MEDIENSPIEGEL 3.8.10
(Online-Archiv: http://www.reitschule.ch/reitschule/mediengruppe/index.html)

Heute im Medienspiegel:
- Reitschule-Programm
- Zaffaraya: Aufsichtsanzeige von rechtsaussen
- Bleiberecht: Sans-Papiers & Widmer-Schlumpf im Disput
- Drogenkonsum: Liberalisierungsvorschlag wirbelt Staub auf
- Squat ZH: LuxusklinikbesetzerInnen "merkwürdig"
- Big Brother: Überwachungsgelüste; Privatisierung

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REITSCHULE
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Do 05.08.10
19.00 Uhr - Vorplatz - Aktion lebendiger Vorplatz "Ping-Pong-Turnier"

Mi 18.08.10
20.00 Uhr - Dachstock - Portugal. The Man (USA)

Fr 20.08.10
20.30 Uhr - Tojo - Bern Retour - 6 Choreographien von 6 Berner TänzerInnen.

Sa 21.08.10
20.30 Uhr - Tojo - Bern Retour - 6 Choreographien von 6 Berner TänzerInnen.

So 22.08.10
19.00 Uhr - Tojo - Bern Retour - 6 Choreographien von 6 Berner TänzerInnen.

Infos:
http://www.reitschule.ch
http://www.reitschulebietetmehr.ch

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ZAFFARAYA
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bernaktuell.ch 2.8.10

Pressemitteilung vom 2. August 2010

Aufsichtsanzeige gegen illegale Bauten im Neufeld (Zaffaraya-Gelände)

Der Bund der Steuerzahler des Kantons Bern (BDS) und die Vereinigung BernAktiv (BA) haben mit heutigem Datum beim Regierungsstatthalteramt Bern-Mittelland eine Aufsichtsanzeige und einen Antrag auf Wiederherstellung des rechtmässigen Zustandes verlangt. BDS und BA werden nötigenfalls sämtliche weiteren möglichen Rechtsmittel ausschöpfen, da die politische Linke nicht gewillt ist, den illegalen Zustand zu bereinigen und gleiches Recht für Alle anzuwenden. Lieber schikaniert man in der Stadt Bern ganz offensichtlich Steuerzahlende, Hausbesitzer und Gewerbetreibende.

>> Aufsichtsanzeige
http://www.bernaktuell.ch/ausgaben/100802%20aufsichtsanzeige.pdf

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Bern, 2. August 2010

Aufsichtsanzeige gegen illegale Bauten im Neufeld (Zaffaraya-Gelände)

Sehr geehrter Herr Regierungsstatthalter Lerch

Formelles/Rechtliches:

Mit aufsichtsrechtlicher Anzeige können der zuständigen Stelle Tatsachen angezeigt werden, die ein Einschreiten gegen eine Behörde als erforderlich erscheinen lassen (Art. 101 Abs. 1 VRPG). Eine aufsichtsrechtliche Untersuchung ist gemäss Art. 88 des Gemeindegesetzes des Kantons Bern vom 16. März 1998 (BSG 170.11) zu eröffnen, wenn a) der Verdacht besteht, dass die ordnungsgemässe Verwaltung durch rechtswidriges Handeln der Gemeindeorgane oder auf andere Weise ernsthaft gestört oder gefährdet wird und b) die Gemeinde die Angelegenheit nicht gemäss Art. 86 selber ordnet. Im nachstehenden Fall sind diese Voraussetzungen klar erfüllt.

Der Bund der Steuerzahler des Kantons Bern als unabhängige, gemeinnützige und parteipolitisch neutrale Schutzvereinigung der Steuerzahlenden sowie die Vereinigung BernAktiv stellen fest, dass Dutzende von Wohnwagen und weitere Bauten auf einem eingezäunten Gelände bei der Autobahnausfahrt Neufeld installiert wurden. Die Frist von 3 Monaten für Fahrnisbauten ist klar abgelaufen. Fahrnisbauten über 3 Monate sind klar illegal und müssen entfernt werden. Das Bauinspektorat hat auf einen entsprechenden Hinweis, wonach das geltende Baurecht durch- und umzusetzen sei, nicht reagiert und der Gemeinderat der Stadt Bern hat sich mehrfach öffentlich dahingehend geäussert, dass er den rechtswidrigen Zustand tolerieren will.

Sachverhalt:

Die sogenannte Siedlung Zaffaraya befindet sich auf Nationalstrassenterrain, in der Verkehrsfläche, inmitten des rollenden Verkehrs und gefährdet damit die Sicherheit. Die Erschliessung (Abwasser usw.) ist absolut ungenügend und dem Umweltschutz wird folglich in keiner Art und Weise Rechnung getragen.

Nachdem es sich um einen neuen Standort handelt kann klar nicht von einem Besitzstand ausgegangen werden. Das Bauvorhaben wurde ohne Baubewilligung ausgeführt, es liegt keine rechtskräftige Umzonung vor, es wurde keine Baubewilligung erteilt und hätte angesichts der Zone auch nicht erteilt werden dürfen.

Die Wiederherstellung des rechtmässigen Zustandes ist daher zwingend erforderlich. Nach bundesgerichtlicher Rechtssprechung ist die Einhaltung des geltenden Rechts vorrangig. Es gilt zudem, die präjudizielle Wirkung von nachträglichen Bewilligungsentscheiden, das Prinzip der Rechtsgleichheit und den Grundsatz der Trennung von Bau- und Nichtbaugebiet zu berücksichtigen. Es besteht - nicht zuletzt aufgrund einer klaren Ablehnung einer Hüttendorfzone durch das Volk - keinerlei öffentliches Interesse an einer zonenwidrigen Nutzung.

Antrag:

Der Bund der Steuerzahler des Kantons Bern und die Vereinigung BernAktiv leiten daher eine Aufsichtsanzeige ein, erwarten eine Wiederherstellungsverfügung und eine Durchsetzung des geltenden Baurechtes sowie in der Folge eine Entfernung der sich auf dem eingezäunten Gelände bei der Autobahnausfahrt Neufeld befindlichen Bauten und Anlagen.

In diesem Sinne danken wir ihnen für Ihr diesbezügliches Engagement.

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BLEIBERECHT
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Basler Zeitung 3.8.10

Sans-Papiers bei Widmer-Schlumpf

 Gespräch nach 1.-August-Feier

 Aktivisten

Eine Delegation von fünf der 150 in Eiken versammelten Sans-Papiers konnte in den späten Abendstunden des 1. August mit Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf sprechen und Antworten auf lange gestellte Fragen einfordern. Wie Tom Cassee vom Bleiberecht-Kollektiv sagte, sei im einstündigen Gespräch auch die Forderung nach kollektiver Regularisierung der Sans-Papiers zur Sprache gekommen. "Papierlose, die seit Jahren in der Schweiz sind, sollten die Aufenthaltsbewilligung bekommen", sagte Cassee.

 Widmer-Schlumpf hingegen antwortete, die Schweiz habe für die berechtigten Fälle eine Härtefallregelung und wende diese auch an. Man sei jedoch nicht bereit, einfach alle, die hier bleiben wollten, auch aufzunehmen. Sie nehme für die Eidgenossenschaft in Anspruch, dass sie fair und humanitär auch mit schwierigen Fällen umgehe.  ffl  > Seite 20

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Spätabends gabs Antworten

 Eiken. Eveline Widmer-Schlumpf nahm sich Zeit für die Papierlosen

 Franziska Laur

 Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf sprach in Eiken nach der 1.-August-Feier mit rund 150 Papierlosen über deren rechtliche Situation. Diese waren auf dem Festplatz erschienen und skandierten Parolen.

 "Herausgekommen ist faktisch nicht viel, doch immerhin haben wir erreicht, dass Frau Widmer-Schlumpf einmal jemandem in die Augen schaut, der so leben muss wie die Sans-Papiers", sagt Tom Cassee vom Bleiberecht-Kollektiv Schweiz. Die Bundesrätin hatte sich das Fest wohl etwas beschaulicher vorgestellt, als sie gemeinsam mit ihrem Mann auf dem Festplatz in Eiken erschienen war, um die 1.-August-Ansprache zu halten. Sie erlebte aber stürmische Stunden, weil sich eine Delegation von Sans-Papiers aus allen Teilen der Schweiz auf den Weg zum Festplatz gemacht hatte, um zu demonstrieren (BaZ von gestern).

 Argus, die Sondereinheit der Aargauer Polizei, stoppte die 150 Papierlosen zwar am Bahnhof Eiken und kesselte sie ein. Nach Rücksprache mit Widmer-Schlumpf nahm man ihnen die Megafone und das Versprechen ab, die Feier auf dem Festplatz nicht zu stören. Dann werde die Bundesrätin mit ihnen sprechen.

 Dieses Versprechen hielt sie zu später Stunde dann auch - allerdings unter Ausschluss der Presse und der Öffentlichkeit. Fast eine Stunde lang hörte sie sich die Sorgen und Nöte der Sans-Papiers an. Das Gespräch sei ruhig und sachlich verlaufen, sagt Cassee. Ziel sei gewesen, die Bundesrätin nochmals auf die Situation von Papierlosen und abgewiesenen Asylsuchenden in der Schweiz aufmerksam zu machen. Man habe die Bundesrätin direkt mit der Forderung nach einer kollektiven Regularisierung und dem Recht auf Arbeit für alle konfrontiert. Doch dies habe sie entschieden abgelehnt.

 Die Stimmung unter den Papierlosen sei nach dem Gespräch ambivalent gewesen. Einerseits sei es gut gewesen, "die Forderungen an höchster Stelle deponieren zu können", sagt Cassee. "Wir bezweifeln aber, dass die Bundesrätin ihre unmenschliche Haltung gegenüber den weit über 100 000 Sans-Papiers ändert."

 Die 150 Aktivisten hatten Ende Juni in Bern bereits die kleine Schanze besetzt. Damals habe man Widmer-Schlumpf einen Brief mit Forderungen gesandt und spontan beschlossen, in Eiken Antworten einzufordern. Enttäuscht sei man allerdings gewesen, keine eigene Rede halten zu dürfen. "Am Tag, an dem die Freiheit und Demokratie in der Schweiz gefeiert werden, sollten doch auch Sans-Papiers ihre Stimme erheben dürfen."

 Gut reagiert.

Immerhin haben die Eiker Behörden, die Bundesrätin wie auch die Polizei durchaus kulant auf die Einlage der Aktivisten reagiert. Die Sondereinheit Argus markierte zwar ständig Präsenz, die Polizisten blieben jedoch gelassen, als die Demonstranten zeitweise Parolen skandierten oder kleine Rempeleien aufflammten. Und Gemeindeschreiber Marcel Weiss organisierte souverän inmitten des Chaos einen Interviewtermin mit der Bundesrätin für die Presse, bevor er den ranghohen Gast zum Gespräch mit den Sans-Papiers ins nahe gelegene Schulhaus lotste.

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Aargauer Zeitung 3.8.10

Sans-Papiers: Störend ja, vernichtend nein

 Kundgebung hat der Eiker 1.-August-Feier mit Bundesrätin nicht geschadet, ist der Gemeindeammann überzeugt

 Susanne Hörth

 Der Besuch von Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf hat in Eiken am Sonntagabend nicht nur ein grosses Dorfpublikum an die 1.-August-Feier gelockt. Um auf ihre für sie unbefriedigende Situation aufmerksam zu machen, fanden sich ebenfalls an die 120 Sans-Papiers mit Transparenten auf dem Platz ein (siehe auch AZ von 2. August). Er sei vom Büro der Bundesrätin am Donnerstag darauf vorbereitet worden, dass es möglicherweise zu einem solchen Aufmarsch kommen könnte, beantwortet Gemeindeammann Georges Collin eine entsprechende Frage. Die Sicherheitsleute aus Bern waren im Internet auf entsprechende Informationen gestossen. Im Organisationskomitee für die Eiker Bundesfeier sei dieser mögliche Auftritt nicht besprochen worden, erklärt Collin. Von der Kantonspolizei sei er im Vorfeld laufend über den Stand der Dinge informiert geworden, so der Eiker Gemeindeammann. Das grosse Polizeiaufgebot an der insgesamt friedlich verlaufenden Kundgebung hat mit dazu geführt, dass für die Sicherheit aller gesorgt war.

 "Da ich vorinformiert war, hat mich der Aufmarsch der Sans-Papiers nicht so sehr überrascht", erklärt Collin am Morgen danach dieser Zeitung. Natürlich sei es störend, aber keinesfalls vernichtend für das Fest gewesen. Im Gegenteil, von den Festteilnehmern aus dem Dorf habe er viele positive Rückmeldungen erhalten. Eine schöne Feier mit einer guten Stimmung sei es gewesen, so das Feedback der Besucher.

 Die passende Plattform?

 Darauf angesprochen, ob ein Fest wie jenes in Eiken die richtige Plattform für politische, an die Landes- regierung gerichtete Forderungen sei, meint Collin: "Rein von der demokratischen Sicht her kann niemanden der Auftritt an öffentlichen Festen verwehrt werden." Er ist persönlich aber der Meinung, dass sich die Gruppierung mit ihrem Aufmarsch in Eiken mehr geschadet als genutzt hat.

 Ein grosses Lob spricht der Eiker Gemeindeammann Bundesrätin Widmer-Schlumpf aus. Sie habe mit ruhigen Worten die Sans-Papiers gebeten, das Eiker Fest nicht zu stören, Respekt gegenüber den Organisatoren und den Festbesuchern zu zeigen. Im Namen der Jubiläumsjahrorganisatoren "OK11" und dem Gemeinderat dankt Georges Collin der Bevölkerung: "Wir durften zusammen an einer in jeder Beziehung einmaligen Feier teilnehmen. Der Besuch von Frau Bundesrätin Widmer-Schlumpf hat einen grossen Eindruck hinterlassen. Danken möchten wir auch, dass sich die Festbesucher von der Gruppierung Sans-Papiers nicht haben aus der Ruhe bringen lassen." Ein grosses Dankeschön gelte aber vor allem auch den Sicherheitsdiensten und der Kantonspolizei: "Wir hatten die Gewissheit, dass die Sicherheit zu jeder Zeit gewährleistet war."

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Indymedia 2.8.10

Sans papiers am 1. August in Eiken

AutorIn : Karakök Autonome: http://www.karakok.org     

Gedanken zum Thema sowie ein Erlebnisbericht von der gestrigen Aktion in Eiken anlässlich der 1. August-Rede von Eveline Widmer-Schlumpf.     

Am gestrigen 1. August sind die Bleiberecht-Kollektive nach Eiken gereist, um Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf mit der politischen Situation der geschätzten 200‘000 Sans papiers in der Schweiz zu konfrontieren. Wir (Karakök Autonome) haben die Aktion aktiv unterstützt und möchten nachfolgend darüber berichten, zuvor aber einige wichtige Gedanken und Hintergründe ansprechen:

Bereits auf der Kleinen Schanze in Bern (Besetzung vom 26. Juni bis 2. Juli, siehe auch  http://karakok.wordpress.com/2010/06/29/kleine-schanze-in-bern-weiterhin-besetzt/ und  http://karakok.wordpress.com/2010/07/01/kraftvolle-demo-widmer-schlumpf-druckt-sich-vor-der-verantwortung-gegenuber-den-sans-papiers/) hatte man mehrmals das Gespräch mit Widmer-Schlumpf gesucht, welches sie jeweils ausgeschlagen hatte. Selbst als die Sans papiers bis vor das Bundeshaus marschierten und einen Brief an Widmer-Schlumpf vorlasen, war diese nicht dazu bereit, sich die Anliegen der AktivistInnen anzuhören. Auf den Brief mit konkreten Forderungen hat sie bis heute nicht geantwortet.

Tatsache ist: Hunderttausende von Menschen leben unter prekären Bedingungen hier in der Schweiz. Sie sind gezwungen zur Schwarzarbeit, ohne jegliche sozialen Rechte und zu Hungerlöhnen, sie haben keinerlei medizinische Versorgung, ihre Kinder können nicht zur Schule, sie sind gezwungen, sich ständig zu verstecken, aus Angst, in eine polizeiliche Kontrolle zu geraten. Sie dürfen nicht auffallen, sind offiziell nicht existent, sitzen nicht im Knast und leben trotzdem hinter Gittern. Die hiesige Wirtschaft nutzt ihre Situation schamlos aus, indem sie sie zu Löhnen und Bedingungen arbeiten lässt, die kein anderer Mensch akzeptieren würde. Im Gegenzug dazu erhalten Sans papiers nichts, im Gegenteil: trotz fehlender Papiere müssen sie AHV-Beiträge bezahlen - sind aber nicht berechtigt, die einbezahlten Beiträge später in Form einer Rente zu beziehen. Dass sie keine Papiere besitzen, ist der einzige kümmerliche Grund, weshalb sie vom Staat als Kriminelle erachtet und entsprechend behandelt werden. Diese Position ist erschreckend ignorant angesichts der Tatsache, dass sowohl politisch als auch ökonomisch motivierte Migration in erster Linie dadurch bedingt wird, dass hochkapitalistische Länder anderen Ländern die Existenzgrundlagen nehmen.

Das Ackerland etlicher Länder in Afrika, Südamerika oder Asien wird von westlichen Konzernen in Anspruch genommen (ganz zu schweigen von den elenden Arbeitsbedingungen der für diese Konzerne arbeitenden Menschen, von Hungerlöhnen, Kinderarbeit, gesundheitsschädigendem Arbeitsmaterial und Übergriffen) und die daraus gewonnenen Produkte exportiert. Die Bevölkerung ist nicht berechtigt, das Land, in dem es lebt, dazu zu nutzen, Nahrung für sich selbst anzubauen. Ein Beispiel ist die Kaffeeproduktion in mehreren Ländern, welche für den europäischen und US-amerikanischen Markt hergestellt wird und das Ackerland zerstört sowie jegliche anderweitige Nutzung verunmöglicht.

Rohstoffe weniger industrialisierter Länder* sind von Grosskonzernen unter wesentlicher Beteiligung der Regierungen industrialisierter Länder aufgekauft. Selbst die einzigen Wasserquellen etlicher bevölkerter Gebiete sind privatisiert (Nestlé) und werden in kapitalistisch führende Länder transportiert.

Politische Konflikte werden nicht nur von Regierungen industrialisierter Länder gefördert, sondern oftmals erst provoziert und damit ein immenser Markt angekurbelt: der Waffenexport. Die Schweizer Regierung ist mitten dabei und scheut nicht davor zurück, exportierte Waffen als "humanitäre Hilfe" zu deklarieren.

Dies sind nur einige wenige Beispiele, welche die erschreckende Ungerechtigkeit, die unglaubliche Ignoranz und die masslose Ausbeutung von Millionen von Menschen repräsentieren.

Migration findet immer unter diesem Hintergrund statt. Dies zu thematisieren, hat nichts mit "Gutmenschen" zu tun, sondern schlicht und einfach mit Gerechtigkeit. Es kann und darf nicht angehen, dass Regierungen industrialisierter Länder Millionen von Menschen ihre Existenzgrundlage nehmen und diese so zur Migration zwingen - anschliessend jedoch MigrantInnen zu Sündenböcken deklariert werden und Rassismus geschürt wird. Dies ist nichts anderes als eine bodenlose, scheinheilige Heuchelei. Die Zirkulation von Menschen wird verteufelt, während der Kapitalismus erst auf der Zirkulation von Kapital, Gütern und Besitztümern aufgebaut ist.

Als AnarchistInnen sehen wir daher das ursächliche Problem nicht damit gelöst, dass Sans papiers regularisiert werden, wenn dies auch ein unbedingt notwendiger Schritt ist, um den prekären Lebensbedingungen etlicher Menschen Einhalt zu gebieten. Es ist unabdingbar, diesen Menschen jetzt (!) sofort (!) ein Leben in Würde zu gewähren, denn dies ist ihr unantastbares Menschenrecht. Allerdings ist es wichtig, tiefer zu blicken und dort anzufangen, wo die Ausbeutung beginnt, die ungleiche Güterverteilung, der Anspruch auf Privateigentum anstatt kollektiv genutzter Lebensräume. Dort, wo Grenzen zwischen Lebensräumen gezogen werden und künstliche Einheiten wie Staaten kreiert werden. Erst wenn wir diese überwinden, kann ein kollektiv organisiertes, gerechtes Leben für alle entstehen.

Nichtsdestotrotz sind die Lebensbedingungen, welche Hunderttausende von Sans papiers tagtäglich erleiden müssen, unter keinen Umständen akzeptierbar. Daher sind wir gestern mit den Bleiberecht-Kollektiven nach Eiken (AG) gereist, wo Eveline Widmer-Schlumpf eingeladen war, eine 1. August -Rede zu halten. Das Ziel der Sans papiers-AktivistInnen war es nicht, das Fest der dort lebenden Menschen zu stören, sondern die Bundesrätin mit der Realität zu konfrontieren und sie an ihre ausstehende Antwort zu erinnern. Die 1. August-Feier ist ein öffentlicher Anlass, an dem jede und jeder teilnehmen kann und darf. Dieses Recht steht uns ebenso zu, wie der Bevölkerung von Eiken. Ohne die Rede von Widmer-Schlumpf zu verhindern, wollten wir unserer eigenen Position Ausdruck verleihen und selber eine Rede halten. Das Recht, seine Meinung zu äussern, steht uns ebenso zu, wie jedem in Eiken wohnhaften Menschen oder irgendeinem anderen Menschen. Nicht zu vergessen, dass das Motto des diesjährigen 1. August-Festes "Eiken für alle" lautete. Dies nahmen wir wörtlich.

Unsere Motivation sowie unser Vorhaben wurden offen kommuniziert. Dennoch war das Polizeiaufgebot von Anfang an immens. Der Zug, in dem wir uns befanden, wurde gar von einer Polizeieskorte begleitet. Am Bahnhof Eiken ausgestiegen, wurden wir just von der Polizei eingekesselt und am Weitergehen gehindert. Anschliessend unterbreitete uns die Polizei diverse groteske Vorschläge des weiteren Vorgehens. So wollte die Polizei z.B. sämtliche Ausweise aller Anwesenden einsehen und deren Fotokopien anfertigen - und das wohlwissend, dass die AktivistInnen doch gerade eben aus dem Grund anwesend waren, gar keinen Ausweis zu besitzen. Der Vorschlag wurde daher vehement und einstimmig abgelehnt. Nach mehreren Diskussionen konnten wir schliesslich durchsetzen, am Fest teilzunehmen, ohne unsere Identitäten darlegen zu müssen. Ausserdem wurde eine Delegation von fünf AktivistInnen bestimmt, welche die Gelegenheit erhalten sollte, nach der Festrede mit Eveline Widmer-Schlumpf zu sprechen. Im Gegenzug akzeptierten wir, keine Megaphone ans Fest mitzunehmen und das Fest nicht zu vereiteln (was ohnehin nie unsere Absicht gewesen war).

So zog eine Gruppe von 150 Personen singend und mit Transparenten ausgerüstet ("Bleiberecht für alle") zum Festgelände. Ohne das Festprogramm zu verhindern, nutzten wir die Möglichkeit, Präsenz zu markieren und einen Sitzstreik durchzuführen.

Die Rede von Widmer-Schlumpf war ziemlich belanglos - sie begnügte sich damit, den Schweizer Staat zu preisen, was angesichts des Rahmens der Rede (Nationalfeiertag) zwar sicher nicht verwunderlich ist, allerdings hätte sie auf die Sans papiers-Thematik durchaus eingehen können und hätte somit Kommunikationsbereitschaft zur Auseinandersetzung mit einem hochaktuellen Thema bewiesen. Erstaunt hat uns dies allerdings nicht, es war nichts anderes zu erwarten gemäss ihrer politischen Ausrichtung. Stattdessen richtete sie gleich zu Beginn der Rede eine Drohung an die anwesenden Sans papiers und warnte sie davor, die Rede zu stören. Weder sie, noch der Festveranstalter nannten das Bleiberichts-Kollektiv beim Namen, sondern blieben bei "diese Gruppierung, die anwesend ist". Dafür war die Eikener Bevölkerung umso neugieriger, wer denn hinter dieser schrecklichen "Gruppierung" stecken möge, so dass wir reichlich Flyer verteilen konnten. Die interessanten Kontakte mit der Eikener Bevölkerung genossen wir sehr.

Das Polizeiaufgebot war auch während des Festes gewaltig. Unmengen von KantonspolizistInnen, Sicherheitsleuten und Zivis waren omnipräsent und schienen sichtlich angespannt. Unsere Ausweise zu zeigen, hatten wir zwar nicht akzeptiert, allerdings umging die Polizei diese Abmachung, indem sie alle Anwesenden ausgiebig filmte und fotografierte.

Nach der Festrede von Widmer-Schlumpf fand ein Gespräch mit der fünfköpfigen Bleiberecht-Delegation statt. Über deren Inhalte werden wir in Bälde an dieser Stelle informieren.

Bleiberecht überall und für alle! Reissen wir alle Grenzen und Mauern ein!

Lebensräume und Lebensgrundlagen gehören allen und dürfen kein Privateigentum darstellen, weder von Staatsgewalten, noch von Einzelpersonen oder Konzernen!

Karakök Autonome tr/ch

*Wir vermeiden bewusst die Bezeichnungen "arm" oder "Entwicklungsland", da Armut und Entwicklung subjektive und diskriminierende Begriffe sind. Das kapitalistische Selbstverständnis geht davon aus, dass "arm" ist, wer weniger besitzt, als es der kapitalistische Markt vorschreibt. Unter dieser Auffassung kann selbst jemand als arm gelten, der nicht besitzt, was wir gar nicht zum Leben benötigen (Handy, Internet, etc.). Angesichts der herausragend hohen Suizidrate in der Schweiz könnte man aber durchaus damit argumentieren, die Menschen in der Schweiz seien psychisch oder sozial verarmt. Ebenso könnte man argumentieren, dass Entwicklung nicht bedeutet, sich mittels Technologie möglichst von unserem Lebensraum, der Natur, abzugrenzen, sondern sich in und mit ihr zu entwickeln. Auch suggeriert das Wort "Entwicklungsländer", dass das kapitalistische System erstrebenswert und vollkommen sei und alle anderen Länder erst auf dem Weg dahin seien, dieses Ziel zu erreichen - Ein Ziel, bestehend aus Ausbeutung, Umweltzerstörung, Erschöpfung sämtlicher Ressourcen, vorgeschriebenem Alltag, Gier, ungerechter Güterverteilung, menschlicher Isolation und Doppelmoral. Diese Beispiele nur als Veranschaulichung der Vereinnahmung dieser Begriffe vom herrschenden politischen System.

(Origininalartikel:  http://karakok.wordpress.com/2010/08/02/sans-papiers-am-1-august-in-eiken-%e2%80%93-gedanken-zum-thema-sowie-ein-erlebnisbericht/)
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DROGEN
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BZ 3.8.10

Drogenpolitik

 Die Rechte ist empört

 Ein neuer Vorschlag von Experten, den Drogenkonsum zu legalisieren, stösst bei der SVP auf erbitterten Widerstand.

 In einem gemeinsamen Papier sprechen sich drei Expertenkommissionen des Bundes gemeinsam für eine Legalisierung des Drogenkonsums aus. Das sorgt für geharnischte Reaktionen seitens der SVP und des Schweizerischen Polizeibeamtenverbandes. Statt die Verordnung zum revidierten Betäubungsmittelgesetz vorzulegen, lasse das zuständige Bundesamt für Gesundheit durch seine Experten wieder für eine Drogen-legalisierung weibeln, kritisiert Andrea Geissbühler, Co-Präsidentin des Verbandes Drogenabstinenz Schweiz. Für die Berner SVP-Nationalrätin und Polizistin steht der Leitfaden der Experten im krassen Widerspruch zum Volkswillen und zum revidierten Betäubungsmittelgesetz. "Der Staat wird so zum Drogenhändler", kritisiert sie. Auch der Polizeibeamtenverband bezeichnete den Vorschlag gestern als "völligen Unsinn". Offen für die Vorschläge zeigt sich bezüglich Cannabis Nationalrätin Christa Markwalder (FDP): "Substanzen wie Heroin sollten hingegen nicht einfach zugänglich sein."
 gh

 Seite 3

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Drogenpolitik

 Bund sorgt für rauchende Köpfe

 Das Schweizervolk entschied sich 2008 für ein restriktiveres Betäubungsmittelgesetz. Trotzdem lässt das Bundesamt für Gesundheit Experten über eine liberale Drogenpolitik nachdenken. Dies ärgert SVP-Politiker.

 Ein Gruppe von Fachleuten im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) rüttelt am heutigen Verbot von harten Drogen (siehe Text unten). Doch während der Bund über die Legalisierung von Drogen wie Heroin, Kokain oder Hanf diskutiert, sollte er eigentlich eine restriktivere Verordnung zum revidierten Betäubungsmittelgesetz (BetmG) erarbeiten. Denn die Schweizer Bevölkerung hat 2008 das revidierte BetmG angenommen. Demnach soll das Ziel der Drogenpolitik die Förderung von Abstinenz sein. Die 4-Säulen-Strategie (Prävention, Therapie, Überlebenshilfe und Repression) wird im Dauerrecht verankert, ebenso die Verschreibung von Heroin an Schwerstsüchtige.

 "Das ist völlig absurd"

 "Der Bundesrat setzt die Verordnungen voraussichtlich in der ersten Hälfte 2011 in Kraft", versucht Mona Neidhart, Mediensprecherin des BAG, zu beschwichtigen.

 Die verwirrende Drogenpolitik des Bundes stösst zahlreichen Politikern sauer auf. Die Co-Präsidentin des Verbandes Drogenabstinenz Schweiz, Andrea Geissbühler, ist erzürnt. Für die Berner SVP-Nationalrätin und Polizistin steht der Leitfaden der Experten im krassen Widerspruch zum Volkswillen und zum revidierten Betäubungsmittelgesetz. "Der Staat wird so zum Drogenhändler". Es sei völlig absurd, denn 2008 wurde nicht nur das BetmG revidiert, sondern auch die Cannabis-Initiative vom Volk deutlich abgelehnt. Mit der von der Expertengruppe angefachten Diskussion wolle man hinter dem Rücken von Schweizer Bürgern harte Drogen legalisieren, enerviert sich Geissbühler. Die Nationalrätin ist insbesondere um die Jugend besorgt, denn Drogenhändler würden bei einer Legalisierung nicht einfach verschwinden. "Sie werden Jugendlichen vermehrt Drogen andrehen", sagt Geissbühler. Auch Roland Borer, Nationalrat (SVP, SO) und Mitglied der Gesundheitskommission (SGK), ist verärgert. Auf Anfrage gibt er sich pointiert: "Ich denke, die sogenannten Experten wollen, dass ihnen die Süchtigen nicht ausgehen." Eine Legalisierung würde die Jugendlichen gefährden, es gäbe mehr Sozialfälle, und daher werde er mit allen Mitteln gegen eine liberale Drogenpolitik kämpfen. Kein Verständnis hat Borer, dass das BAG im Gegenzug bei der Verordnung zum BetmG derart "schlampt". Noch weiter geht sein Parteikollege, Nationalrat Toni Bortoluzzi (ZH). Er schlägt vor, dass die Verantwortlichen im BAG entlassen werden.

 Kein neues Thema

 Weniger besorgt ist dagegen FDP-Ständerätin Christine Egerszegi (AG): "Die Bevölkerung hat bei Themen über Drogen immer den Mittelweg gewählt." Damit seien die vier Säulen Prävention, Therapie, Überlebenshilfe und Repression gemeint. "Ich gehe nicht davon aus, dass Schweizer Bürger diesen Weg verlassen werden", sagt sie. Dies sieht Ruth Humbel ähnlich. Die Aargauer CVP-Nationalrätin betont: "Die Diskussion über die Legalisierung von Drogen ist nicht neu." Es gebe seit Jahren in der Politik ein Spannungsfeld in diesem Thema. Humbel ist der Meinung, dass die Experten isoliert dastehen würden. "Im Ausland sind die meisten Experten anderer Meinung." Zudem würde eine Legalisierung nicht bedeuten, dass Produkte weniger konsumiert werden. Humbel erklärt: "Das sieht man beispielsweise beim exzessiven Alkoholkonsum von Jugendlichen."

 Eine liberale Meinung hat Christa Markwalder. Die FDP-Nationalrätin sagt, Hanf könne so aus der Illegalität geholt und Schwarzmärkte könnten eliminiert werden. Bei harten Drogen ist Markwalder jedoch vorsichtiger. "Substanzen wie Heroin sollten nicht einfach zugänglich sein."

 Guy Huracek

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 Experten wollen alle Drogen liberalisieren

 Drei vom Bund beauftragte Expertenkommissionen schlagen die Entkriminalisierung sämtlicher Drogen vor.

 Die vorgeschlagene Massnahme ist Teil des neuen Grundlagenpapiers "Herausforderung Sucht", welches zurzeit vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) geprüft wird. "Drogenkonsum soll nicht mehr mit dem Strafrecht verfolgt werden", fordert François van der Linde, Präsident der Eidg. Kommission für Drogenfragen (EKDF). Heroinabhängige sollen demnach genauso wenig für ihre Sucht bestraft werden wie Alkoholiker oder Tablettensüchtige, bestätigte der Mediziner gestern einen Bericht der Zeitungen "Tages-Anzeiger" und "Bund".

 Die Forderung ist bekannt - seit 1989 plädiert die EKDF dafür -, neu hingegen ist, dass sich alle drei Eidg. Suchtkommissionen in einem Grundlagenpapier für die Entkriminalisierung starkmachen. Die EKDF hat mit den Eidg. Kommissionen für Alkoholfragen und Tabakprävention das Leitbild "Herausforderung Sucht" erarbeitet. Auftraggeberin ist das BAG.

 "Nachdenken"

 "Der Bericht ist ein grundsätzliches Nachdenken über Drogen und Süchte", sagt Mitautor van der Linde. Die Gesellschaft müsse wegkommen vom Gedanken, dass es böse und gute Süchte gebe. Denn die vermeintlich harmlosen Drogen wie Alkohol richteten insgesamt einen viel grösseren Schaden an als etwa Heroin. Die grosse Herausforderung liege heute im problembehafteten Konsum von legal erhältlichen Substanzen, schreiben die Experten im neuen Leitbild. Dazu zählen sie Koffein, Alkohol, Nikotin oder Medikamente wie Schlaf-, Beruhigungs- und Schmerzmittel. Nicht zuletzt nähmen viele Menschen solche Mittel, um in Stresssituationen zu bestehen. Um die vielfältigen Suchtprobleme besser in den Griff zu bekommen, schlagen die Autoren des Leitbildes zehn Leitsätze vor. Dazu gehören auch neue Ideen zur Prävention. Weiter sollen die Hersteller und Verkäufer von Produkten mit Suchtpotenzial in die Pflicht genommen werden.

 Konkrete Massnahmen liegen noch keine vor, wie François van der Linde erklärte. Das BAG habe eine Anhörung zum Leitbild eingeleitet; gefragt sei auch die Meinung der Politik- und Wirtschaftsvertreter. Die Fachwelt habe bereits sehr positiv auf die Vorschläge reagiert. Eine Überarbeitung der Schweizer Suchtpolitik ist gemäss den Experten nötig: Bei den legal erhältlichen Drogen habe die Schweiz einen "suchtpolitischen Nachholbedarf", schreiben sie.

 "Völliger Unsinn"

 Falls sich die Ideen des neuen Leitbildes durchsetzten, sei die Schweiz wieder vorne mit dabei, zeigte sich van der Linde überzeugt: "Die Zusammenarbeit aller Suchtkommissionen ist europaweite Pionierarbeit."

 Noch keinen Kommentar zu den Vorschlägen wollte das BAG abgeben: "Wir haben den Bericht entgegengenommen", bestätigte BAG-Sprecherin Mona Neidhart auf Anfrage. Als erstes werde das Papier nun intern ausgewertet.

 Der Verband Schweizerischer Polizei-Beamter (VSPB) hält nichts von der Entkriminalisierung aller Drogen. Der Vorschlag sei "völliger Unsinn", betonte gestern VSPB-Präsident Heinz Buttauer
 sda

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Südostschweiz 3.8.10

Diskussion über straffreien Drogenkonsum neu entfacht

 Ein im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit erarbeiteter Bericht, der die Straffreiheit für jeglichen Drogenkonsum vorschlägt, sorgt für gehörig Wirbel. Die Reaktionen reichen von verhaltener Ablehnung bis zu heller Empörung.

 Von Simon Fischer

 Bern. - "Herausforderung Sucht" heisst ein neues Grundlagenpapier, das im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit (BAG) von einer Expertengruppe ausgearbeitet worden ist. Dies haben der Zürcher "Tages-Anzeiger" und der Berner "Bund" gestern publik gemacht. In dem Papier werden zehn Leitsätze formuliert, die einen Beitrag leisten sollen "zu ei- ner kohärenten Politik in Bezug auf problembehafteten Konsum aller psychoaktiven Substanzen", wie es heisst. Denn vermeintlich harmlose Drogen wie Alkohol, Tabak oder auch pathologisches Glücksspiel richteten insgesamt für die Gesellschaft den weit grösseren Schaden an als harte Drogen wie Heroin und Kokain.

 In dem Leitbild wird deshalb gefordert, dass der Konsum - nicht aber der illegale Handel - sämtlicher Drogen künftig straffrei bleiben soll. "Drogenkonsum soll nicht mehr mit dem Strafrecht verfolgt werden", erklärt der Zürcher Präventivmediziner François van der Linde, als Präsident der Eidgenössischen Kommission für Drogenfragen einer der Co-Autoren des Papiers. Ein Heroinabhängiger solle genauso wenig für seine Sucht bestraft werden wie ein Alkoholiker oder ein Medikamentenabhängiger.

 "Völliger Unsinn"

 Die Forderung nach Straffreiheit für Drogenkonsumenten birgt viel politischen Zündstoff, wie die Reaktionen auf das neue Leitbild zeigen. Der Verband Schweizerischer Polizeibeamter etwa sieht darin die Zwängereien gewisser Kreise, von einer bewährten Drogenpolitik abzurücken. "Das ist völliger Unsinn", lässt sich Verbandspräsident Heinz Buttauer in einem Communiqué zitieren. "Wie wollen wir unsere Jugendlichen noch schützen, wenn die Polizei keine Möglichkeit mehr zum Eingreifen hat?", so seine rhetorische Frage.

 Noch deutlicher wird der Zürcher SVP-Nationalrat Toni Bortoluzzi: "Ich finde es eine Sauerei, dass das BAG Ressourcen einsetzt, um etwas zu propagieren, das vom Stimmvolk vor wenigen Monaten abgelehnt worden ist", erklärt er mit Blick auf das wuchtige Nein zur Hanf-Initiative. Es sei die falsche Strategie, Drogenkonsumenten mit Samthandschuhen anzufassen, erklärt Bortoluzzi.

 Auch der Zürcher FDP-Ständerat Felix Gutzwiller hat gegenüber der Stossrichtung der BAG-Experten Vorbehalte. Die Grundidee sei zwar nicht neu, erklärt er. "Für die konkrete Schweizer Drogenpolitik bietet das Papier aber keine Alternative." Es sei im Moment weder nötig noch richtig, einen Kurswechsel zu vollziehen, sagt Gutzwiller. Und auch bei der Schweizerischen Fachstelle für Alkohol- und andere Drogenprobleme ist die Skepsis gross. Den Konsumenten dürfe kein Freipass für ihren Drogenmissbrauch ausgestellt werden, sagt Sprecherin Monique Helfer.

 "Wollen Diskussion lancieren"

 Angesprochen auf die teils harsche Kritik erklärt Co-Autor van der Linde, Sinn und Zweck des Papiers seien wohl missverstanden worden. "Es geht uns nicht darum, kurzfristig die ganze Drogenpolitik über den Haufen zu werfen", sagt er. Das Ziel sei vielmehr, einen Überblick zu bieten, was in den nächsten zehn Jahren geschehen müsse, um eine ganzheitlichere Politik betreiben zu können. "Wir wollen deshalb bereits heute eine Diskussion dazu lancieren."

 BAG-Sprecherin Mona Neidhart betont, das Papier transportiere nicht die Meinung des Bundesamts, sondern sei von diesem lediglich in Auftrag gegeben worden. "Wir betrachten es als Denkanstoss", erklärt sie. Einen Marschplan für das weitere Vorgehen des BAG gebe es noch nicht. "Wir werden das Leitbild eingehend analysieren und dann entscheiden, ob und wie die Ideen weiterverfolgt werden."

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20 Minuten 3.8.10

"Es gibt keine gute und böse Sucht"

 BERN. Drei vom Bund beauftragte Experten-gruppen fordern die Entkriminalisierung sämtlicher Drogen. François van der Linde* nimmt Stellung.

 Wieso herrscht in der Suchtpolitik Nachholbedarf?

 François van der Linde: Wir müssen wegkommen von der Unterscheidung zwischen legalen und illegalen Drogen. Es gibt keine gute und böse Sucht. Viel eher sollte man sich am Schadenpotenzial von psychoaktiven Substanzen orientieren. Dabei fällt auf, dass gesellschaftlich akzeptierte Drogen wie Alkohol und Tabak deutlich höhere wirtschaftliche und soziale Schäden verursachen als illegale Drogen.

 Wird gerade gegenüber der Jugend nicht ein falsches Signal ausgesendet, wenn man den Drogenkonsum legalisiert?

 Es kommt stark darauf an, wie man die Botschaft kommuniziert. Wir sagen ja nicht: Nehmt Drogen! Die Bestrafung des Konsums ist nicht glaubwürdig, wenn gleichzeitig legale Substanzen mit vergleichbaren Wirkungen toleriert werden. Für die Jugendprävention bringt unser Ansatz Vorteile: Wie soll man glaubhaft über Substanzen aufklären, wenn der Konsum verboten ist?

 Der Konsum ist die eine Seite. Was ist mit dem Verkauf von Drogen?

 Dieser müsste stark reglementiert werden, einige Substanzen blieben weiterhin verboten. Bei einer kontrollierten Abgabe von gewissen Stoffen hat der Staat viel mehr Einflussmöglichkeiten.

 Wie schätzen Sie die politischen Chancen Ihres Anliegens ein?

 Wir sind nicht naiv, unsere Vorschläge sind derzeit nicht mehrheitsfähig. Dies war aber auch nicht unsere Absicht. Wir wollen eine grundsätzliche Diskussion zum Suchtverhalten unserer Gesellschaft anregen. Dafür muss man auch mal Tabus brechen.

 *François van der Linde ist Präsident der Kommission für Drogenfragen.

Interview: Antonio Fumagalli

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 Politischer Widerstand

 BERN. Bürgerliche Parteien und der Verband der Polizei-Beamten reagieren mit Kopfschütteln auf die Anregungen der Expertenkommissionen: "Das Konsumverbot ist für viele Menschen ein entscheidender Grund, die Finger von Drogen zu lassen", sagte etwa SVP-Nationalrätin Andrea Geissbühler gegenüber dem "Tages-Anzeiger". Das Grundlagenpapier wird zurzeit vom Bundesamt für Gesundheit geprüft.

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Tagesanzeiger 3.8.10

François van der Linde Für den Drogenexperten ist der Sucht mit Strafe und Moral nicht beizukommen.

 Oft wurde er gescholten, stets bleibt er gelassen

Von Jean-Martin Büttner

 Er lacht. Er habe die Reaktionen mit Interesse zur Kenntnis genommen, sagt er und klingt dabei ebenso höflich wie ironisch. François van der Linde meint die Reaktionen auf den erneuten Vor- schlag der drei Bundeskommissionen im Suchtbereich, den Konsum aller Drogen zu entkriminalisieren (TA vom Montag). Die politischen Kommentare von rechts bis weit rechts folgten wie der Kater auf den Rausch. Empörung bestimmte den Ton, Verantwortungslosigkeit lautete der Vorwurf. "Wer am lautesten lärmt", sagt der Kritisierte, "wird am besten gehört." Was er bedauert: dass die Reaktionen sich auf die Frage der Entkriminalisierung beschränken.

 Dennoch reagiert der 69-Jährige gelassen auf die Kritik; überrascht ist er nicht. Das hat damit zu tun, dass der Präventionsmediziner seit 28 Jahren den Bundesrat aus der Eidgenössischen Kommission für Drogenfragen heraus berät, auch wenn sie früher anders hiess. Dabei hat er in dieser langen Zeit seine Haltung nicht geändert, unabhängig davon, wie populär sie gerade war. "Politisch ist unsere Forderung derzeit nicht opportun", räumt er ein. Das Parlament verweigerte schon dem Cannabis die Entkriminalisierung, und das Stimmvolk zog nach. Daran werde sich vorerst nichts ändern, glaubt er, auch nicht durch den neuen Bericht.

 Van der Linde sieht trotzdem keinen Anlass, seine Meinung zu revidieren; dazu müssten erst neue Fakten her. Als Präventivmediziner habe er gelernt, Suchtmittel nach ihrer Gefährlichkeit einzuteilen und nicht nach ihrer Lega- lität. Drogensucht habe nichts mit Moral oder Strafrecht zu tun, sie müsse medizinisch und psychologisch an- gegangen werden. "Es geht nicht um Werturteile, sondern um das Risikopotenzial." So betrachtet sei Alkohol gefährlicher als Cannabis, und es seien auch sehr viel mehr Menschen ab- hängig vom Tabak als vom Heroin.

 Klar ist für den Arzt aber auch: "Je grösser das Suchtrisiko einer Substanz, desto stärker muss ihr Zugang reguliert werden." Regulierung etwa über den Preis, die zulässige Menge, die Abgabe- zeiten und eine Ausweispflicht. Dass er den Konsum entkriminalisieren möch- te, hat für ihn einen entscheidenden Grund: Nur so lasse sich wirksam Prä- vention betreiben. Das beste Beispiel bleibt für ihn die kontrollierte Heroin- abgabe, die den Kontakt zu Schwerstsüchtigen stark erleichtert habe. Dass diese möglich wurde, führt er auf die unerträgliche Situation der offenen Drogenszenen zurück, allen voran im Zürcher Platzspitz und beim Letten.

 Die Prävention geht für den Arzt weit über Aufklärung und Jugendschutz hinaus. Sie lasse sich nur dann mit Autorität vertreten, wenn auch die Gesellschaft glaubwürdig auf ihre eigenen Suchtprobleme reagiere. Das sei aber nicht der Fall, solange die einen Drogen verboten und die an- deren beworben würden - unabhängig davon, welche grösseren Schaden an- richteten.

 Selbstverständlich müsse sich die Gesellschaft vor Gefahren schützen. Der Schutz müsse aber der Gefahr entsprechen.

 Mit Drogen will der Drogenexperte selber nichts zu tun haben. Weiss er überhaupt, wie sich eine Sucht anfühlt? Er sei früher ein massiver Raucher ge- wesen, bekennt er, und er kenne das drängende Gefühl der Abhängigkeit ganz genau. Und wie ist er davon los- gekommen? "Indem ich als Präventivmediziner angefangen habe." Das eine habe einfach nicht zum anderen ge- passt. Er lacht wieder.

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Le Temps 3.8.10

Les experts persistent: il faut dépénaliser toutes les drogues

Sylvie Arsever

 Deux ans après l'acceptation en votation populaire d'une loi qui maintient la pénalisation de la consommation et le rejet d'une initiative visant à décriminaliser le cannabis, un rapport élaboré par trois commissions fédérales revient à la charge

 Lorsqu'il a été publié en juin, le rapport est passé inaperçu. C'est le Tages-Anzeiger qui le met sur le devant de la scène autour d'une proposition sulfureuse: dépénaliser toutes les drogues. Ses chances politiques sont égales à zéro, admet le quotidien zurichois qui la trouve néanmoins intéressante.

 Elle n'est en tout cas pas nouvelle. Cela fait plus de vingt ans que les spécialistes réunis dans la Commission fédérale pour les problèmes liés aux drogues (CFPD) recommandent de renoncer à punir la consommation de produits quels qu'ils soient. Divisés au début, les praticiens sont désormais quasiment unanimes à la soutenir. Politiquement, c'est une autre histoire…

 Alors, pourquoi y revenir maintenant, deux ans après que le peuple  a confirmé la politique des quatre piliers, répression de la consommation comprise, et énergiquement rejeté une dépénalisation limitée au seul cannabis?

 "Cette proposition n'est qu'un aspect accessoire de notre travail, explique François van der Linde, président de la CFPD et coauteur du document en cause. L'idée principale était de proposer un concept intégré de lutte contre les dépendances, élaboré dans une perspective de santé publique."

 Intitulé "Défi addictions", le rapport a été rédigé à la demande de l'OFSP par des délégués des trois commissions extraparlementaires spécialisées dans la dépendance: CFPD, Commission fédérale pour les problèmes liés à l'alcool et Commission fédérale pour la prévention du tabagisme. "Le mandat était de réfléchir à un concept de lutte contre les dépendances qui comprenne, outre les drogues illégales, le tabac et l'alcool, des comportements addictifs comme la cyberdépendance et le jeu compulsif" explique Mona Neidhart, porte-parole de l'OFSP.

 Pour développer une "approche durable de la politique des addictions", les experts proposent de voir plus loin. Plus loin que la dépendance - certains problèmes de drogue précèdent la dépendance. Plus loin que les substances psychoactives - héroïne et jeu excessif mettent en jeu les mêmes mécanismes neurobiologiques. Plus loin que la politique sanitaire: tous les acteurs doivent être impliqués dans la lutte contre les dépendances.

 Ils vont plus loin aussi sur le plan pénal, remettant en question l'interdiction de consommer certains produits. Et, c'est à peine moins controversé, ouvrent la porte à une réglementation plus poussée de produits que leur statut légal a jusqu'ici protégés de l'intervention étatique. La lutte contre l'alcoolisme, laissent-ils entendre, ne devrait pas se limiter à la protection de la jeunesse. Et d'autres produits, comme les tranquillisants et les médicaments visant à améliorer les performances sportives ou sexuelles devraient être placés dans le viseur de la politique des addictions.

 "Nous proposons de moduler la politique des drogues sur les problèmes de santé publique, explique François van der Linde. Dans cette perspective, nous estimons qu'il faut substituer à l'interdiction de certains produits une approche plus intégrée, organisée autour du principe de réglementation. La réglementation peut comprendre des interdictions ponctuelles - comme la réglementation de l'alcool a longtemps compris l'interdiction de l'absinthe - mais il s'agit d'un concept plus souple, qu'on peut moduler en fonction de la dangerosité d'un comportement ou d'un produit."

 Pas un spécialiste ne le contredira. Mais tant la possibilité d'un tour de vis en matière de drogues légales que l'éventualité d'une dépénalisation de la consommation des autres sont de nature à soulever de puissantes vagues. Elles ont d'ailleurs déjà commencé: à droite de l'échiquier politique, on ne cache pas son scepticisme, et la Fédération suisse des fonctionnaires de police s'élève contre le principe d'une dépénalisation.

 Bref: après avoir commandité l'étude et l'avoir publiée avec une préface élogieuse de son nouveau directeur, Pascal Strupler, l'OFSP en semble un peu encombré: "Nous procéderons à un examen interne pour nous déterminer au sujet de ces conclusions", précise Mona Neidhart.

 En soi, les experts n'ont pas dit grand-chose que l'OFSP n'ait pas étudié ou proposé lui-même dans le passé. Mais, aujourd'hui, la politique a parlé, le peuple voté. Et l'impression que les experts tentent de revenir sur ces décisions peut faire mal. "Ce n'est absolument pas ce que nous souhaitions, précise François van der Linde. En fait, ce rapport n'est pas destiné aux politiques mais aux milieux concernés." Et son premier effet pourrait être, à moyen terme, une fusion des trois commissions spécialisées dans les dépendances.

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 Dépénaliser, mais encore?

 L'idée que la réglementation est un instrument de santé publique plus efficace que la création d'un marché noir a déjà été développée souvent

 S. A.

 Les experts ont réfléchi en termes généraux et n'entrent pas dans le détail. Le concept qu'ils développent a toutefois déjà connu des élaborations plus précises. Il repose sur l'idée que la réglementation constitue un moyen de politique de santé plus efficace que la création de marchés noirs où usagers et trafiquants sont laissés seuls en face à face.

 Dans ce modèle, la consommation de drogue échappe à toute sanction. La vente reste en revanche interdite en dehors de canaux réglementés par l'Etat. Ces réglementations varient en fonction de la dangerosité des différentes drogues et peuvent protéger particulièrement certaines catégories, par exemple les jeunes. Le Conseil fédéral avait proposé un modèle de ce genre pour le cannabis, modèle soutenu par les Etats mais rejeté par le Conseil national. La consommation de drogues est dépénalisée au Portugal et partiellement aux Pays-Bas.

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La Liberté 3.8.10

Une ouverture en faveur de la légalisation des drogues

 dépénalisation ● La Suisse est prête à reconsidérer la question très sensible de la légalisation des drogues. Hier, on apprenait que trois commissions mandatées par la Confédération proposent de dépénaliser la consommation de toute drogue, y compris l'héroïne. Cette mesure fait partie d'une approche durable de la politique des addictions en Suisse, examinée par l'Office fédéral de la santé publique. Souvent pionnière dans ce domaine, la ville de Zurich songe, elle, à légaliser la vente de cannabis sous contrôle de l'Etat. Le postulat accepté en juin par le législatif municipal effraie la presse allemande, qui a aussitôt crié à l'Etat-"dealer". > 3

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Drogues

 Un pas vers la dépénalisation

 Alors que la Confédération réfléchit à légaliser la consommation de toute drogue, la ville de Zurich doit examiner la possibilité de vendre du cannabis sous contrôle.

 Ariane Gigon, Zurich

 La Suisse veut donner un coup de brosse à sa politique en matière de drogues. Hier, on apprenait que trois commissions mandatées par la Confédération proposent de dépénaliser la consommation de toute drogue (lire ci-contre). Souvent pionnière dans ce domaine, la ville de Zurich songe, elle, à légaliser la vente de cannabis, sous contrôle.

 Lorsque le législatif municipal de Zurich a accepté mi-juin, par 67 voix contre 49, un postulat pour l'examen de la vente de cannabis sous contrôle de l'Etat, l'écho fut énorme. La "Süddeutsche Zeitung" a aussitôt crié à l'Etat-"dealer". Après le net rejet, en novembre 2008, de l'initiative visant à légaliser le cannabis sur le plan suisse, la décision zurichoise semblait presque anachronique, d'autant plus que le postulat avait été déposé par deux jeunes écologistes en août 2006!

 Essai scientifique

 Les deux députés, dont l'un, Bastien Girod, a été, entretemps, élu au Conseil national, entendaient sortir des "blocages de la politique suisse de la drogue". Souhaitant que Zurich fasse une nouvelle fois œuvre de "pionnier", ils proposaient la vente de cannabis sous forme d'essai scientifique. Une vente contrôlée assurerait, selon eux, "une protection efficace de la jeunesse", la remise "d'informations ciblées sur le cannabis" et un contrôle de la qualité des produits. De plus, ajoutaient-ils, la répression ne sert à rien, criminalise des consommateurs occasionnels et coûte très cher. Mieux vaut consacrer cet argent à la prévention, selon eux.

 Zurich se donne du temps

 La ville de Zurich cependant, n'entend pas bousculer ses habitudes. "Nous ne pouvons pas encore dire sous quelle forme ce projet se fera et si même il se fera", explique Renate Monego, directrice des Services municipaux de la santé. "Le postulat demande qu'on analyse la possibilité de vendre du cannabis sous contrôle, c'est tout, précise Katharina Ruëgg, porte-parole du Département de la santé et de l'environnement de la ville. L'exécutif a deux ans pour le faire. Nous allons impliquer des experts de tous bords pour analyser la situation."

 Une chose semble sûre: Zurich ne veut pas se lancer seul. "Le postulat nous donne la possibilité de faire une analyse précise de la situation, note Renate Monego. Nous ne voulons pas nous lancer sans consulter d'autres instances. Nous avons pris contact avec l'Office fédéral de la santé publique et savons que d'autres villes sont intéressées, au moins Berne et Bâle."

 Sur le modèle de l'héroïne?

 Une des pistes envisagées - mais de façon encore très vague - s'inspirerait de l'héroïne sous contrôle médical. "La remise d'héroïne sous contrôle médical obéit à des critères très stricts, rappelle Katharina Rüegg. Même si ces substances, héroïne et cannabis, sont de nature très différente, la réponse à donner au postulat se basera sûrement sur cette expérience." Les héroïnomanes doivent notamment avoir déjà essayé, sans succès, plusieurs thérapies. La question du domicile des personnes bénéficiant de ces "programmes" (il n'est pas question de vente dans des magasins...) sera aussi un des points sensibles à discuter.

 Le projet zurichois a aussi éveillé l'intérêt - critique - de la Fondation Addiction Info Suisse (anciennement "Ispa"). "Nous suivons le projet zurichois avec intérêt, explique Monique Helfer, porte-parole. Mais la vente sous contrôle pose le problème de la légalité, en premier lieu, puisque ni la vente ni la consommation ne sont autorisées en Suisse."

 "Il y a certes de bons arguments pour un projet de vente contrôlée, sous forme d'essai, ajoute-t-elle. Mais il ne faudrait pas que le message soit, pour le public: "consommer du cannabis, ce n'est pas si grave"... On sait que le cannabis peut perturber le développement des mineurs." Monique Helfer revient aussi sur la question de la poursuite pénale: "Nous sommes favorables au remplacement de la sanction pénale par des amendes d'ordre pour la consommation", explique-t-elle.

 La cocaïne en augmentation

 Selon l'Office fédéral de la statistique, environ 500 000 personnes consomment régulièrement du cannabis en Suisse. Le "Tages-Anzeiger" a calculé que cela représentait 30 000 personnes pour la seule ville de Zurich. De son côté, la Fondation Addiction Info Suisse (anciennement "Ispa") indiquait dans son dernier rapport que l'usage de la plupart des drogues était resté stable ces dernières années en Suisse, mais que la consommation de cocaïne augmentait. Celle du cannabis est en revanche en recul chez les jeunes âgés de 15 à 24 ans. I

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 Bientôt le droit de consommer?

 Trois commissions mandatées par la Confédération proposent de dépénaliser la consommation de toute drogue. Cette mesure fait partie d'une approche durable de la politique des addictions en Suisse, appelée "Défi addictions", examinée actuellement par l'Office fédéral de la santé publique (OFSP). "La consommation de drogue ne doit plus être poursuivie pénalement", exige François van der Linde, président de la Commission fédérale pour les questions liées aux drogues (CFLD). Les héroïnomanes ne devraient pas être plus punis pour leur addiction que les alcooliques ou les personnes dépendant des médicaments, a indiqué le médecin, confirmant un article du "Tages-Anzeiger" et du "Bund".

 Cette exigence n'est pas nouvelle, la CFLD s'engage pour la dépénalisation depuis 1989 déjà. Ce qui est inédit en revanche, c'est que les trois commissions plaident en sa faveur. La CFLD a élaboré le papier de position "Défi addictions" avec la Commission fédérale pour les problèmes liés à l'alcool (CFAL) et celle pour la prévention du tabagisme (CFPT). L'OFSP est mandataire.

 "Ce rapport est une réflexion de fond sur les drogues et les addictions", précise le coauteur François van der Linde. La société doit cesser de considérer qu'il y a de bonnes et de mauvaises dépendances: il est établi que les drogues prétendument anodines comme l'alcool causent au final des dégâts beaucoup plus importants que par exemple l'héroïne.

 Aujourd'hui, le grand défi est dans la consommation problématique de substances achetées légalement, écrivent les experts. Parmi celles-ci, ils comptent la caféine, l'alcool, la nicotine et des médicaments comme les somnifères, les calmants et les analgésiques. Beaucoup de gens consomment ces substances pour surmonter des situations de stress.

 Afin de mieux maîtriser les multiples problèmes de dépendance, les auteurs proposent dix principes. Parmi ceux-ci figurent de nouvelles propositions en matière de prévention. Les fabricants et commerçants de produits avec un potentiel de dépendance doivent également être rappelés à leurs devoirs.

 Pour l'heure, aucune mesure concrète n'a encore été élaborée, souligne M. van der Linde. L'OFSP a lancé une audition sur ces idées, l'avis des milieux politiques et économiques étant également demandé. ATS

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24 Heures 3.8.10

Un rapport met alcool, jeu et héroïne sur pied d'égalité

Laurent Aubert

 ADDICTIONS - Pour des experts fédéraux, une drogue est une drogue, qu'elle soit légale ou illégale. Leur approche relance le débat sur la dépénalisation du cannabis ou de l'héroïne.

 LAURENT AUBERT

 "Nous sommes partis du constat que des politiques différentes pour chaque produit aboutissent à des réponses parfois incohérentes. Par exemple, la distinction entre substances légales ou illégales ne correspond pas forcément à leur dangerosité. " Cheffe de projet pour la prévention des dépendances au Service vaudois de la santé publique, Léonie Chinet avance avec prudence.

 Sans doute sait-elle que le rapport"Défi addictions",signé d'un groupe de travail dont elle est membre et rédigé sur mandat de la Confédération, risque de faire des vagues. LeTages-Anzeigera déterré hier ce document, passé inaperçu lors de sa publication, fin mai. Selon le quotidien zurichois, ce rapport ne propose rien moins que de dépénaliser toutes les drogues. Léonie Chinet nuance: "Le groupe de travail n'a pas formulé de recommandation visant à légaliser telle ou telle substance. Il ne travaille pas à ce niveau. "

 Le jeu et les médicaments dans le collimateur

 Président de la Commission fédérale pour les questions liées aux drogues, François van der Linde, lui, franchit le pas: "La consommation de drogue ne doit plus être poursuivie pénalement", a-t-il déclaré à l'ATS.

 Dans leur rapport, les experts préconisent d'adopter une stratégie globale et de mettre les addictions sur pied d'égalité. Ils se sont affranchis de notions telles que la dépendance, le statut légal ou l'âge pour formuler dix lignes directrices.

 Ces dernières proposent tout d'abord d'élargir le champ de la lutte contre les toxicomanies en englobant les médicaments, les produits dopants et les addictions sans substance (jeu pathologique, par exemple).

 Les lignes directrices recommandent aussi que les mesures de lutte soient adaptées aux dommages subis par l'individu, ses proches et la société. C'est dans cette perspective que les experts préconisent d'abandonner "la distinction simpliste entre substances psychoactives légales et illégales et la seule focalisation sur les dépendances".

 "Je salue ce rapport, indique Jean-Charles Rielle, médecin actif dans la prévention du tabagisme et conseiller national (PS/GE). Il ouvre de nouvelles pistes basées sur les expérimentations réalisées en Suisse en matière de drogue en y associant les politiques menées dans les domaines de l'alcool et du tabac. "

 Pour le Genevois, une telle approche permettra de mieux lutter contre la souffrance des consommateurs, contre les effets sur leur santé et les problèmes sociaux découlant de leur comportement.

 "En tant que médecin, je suis totalement favorable à une dépénalisation", ajoute Jean-Charles Rielle. Il estime qu'il convient de parler de réglementation plutôt que de légalisation, puisque l'Etat devra définir des normes sur la disponibilité des produits, leur qualité et la distribution, comme il le fait pour l'alcool ou le tabac.

 "Les mêmes experts"

 De l'autre côté de l'échiquier politique, le ton diverge. "Je n'approuve pas cette remise en question de la politique actuelle", affirme Guy Parmelin. "L'alcool n'est pas une drogue", ajoute le conseiller national (UDC/VD) et viticulteur. Son collègue libéral Claude Ruey se dit franchement "agacé". "Le peuple a rejeté les initiatives Droleg (ndlr: légalisation des drogues en 1998) et pour la dépénalisation du cannabis (ndlr: en 2008), et voilà que l'on revient là-dessus. "

 Mais le Vaudois ne s'étonne guère: "On retrouve toujours les mêmes experts dans ces groupes de travail. " Selon lui, "la dépénalisation ou la régulation ne marche pas. L'Etat doit, sans acharnement policier, maintenir la pression pour éviter l'installation d'un marché. "

 Le rapport se trouve maintenant entre les mains de l'Office fédéral de la santé publique (OFSP). A lui de décider quelles suites politiques lui donner. •

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vspb.org 2.8.10

Luzern, 2. August 2010
 
 
"Drogen-Entkriminalisierung ist völliger Unsinn"
 
Wie verschiedene Tages-Zeitungen in ihren heutigen Ausgaben melden, schlägt eine Expertengruppe unter der Führung des Bundes die Entkriminalisierung aller Drogen und damit den straffreien Konsum vor. Der Verband Schweizerischer Polizeibeamter VSPB hat kein Verständnis für dieses Ansinnen und ortet darin die Zwängerei gewisser Kreise, von einer bewährten Drogenpolitik abzurücken. "Das ist ein völliger Unsinn", kommentiert VSPB-Präsident Heinz Buttauer. Die Hauptproblematik sieht er im Jugendschutz: "Wie wollen wir unsere Jugendlichen noch schützen, wenn die Polizei keine Möglichkeit mehr zum Eingreifen hat?", fragt Buttauer. Der Polizeibeamtenverband hat sich vor zwei Jahren mit Überzeugung für die Revision des Betäubungsmittelgesetzes ausgesprochen und weist darauf hin, dass man es dank dem Vier-Säulen-Modell mit Prävention, Therapie, Schadenminderung und Repression geschafft hat, die Drogentodesfälle sowie die Beschaffungskriminalität erheblich zu senken und von der offenen Drogenszene wegzukommen. "Im November 2008 hat sich das Volk deutlich gegen die Legalisierung von Drogen ausgesprochen", erinnert Heinz Buttauer. "Das soll auch so bleiben, und der Volkswille sollte ernst genommen werden." Im straffreien Drogen-Konsum und -Handel sieht der Polizeibeamtenverband zudem eine Gefahr für die Verkehrssicherheit und befürchtet negative volkswirtschaftliche Auswirkungen, insbesondere eine grössere Belastung für das jetzt schon angeschlagene Gesundheitswesen. "Wenn mit einer staatlich kontrollierten Abgabe womöglich noch die Krankenkassen belastet würden, hätte das ganze Volk darunter zu leiden", gibt der VSPB-Präsident zu bedenken.

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bag.admin.ch 31.5.10

Herausforderung Sucht

Grundlagen eines zukunftsfähigen Politikansatzes für die Suchtpolitik in der Schweiz

Gesellschaftliche Beschleunigung, die uneingeschränkte Verfügbarkeit verschiedenster Produkte, neue Kommunikationsgewohnheiten: die gesellschaftlichen Realitäten ändern sich und bilden neue Herausforderungen, auch für die Suchtpolitik.

Vor diesem Hintergrund hat das Bundesamt für Gesundheit 2008 eine Steuergruppe - bestehend aus den Präsidien und Mitgliedern der drei Eidgenössischen Kommissionen für Alkoholfragen, für Drogenfragen und für Tabakprävention - beauftragt, ein Leitbild für die künftigen suchtpolitischen Herausforderungen zu verfassen.

Das Leitbild stellt mögliche Ansätze vor, wie auf diese wandelnden sozialen Realitäten und auf neue Suchtformen reagiert werden kann und wie die bisherigen sektoriellen und substanzorientierten Massnahmen in eine suchtpolitische Gesamtperspektive integriert werden können.

Fachkontakt: herausforderungsucht@bag.admin.ch

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Herausforderung Sucht - Langversion
http://www.bag.admin.ch/pdf_link.php?&download=BAG_Leitbild_A4_d_GzD_korr

Herausforderung Sucht - Kurzfassung
http://www.bag.admin.ch/shop/00010/00507/index.html?lang=de&download=NHzLpZeg7t,lnp6I0NTU042l2Z6ln1acy4Zn4Z2qZpnO2Yuq2Z6gpJCJdoF7f2ym162epYbg2c_JjKbNoKSn6A--

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SQUAT ZH
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Tagesanzeiger 3.8.10

Hausbesetzer harren in der Klinik aus

 Küsnacht - Die zehnköpfige Künstlergruppe, die seit vergangener Woche die ehemalige Privatklinik St. Raphael in Küsnacht besetzt hält, gewährt der Polizei nach wie vor keinen Zutritt zum Gebäude. Gemäss dem Küsnachter Sicherheitsvorstand Arnold Reithaar (SVP) wartet die Gemeindepolizei weiterhin ab, bis die Eigentümer über das weitere Vorgehen entschieden haben.

 Das besetzte Gebäude gehört zu einem Teil der Zürcher Klinik Pyramide, zu einem anderen Teil einer Gruppe von Belegärzten. Da die meisten Verwaltungsräte der Klinik Pyramide in den Ferien sind, wird laut Verwaltungsratspräsident Beat Badertscher erst im Verlauf dieser Woche feststehen, wie die Eigentümer auf die Hausbesetzung reagieren. "Letztlich geht es um die Frage, ob wir diese tolerieren oder nicht", sagt er. Badertscher weist die Behauptung der Hausbesetzer zurück, dass die Verhandlungen zwischen ihnen und den Eigentümern der Klinik am Laufen seien.

 Zumindest mit den Nachbarn haben die Besetzer aber Kontakt. In den letzten Tagen hätten einige Neugierige vorbeigeschaut, sagt ein Sprecher der Gruppe, die sich Collective Saint Raphael nennt. Das Verhältnis zu den Anwohnern sei gut. Bei der Gemeinde sind bisher keine Lärmklagen eingegangen. (miw)

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Zürichsee-Zeitung 3.8.10

Küsnacht Okkupanten stehen angeblich mit Klinik-Besitzern in Kontakt - diese dementieren

 Besetzer "kommen in Frieden"

 Die St.-Raphael-Besetzer werden von den Klinik-Eigentümern als "merkwürdig" bezeichnet. Direkten Kontakt gibt es weiterhin nicht.

 Anna Moser

 Im verwilderten Garten der Klinik St. Raphael stehen zwei Steinbänke, daneben blühen pinkfarbene Blumen, und die Aussichtslage hoch über Küsnacht ist erhaben. Der perfekte Ort für junge Hausbesetzer, um mussevolle Stunden zu verbringen - würde es bloss nicht in Strömen regnen wie an diesem Montagnachmittag. Doch ob sich das "Collective Saint Raphael" bei Sonnenschein tatsächlich im Garten zeigen würde, ist fraglich, denn die jungen Leute sind sehr auf Diskretion bedacht.

 Zwar wirkt das Haus bereits ein wenig zugänglicher als noch am vergangenen Freitag: Die Rollläden sind heraufgelassen, einige Fenster stehen offen. Das wars dann aber auch schon mit der Offenheit. Die Kommunikation der Hausbesetzer gegen aussen beschränkt sich auf ein Papier, das sie von innen an der gläsernen Eingangstür befestigt haben. "Solange die Verhandlungen mit der Eigentümerschaft nicht abgeschlossen sind, geben wir keine Interviews", heisst es da. Und: "Wir kommen in Frieden und respektieren unsere Nachbarn."

 Noch keine Entscheide gefallen

 Dumm nur, dass die "Verhandlungen mit der Eigentümerschaft" offenbar noch gar nicht begonnen haben. Das jedenfalls sagt Beat Badertscher, Verwaltungsratspräsident der Klinik St. Raphael AG, der das Areal gehört. Der Rechtsanwalt ist gestern aus den Ferien zurückgekehrt und hat von der "merkwürdigen Gruppe", wie er sagt, erst das Bekennerfax gesehen, das am Donnerstag an die Küsnachter Gemeindepolizei gesandt wurde. Dass man miteinander in Kontakt stehe, sei "Unsinn", sagt er.

 Über das weitere Vorgehen hat sich der Verwaltungsrat noch nicht beraten können. Für Badertscher ist aber klar: "Ich möchte die Sache in den nächsten Tagen regeln." Von der Vorstellung einer Zwischennutzung der leerstehenden Klinik sei er persönlich "nicht begeistert". Gemäss eigenen Angaben wollen die Besetzer - eine zehnköpfige Gruppe von Kunststudenten - das Gebäude als "Lebens- und Arbeitsraum" nutzen.

 "Denke, dass die ruhig bleiben"

 Die Klinik St. Raphael war 2001 von der Klinik Pyramide am See in Zürich und einer Gruppe Belegärzte mit der Absicht übernommen worden, die alte Klinik durch einen Neubau zu ersetzen. Dagegen wehrten sich Anwohner, was zu jahrelanger Verzögerung führte. Im Januar 2009 entschied sich der Verwaltungsrat, das Prestigeprojekt abzublasen, nachdem eine Kapitalerhöhung in der Ärzteschaft nicht zustande gekommen war. Der Absicht, den Altbau abzureissen, kam im September der Gemeinderat Küsnacht mit einer Unterschutzstellung in die Quere. Dagegen ist ein Rekurs der Eigentümer hängig.

 Der Küsnachter Sicherheitsvorstand Arnold Reithaar sagte gestern, dass die Polizeipatrouillen bei der Klinik St. Raphael am Wochenende keine Meldungen ergeben hätten. Der Stromausfall vom Freitagabend habe nichts mit den Besetzern zu tun gehabt. "Ich denke auch", sagt Reithaar, "dass die ruhig bleiben werden."

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BIG BROTHER
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St. Galler Tagblatt 3.8.10

Das Auge des Staates

 Sommergespräche Die Schweiz überwacht ihre Bürger permanent, legt Fichen an, stellt Kameras auf - die Empörung bleibt aus. Historiker Valentin Groebner sieht darin den hysterischen Wunsch des Staates und seiner Bürger, den unsichtbaren Gegner sichtbar zu machen.

Philippe Reichen

 Valentin Groebner gehört zu den innovativsten Geschichtsprofessoren der Schweiz. Sein Spezialgebiet ist die Geschichte des Mittelalters und der Renaissance. Der gebürtige Wiener aber ist ein durch und durch moderner Mensch. Sein Äusseres verrät eine für einen Uni-Professor ungewohnte Lockerheit. Zum Interview kommt er in Turnschuhen und im Polo-Shirt. Das Outfit würde ins Fitnessstudio passen, Groebner aber nutzt die Semesterferien an der Universität Luzern, um im Archiv zu forschen und für sich sowie seine Studentinnen und Studenten neue, aufregende Stoffe zusammenzutragen.

 Herr Groebner, der Schweizer Inlandnachrichtendienst hat zu rund 200 000 Personen Daten angehäuft. Journalisten schrieben Anfang Juli von einem neuen Fichenskandal. Doch die Empörung im Land war gering. Warum?

 Valentin Groebner: Es scheint die Leute tatsächlich nicht sehr zu kümmern. Generell scheint für sie das Datensammeln eher eine positive denn eine negative Wirkung zu haben. Zukünftige Historiker müssen sich mit dem Fall befassen. Sie müssen klären, wann die Trendwende einsetzte.

 Was lässt sich schon heute feststellen?

 Groebner: Hinter dem Fichieren steckt eine Art Vision: Der Staat erfasst die Bewegungen seiner Bürger, um mehr zu erfahren, als jeder Bürger über sich selbst weiss. Dazu hat er heute die technischen Möglichkeiten. Datenschützer weisen seit längerem auf die bedrohlichen Effekte der Verknüpfung elektronischer Daten hin. Ein Grundproblem früherer Überwachungssysteme war, wie man gesammelte Daten wiederfinden und zuordnen konnte.

 Was hat geändert?

 Groebner: Der sortierende Algorithmus hat das allsehende Auge, also den lauschenden Polizisten, abgelöst. Die wohltätige Rechenmaschine ist zur beobachtenden Instanz geworden.

 Aber den lauschenden Polizisten im Schnüffelstaat gibt es noch.

 Groebner: Und die Denunzianten und verdeckten Ermittler auch. Aber plus Computer.

 Der französische Philosoph Michel Foucault sah in der staatlichen Überwachung einen klassischen Fall von "Gouvernementalität". Die Macht zielt nicht mehr auf die Disziplinierung des einzelnen, sondern auf die Verwaltung der Risiken innerhalb der Gesamtbevölkerung ab.

 Groebner: Foucault hatte damit sicher recht. Mich interessiert eher, was für Wünsche mit dem Überwacht-Werden verbunden sind. Der christlichen Kultur ist die Vorstellung vom allsehenden Auge Gottes eng vertraut, vom "grossen Buch", in dem die eigenen guten und bösen Taten aufgeschrieben würden. Der Wunsch nach einer grossen Instanz, die einen interessiert betrachtet: Stellen deshalb 400 Millionen Facebook-Nutzer freiwillig Allerpersönlichstes ins Netz?

 Darum werden also auch Überwachungskameras toleriert.

 Groebner: Solange man zur richtigen Gruppe gehört. Wir lernen doch an jedem Flughafen: Als wohlhabender Europäer mit gültigem Pass korrekt identifiziert zu werden, erleichtert einem das Leben. Sogar die Schweizer haben diesbezüglich eine ungemütliche Erfahrung gemacht, als die deutschen Grenzbehörden vor ein paar Jahren für zwei Wochen jedes Schweizer Auto angehalten und kontrolliert haben. Es gab Staus und wütende Proteste - eingefordert wurde das Privileg, als Angehöriger einer Gruppe identifiziert und deswegen eben nicht kontrolliert zu werden.

 Aber braucht es für jegliche Form der Überwachung nicht eine Art Phantasma der Verschwörung?

 Groebner: Das weiss ich nicht.

 Warum sollte uns der Staat sonst überwachen?

 Groebner: Ich würde zwischen der theoretischen Rechtfertigung der Überwachung und der praktischen Polizeiarbeit unterscheiden. Schon gründliche Grenzkontrollen sind aufwendig und sehr kostspielig. Die Vorstellung einer vollständig überwachten Gesellschaft im Inneren, in der alle registriert und auf Dauer gespeichert wird, ist weder wünschenswert noch technisch machbar. Da sind weiterhin Denunzianten und V-Leute viel effizienter.

 Das Thema Identität und Überwachung, zu dem auch der Identitätsklau und die Hochstapelei gehören, beschäftigt Valentin Groebner seit Jahren. Sein 2004 erschienenes Buch "Der Schein der Person: Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im Mittelalter" ist ein wissenschaftliches und literarisches Meisterstück. Groebner schildert präzis und unterhaltend, wie sich Obrigkeiten seit jeher bemühen, den Menschen registrieren und zweifelsfrei identifizieren zu können. Seine Forschungsarbeit scheint ihm die Angst vor der permanenten Überwachung genommen zu haben. Manch aktuelle Beobachtung belustigt ihn.

 Der St. Galler Fichenexperte Niklaus Oberholzer stellt fest: Straftatbestände werden immer weiter ins Vorfeld der eigentlichen Tat verschoben.

 Groebner: Das ist richtig, aber vielleicht kein ganz neues Phänomen. Ab dem Ende der 1960er-Jahre haben Deutschland, Italien, aber auch Frankreich im Kampf gegen Terroristen Gesetze erlassen, bei denen kein Straftatbestand erfüllt sein musste und die Behörden trotzdem eingreifen konnten. Die Befürchtungen dieser Jahre vor unsichtbaren Untergrundkämpfern muten uns heute ziemlich hysterisch an - eine eigenartige Angstlust.

 Dann gibt es das Phantasma der Verschwörung also doch.

 Groebner: Die Verbindungen zwischen Terroristen und staatlichen Geheimdiensten waren im Kalten Krieg intensiv und kompliziert; Staaten bilden geheime Zellen, um andere geheime Zellen zu unterwandern und zu instrumentalisieren: ein Schattenkrieg jenseits gerichtlicher Kontrolle. Diese dunkle Seite der Staatsräson, Gegner ohne Gerichtsverfahren unschädlich zu machen, hat in der Populärkultur ja einen gut bekannten Namen: James Bond, der Agent mit der "licence to kill". Immer dort, wo vierzig, fünfzig Jahre später die Archive geöffnet werden, ob in den USA, in Italien oder anderswo, stellen Historiker fest, wie eng staatliche Geheimdienste mit jenen Bedrohungen aus dem Untergrund vernetzt waren, gegen die der Staat vermeintlich qua Überwachung verteidigt werden musste, als deren dunkle Spiegelbilder und Kollegen sozusagen.

 Aller Überwachung zum Trotz: Den Hochstapler wird es immer geben.

 Groebner: Genauso wie den Geheimagenten mit echten falschen Papieren. Identität ist nicht etwas, das man selbst "hat", sondern das einem gegeben wird. Ich bin selbst nicht in der Lage zu sagen: Ich bin Valentin Groebner. Ich brauche die Hilfe des österreichischen Staats, um das zu beweisen. Der Staat verspricht mir, mich vor den Massnahmen, die er gegen unerwünschte Individuen durchführen kann, zu schützen - jedenfalls solange es ihm passt.

 Wenn die Identität manipulierbar bleibt: Braucht es die Biometrie?

 Groebner: Der biometrische Pass, wie er im Jahr 2005 eingeführt wurde, ist recht simpel: Das Gesicht wird in Millimetern vermessen und in einfachen templates (Vorlagen) gespeichert. Komplexere Datensätze würden ein zu grosses "statistisches Rauschen" erzeugen. Denn: Wie bei jeder Technologie gibt es auch bei der Biometrie eine Schwankungsbreite und die Gefahr, dass sie als Technologie untauglich wird. Bei zu vielen Zweifelsfällen bricht das System zusammen. Die Ökonomie der Kontrolle muss stimmen. Was die Biometrie registriert, sind keine Körper, sondern Signifikanten, stark vereinfachte äussere Zeichen: Denn was wäre das für ein Ausweis, der den Menschen ultragenau registriert, mit dem man aber in der Kontrolle immer steckenbleibt?

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 Valentin Groebner, österreichischer Staatsbürger,

 ist, wie sein biometrischer Reisepass verrät, am 9. Mai 1962 in Wien geboren worden. Er hat in Wien, Marburg und Hamburg Geschichte studiert und an europäischen und amerikanischen Universitäten unterrichtet. Seit 2004 ist er Professor für die Geschichte des Mittelalters und der Renaissance an der Universität Luzern. Valentin Groebner beschäftigt sich derzeit mit der Geschichte des Körpers. Sein Nationalfondsprojekt trägt den Titel "Der Körper als Ware". (phr)

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NZZ 3.8.10

Drehtür in die Grauzone

 Frühere Mitarbeiter aus Geheimdiensten wechseln immer öfter in die Privatwirtschaft

 Die Nachrichtendienste sind in den letzten Jahren stark gewachsen. Noch grösser ist die Zahl der Firmen, die ähnliche Dienstleistungen erbringen. Ohne einen Personalaustausch zwischen öffentlichem und privatem Sektor wäre dies nicht möglich.

 Stephan Blancke

 In den USA ist es normal, dass Mitarbeiter staatlicher Geheimdienste in den Privatsektor wechseln und dort für eine Sicherheitsfirma tätig werden. Das neue Aufgabengebiet ist breit gefächert und bietet den Geheimdienstlern mit ihren spezifischen Kenntnissen zahlreiche Ansatzpunkte. Beispielsweise beraten sie Unternehmen, die sich gegen Wirtschaftsspionage schützen oder in politisch instabilen Regionen der Welt investieren wollen. Manche von ihnen sammeln Informationen über die Mitarbeiter von Konkurrenzfirmen oder über Investitionspläne chinesischer Banken. Manche sitzen aber auch weiterhin ihren ehemaligen Kollegen gegenüber, allerdings mit dem feinen, aber für Groll sorgenden Unterschied, dass sie nun erheblich mehr verdienen, obwohl sie eigentlich das tun, was sie auch schon früher taten.

 Reger Informationsaustausch

 Rekrutiert wird auch in die umgekehrte Richtung. Nachdem einige Zeit verstrichen ist und gewisse Regeln eingehalten worden sind - dazu gehört in erster Linie ein anfängliches Verbot der Kooperation mit den ehemaligen Kollegen -, kann es vorkommen, dass diejenigen, die eben noch Consultant bei Kroll oder Kissinger Associates waren, wieder an ihrem Schreibtisch bei der CIA oder dem technischen Geheimdienst National Security Agency (NSA) sitzen. Das nennt sich "revolving door" - eine derartige Drehtür gibt es natürlich auch in anderen Industriezweigen, aber in diesem speziellen Bereich ist sie besonders delikat. In den USA kann der Wechsel zwischen dem staatlichen und dem privaten Bereich nämlich öfter erfolgen, und er wird als besondere Qualifikation betrachtet.

 Niemand glaubt daran, dass jene Kooperationssperre eingehalten wird. Der "kleine Dienstweg" scheint zu funktionieren: Benötigte Informationen fliessen rasch und reibungslos, von Kollege zu früherem Kollege, ohne lästige Auflagen und Kontrollen. Das macht diese Konstruktion so flexibel und effizient, zugleich aber auch schwer kontrollierbar. Denn es sind Privatfirmen, die Informationen sammeln und diese mit staatlichen Geheimdiensten austauschen oder an Privatfirmen aus dem Bereich Datenanalyse (data mining) verkaufen. Es sind auch Privatfirmen wie CACI International, deren Mitarbeiter ehemals beim Staat tätig waren, nun aber den "daily brief" der Nachrichtendienste erstellen. Siebzig Prozent dieses täglichen Informationsbulletins für den amerikanischen Präsidenten stammen aus der Überwachung elektronischer Kommunikation. Dafür ist die NSA zuständig; diese hat längst Teile ihrer Arbeit an externe Firmen delegiert.

 Kommerzielle Geheimdienste

 In Deutschland herrscht immer wieder Erstaunen über die vergleichsweise bescheidenen Aktivitäten privater Firmen, die sich wie Geheimdienste verhalten und es in gewisser Weise auch sind: Privatwirtschaftlich geführt und mit zum Teil exzellenten Verbindungen in den staatlichen Sektor, sammeln sie diskret offene und weniger offene Informationen und bereiten diese für einen Abnehmer auf. Mancherorts gibt man sich entsetzt über diese Grauzone, sollte es aber besser wissen. Gewisse dienstrechtliche Vorschriften verhindern es noch, dass zwischen deutschen Nachrichtendiensten und der Privatwirtschaft sich die Drehtüren drehen. Nicht wenige Pensionäre aus den Diensten sind jedoch bereits in der Privatwirtschaft gelandet, einige von ihnen prominente ehemalige Abteilungs- und Dienststellenleiter oder gar Präsidenten. Nur der umgekehrte Weg scheint in Deutschland eine Ausnahme zu sein.

 Wer aufmerksam in den vergangenen Jahren die Szene privater Ermittler, Detekteien, Auskunfteien und Informationsbroker beobachtet hat, kann einen Trend erkennen: Zunehmend werden Leute angestellt, die einst für einen staatlichen Nachrichtendienst gearbeitet haben. Im Sektor Corporate Intelligence liegen die Verdienstmöglichkeiten höher als in den staatlichen Organisationen. Ein ehemaliger Geheimdienstler stellt es so dar: "In der Behörde habe ich schnell meine letzte Besoldungsstufe erreicht, danach kommt Aktenabbau und ab und an eine Dienstreise. Ich bin dann zu einem Unternehmen, zu Diligence, gegangen und als Erstes für eine Woche nach Kolumbien geflogen." Diese amerikanische Firma, gegründet von früheren Geheimdienstlern, arbeitet weltweit und beschäftigt bevorzugt Geheimdienstler.

 Fehlende Kontrolle

 Während staatliche Geheimdienste aufgrund gesetzlicher Vorschriften wenigstens manchmal Rede und Antwort stehen müssen, tun dies die privaten in der Regel nicht. Der Grad der Abschottung und Diskretion ist bei ihnen höher. Generell wiegeln Sicherheitsunternehmen ab, wenn sie auf den Einsatz in der Grauzone angesprochen werden.

 Dabei gibt es einige gut dokumentierte Fälle. So wurde der Fall Manfred Schlickenrieder selbst im britischen Parlament diskutiert. Schlickenrieder, ein ehemaliger deutscher Geheimdienstler, hatte bei der britischen Firma Hakluyt angeheuert und fortan Greenpeace und die Gesellschaft für bedrohte Völker infiltriert. Auftraggeber war die Ölindustrie. Dort sorgte man sich um den guten Ruf und fürchtete medienwirksame Aktionen von Umweltschützern. Vor einiger Zeit wurde ferner Toby Kendall enttarnt, der die britischen Gruppen Plane Stupid und Hands Off Iraqi Oil unterwandert und ausgehorcht hatte, vermutlich im Auftrag eines privaten Unternehmens.

 Attac unter Beobachtung

 Auch in der Schweiz stiess ein derartiger Fall auf ein grosses Medienecho. So liess Nestlé in den Jahren 2003 bis 2005 eine Attac-Gruppe im Waadtland überwachen. Nestlé hatte zu diesem Zweck die schweizerische Sicherheitsfirma Securitas beauftragt, in der wiederum Personen arbeiten, die entweder direkt aus den Diensten kommen oder beste Verbindungen zu diesen haben. Eine Mitarbeiterin von Securitas, die sich als Globalisierungskritikerin ausgab, infiltrierte die Attac-Gruppe. Auch hier gab es Querverbindungen zwischen staatlichem Sicherheitsapparat und privaten Firmen. Der mit der Untersuchung der Affäre beauftragte frühere Kantonsrichter François Jomini kam zu dem Schluss, dass die Waadtländer Polizei während des Gipfeltreffens der G-8-Staaten in Evian im Jahr 2003, als die Westschweizer Behörden mit grossen Sicherheitsproblemen rechneten, die Überwachung von Aktivistengruppen durch die Securitas kannte. Die Polizei habe überdies die Ermittlungsergebnisse verwendet, nach dem G-8-Gipfel allerdings keine Informationen mehr entgegengenommen.

 Im Jahr 2009 wurde ein Strafverfahren gegen das Sicherheitsunternehmen eingestellt. Der zuständige Untersuchungsrichter entschied, es seien allenfalls datenschutzrechtliche Bestimmungen verletzt worden. Diese seien aber mittlerweile verjährt. Zivilrechtliche Schritte sind hingegen davon nicht berührt. Attac bezeichnete den Beschluss als politisch motiviert.

 Von Zeit zu Zeit gibt es auch reumütige private Geheimagenten. So hat ein ehemaliger Mitarbeiter von Beckett Brown International (BBI), einem seit dem Jahr 2000 nicht mehr existierenden privaten Dienst aus den USA, den Medien Dokumente zur Verfügung gestellt, aus denen hervorgeht, wie raffiniert Greenpeace ausspioniert wurde - offensichtlich ein beliebtes Ziel in der Branche. Von einem milliardenschweren, börsennotierten Geschäft der privaten Dienste wie in den USA kann in Deutschland und der Schweiz nicht die Rede sein. Langsam fangen aber auch hier die Drehtüren an, sich zu drehen.

 Stephan Blancke ist Politikwissenschafter und Publizist für nachrichtendienstliche Fragen. Er lebt in Berlin.