kippte die Stimmung. Erst sagten die eidgenössischen Räte, dann auch das Volk klar Nein zur Hanf-Initiative. Seither ist die Legalisierungseuphorie völlig verklungen.

 Ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt beschliesst der Stadtzürcher Gemeinde- rat, dass die Stadt Gras und Cannabis an Kiffer verkaufen soll. Schuld an diesem fast anachronistischen Entscheid ist die legendär lange Pendenzenliste des Stadtparlaments. Die jungen Grünen Bastien Girod und Matthias Probst haben das entsprechende Postulat bereits vor vier Jahren eingereicht.

 Die alles verschleppende Diskutierfreude der Gemeinderäte hat für einmal auch etwas Gutes. Gerade durch die Verspätung kommt die Forderung zur rechten Zeit. Denn die Hanf-Frage wartet weiterhin auf eine Lösung. Zwar wurden die Kiffer aus dem öffentlichen Raum gedrängt. Und alle Zürcher Hanf-Shops haben geschlossen. Nur kiffen deswegen nicht weniger Menschen.

 Immer noch wird ein Teil der Bevölkerung für den Genuss einer Droge kriminalisiert, die bei vernünftigem Konsum nicht schädlicher wirkt als Alkohol. Mit dem Verbot schafft der Staat ausserdem einen Schwarzmarkt, in dem viel Geld verdient wird. Geld, das am Steueramt vorbeiströmt. In dieser Situation kann ein frischer Lösungsversuch nicht schaden. Und wo sonst soll dieser starten, wenn nicht in Zürich, das die Schweiz schon von der Heroinabgabe überzeugte?

 Der Gemeinderat will Zürich nicht in ein zweites Amsterdam verwandeln, wo an jeder Ecke rotäugige Touristen aus Coffeshops wanken (die aber jährlich 400 Millionen Euro Steuern in Holland abliefern). Vorgesehen ist ein wissenschaftlich begleitetes Experiment in kleinerem Rahmen, das erste Erfahrungen mit dem legalen Verkauf bringen soll. So könnten offene Fragen geklärt und die ideologisch geführte Diskussion versachlicht werden. Nun darf der Stadtrat seinen Mut beweisen, indem er einen innovativen und besonnenen Vorschlag ausarbeitet.

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NZZ 17.6.10

Stadt Zürich soll Hasch verkaufen

 Gemeinderat regt Pilotprojekt an

 rib. ⋅ Die Forderung kommt etwas verspätet: Nachdem die eidgenössischen Räte 2007 die Legalisierung von Cannabis abgelehnt haben und das Stimmvolk ein Jahr später die Hanf-Initiative an der Urne verworfen hat, soll die Stadt Zürich nun den kontrollierten Verkauf von Cannabis prüfen. Der Gemeinderat jedenfalls hat am Mittwochabend ein Postulat mit dieser Forderung unterstützt. Der 2006 von den Grünen eingereichte Vorstoss sieht ein wissenschaftlich begleitetes Pilotprojekt vor, das einerseits aus dem Verkauf der Droge an Personen besteht, die mindestens 18 Jahre alt sind, anderseits aus einer Präventionsstrategie zur Aufklärung und Beratung von Jugendlichen. Im Gegensatz zur Exekutive der Stadt Bern, die ein ähnliches Begehren vor drei Jahren ablehnte, ist der Zürcher Stadtrat bereit, das Anliegen zu prüfen.

 Cannabis, sagte der Postulant Matthias Probst (gp.), sei heute eine Volksdroge, trotz allen Verboten. Anstatt zuzusehen, wie in weiten Teilen der Bevölkerung gekifft werde, solle Zürich lieber eine Vorreiterrolle spielen. Ein kontrollierter Versuch würde endlich Fakten schaffen über den Konsum und die damit verbundenen Gefahren. Mit einer kontrollierten Abgabe könne der Markt ausgeschaltet und verhindert werden, dass junge Kiffer an harte Drogen kommen. SVP, FDP und CVP widersprachen dem geschlossen. Nachdem sich der Souverän deutlich gegen eine Cannabis-Liberalisierung geäussert habe, sagte Mauro Tuena (svp.), könne sich eine Gemeinde diesem Verdikt nicht widersetzen. Haschisch werde verharmlost. Es sei paradox, wenn der Staat das Rauchen verbiete, aber Hand biete zum Kiffen.

 Severin Pflüger (fdp.) betonte, es gehe nicht um Liberalisierung, sondern um einen Versuch. Dennoch sei es problematisch, wenn der Staat Drogen verkaufe. Beim Hasch sei die Lage nicht so dramatisch wie beim Heroin; dort gehe es darum, Konsumenten aus sozialem Elend zu retten. Mit den Stimmen von Grünen, Grünliberalen und SP unterstützte der Rat den Vorstoss. Der Stadtrat hat nun zwei Jahre Zeit, zu prüfen, ob das Begehren umgesetzt werden kann.

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20 Minuten 17.6.10

Stadt Zürich soll künftig Cannabis legal verkaufen

 ZÜRICH. Der Cannabis-Verkauf in der Stadt Zürich soll laut dem Parlament legal werden. Das wäre schweizweit einzigartig.

 Die Stadt Zürich soll kontrolliert und legal Cannabis verkaufen - dies forderte der damalige Zürcher Gemeinderat und jetzige Nationalrat der Grünen, Bastien Girod, und dessen Parteikollege Matthias Probst 2006. Das Postulat verlangte einen wissenschaftlich begleiteten Pilotversuch. Gestern Abend überwies das Stadtparlament das Postulat nach einer hitzigen Debatte mit 67 Ja- zu 49 Nein-Stimmen. Der Stadtrat hat nun zwei Jahre Zeit, dieses zu prüfen. Einer der beiden Postulanten sprach von "einem politischen Signal Richtung Bern". Die Drogenpolitik in der Schweiz sei blockiert. Die Stadt Zürich solle einen Schritt weitergehen und eine Pionierrolle übernehmen, forderte er. Ein "Kiffer-Eldorado" soll die grösste Stadt der Schweiz aber nicht werden. Unterstützt wurden die Grünen von der SP, der AL und den Grünliberalen. Die SP sprach sich pragmatisch für ein Ja aus. Die Partei sieht aber Probleme bei der Umsetzung: Die Beschaffung des Cannabis wäre wahrscheinlich illegal, der Verkauf jedoch erlaubt. Gegen einen legalen Cannabis-Verkauf waren FDP, SVP, EVP, CVP und SD. "Es ist kein Bedürfnis, dass das Kiffen in diesem Land legal wird", so ein SVP-Politiker. Die FDP fragte, ob es gerechtfertigt sei, dass der Staat Drogen verkaufe. Eine staatliche Alkoholabgabe gebe es ja auch nicht. SDA

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 Gesetzeskonflikt vorprogrammiert

 ZÜRICH. Der legale Verkauf von Cannabis könnte in Konflikt zur Bestrafung von Haschischkonsum geraten. Katharina Rüegg, Sprecherin des Gesundheits- und Umweltdepartments Zürich, gibt sich deshalb noch bedeckt: "Der Stadtrat hat nun zwei Jahre Zeit, die genaue Umsetzung zu prüfen", sagt Rüegg. Dabei komme aber nur ein Pilotversuch mit medizinischer Begleitung in Frage - ansonsten würden die Zürcher das Bundesgesetz übergehen. "Das Gesundheitsdepartement wird dabei mit anderen städtischen Departementen, wie etwa der Polizei intensiv zusammenarbeiten", so Rüegg.

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AUTONOME ZELLEN
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WoZ 17.6.10

Und immer die Sehnsucht nach Freiheit

 Gefängniswelt - Etienne Sauterel war sechzehn, als er verhaftet wurde: Er galt als Mitglied der Autonomen Zellen, die einen Anschlag auf das Haus eines Bundesrates verübt hatten. Es folgten Drogensucht und Jahre im Gefängnis. Sauterel führte dort ein Tagebuch, aus dem die WOZ Auszüge druckt: Sie berichten von einer gescheiterten Flucht aus einem Berner Gefängnis, von einem Selbstmordversuch und vom Kontakt mit einer "höheren Kraft".

 Von Etienne Sauterel* (Text und Fotos), Patrik Maillard (Text) und Ursula Häne (Porträtfoto)

 Fluchtgedanken

 Sommer 2003, Gefängnis Amthaus Bern

 ... und wir folgten den Bauern in ihren blauen Uniformen von den Stallungen, die unsere Zellen waren, auf die graue Weide, die sie Hof nannten. Ein scheussliches Gebilde in der Grösse von zwei Parkplätzen, ähnlich einer Schuhschachtel, die man hinstellt, um gefangene Mäuse einzusammeln. Öffnet man den Deckel, sieht man, wie sich die Tiere darin verzweifelt zu retten versuchen und dabei an den zu glatten und steilen Wänden scheitern. Sinnlose Sprünge, schmerzliches Hinfallen. Ein Tanz der Mäuse, ein sich gegenseitig Überrennen und auf die Füsse treten.

 Die Schachtel war aber nicht braun und aus Pappe, sondern stählern und schwarz gestrichen. Stahlplatte an Stahlplatte formten die glatten Wände, und den Himmel sahen wir wie durch ein Sieb: Stangen, Gitter und Netze zerschnitten den Himmel und brachen das Licht. Die Schachtel war hingestellt worden, nachträglich, auf das Flachdach des Gefängnisses. Und wir, die eingesammelten Menschen, eingepfercht mittendrin. Auch Zuschauer gab es dank der Fischaugen der Überwachungskameras in jeder Ecke der Schuhschachtel. In der Mitte des Raumes ein Ping-Pong-Tisch aus Beton, der - obwohl hin und wieder darauf gespielt wurde - so daneben und fehl am Platz war wie dieser winzige Stahlkomplex überhaupt. Damit überhaupt gespielt werden konnte, mussten sich die anderen kauernd in die Ecken drängen. Und auch dann war es für die Spieler alles andere als einfach, einen vernünftigen Match hinzukriegen. In der Hitze spielerischer Leidenschaft schlug man unvermeidlich immer wieder an den Platten an, holte sich oft Schürfungen und blaue Flecken.

 Wir fühlten uns wie Tiere, Versuchskaninchen, Laborratten oder wie Affen im Zoo. Bei den gelegentlichen Streitigkeiten und Raufereien kam mir das seltsame Verhalten gewisser Vögel in den Sinn, die sich in Gefangenschaft gegenseitig und auch sich selber die Federn ausreissen. Nicht ohne Grund hiess diese Schachtel unter den Gefangenen Vogelkäfig oder auch Depressionshof. Doch war der Hofgang für uns die einzige Möglichkeit, etwas frische Luft zu schnappen, wenigstens für eine Stunde am Tag mit Menschen zu reden. Meine Aggressionen gegenüber dem Knast - und diejenigen meiner Mithäftlinge -, entluden sich nicht selten in wutentbrannten Fusstritten oder sinnlosen Faustschlägen gegen die Wände der Stahlschachtel. War jeweils ein Flugzeug oder ein Helikopter am gesiebten Himmel zu erkennen, so schrieen wir hemmungslos und verstärkten den Lärm mit Schlägen gegen die Platten. Wir alle hegten wohl, tief in uns verborgen, Fluchtabsichten, doch waren sie einer traurigen Ohnmacht gewichen und schlummerten in einem versteckten Winkel. Was wir aber nicht ahnen konnten: die Unzahl von Schlägen gegen die Platten und Nieten, über all die Wochen hinweg, zeigte so langsam seine Wirkung...

 Es war an irgendeinem dieser immer gleichen Tage, als sich durch einen fast schon rituell erfolgten, eher beiläufigen Fusstritt die erste Niete löste und den schlummernden Fluchtgedanken in uns auf einen Schlag weckte. Unsere Gesichter wurden lebendig, das Dunkel in unseren Augen wich schimmernder Hoffnung - auf zum Versuch!

 Wir organisierten ein Tischtennisturnier der hitzigen Sorte, mit fast schon akrobatischen Einlagen. Gezielte Schläge und präzise Fusstritte, begleitet durch lautes Applaudieren und Gejohle, lösten tatsächlich weitere Nieten. Ein kräftiger "Balljunge" machte sich an den Platten zu schaffen, vor den Kameras immer schön abgedeckt durch die anderen Häftlinge. Dann war die Sardinenbüchse endlich aufgeschlitzt, die vernietete Platte hatte sich zur Hälfte gelöst. Stemmte man sie auf, hatte man gerade genug Platz, um durchzuschlüpfen, liess man sie los, verschloss sie sich durch die Spannung automatisch wieder.

 Wir suchten nach Wegen, dieses Gefängnis lebend zu verlassen. Der Architekt war ja nicht so nett gewesen, eine Feuertreppe mit einzubauen, die vom Dach des fünfstöckigen Gebäudes nach unten führen würde. Vier von den zehn Gefangenen aus unserem Trakt waren bereit, den halsbrecherischen Versuch zu wagen - darunter auch ich. Es musste am folgenden Tag geschehen. Jeder von uns riss sein Leintuch in der Mitte durch, knöpfte es aneinander und versah es zusätzlich mit weiteren Griffknoten. Da es Winter war, liessen sich diese Seile ohne weiteres unter der Jacke versteckt in den Hof bringen. Der Plan war realistisch, wir würden es wahrscheinlich nicht alle schaffen, aber vielleicht einer oder zwei von uns. Die Risiken: die Gefahr, sich zu verletzen oder unten schon von Wärtern empfangen zu werden.

 Wir waren jung, hatten in unseren Zellen viel trainiert, und vor allem lag für uns alle eine noch viel zu lange Gefangenschaft vor uns. Wir waren bereit, uns kopfüber ins Ungewisse zu stürzen, dafür lockte die Freiheit.

 In unserer, wie wir hofften, letzten Nacht im Gefängnis wurden unsere Zellen durchsucht und der halbe Trakt wurde in verschiedene Gefängnisse in der ganzen Schweiz verlegt. Vielleicht wurden wir verraten, oder die Wärter hatten auf dem letzten Kontrollgang die beschädigte Stelle doch noch bemerkt. Ich weiss es bis heute nicht. Immerhin musste ich das zerrissene Leintuch nicht berappen.

 Auf den Titelseiten grosser Tageszeitungen wurde mit Foto nach ihm gefahndet: Etienne Sauterel* galt im Jahr 1984 als mutmassliches Mitglied der Winterthurer Autonomen Zellen. Verschiedene Sachbeschädigungen, Brandanschläge und die Detonation eines mit Schiesspulver gefüllten Feuerlöschers vor dem Haus des damaligen Bundesrates Rudolf Friedrich führten im November 1984 zu einer breit angelegten Verhaftungsaktion. Sauterel war erst sechzehn Jahre alt, als er für mehrere Monate in Untersuchungshaft genommen wurde. Sauterel verliess daraufhin die Schweiz für fast drei Jahre. 1987 kam er für den Prozess zurück und wurde zu elf Monaten Jugendstrafe bedingt verurteilt. Der Anschlag auf das Haus von Bundesrat Friedrich wurde nie wirklich aufgeklärt.

 Später zog Sauterel nach Zürich und wurde Teil der Hausbesetzerszene. Nach dem Abflachen der Wohnungsnotbewegung begann Etienne Sauterel, mittlerweile 24-jährig, Heroin und Kokain zu konsumieren und geriet wegen der Drogen bald erneut in Gefangenschaft. Sauterel vergleicht die Drogen mit einem Feuer, an dem man sich bewusst und immer wieder verbrenne, weil sie anfangs wärmen und erst danach zu schmerzen begännen. Es folgte die Endlosschlaufe von Sucht und Entzug, Beschaffungskriminalität und Knast, Massnahmen, Therapien und Rückfällen. Im Sommer 2003 kam Sauterel aufgrund verschiedener Einbruchsdelikte und nicht eingehaltener Bewährungsauflagen einmal mehr in Untersuchungshaft. Verhaftet wurde er in Basel, nach zwei Wochen verlegte man in nach Bern ins Amthaus und sperrte ihn in eine Einzelzelle mit einer Grundfläche von zwei mal vier Metern. Rund um die Uhr. Arbeit wurde ihm genauso verwehrt wie sportliche Aktivitäten, Gemeinschaftsräume gab es keine. Laut seiner Anwältin musste Sauterel damit rechnen, für mindestens vier Jahre im Gefängnis bleiben zu müssen. Die Möglichkeit, dank kooperativen Verhaltens schnell wieder aus der Untersuchungshaft entlassen zu werden, sei deshalb gar nicht in Betracht gekommen. Vor der Verhaftung bezog Sauterel die hohe Dosis von neunzig Milligramm Methadon und konsumierte zusätzlich noch Kokain und Heroin. Der heute 43-Jährige erzählt, er habe die Aussage verweigert und die Basler Justizbehörden hätten das Methadon von einem Tag auf den andern vollständig abgesetzt. Laut Sauterel wäre dies nicht erlaubt gewesen, denn ein solcher Schock für den Körper könne zu epileptischen Anfällen und Kreislaufzusammenbrüchen mit tödlichen Folgen führen. Was folgte, sei ein brutaler, kalter Entzug mit schlaflosen Nächten auf der durchgeschwitzten Matratze gewesen.

 Nach drei bis vier Wochen sei der schlimmste Entzug, den er je durchgemacht habe, einigermassen vorbei gewesen. Später hätten ihm die Anstalts ärzte das Methadon wieder angeboten. Sauterel lehnte ab. Das "Methi" sei ein Druckmittel gewesen, und jetzt, wo es ohne aushaltbar gewesen sei, habe er ihnen dieses Geschenk nicht machen wollen. Nie mehr sollte er einen solchen Entzug nochmals durchmachen müssen.

 Sauterel begann zu trainieren, mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung standen. Rumpfbeugen, Liegestützen; er bastelte Hanteln aus Petflaschen und stemmte das Bett mit den Füssen hoch. Und er begann zu schreiben. Über den Entzug, Depressionen, das Liebäugeln mit dem Tod, aber auch über Solidarität unter den Gefangenen und die Hoffnung auf eine erfolgreiche Flucht. Anfangs sei es mehr ein Gekritzel gewesen, dann aber immer mehr zum Tagesinhalt geworden. Sauterel schrieb vier bis fünf Stunden täglich, und so sammelten sich über die Monate rund 2000 hand- und maschinengeschriebene Seiten an. Wie eine Therapie, eine Reflexion über das bisherige Leben, geschrieben in nüchternem Zustand, sei das gewesen.

 Die Frage Gottes im Plastiksack

 Frühsommer 2003, Gefängnis Waaghof Basel

 In der zweiten Haftwoche hatte ich genug und war meines Leidens überdrüssig. Des Lebens müde. Ich konnte mich selbst, meine Situation, nicht mehr ertragen.

 Mehr als zwölf Jahre Drogensucht, davon insgesamt vier Jahre hinter Gittern, lagen hinter mir. Nach unzähligen Entzügen, freiwilligen und unfreiwilligen, ging es von vorne los: Freiheits- und Drogenentzug. Und das mit der Aussicht, weitere vier Jahre am Stück in Gefangenschaft zu verbringen - und erst noch nüchtern. Selbst wenn ich das irgendwie überleben sollte: Danach würde es mit grösster Wahrscheinlichkeit genauso weiter gehen. Wieder diese Drogen, wieder Täuschung und Enttäuschung, wieder die se Sucht und die daraus resultierende Verfolgung. Weiter mit dieser unheilbar scheinenden Krankheit, die ich selber an mir hasste und die ich doch irgendwie brauchte oder sogar mochte. Ich konnte nicht mehr, mir fehlte schlicht die Kraft.

 Die Zelle war so konstruiert, dass man sich darin nur schwer umbringen konnte. Sich darin aufzuhängen, war praktisch unmöglich. Es gab Wände und Kanten, an die ich meinen Kopf hätte schlagen können. Mit gebrochenem Schädel in Ohnmacht zu fallen, wäre so aber wahrscheinlicher gewesen, als daran zu sterben. Es gab einen Fernseher, mit dessen Scherben ich mich hätte aufschlitzen können. Das Zerstören dieses Apparates hätte jedoch ziemlichen Lärm verursacht, und ich wollte keinesfalls riskieren, dass aufgescheuchte Wärter mich an meinem Vorhaben hätten hindern können.

 In einer Ecke stand ein Eimer mit Kehrichtsack, und so wählte ich die Methode von Walter Stürm auf seiner allerletzten Flucht. Sowohl für mich wie auch für viele andere aus der damaligen Linksautonomen- und Hausbesetzerszene war Stürm ein Vorbild gewesen, ein Symbol für den Widerstand gegen das Gefängnissystem. Als sich Stürm Anfang der neunziger Jahre mit einem Hungerstreik gegen seine Isolationshaft gewehrt hatte, gingen regelmässig mehr als tausend Menschen auf die Strasse, um sich mit ihm zu solidarisieren.

 Es gab gewisse Parallelen zwischen Stürm und mir: Wir waren Einbrecher, und wir kannten das Gefängnisleben. Der Knastalltag: Anstrengend, mit Schmerzen verbunden und immer mit einer grossen Sehnsucht nach Freiheit; mit Schreien, die innerhalb der Zellenwände verhallen. Stets hofft man, dass die Flucht gelingen würde und man danach draussen bliebe. Ein Leben, das einen umwirft und danach immer wieder aufstehen lässt. Bis zum nächsten Umfallen, bis zum endgültigen Liegenbleiben. Ein hartes Leben, an das man lange glaubt, an das man sich lange klammert, um es nicht zu verlieren - bis die Kraft verschwindet. Auch Stürm mochte nicht mehr. Die Einsamkeit einer Zelle hat ihn erstickt. Sein kämpferisches Leben endete in einem zugeschnürten Abfallsack.

 Morde, Selbstmorde und Überdosen: Tote hatten mein Leben stets begleitet. Ich habe mehr als einmal direkt vor meinen Augen Menschen sterben sehen.

 Ich habe vielleicht deshalb auch weniger Angst vor dem Tod als andere. So nahm ich also diesen Plastiksack aus dem Abfalleimer. Ich riss einen Stoffstreifen aus meiner Kleidung, der dünne Plastikstreifen des Sacks schien mir doch schlecht geeignet, um meinen Hals gründlich zuzuschnüren.

 Ich konnte mich nicht ausstehen in diesem Moment, wollte mich vernichten, einfach verschwinden. Wäre ich im Besitz einer Waffe gewesen und hätte mich mit einer Geiselnahme vielleicht aus dem Knast retten können: Ich bin mir nicht sicher, ob ich es gewollt hätte. Ich mochte nicht mehr flüchtig leben, das Desperado-Dasein sollte ein Ende haben. Ich hätte mir mit der Waffe in den Kopf geschossen und mich vorher noch bei der Kugel bedankt. Ich schrieb nicht einmal einen Abschiedsbrief. Mein Leben war Erklärung genug. Diejenigen, die mich besser kannten, würden es verstehen. Selbstzerstörung ist für einen Fixer etwas Alltägliches. Auch wenn er es nicht wahrhaben will. Ich wusste es und wollte einen Punkt setzen. Den Schlusspunkt.

 Ich legte mich rücklings auf die Knastmatratze, stülpte mir den Sack über den Kopf und verschnürte ihn sogleich um den Hals. Er war erstaunlich luftdicht.

 Ich war anfangs ziemlich verkrampft, spürte Platzangst und war orientierungslos. Ich war mir auch nicht sicher, ob es klappen würde. Unter meinem Rücken schob ich deshalb meine Hände ineinander, damit sie sich gegenseitig festhielten.

 Ich entspannte mich bald.

 Das kleine Sauerstoffüberbleibsel war bald aufgebraucht. Es wurde warm und feucht um mein Gesicht. Mein Herz schlug wie eine innere Faust gegen meine Rippen. Mir wurde sturm und seltsam. Meine Hände regten sich nicht, in mir fing es zu rauschen und zu dröhnen an.

 Ich kam der Erstickung näher, verlor die Gegenwart und schwebte. Ich flog dem Tod entgegen - und dem Leben davon.

 Ich weiss nicht, wie lange ich so dalag. Der Plastik klebte an meinem Gesicht, in mir spulten sich tausend Kurzfilme ab, und die Gedanken spielten verrückt. Die Abfolge der Bilder wurde schneller und schneller, bis ich nur noch Blitzlichter sah. Waren die Bilder und Gedanken anfangs gestochen scharf und realistisch, schmolzen sie zusehends in ein unscharfes Grau dahin. Mein ganzes Dasein presste sich in einen grauen Kanal. Ein Unding wie ein Schlauch, verschwommen, ohne eigentliche Wände. Ich schwebte hindurch, weder gezogen noch geschoben. Unberührt. Das Rauschen, das ich wahrnahm, würde sich gleich in diesem seltsamen Schwarz ohne Ende und Anfang auflösen. Es würde verstummen.

 Mir schien es, ich hätte die Pforte des Todes erreicht, als plötzlich eine Frage, eine sehr laute und deutliche Frage, gestellt wurde. Sie rüttelte mich auf, sie erschrak und verwirrte mich, denn es war nicht ich, der mir diese Frage stellte.

 Die einfache Frage lautete: "Bist du wirklich sicher, dass es mich nicht gibt?"

 Die Frage hatte die Wirkung einer Vollbremsung. Es war wie ein Schock, der mich aus dem Schwarz wieder ins graue Schlauch-Unding zurückschleuderte. Mir pochte das Herz, ich riss die Augen auf, spürte ein Kribbeln in den Händen. Ich riss mir reflexartig die unterdessen von Kondenswasser und Schweiss getränkte Plastiktüte vom Gesicht. Die frische Luft schlug wie kaltes Wasser auf mein Gesicht, presste sich in meine Lungen. Ich bäumte mich auf und fing zu husten an. Mir war übel und sturm, ich wollte aufstehen und fiel sogleich auf den Zellenboden. Das Rauschen und Dröhnen hatte aufgehört, mein Atem kehrte bald regelmässig zurück, und ich entspannte mich ein wenig.

 Die Frage hatte bewirkt, dass ich mich ins Leben zurückriss. Die Stimme des Todes konnte es unmöglich gewesen sein. Den Tod gibt es auf sicher. So klar und deutlich, wie die Frage aus dem Nichts auftauchte, hielt ich sie für etwas Übernatürliches. Sie hatte mich im Innersten getroffen, wollte mich am Sterben hindern. Sie war verwirrend, und ich fand keine Antwort darauf. Und doch wusste ich seltsamerweise unverzüglich, wer sie mir gestellt hatte.

 Ich kann seither nicht mehr behaupten, dass ich wüsste, dass es keinen Gott gibt. Zum Kirchgänger oder Anhänger irgendeiner Religion bin ich durch dieses Ereignis aber nicht geworden. An die Existenz einer höheren Macht glaube ich jedoch, auch auf Grund anderer Erlebnisse, bei denen ich hätte ums Leben kommen können. Beispielsweise als auf mich geschossen wurde, als ich aus dem vierten Stock sprang, um zu fliehen, oder als sich das Fluchtauto, in dem ich sass, bei 200 km/h mehrmals überschlug und ich - trotz fehlendem Airbag - quasi unverletzt daraus aussteigen konnte. Dies bestärkte meinen Glauben daran, dass es so etwas wie Schutzengel geben muss. Ich bin seither allgemein ruhiger und nachdenklicher geworden, gehe mit meinem Leben vorsichtiger um als auch schon und sehe es als etwas Wertvolles an.

 Etienne Sauterel lebt seit zwei Jahren wieder in Zürich. Das Leben in Freiheit sei schwieriger, als er sich das vorgestellt hatte. Durch die Drogensucht und insgesamt fünf Jahre Knast habe er viele Freunde verloren, fühle sich oft fremd und einsam. Er sei weiterhin auf der Suche, sagt Sauterel heute, und er hoffe, seine Nische und die richtigen Leute zu finden, um sich ein halbwegs glückliches Leben einrichten zu können. Noch immer erhöhe sich sein Puls, wenn er ein Gefängnis oder auch nur einen Gefangenentransporter sehe. Von den Sozialarbeitern und der Gefangenennachbetreuung fühlt sich Sauterel im Stich gelassen. Er müsse sich selber helfen, von Resozialisierung könne keine Rede sein. Das Drogenproblem habe er mehr und mehr im Griff und das Methadon bereits so weit reduziert, dass er es bald ganz absetzen könne. Zurzeit arbeitet Etienne Sauterel seine durch die Verfahren und Delikte entstandenen Schulden ab und lebt auf dem absoluten Existenzminimum.

 * Name geändert

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SEMPACH
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NLZ 17.6.10

Schlachtjahrzeit Sempach

 Eine neue Feier mit nationaler Ausstrahlung

Von Jérôme Martinu

 Lockere Unterhaltung neben ernsthaften Diskussionen: In Grundzügen ist die Feier ab 2011 jetzt aufgegleist. Die ganze Schweiz soll künftig nach Sempach blicken.

 Zwar wird die offizielle Sempacher Schlachtjahrzeit in diesem Jahr Ende Juni nicht stattfinden. Wegen der zunehmenden Vereinnahmung durch politisch extreme Gruppen hat der Luzerner Regierungsrat entschieden, heuer einen einfachen Gedenkgottesdienst abzuhalten. Dennoch wird derzeit hinter den Kulissen kräftig an der zukünftigen Ausgestaltung der Feier gearbeitet: Bis zum Sommer soll der Regierung das neue Konzept vorgelegt werden.

 Drei Konzepte begutachtet

 Die mit der Neugestaltung der Schlachtfeier beauftragte Kommission unter der Leitung von Staatsschreiber Markus Hodel hat sich seit ihrer ersten Sitzung vom 17. Mai bereits ein zweites Mal getroffen. Mitglieder der neunköpfigen Kommission sind unter anderem auch der Luzerner Polizeikommandant Beat Hensler, Sempachs Stadtpräsident Franz Schwegler und Staatsarchivar Jürg Schmutz. Aktueller Stand: "Wir haben uns die drei Konzeptideen angehört, die wir bei externen Fachleuten in Auftrag gegeben hatten", erklärt der kantonale Informationschef Harry Sivec auf Anfrage (siehe Box). Die Bedingungen, die mit diesem Auftrag verknüpft sind:

 • Die neue Sempacher Feier soll auf die Restschweiz ausstrahlen und Luzern als traditionsreichen, lebendigen und auf die Zukunft ausgerichteten Kanton darstellen.

 • Die Schlachtjahrzeit soll für den ganzen Kanton Luzern attraktiv sein.

 • Das Bewusstsein für die historische Schlacht von 1386 als Beginn des Territorialstaats Luzern und damit für die gemeinsame Herkunft wird mit der neuen Feier gefördert.

 • Die Feier bildet ein offenes Diskussionsforum für die Zukunft des Kantons.

 • Das neue Konzept minimiert das Risiko, durch extreme politische Gruppen instrumentalisiert zu werden. Sicherheitsaspekte werden von Beginn weg in das Konzept integriert.

 Schlachtfeld und Städtli

 Diese Bedingungen machen deutlich: Die künftige Sempacher Schlachtfeier wird eine neue, grössere Ausrichtung bekommen. Harry Sivec sagt: "Es sollen Anlässe für kleine und grosse bis sehr grosse Zielgruppen stattfinden." Die Kommission will in Zukunft alle Bevölkerungskreise des Kantons Luzern ansprechen.

 Betreffend der konkreten inhaltlichen Linien gibt man sich noch bedeckt. Informationschef Sivec lässt durchblicken, dass die Palette breit sein soll: Sowohl locker-unterhaltende Elemente im musikalisch-kulturellen Bereich als auch inhaltlich substanzielle Beiträge, etwa Diskussionsrunden, seien möglich. Sowohl das Schlachtfeld an der Strasse nach Hildisrieden als auch das Gemeindegebiet der Stadt Sempach sollen zur Festzone werden. Bestehende Elemente wie das Städtlifest oder der Hellebardenlauf sollen nicht verschwinden.

 Konkurrenz?

 Ob die neue Schlachtjahrzeit weiterhin am letzten Samstag im Juni stattfinden wird, "ist noch nicht entschieden", so Harry Sivec. Klar ist: Als Grossevent konzipiert würde die Feier in direkte Konkurrenz zum jeweils an diesem Datum stattfindenden Luzerner Fest treten. Sivec: "Diesen Fakt werden wir natürlich berücksichtigen."

 Der Kanton Luzern sieht für die Neukonzipierung der Schlachtfeier ein Budget von 80 000 Franken vor. Die Kommission arbeitet ehrenamtlich, die externen Auftragsarbeiten werden vergütet. Das Budget für den künftigen Festanlass ist noch nicht definiert.

 jerome.martinu@neue-lz.ch

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ANTI-ATOM
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St. Galler Tagblatt 17.6.10

Stadt will bis 2050 aussteigen

 St. Gallen will in den nächsten vierzig Jahren Atomstrom durch anderweitig produzierte Energie ersetzen. Das Parlament hat den Gegenvorschlag zu einer SP-Initiative gutgeheissen.

 2008 hatte die SP-Stadtpartei die Initiative "Stadt ohne Atomstrom" eingereicht. 2009 hatte das Stadtparlament diese mehrheitlich abgelehnt und den Stadtrat - gegen seinen Willen - beauftragt, einen Gegenvorschlag dazu vorzulegen.

 Zieht SP Initiative jetzt zurück?

 "Die Stadt verfolgt das Ziel, unter Wahrung der Versorgungssicherheit den Bezug von Atomenergie schrittweise zu reduzieren und spätestens im Jahr 2050 keine Atomenergie mehr zu beziehen." Diesem Satz und damit dem Gegenvorschlag zur SP-Initiative - diese wollte das Ziel schneller erreichen - stimmte das Parlament am Dienstagabend ohne Gegenstimmen bei einzelnen Enthaltungen zu. Zuvor war ein SVP-Antrag, der das Ziel nur hatte "anstreben" wollen, klar abgelehnt worden. Dem Volk vorgelegt werden sollen Initiative und Gegenvorschlag diesen Herbst. Ob die SP ihre Initiative zuvor noch zurückzieht, ist offen. Darüber werde das Initiativkomitee diskutieren, hiess es gestern Mittwoch.

 Realistisch, aber nicht ambitiös

 Am Dienstagabend zeigten sich alle Fraktionen vom stadträtlichen Gegenvorschlag als "realistische", wenn auch nicht "ambitiöse" Alternative zur Initiative mehrheitlich angetan. Rechts und in der Mitte wurde betont, der Atomausstieg dürfe die Versorgungssicherheit nicht gefährden. Es sei daher richtig, diesen langfristig und schrittweise anzustreben. Links hiess es, mit dem Atomausstieg eröffne sich die Chance eines Innovationsschubs, den es zu packen gelte.

 Innovative Partner suchen

 Für die SP/Juso/PFG-Fraktion sei das ein historischer Tag, freute sich Martin Boesch (SP). Mit dem Ja zum Gegenvorschlag sei ein Etappenziel für den schrittweisen Ausstieg aus der Atomenergie erreicht. Thomas Brunner (Grünliberale) forderte für die Fraktion von Grünen, Grünliberalen und Jungen Grünen auch, dass sich die Stadt fortschrittliche Kooperationspartner zur Entwicklung alternativer Energiequellen suchen müsse. Dafür sei der heutige Stromlieferant, die SN Energie, zu wenig innovativ.

 Eine kleine Kontroverse gab's in der Diskussion um die Frage, wie sicher Atomenergie ist. FDP-Fraktionssprecher Roger Dornier hatte kritisiert, Atomstrom habe zu Unrecht ein schlechtes Image. Es handle sich um eine reife, sich weiter entwickelnde und auch sichere Technologie. Schweizer AKW seien weit weg etwa von den Zuständen, die zum Reaktorunglück in Tschernobyl geführt hätten. Thomas Schwager (Grüne) und Etrit Hasler (SP) widersprachen. Wo Menschen handelten, gebe es Fehler. Nullrisiko hingegen gebe es nicht. Das zeige die Erdölkatastrophe im Golf von Mexiko. Fehler in der Nukleartechnologie seien noch verheerender als das Ereignis. Auch darum sei ein Ausstieg sinnvoll. (vre)