MEDIENSPIEGEL 30.8.10
(Online-Archiv: http://www.reitschule.ch/reitschule/mediengruppe/index.html)

Heute im Medienspiegel:
- Reitschule-Kulturtipps (Tojo)
- Reitschule bietet mehr: Müslüm + Parteien pro Reitschule
- Rabe-Info 30.8.10
- Nachtleben: die Kapo + die Zivilcourage
- Gemeinderat gegen rassistische + sexistische Plakate
- Kulturfabrik Lyss wiedereröffnet
- Sans-Papiers: Anzeige gegen Widmer-Schlumpf
- Ausschaffungen: SVP-Hetze; Ausschaffungstod ohne Gesundheitscheck
- Drogen: Teilenkriminalisierung KifferInnen
- Big Brother Sport: Polizeistaat Stadion in SG
- Binz ZH: Räumng verschoben
- 40 Jahre GZ ZH: von Rockern + Töchtern
- Tacheles Berlin: Kultur gegen Kapital
- Anti-Atom: Mühleberg-AnwohnerInnenfrust; Endlager-Widerstand; Tiefenlager-Pläne

----------------------
REITSCHULE
----------------------

Mi 01.09.10
19.00 Uhr - SousLePont - Dänemark Spezialitäten

Do 02.09.10
20.30 Uhr - Tojo - "Kurtli VII" Die Trash-Revue zum verflixten Siebten
22.00 Uhr - Rössli - Roy de Roy (SL)

Fr 03.09.10
20.30 Uhr - Tojo - "Kurtli VII" Die Trash-Revue zum verflixten Siebten
22.00 Uhr - Frauenraum - Popshop mit DJ Anouk Amok und Support, Disco
22.00 Uhr - Dachstock - Wax Tailor (Lab?oratoire/FRA). Support: TAKE (Alpha Pup/USA), Studer TM (Bonzzaj/BE) - Hiphop, Triphop, Dub, Electronica

Sa 04.09.10
0-24 Uhr - ganze Stadt - Aktionstag "Reitschule bietet mehr" - siehe Tagespresse und www.reitschulebietetmehr.ch
17.00 Uhr - Reitschule - Öffentliche Führung durch die Reitschule (Treffpunkt beim Tor)
20.30 Uhr - Tojo - "Kurtli VII" Die Trash-Revue zum verflixten Siebten
22.00 Uhr - Dachstock - Benfay Plattentaufe "Hey, what?s wrong baby!" Live: Benfay (MPC, Synths), Simon Baumann (Drums) & Jan Galega (Bassclarinet, Sax, Electronics) + Special Guests. DJs: Round Table Knights & Jay Sanders - Electronica, Techno

So 05.09.10
09.00 Uhr - Grosse Halle - Flohmarkt und Brunch im SousLePont bis 16.00 Uhr
13.30 Uhr - Kino - Kinderfilm am Flohmi-Sonntag: Pippi Langstrumpf, Olle Hellbom, Astrid Lindgren, S/D 1969
17.00 Uhr - Reitschule - Öffentliche Führung durch die Reitschule (Treffpunkt beim Tor)
20.15 Uhr - Kino - TATORT REITSCHULE: Tatort-Direktübertragung (ab 19.00)

Infos:
http://www.reitschule.ch
http://www.reitschulebietetmehr.ch

---

kulturstattbern.derbund.ch 30.8.10

Von Benedikt Sartorius am Montag, den 30. August 2010, um 07:00 Uhr

Kulturbeutel 35/10

(...)

Signora Pergoletti empfiehlt:
Einen Blick auf den Spielplan des Schachthaustheaters zu werfen, am Donnerstag ab 18.30 Uhr ebendort, inklusive Apéro und Künstlerinnen und Künstler, sowie die Trashrevue "Kurtli VII" Do bis Sa im Tojo und aber auch "Schönbeck ist der Herr Karl" unter der Regie von Stefan Suske, ab Mittwoch im Effingertheater.

Frau Kretz empfiehlt:
Den Theater-Nachwuchs auscheckn bei den Bachelor-Projekte des Studiengangs Theater der HKB unter dem Titel "tschüss, die äpfel sind gefallen" am Mittwoch und Donnerstag jeweils um 16h und 20h. Oder sich am "Kurtli VII" einen ablachen bis es Muskelkater gibt (s. oben).

(...)

--------------------------------------------------
REITSCHULE BIETET MEHR
--------------------------------------------------

Langenthaler Tagblatt 30.8.10

Müslüm hat Freund und Feind

Reitschule Bern

Ausser SVP und FDP sind alle Parteien gegen die Initiative

 Samuel Thomi

 Normalerweise reisst das Thema Reitschule in Bern einen tiefen Graben durch die städtische Politik. Wegen der Ende September anstehenden Abstimmung über die SVP-Initiative zum "Verkauf der Reitschule an den Meistbietenden" schliessen sich nun aber die Polit-Reihen bis weit ins bürgerliche Lager (vgl. "Nachgefragt" unten mit Initiant Erich Hess) .

 Alle gegen SVP - und die FDP?

 Im Sommerloch stellten sich zudem bereits über zwanzig Musiker und Autoren hinters alternative Kulturzentrum. Nicht Patent Ochsner, Pedro Lenz oder Züri West, die auch auf der Scheibe sind, stehen seither im Fokus: Müslüm ist über 235000 Mal auf der Homepage Youtube.com angeguckt worden. Der Clip "Erich, Warum bisch Du nid Ehrlich?" des Komikers mit türkischen Wurzeln schlug wie eine Bombe ein: "Den Erfolg hat niemand erwarten können", so Rahel Ruch von der Jungen Alternative. Zusammen mit SP, EVP, CVP und BDP und der Grünen freien Liste (GFL), den Grünliberalen (GLP) sowie dem Grünen Bündnis (GB) sind alle Parteien ausser die SVP und FDP gegen die Initiative. Die FDP will die Parole in einer Woche fassen - und ist gespalten. Preschte doch die Sektion Kirchenfeld vor und lancierte Hess' Initiative mit.

 Bei der Präsentation des überparteilichen Komitees stellte Stadträtin Barbara Streit am Freitag aber auch klar: "Die EVP ist zwar kein Fan der Reitschule, das heisst aber noch lange nicht, dass sie dem Meistbietenden verkauft werden soll." Auch wenn er privat oft in der "Halle" verkehre, hält es GLP-Stadtrat Claude Grosjean ähnlich: "Wir sagen Ja zur Kulturinstitution." Zur oft in Anspruch genommenen Autonomie zähle aber auch "eigenverantwortliches Handeln".

 "Verbesserungspotenzial"

 Diesbezüglich habe sich die "Situation zwar stark gebessert". Als Partner städtischer Leistungsverträge bestehe aber "beidseitig Verbesserungspotenzial". CVP-Präsident Michael Daphinoff sagt: "Das Vertrauen fehlt, weil in der Reitschule die Verantwortung zu oft an ein unbestimmtes Kollektiv abgeschoben wird." Daher sei die CVP "klar gegen die veraltete Basisdemokratie" und verlange, die Reitschule in einem Verein zu organisieren. Doch keinesfalls dürfe sie geschlossen werden.

 "Im schlimmsten Fall kaufen die Reitschüler das Gebäude selber", kommentiert BDP-Stadtrat Martin Schneider. "Wir wollen keinen zweiten Progr" - Bern habe ein Interesse, mitbestimmen zu können, was mit der Reitschule geht. Für SP-Stadtrat Ruedi Keller gibts noch einen anderen Grund, Sorge zu tragen: "Mit 65 Prozent hat die Reitschule den höchsten Selbstfinanzierungsgrad aller Berner Kulturinstitutionen." Jährlich würden etwa 50000 Stunden Freiwilligenarbeit geleistet. Keller: "Müslüms Videoclip ist nur die Spitze."

 Was sagt die Reitschule zum politischen Rückhalt? Tom Locher von der Mediengruppe freut sich - auch über den Kampagnenstart: "Neben Müslüm engagieren sich im Alltag Dutzende in und ausserhalb der Reitschule gegen die Initiative. Sie etabliert sich als Wahrzeichen Berns." Das alternative Kulturzentrum sei "richtig zum Thema geworden". Und: "Das ist gut für uns." Sei es doch "in den letzten Jahren" zu "zahlreichen Diffamierungs-Kampagnen des Mitte-rechts-Lagers" gekommen. Das Drogenproblem der Stadt zum Beispiel sei der Reitschule angelastet worden. Obwohl diese manchmal unter der städtischen Drogenpolitik leide. Zum Beispiel belaste der abschlägige Entscheid für den Bau einer zweiten Drogenanlaufstelle zur Entlastung der bisher einzigen an der Hodlerstrasse die Reitschule und Umgebung.

 Oder für die seit Jahren versprochene Umgestaltung und Belebung der Schützenmatte sei noch nicht einmal die Planung gestartet worden (s. Text links). "Trotz der vielen Sympathiebekundungen müssen die Leute nun auch abstimmen gehen", kommentiert Locher. "Noch ist die Initiative nicht abgelehnt."

 In vier Wochen - am 26. September - weiss man mehr. Dann stimmt die Stadt Bern ab.

--

 Licht für die "Schütz"?

 Jetzt ist es amtlich: Das Gebiet Bollwerk/Schützenmatte sowie dessen Zugangsachsen Hodlerstrasse, Genfer- und Speichergasse sind des Nachts tatsächlich schlecht beleuchtet. Dies ergaben Lux-Messungen, die im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft "Boulevard" durchgeführt wurden. Auch der Gemeinderat hat längst erkannt, dass das Gebiet um die Reitschule städtebaulich nicht besonders attraktiv ist. Aus finanziellen Überlegungen will er die langfristige Planung aber erst 2012 angehen. Das ist dem Grünen Bündnis zu spät. Ob der Messresultate fordert dieses - wo ungenügend - als Zwischenschritt in einer Mitteilung sofort ein neues Beleuchtungskonzept. (sat)

--

Nachgefragt

 "Ich werde weiter Druck aufbauen"

Interview: Samuel Thomi

 Grossrat Erich J. Hess, Präsident JSVP Schweiz, über seine städtische Initiative zum Verkauf der Berner Reitschule an den Meistbietenden.

 Herr Hess, für Sie ist die Reitschule ein rechtsfreier Raum, Hort von Gewalt, Terroristen und Linksextremen. Löst der Verkauf an den Meistbietenden das Problem?

 Erich Hess: Ja. Bevor die Reitschule verkauft wird, muss sie geräumt werden. Dann übernimmt der neue Besitzer die Verantwortung fürs Gebäude.

 Würde die Reitschule zum Schwimmbad oder Kinokomplex umgebaut, ginge ein anerkanntes Kulturzentrum verloren.

 Hess: Bern würde nicht zur kulturellen Öde. Es gibt genug Orte mit ähnlich gelagerter Kultur. Zudem kostet die Reitschule den Steuerzahler jährlich mehrere Millionen Franken. Im Gegenzug halten sich die Leute nicht an unser Recht. Alle gewalttätigen Demos werden aus der Reithalle organisiert. Erst seit der Initiative ist es relativ ruhig. Danach ist bereits der nächste Antifa-Abendspaziergang geplant.

 Immerhin erhielt die Reitschule 1999 vom bürgerlich geprägten Kanton den Kulturpreis. Oder die Karriere von "Züri West" startete in der Reitschule ...

 Hess: Ich habe Mühe mit den Preisen, die von Kanton und Stadt verliehen werden. Zudem gibts auch private Lokale, wo Bands auftreten können. Randständige und jene, die dem Teufel vom Karren gefallen sind, sollen von ihren Aussengemeinden oder Kantonen aufgenommen werden.

 Dennoch scheint das alternative Kulturzentrum in der Bundesstadt auf Rückhalt zählen zu können. - Das Volk jedenfalls stellte sich seit 1990 vier Mal hinter die Reitschule.

 Hess: Die letzte richtige Schliessungsinitiative war vor 20 Jahren. Sonst ging es in den Abstimmungen nur um Subventionen und Gebühren.

 Stadtregierung, Stadtrat und alle Parteien ausser der SVP und FDP stellen sich gegen Ihr Anliegen. Wie ist Ihre Prognose?

 Hess: Ich bin optimistisch - und hoffe auf mindestens 50,1 Prozent am 26. September. Bald starten wir unsere Aufklärungskampagne.

 Und wenn Sie verlieren?

 Hess: Dann werde ich weiter Druck aufbauen. Immerhin sehen Touristen, wenn sie mit dem Zug unterwegs sind, die Reitschule in Bern als Erstes und Letztes.

 Im Abstimmungskampf stehen Sie nun aber im Schatten von Komiker Müslüm ...

 Hess: ...Halt! - Ohne die Initiative wäre dieser Mann nie berühmt geworden. Niemand kannte Müslüm vorher. Und: Ohne Abstimmung hätten all diese Musiker nie eine gemeinsame CD produziert. Ich bin also auch ein Kulturförderer.
 key

---

Bund 28.8.10

Verkauf der Reitschule: Breiter Konsens zum "Nein, aber . . ."

 Gestern haben sich die meisten grossen Stadtberner Parteien offiziell gegen den Verkauf der Reitschule ausgesprochen. Gefehlt hat neben der SVP nur die FDP.

 Christian Brönnimann

 Dass 5 der 7 Fraktionen des Berner Stadtrats gemeinsam zu einer Medienkonferenz einladen, kommt nicht alle Tage vor. Der Affiche entsprechend gross und heterogen war die Runde, die gestern ihre Argumente gegen die SVP-Initiative zum Verkauf der Reitschule kundtat. Acht Vertreterinnen und Vertreter von SP, JA, GB, GFL, GLP, CVP, BDP und EVP sprachen sich im Namen ihrer Parteien für die Reitschule aus. Sie leiste einen grossen Beitrag an das städtische Kulturleben, lautete der allgemeine Tenor.

 So viel zum gemeinsamen Nenner. Daneben traten auch Unterschiede zu Tage. Eigentlich sei ihre Partei kein "Fan" der Reitschule, sagte zum Beispiel EVP-Stadträtin Barbara Streit. Das bedeute aber noch lange nicht, dass man die Institution einfach räumen und verkaufen sollte. Die kulturellen Freiräume jenseits von Konsum und Kommerz seien wichtig für Bern. Michael Daphinoff, Präsident der Stadtberner CVP, betonte den Wert der Freiwilligenarbeit, die in der Reitschule geleistet werde. Schätzungen zufolge sind es 50 000 Stunden jährlich. Wenn man etwas aus "freiem Willen" tue, heisse dies aber auch, die Verantwortung dafür zu übernehmen, sagte Daphinoff. Hier hapere es. Die basisdemokratischen Strukturen der Reitschule gehörten abgeschafft. Darauf müsse die Stadt bei den Verhandlungen über die zukünftigen Leistungsverträge pochen.

 In die gleiche Kerbe schlug GLP-Stadtrat Claude Grosjean: "Wir erwarten, dass die Reitschule ein verlässlicherer Partner wird." Die aktuelle Initiative bezeichnete er nach den vier Reitschul-Abstimmungen der letzten 20 Jahren als "fantasielosesten Versuch", die Reitschule abzuschaffen. "Es geht eher um die Profilierung einzelner Personen als um die Sache." Martin Schneider (BDP) schliesslich sagte, es wäre fahrlässig, wenn die Stadt die Reitschule verkaufen würde. Im zentralen Perimeter Schützenmatte würde sie sich so die Handlungsmöglichkeiten massiv einschränken. "Theoretisch wäre es auch möglich, dass der Islamische Zentralrat das Gebäude kaufen und eine Moschee errichten würde", so Schneider. Die Reitschule sei eine gute Möglichkeit für Jugendliche, sich zu entfalten.

 Viel Leistung für wenig Geld

 Je weiter links im politischen Spektrum, desto klarer war für die Referenten die Angelegenheit: Die Reitschule dürfe nicht als Sündenbock missbraucht werden für die Probleme der Stadt Bern, sagte Peter Künzler (GFL). "Beide Seiten müssen ihre Pflichten wahrnehmen." Die Stadt Bern erhalte für wenig Geld - 250 000 Franken Mieterlass und 140 000 Franken direkte Subventionen - einen grossen kulturellen Gegenwert, sagte SP-Stadtrat Ruedi Keller. Rahel Ruch (JA) lobte die Reitschule als "einmaliges Begegnungszentrum, in welchem sich alle engagieren können". Und Hasim Sancar (GB) warb schlicht mit dem Slogan des Reitschul-Komitees (siehe "Bund" vom 23. 6.): "Die Reitschule bietet mehr."

 Eigene Aktionen im Abstimmungskampf planen die Parteien nicht. "Das überlassen wir dem Reitschul-Komitee", sagte Ruedi Keller. Trotz Anfrage nicht mit an Bord war gestern die FDP. "Wir fassen die Parole erst am 6. September und wollten der Parteiversammlung nicht vorgreifen", sagte Fraktionspräsident Philippe Müller auf Anfrage. Er erwarte, dass die Parteimitglieder Stimmfreigabe beschliessen werden. Wegen der Sicherheitsbedenken sei die FDP gespalten. Dass sich mit Alexander Feuz, Präsident der FDP-Sektion Kirchenfeld, bereits ein Parteiexponent im Initiativkomitee von Erich Hess engagiere (siehe "Bund" vom 13. 8.), sei "nicht so gut", aber in einer liberalen Partei zulässig. Er selber werde ein Nein in die Urne legen, so Müller.

 Die Volksabstimmung über den Verkauf der Reitschule an den Meistbietenden findet am 26. September statt.

---

BZ 28.8.10

Reitschule

 Breiter Widerstand gegen Initiative

 Acht Parteien bekämpfen gemeinsam die Reitschule-Schliessung. Sie loben das Kulturangebot, die Freiwilligenarbeit und die vielen Möglichkeiten zur persönlichen Entfaltung. Eine Mehrheit macht der Reitschule aber Auflagen.

 Breite Unterstützung für die Reitschule: Die Parteien GB, JA, SP, GFL, EVP, GLP, CVP und BDP legten gestern den Medien gemeinsam ihr Nein zur SVP-Initiative "Schliessung und Verkauf der Reitschule!" dar.

 Einhellig gerühmt wurde insbesondere das kulturelle Angebot der Reitschule. Laut Claude Grosjean von der GLP genüge etwa das Tojo-Theater internationalen Ansprüchen: "Dort habe ich die eindrücklichsten Stücke gesehen." Ruedi Keller von der SP wies darauf hin, dass die Reitschule der Stadt ein einmaliges Preis-Leistungs-Verhältnis biete.

 Rahel Ruch von der JA schwärmte von der Durchmischung, die nirgendwo sonst in Bern so gross sei. "Die Reitschule hat Platz für solche, die durchs soziale Netz gefallen sind", sagte sie. Trotzdem müssten die Initianten - laut Ruch die Gleichen, die über die faule Jugend klagten - ihrer Meinung nach bei einem Reitschule-Besuch begeistert sein: "Immer neue junge Menschen engagieren sich dort für wenig Geld, aber mit viel Herzblut."

 EVP braucht Pragmatismus

 Den Aspekt der Freiwilligenarbeit strichen die meisten Redner heraus, auch Barbara Streit von der EVP. Sie bezeichnete die Reitschule als eine "Art Gegenwelt" zum allgemeinen Konsum und Kommerz. Streit: "Es braucht manchmal Pragmatismus - die Reitschule hat doch einen Platz in dieser Stadt." Mit dem Verweis auf den nötigen Pragmatismus leitete sie über zu ihrem Vorbehalt: Bezüglich Sicherheit sei die Situation in und um die Reitschule noch nicht zufriedenstellend.

 Die "Ja, aber"-Fraktion

 Mit diesem Vorbehalt ist die EVP nicht allein. Eine Mehrheit der Parteien, die gestern gegen die Initiative einstanden, knüpft an ihr Ja zur Reitschule ein Aber.

 So fordert die GLP die Reitschule auf, der Stadt ein verlässliches Gegenüber zu sein, einen permanenten Sicherheitsdienst zu organisieren und bei eskalierenden Demonstrationen das grosse Tor zu schliessen.

 Auch die CVP erinnerte daran, dass die Reitschule die Verträge zwischen ihr und der Stadt regelmässig nicht einhalte. Für Parteipräsident Michael Daphinoff braucht es verantwortliche Ansprechpersonen. Grundlage dazu: "Die Basisdemokratie muss fallen." Gleicher Meinung ist Martin Schneider von der BDP. Er habe sich selber als Jugendlicher in der Reitschule entfalten dürfen. Heute seien veränderte Strukturen in der Reitschule aber Bedingung für die Aufwertung des ganzen Perimeters.

 "Populistische Initiative"

 Peter Künzler von der GFL sieht im Perimeter Schützenmatte/Bollwerk ebenfalls Potenzial. Dieses lasse sich aber am besten nutzen, wenn die Reitschule im Besitz der Stadt bleibe.

 Die Initiative sei der populistische Versuch, die Reitschule zum Sündenbock zu machen, auch für Probleme, für die sie nichts könne. Darin war sich das Bündnis ebenso einig wie in der Würdigung der Kultur und der Freiwilligenarbeit. Sobald künftige Diskussionen über diese Punkte hinausgehen, werden die Karten wieder neu gemischt.

 Christoph Hämmann

---

BZ 28.8.10

Leserinnenbrief

Gotthelf und die Reitschule

 Zur Reitschule-Abstimmung in der Stadt Bern vom 26. September

 Ja, was hat denn Gotthelf mit der Berner Reitschule zu tun? Er schrieb im Vorwort zum Buch "Uli der Pächter" am 13. Oktober 1848 unter anderem Folgendes: "Der Verfasser behauptet nicht, das Rechte getroffen, sondern bloss das: mit ehrlichem Willen nach dem Rechten gestrebt zu haben."

 Ich habe viele Bücher von Jeremias Gotthelf gelesen, und ich kann ruhig sagen, dass es mein Lieblingsautor war. Ich weiss nicht mehr, in welchem seiner Bücher er über das Problem der Randgruppen geschrieben hat, aber seinen Rat, den man heute auch auf die Reitschule in Bern anwenden sollte, habe ich nicht vergessen: Problemgruppen darf man nie absondern, sondern auf die gesunden Bauernfamilien verteilen. So wird die Verantwortung für die Einzelnen in einer gesunden Umgebung wahrgenommen, und das krankhafte oder widernatürliche Verhalten kann gestoppt werden.

Theres Farine Zollikofen

------------------------
RABE-INFO
---------------------

Mo. 30. August 2010
http://www.rabe.ch/uploads/tx_mcpodcast/RaBe-_Info_30._August_2010.mp3
http://www.rabe.ch/nc/webplayer.html?song_url=uploads/tx_mcpodcast/RaBe-_Info_30._August_2010.mp3&song_title=RaBe-%20Info%2030.%20August%202010
- Zu Besuch im Berner Kulturzentrum Reitschule- heute die Rössli- Bar
- Kopf der Woche: Karl von "Transgender Luxenburg"

Links:
http://www.roessli.be
http://www.facebook.com/group.php
http://www.youtube.com/transgenderchannel

-------------------------
NACHTLEBEN
-------------------------

Bund 28.8.10

Prävention Die Kantonspolizei will die Ausgehenden zu mehr Zivilcourage animieren - gestern suchte sie dafür die Hilfe der Barbetreiber in der Aarbergergasse.

 Hinschauen im Ausgang

Timo Kollbrunner

 "Die Wichtigkeit von Präventionsarbeit wird von manchen unterschätzt", sagt Daniel Roth, einer von drei vollamtlich für Prävention angestellten Polizisten in der Region Bern. Der Erfolg ihrer Arbeit sei kaum messbar, zuweilen dauere es lange, bis er sich einstelle. Um auf die Relevanz von vorbeugenden Handlungen hinzuweisen, finden unter dem Motto "Häreluege - nid wägluege" derzeit die Präventionstage der Kantonspolizei statt. In Schulhäusern führen die Beamten Workshops zur Gewaltprävention durch, und heute wird die Kaserne auf dem Waisenhausplatz für Interessierte geöffnet.

 Auch am Freitag sind Roth und sein Kollege Pascal Baumann im Rahmen der Präventionstage unterwegs: Das Ziel des Tages ist es, die Nachtschwärmer in der Aarbergergasse an ihre soziale Verantwortung zu erinnern. Dafür wurden Flyer gedruckt, und nun machen sich die beiden Polizisten nachmittags auf, um die Zettel an die Betreiber der Ausgehlokale auszuhändigen. Diese sind angehalten, die Flyer unter das Partyvolk zu bringen. "So erreichen wir die Leute besser, als wenn wir Polizisten sie verteilen", sagt Baumann. Um ihre Botschaft zu platzieren, setzt die Polizei auf bekannte Symbolik: Die berühmten drei buddhistischen Affen zieren das Papier, doch statt sich die Sinnesorgane zuzuhalten, spitzt der eine die Ohren, der nächste beobachtet angestrengt, der dritte schreit. "Zeigen Sie Zivilcourage, denn weggeschaut ist mitgemacht", steht geschrieben. Auf der Rückseite findet der Leser Vorgaben, wie er sich zu verhalten hat, wenn er polizeirelevante Vergehen beobachtet. "Ich helfe, ohne mich selbst in Gefahr zu bringen", steht etwa geschrieben.

 Die Aktion sei auch Teil der Bestrebungen, die Vernetzung mit den Betreibern der Lokale zu verbessern, hatte Baumann erklärt. Es sei wichtig, dass die Klubbetreiber wüssten, an wen sie sich wenden können, wenn sie Hilfe benötigen. Dass der Dialog zwischen Beamten und Gastronomen durchaus noch verbessert werden könnte, zeigt das Gespräch im ersten Lokal. Baumann erläutert die einzelnen Punkte auf dem Zettel und kündigt an, in einer Woche wieder vorbeizukommen, um den Erfolg der Aktion zu überprüfen. Die Betreiber versprechen, die Flyer abends aufzulegen. Ein eigentlicher Austausch aber findet nicht statt.

 Nachdem die beiden Beamten abgezogen sind, sagt der Barbetreiber, er beurteile es als "grundsätzlich positiv", dass die Polizei auf sie zukomme. "Was es bringt, werden wir dann sehen." Er frage sich allerdings, warum die Aktion nur in der Aarbergergasse und nicht in der ganzen Stadt durchgeführt werde - denn es sei keineswegs so, dass es in der Aarbergergasse beinahe allabendlich zu Schlägereien komme und es in den anderen Gassen stets friedlich zu- und hergehe. Wie er und sein Lokal heissen, möchte der Mann nicht in der Zeitung lesen - im Zusammenhang mit Schlägereien genannt zu werden, ist keine gute Werbung. Auch der Betreiber eines anderen Lokals, das von den Beamten besucht wurde, ist der Meinung, die Aarbergergasse sei "nicht so gefährlich, wie sie in den Medien gemacht wird". Das subjektive Sicherheitsempfinden in der Gasse sei allerdings tatsächlich ein Problem - jedoch nicht primär wegen Schlägereien, sondern aufgrund der herumlungernden Dealer und "Drögeler". Wenn die Polizei die Drogendealer, die sich nun einmal in der Gasse aufhielten, so häufig kontrollieren würde wie die Parkposition seines Autos, ist der Mann überzeugt, würde das Problem gelindert - oder zumindest verschoben. Die Flyer-Aktion sei "eine schöne Geste", doch was er sich eigentlich wünsche, seien strengere Kontrollen.

----------------------
PLAKAT BE
----------------------

20 Minuten 30.8.10

Rassismus und Sexismus auf Plakatwänden stoppen

 BERN. Schluss mit nackten Hintern, schwarzen Schäfchen und Raketen-Minaretten: Die Berner Stadtregierung will diskriminierende Plakate verbieten.

 Nicht nur rassistische Motive, sondern auch sexistische Inhalte will der Gemeinderat auf Berner Plakatwänden zensurieren. Unter das Verbot könnten demnach sowohl politische Sujets wie die Minarett-Plakate als auch die entblössten Hinterteile von Sloggy fallen. "Diese frauenverachtende Affiche hat ebenso wie die Hetzplakate der SVP gezeigt, dass es eine klare Regelung braucht", sagt Rahel Ruch (JA!). Zusammen mit 19 weiteren Stadträten hat sie einen entsprechenden Vorstoss eingereicht, den der Gemeinderat dem Parlament nun teilweise zur Annahme empfiehlt. Das Reklamereglement soll mit Kriterien ergänzt werden, die eindeutig festlegen, was künftig nicht mehr zulässig ist.

 Als Vorbild gilt die Plakatverordnung der Stadt Basel, die dort zu einem Verbot des Minarett-Sujets führte. Entgegen den weitergehenden Forderungen will die Stadtregierung aber keine Zensurbehörde einsetzen, sondern die Kontrolle in erster Linie den Plakat-Gesellschaften überlassen. "Damit könnten wir leben", sagt Ruch. Wie schwierig die Umsetzung werden könnte, zeigt der Grenzfall Schäfchen-Plakat: Während für Ruch klar ist, dass die Stadt solche Motive nicht mehr dulden dürfte, widerspricht SVP-Stadtrat Simon Glauser: "Bisher hat kein Gericht unsere Plakate beanstandet. Man kann nicht jedes Mal, wenn sich eine Minderheit betupft fühlt, mit einem Verbot reagieren."  

PATRICK MARBACH

--------------------
KUFA LYSS
---------------------

BZ 28.8.10

Lyss, Kulturfabrik

 Kufa wurde feierlich voreröffnet

 So bunt wie gestern Abend an der Voreröffnung wird das Publikum in der Kulturfabrik Lyss wohl nie mehr sein. An der Bar stand zum Beispiel Regierungspräsident Hans-Jürg Käser neben den Mitgliedern des Jugendvereins Lyss, die früheren und aktuellen Kufa-Betreiber. "Ich bin begeistert, die Kufa ist einfach, modern und zweckmässig geworden", sagte Käser. Er sprach in seiner Rede von einem einmaligen Gemeinschaftsprojekt der hiesigen Jugendlichen, den regionalen Gemeinden und der Stiftung Vinetum. Zusammen hätten sie in den letzten drei Jahren weder Arbeit noch Geld gescheut, um die Kulturfabrik Wirklichkeit werden zu lassen. Auch Hermann Moser, ehemaliger Lysser Gemeindepräsident, von allen nur "Kufa-Vater" genannt, war da. Ihm gefällt der Mix aus Blech und Holz. "Das war nur möglich, weil wir in Lyss gute Junge haben, die etwas bewegen wollten", sagte Moser. Auch im aktuellen Lysser Gemeinderat ist man des Lobes voll: "Es ist gut, wieder ein Lokal in Lyss für die Jugend zu haben, damit diese nicht mehr nach Bern oder Biel abwandern", sagte Gemeindepräsident Andreas Hegg. Vom 2. bis 4. September wird die Kulturfabrik mit einem grossen Fest eingeweiht.

 Tanja Kammermann

------------------------------
SANS-PAPIERS
-------------------------------

Sonntag 29.8.10

Bundesanwalt vs. Bundesrätin

 Erwin Beyeler prüft Anzeige gegen Eveline Widmer-Schlumpf wegen Begünstigung

von Sandro Brotz

 Ausgerechnet der Bundesanwalt muss sich jetzt mit einer Anzeige gegen Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf befassen, die der SVP-Grossrat Andreas A. Glarner aus Oberwil-Lieli eingereicht hat. Das Bezirksamt Laufenburg AG hat diese an die Bundesanwaltschaft (BA) weitergeleitet. "Die infrage stehende Anzeige ist eingegangen und wird geprüft", bestätigt BA-Sprecherin Jeannette Balmer.

 Hintergrund ist die von einer Sans-Papiers-Demo unterbrochene 1.-August-Feier von Eiken, an der Widmer-Schlumpf aufgetreten war. Mehr als 100 Personen störten ihre Rede mit Parolen. Die Polizei verzichtete auf Personenkontrollen, dafür mussten die Demonstranten ihr Megafon abgeben. Widmer-Schlumpf erklärte sich zu einem Treffen mit einer Fünfer-Delegation bereit. Anlass genug für Grossrat Glarner, gegen die Justizministerin eine Strafanzeige einzureichen - unter anderem wegen Begünstigung und Amtsanmassung. Widmer-Schlumpf habe "illegal anwesende Personen einfach gewähren lassen", so die Argumentation von Glarner. Die BA muss sich laut Artikel 336 des Strafgesetzbuchs um Verfahren kümmern, die sich gegen Magistratspersonen des Bundes richten.

 Pikant: Zwischen Bundesanwalt Erwin Beyeler und der Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf herrscht seit Beginn an ein miserables Einvernehmen. Es kommt immer wieder zu Auseinandersetzungen, weil der Bundesanwalt und die Justizministerin andere Auffassungen von Führung haben. Seither muss Beyeler alle paar Wochen zu einem so genannten Führungsgespräch antraben. Es gelang ihm bisher aber auch nicht, die Lügen-Vorwürfe gegen seine Person im Fall Ramos auszuräumen.

 Der Aargauer Polizeidirektor Urs Hofmann hatte verlauten lassen, ihm sei von einer "ungehörigen Einflussnahme" der Bundesrätin auf das Vorgehen der Polizei am 1. August in Eiken nichts bekannt.

----------------------------------
AUSSCHAFFUNGEN
----------------------------------

NZZ 30.8.10

Für Ausschaffungen "ohne Wenn und Aber"

 Die SVP beginnt den Abstimmungskampf für ihre ausländerpolitische Initiative

 Die Schweizerische Volkspartei hat an einer Delegiertenversammlung ihre Initiative für die Ausschaffung krimineller Ausländer propagiert. Den Gegenvorschlag des Parlaments lehnte sie einstimmig ab.

 C. W. Baar · Von der Abstimmung des Jahres und von einem Kerngeschäft der Partei war die Rede, als es an der Delegiertenversammlung der SVP am Samstag um die Ausschaffungsinitiative ging, die am 28. November vors Volk kommt. Als einzige Partei nehme sich die SVP der asyl- und ausländerpolitischen Probleme an, behauptete Präsident Toni Brunner und verwies auf ihre "Volksbefragung". Die flächendeckend verteilte Flugschrift habe schon 45 000 Rückmeldungen und 1200 Beitritte ausgelöst. Die Ausschaffung Krimineller habe am meisten Zustimmung erhalten.

 Kein Kompromiss

 Die Initiative enthält einen Katalog von Delikten - von Mord bis zu Einbruch und "Missbrauch" von Sozialversicherungen -, die zum Verlust des Aufenthaltsrechts führen. Fraktionschef Caspar Baader versuchte, diese Regelung in einen rechtsstaatlichen Rahmen zu stellen, indem er die klare Nennung der Kriterien hervorhob. Von den Konflikten mit Grundsätzen des Verfassungs- und Völkerrechts erwähnte er nur jenen mit dem Freizügigkeitsabkommen, der seiner Meinung nach nicht existiert oder keine Folgen hätte.

 Dass die Partei ihre eigene Initiative mit 415 zu 0 Stimmen unterstützte, war keine Überraschung. Weniger zwingend erscheint - von der Sache her - die ebenso einhellige Ablehnung des Gegenvorschlags, der verbindliche Regeln festschreibt, aber die erwähnten Konflikte vermeidet. Sie wolle keinen Kompromiss, sagte Nationalrätin Natalie Rickli. Während die Verwaltung annimmt, dass sich die Zahl der Ausweisungen (heute 350 bis 400 pro Jahr) verdoppeln würde, sagte Baader, der Gegenvorschlag lasse so viel Ermessensspielraum, dass praktisch keine Ausweisungen mehr möglich wären. In einer kurzen Podiumsdiskussion bejahte CVP-Nationalrätin Esther Egger-Wyss das Bestehen eines Problems, lehnte die Initiative aber als nicht umsetzbar ab und plädierte für den Gegenvorschlag. Der grüne Nationalrat Louis Schelbert ist hingegen der Ansicht, das geltende Recht genüge. Weil die Initiative auch kleinere Delikte einbeziehe, sei sie unverhältnismässig.

 Die Delegierten wollten "klare Verhältnisse, keine Interpretationslösungen" (Josef Schärli, Luzern) und Ausschaffungen "ohne Wenn und Aber" (Mauro Tuena, Zürich). Entlarvend fragte Nationalrat Adrian Amstutz, von wessen Menschenrechten man eigentlich rede.

 Gerade auch die Bestimmungen über die Integration sprechen aus Sicht der SVP gegen den Alternativentwurf des Parlamentes. Es handle sich nicht um eine Staatsaufgabe, hiess es, und Rickli sah darin eine direkte Relativierung der Normen über die Ausweisung. Vergeblich hob Egger hervor, der Absatz bedeute auch, dass man von den Ausländern Integration erwarte.

 Für Steuerwettbewerb

 Vergleichsweise ruhig wurde über die zweite Vorlage für die November-Abstimmung beraten, die sozialdemokratische Steuergerechtigkeitsinitiative. Seitens der Initianten warb Nationalrat Hansjörg Fehr bei den Delegierten, die doch weder zu den Superreichen gehörten noch internationale Konzerne verträten, für die geforderten Mindeststeuersätze ab bestimmten Einkommens- und Vermögensgrenzen. Unmittelbare Folgen hätte die Vorschrift heute nur für sechs beziehungsweise neun Kantone. Namentlich die Nationalräte Jean-Pierre Grin und Bruno Zuppiger wandten sich gegen eine weitere Einschränkung des interkantonalen Steuerwettbewerbs und einen zu befürchtenden Druck in Richtung generell höherer Steuern. Die Nein-Parole wurde mit einer Gegenstimme und fünf Enthaltungen beschlossen.

--

 "Ich werde die Probleme der Armee lösen"

 C. W. · Bundesrat Ueli Maurer trat vor seiner Partei nicht auf, um die Position von Regierung und Parlament zur Ausschaffungsinitiative zu vertreten (er stimmte für die Parolen). Vielmehr sprach er über die Armee - eine Armee, in der, wie er sagte, Bürger motiviert, ja mit Begeisterung ihren Dienst leisten, während in der Ausrüstung das Chaos herrscht, die Logistik vor dem Absturz steht und die ganze Informatik nicht funktioniert. In den anderthalb Jahren seiner Tätigkeit als Chef des Verteidigungsdepartements seien allerdings wesentliche Fortschritte gemacht worden.

 Bis Ende 2011 sollte die Truppe ordentlich ausgerüstet sein; es werde aber noch weitere Jahre brauchen, um alle einschlägigen Projekte umzusetzen und Lücken zu füllen. Hätte der Bundesrat den Flugzeugkauf beschlossen, würde acht Jahre lang kein Franken für andere Beschaffungen zur Verfügung stehen und die Armee "grounden", behauptete der VBS-Chef. Langfristig sei zu klären, wozu die Armee fähig sein müsse - und zwar durch die Politik, nicht wie früher durch die Armee selber. "Die Probleme sind vielschichtig", lautete das Fazit des lang beklatschten Schwarz-Weiss-Bilds, "ich habe sie nicht gemacht, aber ich werde sie lösen."

 Nachtrag aus der "Sonntags-Zeitung": "Und was ist, wenn Sie das nötige Geld nicht erhalten?" - "Dann wechsle ich das Departement."

---

sf.tv 29.8.10

Toter Nigerianer: Kein Gesundheitscheck vor Abschiebung

sf/gern

 Die Behörden haben bei der Zwangsausschaffung eines Nigerianers vergangenen März offenbar verschiedene Bestimmungen des Zwangsanwendungsgesetzes verletzt. Dies geht aus einem Gutachten der Staatsanwaltschaft hervor. Damals war ein Häftling aus Nigeria kurz vor seiner Ausschaffung verstorben.

 Gemäss dem Gutachten befand sich der Häftling vor seiner Zwangsausschaffung während mindestens 45 Tagen im Hungerstreik. Allenfalls könnte der Streik auch 76 Tage betragen haben, wie die "NZZ am Sonntag" berichtet.

 Gesundheitscheck übergangen

 In dieser Zeit habe der Nigerianer von 93 auf 60 Kilogramm abgenommen, heisst es im Gutachten weiter. Trotzdem hätten die Behörden den Gesundheitszustand des Mannes nicht abgeklärt, sondern ihn aus dem Gefängnis zum Flughafen gebracht.

 Sie stülpten dem Mann ein Netz über den Mund und fesselten ihn. Dabei verstarb der Nigerianer. Das Zwangsmassnahmen-Gesetz schreibt vor einer Zwangsausschaffung aber eine medizinische Untersuchung vor, wenn "Anzeichen für gesundheitliche Probleme feststellbar sind" - was laut Gutachten bei dem Mann der Fall gewesen wäre.

---

NZZ am Sonntag 29.8.10

Behörden missachten Gesetz

 Verstorbener Nigerianer hätte vor Zwangsausschaffung "zwingend" von Arzt untersucht werden müssen

 Die Behörden haben bei der Zwangsausschaffung, bei der ein Nigerianer starb, verschiedene Vorschriften verletzt. Das geht aus dem Gutachten der Staatsanwaltschaft hervor.

 Lukas Häuptli

 "Todesursache geklärt", hatte die Zürcher Staatsanwaltschaft über die Medienmitteilung geschrieben, mit der sie im Juni über den Tod des Nigerianers bei dessen Zwangsausschaffung auf dem Flughafen Kloten orientierte. Der Tod des 29-jährigen Mannes im März 2010 sei "gemäss Obduktionsgutachten auf ein Versagen des schwer vorgeschädigten Herzens zurückzuführen, dies in Verbindung mit dem vorausgegangenen Hungerstreik und einem akuten Erregungszustand".

 Was die Staatsanwaltschaft in ihrer Medienmitteilung nicht schrieb: Aus dem 76-seitigen Gutachten, welches das Institut für Rechtsmedizin (IRM) der Universität Zürich für die Staatsanwaltschaft erstellt hatte, geht auch hervor, dass die Behörden während Ausschaffungshaft und Zwangsausschaffung des Mannes gegen verschiedene Bestimmungen des Zwangsanwendungs-Gesetzes und der Zwangsanwendungs-Verordnung verstiessen.

 Gewichtsverlust von 33 Kilo

 Gemäss dem Gutachten, das beim IRM Morten Keller, der Gatte von Bundesratskandidatin Karin Keller-Sutter, verfasst hat, befand sich der Ausschaffungshäftling vor seiner Zwangsausschaffung während mindestens 45 Tagen - allenfalls sogar während mindestens 76 Tagen - im Hungerstreik. In dieser Zeit nahm er von 93 auf 60 Kilogramm ab. "Angesichts des . . . Gewichtsverlustes von mehr als einem Drittel des Körpergewichts muss von einer ernsthaften gesundheitlichen körperlichen Störung gesprochen werden", heisst es im Gutachten. Und Zeno Stanga, Leitender Arzt für Innere Medizin am Berner Inselspital, hält auf Anfrage fest: "Mit schwerwiegenden Folgen muss in der Regel ab einem Gewichtsverlust von 30 bis 40 Prozent des ursprünglichen Körpergewichts gerechnet werden."

 Trotz der "ernsthaften körperlichen Störung" klärten die Behörden am 17. März 2010 den Gesundheitszustand des nigerianischen Ausschaffungshäftlings nicht ab, sondern brachten ihn vom Zürcher Flughafengefängnis zum Flughafen und bereiteten dort seine Zwangsausschaffung vor. Sie stülpten dem Mann ein Netz über den Mund und fesselten ihn. Bei der Fesselung starb der Mann.

 Das Zwangsmassnahmen-Gesetz schreibt vor einer Zwangsausschaffung aber zwangsläufig eine medizinische Untersuchung vor, wenn - wie im Fall des Nigerianers - "Anzeichen für gesundheitliche Probleme feststellbar sind". Der Gutachter kommt denn auch zum Schluss: "Angesichts des . . . Hungerstreikes wäre eine solche ärztliche Abklärung der Transportfähigkeit . . . zwingend gewesen."

 "Einfach mitgeflossen"

 Dass die Abklärung nicht stattfand, hat zwei Gründe: Erstens weigerte sich der Ausschaffungshäftling während seines Hungerstreiks, sich vom Arzt des Flughafengefängnisses untersuchen zu lassen. Und zweitens vertrat der Gefängnisarzt selbst die Meinung, jeder Ausschaffungshäftling sei transportfähig, der "nicht gerade operiert" worden sei oder "nicht gerade eine Zahnplombe erhalten" habe.

 Im Fall des Nigerianers gab schliesslich die Pflegedienstleiterin des Flughafengefängnisses grünes Licht für die Zwangsausschaffung. Sie habe auf einem Fax festgehalten, "dass nichts bekannt ist, dass die Person nicht reisefähig wäre", sagte sie in einer Einvernahme der Kantonspolizei. Sie sagte aber auch, sie arbeite erst seit kurzem im Flughafengefängnis und sei in ihre Arbeit nicht eingeführt worden, sondern "einfach mitgeflossen".

 In Zwangsanwendungs-Gesetz und -Verordnung vorgeschrieben ist auch, dass die Behörden einen Ausschaffungshäftling über seine bevorstehende Zwangsausschaffung informieren und dass alle involvierten Stellen von gesundheitlichen Problemen eines Auszuschaffenden Kenntnis haben müssen. Beides war nicht der Fall. Im Gutachten heisst es unter anderem: "Weshalb die handelnden Polizeibeamten nicht über den Hungerstreik . . . orientiert waren, . . . entzieht sich der Kenntnis des Gutachters."

 Welche Behörden im Einzelnen für die medizinische Untersuchung des Häftlings, dessen Information und die Orientierung der "handelnden Kantonspolizisten" zuständig gewesen waren, steht nicht fest. In Frage kommen Verantwortliche des Flughafengefängnisses, des Zürcher Amtes für Justizvollzug, des Zürcher Migrationsamtes und der Zürcher Kantonspolizei. Bei diesen Behörden wollte zu den Vorwürfen niemand Stellung nehmen. Sie verwiesen auf die laufende Untersuchung des Falls durch die Zürcher Staatsanwaltschaft.

---

Sonntagszeitung 29.8.10

Untersuchung zu Ausschaffungen

 Kommission räumt wegen übertriebener Gewalt der Aufarbeitung grosse Priorität ein

 BERN Die unabhängige eidgenössische Kommission zur Verhütung von Folter untersucht die Zwangsausschaffung abgewiesener Asylbewerber. Ihr Vizepräsident Marco Mona erklärt, die Angelegenheit habe hohe Priorität. Denn wenn der Bund Asylbewerber gegen ihren Willen ausschafft, kommt es immer wieder zu übertriebener Gewaltanwendung.

 Dass die Zwangsausschaffungsflüge nicht reibungslos verlaufen, räumt auch das Bundesamt für Migration (BFM) ein. Die grosse Mehrheit der Sonderflüge sei dennoch problemlos, beschwichtigt die BFM-Sprecherin Marie Avet.

 Seit der Wiederaufnahme der Zwangsausschaffungen am 24. Juni sind in acht Flügen 50 Personen zurückgeschickt worden. Davor waren die Sonderflüge wegen des Tods eines Nigerianers sistiert. Der Afrikaner hätte am 17. März nach Lagos abgeschoben werden sollen. Das Institut für Rechtsmedizin der Uni Zürich kam in seinem Gutachten zum Schluss, der Mann sei aufgrund einer kaum feststellbaren Erkrankung des Herzens verstorben. Daran glaubt Viktor Györffy nicht. Der Anwalt der Opferfamilie fordert ein zweites Gutachten.

 Um die Sicherheit der Auszuschaffenden zu erhöhen, müssen ab kommendem Jahr bei allen Sonderflügen neutrale Beobachter mit an Bord sein. Die nach der Unterzeichnung des Fakultativprotokolls zur Uno-Antifolter-Konvention eingesetzte 12-köpfige Kommission will diese Aufgabe zwar nicht übernehmen, künftig aber sporadisch Zwangsausschaffungsflüge begleiten. So wie man bereits Abgewiesene in der Ausschaffungshaft besuche, erklärt Mona. Da die Kommissionsarbeit auf Vertraulichkeit basiere, verrät Mona nicht, zu welchen Feststellungen die Kommission bereits gelangt ist.

 Derweil lässt die Bündner Regierungsrätin Barbara Janom Steiner einen der acht Ausschaffungsflüge untersuchen: Die Rückschaffung der sechsköpfigen kurdisch-syrischen Familie, die rüde in Busse verfrachtet wurde, als die Mutter zusammen mit ihren Kindern den Mann Mitte Juli in der Churer Ausschaffungshaft besuchte. Laut Amnesty haben die Bündner die Gesundheit der Familie gefährdet sowie die Kinderrechte und die Verhältnismässigkeit missachtet. Diese Untersuchung soll Mitte September abgeschlossen sein.  

Pascal Tischhauser

------------------
DROGEN
------------------

Bund 28.8.10

Teil-Entkriminalisierung junger Kiffer schafft neue Probleme

 Die Entkriminalisierung des Cannabiskonsums ist problematischer, als manche Politiker wahrhaben wollen. Dies zeigt sich beim St. Galler Modell, das nach dem Willen der Gesundheitskommissionen von National- und Ständerat auf die ganze Schweiz ausgedehnt werden soll. Gemäss diesem Modell werden Kiffer von der Polizei nicht mehr verzeigt, sondern nur noch mit einer Ordnungsbusse belegt - analog zu Falschparkieren oder Schwarzfahren. Die vierjährige Erfahrung in St. Gallen zeigt, dass das Bussenmodell die Früherfassung von suchtgefährdeten Jugendlichen erschwert. "Weil es weniger Anzeigen gibt, gelangen auch weniger junge Kiffer in ein Präventionsprogramm", sagt Stephan Ramseyer von der St. Galler Jugendanwaltschaft. (ac)

 Bericht Seite 11, Kommentar oben

--

Entkriminalisierung junger Kiffer erschwert die Suchtprävention

 Das St. Galler Modell, das national als vorbildlich gilt, wird infrage gestellt.

 Antonio Cortesi, St. Gallen

 Der Kurs beginnt um 17.30   Uhr. Doch Manuel (Name geändert) trudelt erst eine Stunde später ein, mit glänzenden Äuglein und einer fadenscheinigen Entschuldigung. Er habe am Mittag noch ein bisschen gekifft, gesteht der 16-jährige Sekundarschüler später. Und ja, das tägliche Kiffen erschwere es ihm, Abmachungen einzuhalten. Und sich in der Schule zu konzentrieren. Sein letztes Zeugnis bewahrte ihn nur knapp vor dem Abstieg in die Realschule. Dabei möchte er doch in einem Jahr eine Lehre als Detailhandelsangestellter beginnen.

 Im Ermessen der Polizei

 Fabian ist einer von fünf Burschen unter 18 Jahren, die an diesem Abend den Präventionskurs "Himmelblau und Grasgrün" der St. Galler Suchtfachstelle besuchen müssen. Sie hatten das Pech, dass sie der Polizist, der sie beim Cannabiskonsum erwischt hatte, verzeigte. Denn eigentlich gibt es im Kanton St. Gallen seit vier Jahren fürs Kiffen nur noch eine Ordnungsbusse von 60 Franken - analog zur Bestrafung von Falschparkierern oder Schwarzfahrern. Mit dem entscheidenden Vorteil, dass kein Verfahren eröffnet wird und die "Gesetzesbrecher" nicht in der polizeilichen Datenbank registriert werden.

 Dass die fünf Jungen trotzdem verzeigt wurden, lag im Ermessen des Frontpolizisten. Er hielt es in diesen Fällen offenbar für richtig, bei der Jugendanwaltschaft eine sogenannte Gefährdungsmeldung zu machen. Und deshalb hatten die fünf langfristig gesehen auch wieder Glück: Sie wurden zur Abklärung an die Suchtfachstelle verwiesen, wobei der Besuch des Präventionskurses bloss eine der möglichen Massnahmen ist. Das Ziel dabei: Wenn die Jugendlichen das verordnete Programm durchlaufen haben, wird das Verfahren gegen sie eingestellt, und auch die Busse entfällt.

 Nicht um Prävention foutieren

 Das St. Galler Modell zur Entkriminalisierung von Cannabiskonsumenten gilt als pionierhaft und dürfte bald für die ganze Schweiz gelten. Die Subkommission Drogenpolitik der nationalrätlichen Gesundheitskommission erarbeitet derzeit einen Entwurf für ein Ordnungsbussensystem, das sich am St. Galler Vorbild orientiert. Doch wie gut funktioniert das Modell wirklich?

 Die Krux liegt im Widerspruch von Entkriminalisierung und Prävention. Suchtexperten begrüssen zwar die Entkriminalisierung junger Kiffer, befürchten aber gleichzeitig neue Probleme. "Ordnungsbussen dürfen nicht dazu führen, dass sich der Staat um die Prävention foutiert", warnt Markus Theunert, Sekretär des Verbands der Schweizer Suchtfachleute.

 Dieses Problem stellt sich tatsächlich, wie Stephan Ramseyer, Gruppenleiter der St. Galler Jugendanwaltschaft, bestätigt: "Der Nachteil unseres Bussenmodells besteht darin, dass Jugendliche unter 18 Jahren, die ein echtes Drogenproblem haben, weniger rasch erfasst werden." Dass die Polizei zu wenige Gefährdungsmeldungen macht, glaubt Ramseyer nicht: "Weil die Jungen nur noch selten auf der Gasse kiffen, werden sie auch weniger erwischt."

 Wieder alle Kiffer verzeigen

 Die St. Galler Jugendanwälte fordern deshalb, dass die Polizei künftig wieder alle Kiffer unter 18 Jahren verzeigen muss. Das sei "kein Rückfall" zum alten Regime der Prohibition, betont Ramseyer: "Im Vordergrund steht der Sozialgedanke einer wirksamen Suchtprävention."

 Ob auch die Drogenpolitiker der nationalrätlichen Subkommission diese Lösung vorschlagen, ist offen. Der St. Galler Korrekturvorschlag sei eine mögliche Variante, sagt Kommissionsmitglied Thérèse Meyer-Kaelin (CVP). Man sei sich des Problems des Jugendschutzes bewusst. Und: "Wir lassen suchtgefährdete Jugendliche nicht im Stich." Ein Entscheid könnte schon an der Kommissionssitzung vom kommenden Montag fallen.

 Wie geht es mit dem 16-jährigen Manuel in St. Gallen weiter? Für ihn werde es nach dem Besuch des Präventionskurses sicher weitere, allenfalls therapeutische Massnahmen geben, sagt Kursleiter Albert Werder, "immer unter Miteinbezug der Eltern". Dass innert dreier Jahre bloss 50 Jugendliche seinen Kurs besuchen mussten, wertet Werder als Indiz, "dass es bei der Früherkennung von Suchtgefährdeten in unserem Kanton tatsächlich hapert." Dabei eigne sich der Kurs bestens dazu, "die Schwellenangst vor Präventionsmassnahmen zu brechen".

--

Kommentar

 Diesen Autoritäten glaubt keiner

Jean-Martin Büttner

 Was sich auf dem Papier gut liest, scheitert auf der Strasse. Dass nämlich jugendliche Kiffer nicht mehr verzeigt werden, sondern bloss noch gebüsst. Mit diesem Vorschlag möchten die Gesundheitskommissionen im Parlament den Gegnern der Drogenrepression entgegenkommen. Das Bussenmodell wird jene Eltern beruhigen, denen die Entkriminalisierung Angst macht. Gleichzeitig bietet es eine minimale Lösung an, die den jahrelangen Streit um Hanf und Verbote nicht vollends ins Leere laufen lässt. Letzten Endes geht es für die Politiker darum, keine Wähler abzuschrecken und gleichzeitig den Eindruck zu vermitteln, etwas zu unternehmen.

 Wozu diese Politik führt, zeigt sich in St. Gallen: Die angebotene Lösung produziert ein neues Problem. Dass jugendliche Kiffer nicht mehr angezeigt werden, ist bei solchen Bagatelldelikten richtig. Und es entlastet die Polizei, die Wichtigeres zu tun hätte. Wie aber die Ostschweizer Erfahrung mit dem Bussenmodell belegt, bleiben dabei jene Jugendlichen unerkannt, die mit dem Kiffen nicht klarkommen. Das erschwert ihre Früherkennung und bewirkt somit das Gegenteil dessen, was eine gute Drogenpolitik bezweckt. St. Galler Jugendanwälte verlangen, Konsumenten von Cannabis unter 18 Jahren wieder zu verzeigen. Das sei kein Rückfall, beteuern sie; was ist es denn sonst? Damit reinstalliert man gerade das, was das Parlament überwinden möchte.

 Prävention und Kriminalisierung lassen sich nicht vereinbaren. Eine ehrliche Suchtpolitik muss alle Suchtmittel rechtlich gleichbehandeln. Sie soll sich an ihrer Gefährlichkeit orientieren statt an einer Verbotswillkür. Und sie muss den Handel mit weichen Drogen klar regeln und im Sinne des Jugendschutzes kontrollieren. Nur so kann der Staat den Jungen gegenüber glaubwürdig auftreten. Solange der Staat dem Cannabiskonsum vorbeugen will und gleichzeitig Werbung für weit gefährlichere Drogen erlaubt, macht er sich unglaubwürdig. So wird er als Autorität nicht ernst genommen.

-----------------------------------
BIG BROTHER SPORT
-----------------------------------

St. Galler Tagblatt 28.8.10

FCSG: Stadt regelt Sicherheit - Kanton schafft mehr Transparenz

 St. Gallen. Fussball und kein Ende: Gestern Freitag hat die Stadt Massnahmen zur Verbesserung der Sicherheit in der AFG Arena vorgestellt. Zudem ist die Diskussion um das Sanierungspaket für den FC St. Gallen entbrannt.

 FCSG soll weniger zahlen

 Der St. Galler Stadtrat will eine Bewilligungspflicht für Fussballspiele in der AFG Arena einführen. Im Gegenzug soll der FCSG pro Saison für die Sicherheit 360 000 Franken weniger als bisher bezahlen. Das Stadtparlament wird im September über das dafür nötige Reglement entscheiden. Mit der Bewilligungspflicht kann die Polizei neu Sicherheitsauflagen im Stadion selber verfügen. In letzter Konsequenz zählt zu den möglichen Massnahmen auch die Absage eines Spiels.

 Aufgrund der harschen Reaktionen stellte der Kanton St. Gallen gestern nachmittag allen Mitgliedern des Kantonsrates und den Medien ergänzende Unterlagen zur Sanierung der AFG-Arena-Gesellschaften zu.

 Gossau verzichtet auf Staatsgeld

 Diese waren ursprünglich nur für die vorberatende Kommission gedacht gewesen - "eine Fehleinschätzung", wie es hiess. Die zusätzlichen fast 30 Seiten Zahlenmaterial umfassen vorwiegend Finanzplanungen und nur wenig effektive Zahlen - etwa des Personalaufwands in der Betriebs-AG.

 Während der FC St. Gallen um die staatlichen Millionen bangt, will der FC Gossau, wegen des Wettskandals ebenfalls in finanzielle Schieflage geraten, ohne sie auskommen. Wenn die Stadt Gossau helfen solle, so FC-Gossau-Präsident Roland Gnägi, dann nur mit einem Überbrückungskredit. (vre/mel/rb) Thema 3

--

FCSG-Spiele: Polizei redet stärker mit

 Der St. Galler Stadtrat will neue Rechtsgrundlagen für die Sicherheit bei Fussballspielen in der Arena schaffen. Das gibt der Polizei die Möglichkeit, Spiele abzusagen. Politisch umstritten dürfte im Parlament sein, dass die Stadt dem FC bei den Sicherheitskosten entgegenkommen will.

 St. Gallen. Mit dem Umzug vom Espenmoos nach Winkeln hat sich die Sicherheitssituation rund um Heimspiele des FC St. Gallen massiv verschärft. Während rund ums alte Stadion in aller Regel ein bis zwei Dutzend Polizisten im Einsatz standen und Zwischenfälle selten waren, ist es am neuen Standort mehrfach zu Ausschreitungen gekommen. Risikospiele sind heute in der AFG Arena mit massivem Polizeieinsatz verbunden.

 Auf St. Gallen zugeschnittene Lösung

 Aus den Erfahrungen der ersten zwei Jahre im neuen Stadion will der Stadtrat Konsequenzen ziehen. Angestrebt wird eine auf lokale Verhältnisse zugeschnittene Lösung. Nationale Empfehlungen werden teils übernommen, teils wird davon abgewichen. Gestern stellten Stadtrat Nino Cozzio und Stadtpolizeikommandant Pius Valier den neuen Sicherheitsansatz vor.

 Grundsätzlich bleibt der FC St. Gallen für die Sicherheit in der AFG Arena zuständig, die Polizei ist - ausser in Notfällen - im Umfeld tätig. Zentrale Neuerung ist, dass der Stadtrat eine gesetzliche Bewilligungspflicht für Fussballspiele in der Arena einführen will. Auf eine diskutierte generelle Bewilligungspflicht für Sportveranstaltungen in der Stadt soll aber verzichtet werden. Im Entwurf eines neuen Reglements, der sogenannten "Lex Arena", ist einerseits die Bewilligungspflicht geregelt, anderseits wird darin der Verteiler für die Sicherheitskosten der FCSG-Heimspiele neu geregelt. Die entsprechende Vorlage soll vom Stadtparlament bereits an der nächsten Sitzung vom 14. September diskutiert werden.

Polizei entscheidet im Stadion mit

 Mit der Bewilligungspflicht für FCSG-Spiele erhält die Polizei mehr Einfluss im Stadion. Bisher hatte sie keine Möglichkeit, dort zusätzliche Sicherheitsauflagen durchzusetzen. Das Sicherheitskonzept des Clubs erhielt sie zur Kenntnisnahme. Ob der FCSG auf Anraten der Polizei bei einem Spiel zusätzliche Massnahmen ergreifen wollte, war aber seine Sache. Neu soll die Polizei Auflagen verfügen können.

 Man werde bezüglich Sicherheit wie bisher den Dialog mit dem Club pflegen, versicherte Polizeikommandant Pius Valier. Sei man sich uneins, ob es zusätzliche Massnahmen brauche, könne die Polizei sie jetzt anordnen. Zu den im Entwurf des Reglements genannten Massnahmen gehört, dass ein Spiel unter- oder abgebrochen, aber auch schon im Vorfeld abgesagt werden kann. Eine Spielabsage sei kein wünschenswertes Szenario, hielten Stadtrat Nino Cozzio und Polizeikommandant Valier vor den Medien fest. So etwas sei sicher nur als letzte Möglichkeit ins Auge zu fassen, wenn alle anderen Massnahmen versagt hätten.

 Weniger Sicherheitskosten für FCSG

 Heute kosten die Polizeieinsätze rund um die Fussballspiele in der AFG Arena 1,2 bis 1,5 Millionen Franken im Jahr. Bisher musste der FC St. Gallen 60 Prozent übernehmen. Es gab seitens des FCSG mehrfach Kritik an der Höhe des Anteils, aber auch am zu massiven und daher teuren Einsatz der Polizei. Mit dem FCSG-Sanierungspaket soll die Stadt denn auch rund 800 000 Franken nichtbezahlter Sicherheitskosten abschreiben.

 Beim Umfang der Polizeieinsätze kann die Stadt dem FC nicht entgegenkommen. Die Zahl der Einsatzkräfte müsse entsprechend der Risikoabschätzung vor einem Spiel bemessen werden. Und zwar so, dass der Auftrag, für Ruhe und Ordnung zu sorgen, erfüllt werden könne. Das Polizeikommando trage aber auch gegenüber den eigenen Leuten Verantwortung: Man dürfe sie nicht durch zu knapp bemessene Einsatzmittel unnötigen Risiken aussetzen.

 Entgegenkommen will die Stadt dem FCSG bei der Verteilung der Sicherheitskosten. Neu sollen pro Match 200 Mannstunden der Polizei gratis geleistet werden. Vom Aufwand, der bei Risikospielen darüber hinaus betrieben werden muss, soll der Club 60 Prozent berappen. Mit dem neuen Verteilschlüssel spart der FCSG pro Saison rund 360 000 Franken. An der Stadt bleiben damit insgesamt aber deutlich über 50 Prozent der Sicherheitskosten hängen.

 Reto Voneschen

--
 Valier: "Massnahmen greifen"

 Der harte Kurs, den Behörden und Polizei gegen Hooligans im Umfeld von Heimspielen des FCSG fahren, zahlt sich im Urteil von Stadtpolizeikommandant Pius Valier aus. Die Zahl der Zwischenfälle sei schon in der letzten Saison zurückgegangen, die Situation habe sich beruhigt. Entsprechend habe man den Personaleinsatz der Polizei rund um die Arena etwas zurückfahren können. Für die laufende Saison rechne man mit rund 20 Prozent weniger Sicherheitskosten als in den beiden Vorjahren. Eine Rolle dabei spiele auch, dass sich die Situation in Winkeln eingespielt habe. Mit den problemlosen Zuständen wie früher im Espenmoos rechnet Pius Valier allerdings nicht mehr. Dafür hätten sich die ganzen Umstände, die Zuschauerzahlen, aber auch die Fanszene in den letzten Jahren zu sehr verändert. (vre)

----------------
BINZ ZH
----------------

Tagesanzeiger 30.8.10

Binz-Besetzer weiter geduldet

 Der Kanton hat die Räumung erneut verschoben. Nun fordern Politikerinnen der SP, dass die Stadt das besetzte Areal kauft.

 Von Martin Huber

 Die Bewohner der besetzten Liegenschaft an der Uetlibergstrasse 111 in der Binz haben vom Kanton einen weiteren Aufschub erhalten. Das seit Mai 2006 besetzte Fabrikareal wird unter dem Namen "Binz bleibt Binz" von Kulturschaffenden und Handwerkern genutzt. Der Kanton als Besitzer des Areals hatte schon mehrmals die Räumung angekündigt, diese aber immer wieder verschoben. Vor einem Jahr hatte es geheissen, die Hausbesetzer müssten bis Ende Oktober ausziehen, später gewährte der Kanton einen Aufschub bis längstens Ende Juli 2010.

 Doch auch das war noch nicht das letzte Wort. "Die Leute werden im Moment noch geduldet", sagt Thomas Maag, Sprecher der Baudirektion. Weil kein neuer Abbruchtermin für die Fabrikhallen feststehe, gebe es auch noch kein neues Ultimatum. Die Abklärungen wegen der Altlastensanierung seien noch im Gang. Zudem habe sich die Ausgangslage verändert. Wollte der Kanton ursprünglich das Land im Baurecht abgeben, steht jetzt laut Maag Eigenbedarf des Kantons im Vordergrund. Die Abgabe im Baurecht sei "nicht mehr prioritär". Maag weist darauf hin, dass die Besetzer einen Unkostenbeitrag für Strom und Wasser bezahlen und sich verpflichtet hätten, Rücksicht auf die Nachbarn zu nehmen.

 Auch auf politischer Ebene ist das Areal in der Binz wieder aktuell: Die SP-Gemeinderätinnen Jacqueline Badran und Rebekka Wyler haben ein Postulat eingereicht mit der Forderung, die Stadt solle das Areal kaufen und einer "nicht gewinnorientierten Gewerbe- und Wohnnutzung" zuführen. Bezahlbarer Raum für das Kreativgewerbe und für Kulturschaffende sei in der Stadt ebenso Mangelware wie günstiger Wohnraum für den Mittelstand.

--------------------------
40 Jahre GZ ZH
-------------------------

Tagesanzeiger 28.8.10

Als das GZ ein Rockertreff war

Gindely Georg

 Gemeinschaftszentren

 Neue Trägerschaft

 Das Gemeinschaftszentrum Seebach feiert heute sein 40-Jahr-Jubiläum. In der Anfangszeit stiess es im Quartier auf Ablehnung.

 Von Georg Gindely

 1970 nahm das Gemeinschaftszentrum Seebach seinen Betrieb auf. Es hatte keinen leichten Start, wie sich der ehemalige Leiter Peter Keck erinnert. Denn der neuen Freizeitanlage musste ein altes Riegelhaus aus dem 14. Jahrhundert weichen, was bei alteingesessenen Seebachern für Unmut sorgte. Dazu beschloss Keck, einen Jugendleiter einzusetzen - den ersten in ganz Zürich. Doch die Bezeichnung war anrüchig, denn Ende 1969 und Anfang 1970 waren die ersten Zürcher Jugendunruhen im Gang, und das autonome Jugendzentrum Bunker entstand. "Bekommen wir nun auch ein autonomes Jugendzentrum?", fragten sich viele Seebacher besorgt. "Man wollte keine langhaarigen Jugendlichen auf der Strasse sehen, man wollte nicht, dass die Ideen der 68er über den Milchbuck nach Seebach rüberschwappten", erinnert sich Keck.

 Es kamen aber keine Autonome, sondern Rocker. Während am Nachmittag Mütter mit ihren Kindern in den Werkstätten bastelten, standen am Abend nicht selten zwanzig schwere Motorräder vor der Tür. Es galt das Recht des Stärkeren, oft kam es zu Raufereien. Zum Glück war der Jugendarbeiter der Anlage kräftig: Er balgte sich immer wieder mit dem Anführer der Rocker und konnte ihn auf den Rücken legen. Dann war die Ordnung wieder hergestellt.

 Zittern um Seebachs Töchter

 Vielen Seebacherinnen und Seebachern war die Entwicklung nicht geheuer. Sie zitterten um ihre Töchter und verboten ihnen den GZ-Besuch. "Anständige Mädchen durften hier abends nicht mehr auf die Strasse", sagt Keck, der das GZ 33   Jahre lang leitete.

 Er wollte den Jugendlichen einen Platz geben. Sie haben im Luftschutzkeller eigenhändig eine Disco eingebaut. Oft waren über 300 Besucher in der Hot People Disco, denn tanzen konnten Jugendliche sonst nirgends.

 Peter Keck suchte den Kontakt zu den Seebachern, trat dem Quartierverein bei, sprach mit den Kirchgemeinden. "Die Anfänge waren oft frostig, manchmal abweisend bis mild freundlich", sagt er. Dennoch haben ihn viele Quartierbewohner von Anfang an unterstützt. "Und irgendwann hat das Quartier unser Haus akzeptiert, und man konnte sich gar nicht vorstellen, dass das GZ jemals nicht da war."

 Legendäre Disco kehrt zurück

 Das hat sicher auch mit der Kontinuität in der Leitung zu tun. Auf Keck folgte 2003 Ingrid Vannitsen, die immer noch im Amt ist. Über 40 Freiwillige helfen beim grossen Jubiläumsfest mit. "Ohne Freiwilligenarbeit könnten wir nicht einmal die Hälfte von dem leisten, was wir heute tun", sagt die Leiterin. Sie bezeichnet das GZ als "lebendigen Ort der Begegnung und der Gemeinschaft in einem äusserst lebendigen Quartier". Sie konnte in den letzten Jahren den Jugendbereich weiter ausbauen, daneben ist seit kurzem die Anlaufstelle für Kinderbetreuung im GZ integriert.

 Das Jubiläumsfest beginnt heute Samstag um 14 Uhr und dauert bis Mitternacht. Am Nachmittag finden Tanz- und Musikvorführungen statt und vieles mehr, um 18 Uhr zum Beispiel jodeln die Mitglieder des seit 1972 im GZ eingemieteten Berner Vereins. Ab 20 Uhr erlebt eine Auferstehung, was früher noch bei einem Teil der Seebacher verschrien war: die Hot People Disco.

--

 Gemeinschaftszentren Neue Trägerschaft

 Die 17 Zürcher Gemeinschaftszentren werden neu von einer eigens gegründeten Stiftung geführt. Die Pro Juventute, welche die GZ über 50 Jahre lang unter sich hatte, will sich auf nationale Themen konzentrieren. Für GZ wie Besucher ändert sich durch den Wechsel nichts. Die Präsidentin der Stiftung, Alt-Stadträtin Kathrin Martelli, hält heute um 17.30 Uhr im GZ Seebach eine Festrede zur Gründung der neuen Trägerschaft. (gg)

--------------------
TACHELES
---------------------

Spiegel 30.8.10

HAUPTSTADT

 Kultur gegen Kapital

 Hauptstadt: Das Kunsthaus Tacheles wird wieder zum Symbol im Kampf gegen Investoren

Becker, Sven Erb, Sebastian Hollersen, Wiebke

 Zwanzig Jahre nach der Besetzung soll das Kunsthaus Tacheles in Berlin geräumt werden. Das Haus wird wieder zum Symbol im Kampf gegen Investoren und Stadtumbau.

 Martin Reiter denkt darüber nach, sich in einen Käfig sperren und vor dem Tacheles aufhängen zu lassen, wie ein Verbrecher im Mittelalter. Wäre doch eine Idee, sagt er. Reiter ist 47, seine Locken werden langsam grau, fallen ihm aber immer noch über die Schultern, seine Augen leuchten.

 Das Tacheles ist am Ende. Die Künstler sollen raus. Gegen Reiters Verein, den Tacheles e. V., wurde das Insolvenzverfahren eröffnet. Jeden Moment kann es losgehen mit der Räumung. Reiter ist Künstler, die Lage stimmt ihn kreativ. Er klappt das Messer zu, mit dem er sich die Fingernägel geputzt hat, springt vom Sofa im Vereinsbüro, gleich ist Demo. "Irgendwann zieht man in die letzte Schlacht", sagt er.

 Vor dem Café Zapata steht Ludwig Eben, 46, neben einem Tisch mit Kaffee und Wurstbrötchen. Das Café unten im Kunsthaus soll auch verschwinden. Eben ist Gastronom, er kämpft an diesem Morgen mit einem Frühstücksbuffet gegen einen Räumungsversuch. Freunde sind da, ein Anwalt mit Kampfhund, gemeinsam empfangen sie um viertel vor acht den Gerichtsvollzieher. Der schaut auf den Briefkasten vor dem Café: Da steht "Zapata UG". Auf dem Brief, den er zustellen soll, steht "Zapata GbR". Der Firmenname stimmt also nicht überein; der Gerichtsvollzieher zieht wieder ab.

 Eben lehnt am Buffet und trinkt eine Limonade. Seit 20 Jahren ist er in diesem Haus, viele Jahre, ohne Miete zu zahlen, er kennt Tricks, um einer Räumung zu entgehen. "Nach allem, was wir erlebt haben, steht es uns zu, hierzubleiben", sagt er.

 Reiter und Eben waren Freunde, dann sind sie Feinde geworden. Nun haben sie wieder einen großen, gemeinsamen Gegner. Die HSH Nordbank will sie und alle anderen Künstler aus dem Haus werfen. Die Bank will das Tacheles versteigern, mit der großen Brache, auf der es steht.

 In Berlin, Oranienburger Straße / Ecke Friedrichstraße, der alten, neuen Mitte, geht es wieder darum, was aus der Stadt werden soll - und wem sie gehört. Es steht Kultur gegen Kapitalinteressen, ein Konflikt, der die öffentliche Diskussion in Berlin bestimmt und der nirgends so deutlich wird wie hier. Das Tacheles dürfe nicht "plattgemacht" werden, sagt der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD). Der Senat würde es gern mitsamt den Künstlern retten. "Als Symbol ist es riesig", sagt André Schmitz, der Kulturstaatssekretär, "ein Flaggschiff für die Entwicklung der letzten 20 Jahre." Schmitz redet über die steigenden Touristenzahlen in seiner Stadt, nicht über die Kunstszene.

 1990 hatten Künstler die Kaufhausruine besetzt, sie kamen aus dem Osten und dem Westen, tanzten im Abrisshaus, richteten Werkstätten ein. Das Bild vom wilden Berlin, der Stadt, in der alles möglich war, entstand auch im Tacheles.

 Dann kaufte Anno August Jagdfeld das Gelände, der Immobilienunternehmer aus dem Rheinland, der das Hotel Adlon am Pariser Platz wieder aufbauen ließ. Auch Jagdfeld wollte das neue Berlin prägen, ein neues Viertel um das Tacheles bauen, eher gediegen als wild.

 Weil er mit seinen Plänen scheiterte, hat die HSH Nordbank die Immobilie in Zwangsverwaltung genommen; die angeschlagene Bank kann die Millionen gut gebrauchen. Zehn Interessenten gebe es, sagt ein Sprecher. Alle wollen auch das Tacheles - aber niemand will die Künstler.

 Viele alternative Projekte stehen in Berlin vor dem Aus, weil Investoren die Häuser oder Freiflächen neu gekauft haben oder sie endlich bebauen wollen. Eine neue Protestbewegung ist entstanden, gegen die Investoren.

 Es ist eine Zeit des Aufbruchs, auf beiden Seiten, und das Tacheles ist wieder zum Symbol geworden im Kampf um die Stadt. Künstler gegen Investoren, Gut gegen Böse, die Fronten scheinen klar.

 Der Schauplatz kann rund um die Uhr besichtigt werden, Führungen nach Anmeldung. An einem heißen Nachmittag steigen 40 Teenager aus Westfrankreich die Treppen im Tacheles hinauf, an den Wänden Graffiti und mehrere Schichten Plakate, auf dem Boden Kippen, es stinkt nach Urin. Einen Tag sind die Jugendlichen in Berlin: Reichstag, Brandenburger Tor, Tacheles, das ist ihr Programm. Ein weißrussischer Maler und eine Trash-Art-Künstlerin zeigen ihre Räume. Etwa 70 Künstler arbeiten gerade im Haus, sie zahlen nur die Betriebskosten. "Wirklich ein originelles Museum", sagt ein Mädchen.

 "Das einzige wirkliche Street-Art-Museum der Welt", sagt Reiter, sei das Tacheles, 400 000 Besucher kämen im Jahr. Reiter kam einst aus Wien nach Berlin, er steht seit Jahren dem Verein vor, der das Kunsthaus betrieb. Seit anderthalb Jahren sind sie wieder Besetzer, eine Rolle, die Reiter zu gefallen scheint. Er kündigt Hungerstreiks an, schreibt an den Bundespräsidenten und die Kanzlerin, versucht Bündnisse zu schließen mit Leuten, die anderswo in der Stadt gegen den Kapitalismus kämpfen. "Kommerz tötet", sagt er.

 Mit Eben, dem alten Freund vom Café, will er sich nicht wieder verbünden. "Wir kämpfen nicht für den Ballermann-Gastronomen", sagt er.

 Das Café Zapata ist groß, düster, voller Metallkunst, so sahen Berliner Kneipen vor 20 Jahren aus, inzwischen gehört auch ein großer Biergarten hinterm Haus dazu. Ludwig Eben stammt aus München und ist einer der frühen Besetzer. Nach einem Jahr übernahm er das Zapata von einem Australier. An manchen Tagen hat auch Eben das Gefühl, in einem Museum zu arbeiten.

 Ein "Kapitalismusverweigerer", wie er Reiter nennt, ist Eben nicht. Er leitet einen Betrieb in bester Lage. 40 Festangestellte, 10 freie Mitarbeiter hat er. Er setze sich für junge Bands ein, sein Café sei auch ein Ort der Alternativkultur.

 Kurz bevor die Kaufhausruine gesprengt werden sollte, zogen die Künstler ein. Nach der Wiedervereinigung suchte der Bund einen Käufer für das Tacheles und die umliegenden Grundstücke. Berlin sollte Regierungssitz werden, im Bezirk Mitte sollten Neubauten stehen, keine Ruinen. Die Fundus-Gruppe aus Düren meldete sich.

 Anno August Jagdfeld, der Steuerberater war, bevor er ins Immobiliengeschäft einstieg, hatte die Brachen im Osten entdeckt. Er ließ an der Friedrichstraße bauen, am Pariser Platz, später im Ostseebad Heiligendamm.

 1998 kaufte er mit der Fundus-Baubetreuung das Tacheles-Gelände, ohne Ausschreibung, aber sie verpflichteten sich, 180 Millionen Mark zu investieren, 950 Arbeitsplätze zu schaffen und Wohnraum. Laut Kaufverträgen zahlte die Gesellschaft 65,2 Millionen Mark an den Bund und weitere 3 Millionen Mark an die Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Mitte.

 Am Abend des 9. November 1998 saßen Reiter, Eben und Jagdfeld um eine Tafel im Tacheles-Theatersaal. Noch ein paar Leute vom Verein waren dabei, ein Theatermann, der lange zwischen Besetzern und Investor vermittelt hatte. Jagdfeld bat jeden, aus seinem Leben zu erzählen. Es gab Wein, es wurde spät, am nächsten Tag gab Jagdfeld bekannt, dass der Tacheles e. V. einen Mietvertrag bekommt. Für zehn Jahre, Monatsmiete: eine Mark.

 Er stellte auch seine Pläne für das "Johannisviertel" vor, bis zu 40 Neubauten, Wohnungen, Geschäfte und Büros. Jagdfeld benannte dafür die Fundus-Baubetreuung in Johannishof Projektentwicklung GmbH um. Mehrere Landesbanken, darunter die heutige HSH Nordbank, gaben das Geld.

 Auch die Künstler konnten nun planen. Doch als der Druck von außen weg war, wuchs er im Haus. Viele zogen weiter, die, die blieben, rangen um Macht und Einnahmequellen. Mehr als hundertmal trafen sie sich vor Gericht, bis zum Bundesgerichtshof ging ein Fall. Sie stritten um Miete für das Café, Betriebskosten, Vorstandswahlen.

 Die Johannishof Projektentwicklung beauftragte Architekten in Miami und New York, aber die Bauarbeiten begannen nie. Ein Sohn von Jagdfeld betrieb in einem Haus auf dem Gelände einen Club. Künstler legten auf der freien Fläche hinter dem Tacheles einen Teich für Frösche an. Das wilde Berlin hatte vorerst gewonnen.

 2008 endete der Mietvertrag zwischen dem Verein und dem Investor, das Tacheles und die Grundstücke standen schon unter der Zwangsverwaltung der Bank. Die machte sich daran, die Künstler loszuwerden. 105 500 Euro Mietnachzahlungen plus Zinsen forderte sie für 2009 vom Verein.

 Die Bank braucht dringend Geld, in der Finanzkrise musste der Staat sie retten. Als "Kultursponsor" bedauere man die Lage, sagt ein Sprecher, aber schuld an ihr sei nicht die HSH. Seit zehn Jahren habe der Investor seine Kredite nicht zurückgeführt. 75 Millionen Euro soll das Unternehmen der Bank schulden.

 Jagdfeld will mit der Presse nicht mehr über das Tacheles reden. Ein Sprecher beantwortet einige Fragen. Das Bauprojekt habe man über einen geschlossenen Immobilienfonds finanzieren wollen, "die Rahmenbedingungen für solche Fonds" hätten sich dann erheblich verschlechtert. Wo das Geld geblieben ist, die 75 Millionen? "Die genannte Kredithöhe können wir nicht bestätigen", sagt Jagdfelds Sprecher. In jedem Fall sei das Geld an die Johannishof Projektentwicklung gegangen und "im vereinbarten Rahmen verwendet worden", für den Kauf des Grundstücks, Planungskosten, auch in das marode Tacheles habe man sechs Millionen Euro gesteckt.

 Der Berliner Senat will vermitteln, sobald ein neuer Investor kommt. Für das Tacheles schreibt der Bebauungsplan einen Kulturbetrieb vor, das Gebäude steht unter Denkmalschutz. Der Kulturstaatssekretär hat das der Bank geschrieben, nun wartet er ab.

 Das wilde Berlin soll konserviert werden, weil es so gut ankommt in der Welt, das ist eine Haltung, die in der Stadt verbreitet ist. Künstler sind gut, Investoren zumindest gefährlich, Kommerz tötet.

 Eben sagt, er habe einen Unterstützer gefunden, der das Tacheles kaufen wolle. Nur das Haus, herausgelöst, wäre 3,6 Millionen Euro wert.

 Reiter fordert, dass die Bank das Tacheles an eine öffentliche Stiftung verpachtet. Er hat vor kurzem Heizgeräte aus Leipzig geholt, die jemand bei Ebay ersteigert hat. Die Künstler sollen es warm haben im Winter im Tacheles. Reiter glaubt, dass sie dann noch da sind.

 Bis Ende des Jahres sollen das Gesamtgrundstück und das Tacheles versteigert sein, sagt die Bank. Ein Gutachter hat den Wert neu berechnet. Er kam auf 35 Millionen Euro.

-----------------------
ANTI-ATOM
-----------------------

Bund 28.8.10

Anwohner blitzen bei der BKW ab

 Die BKW ändert ihre Pläne nicht: Der Energiekonzern bekommt Rückendeckung von Gutachtern und hält an den Standorten für Logistikplatz und Arbeitersiedlung fest. "Wir kämpfen weiter", sagen die Anwohner.

 Simon Wälti

 Falls in Mühleberg ein neues AKW gebaut wird, braucht es dafür nicht nur den Bauplatz an der Aare, sondern auch grosse Flächen für das Material und die Arbeitersiedlung. Die BKW hat die von ihr vorgeschlagene Variante, die auch von der Standortgemeinde Mühleberg gestützt wird, noch einmal von zwei externen Gutachtern überprüfen lassen. Das Resultat, das gestern an einer Medienkonferenz vorgestellt wurde: Die Variante, die einen Logistikplatz zwischen Heggidorn und Mühleberg sowie eine Arbeitersiedlung an der Grenze zur Nachbargemeinde Frauenkappelen vorsieht, schneidet klar besser ab als eine Variante, die von kritischen Anwohnern ausgearbeitet worden war. Die BKW hält darum an ihren Plänen fest.

 Die IG "Betroffene Grundeigentümer und Anwohner Ersatzkernkraftwerk Mühleberg" forderte von der BKW, für den Logistikplatz und die Arbeitersiedlung eigenes Land in der Saane-Ebene bei Marfeldingen zu verwenden.

 Land fünf Meter aufschütten

 Die Variante bei der Saane unterhalb des Autobahnviadukts ist zwar technisch machbar, so die Gutachten, sie habe aber entscheidende Nachteile:

 Das Areal liegt in einem Gewässerschutzgebiet und im Überschwemmungsgebiet der Saane und müsste fünf Meter aufgeschüttet werden. Allenfalls könnte der Saane-Damm verstärkt, eine Mulde angelegt und ein zweiter Damm errichtet werden, was etwas weniger aufwendig wäre.

 Die Erschliessung mit einem temporären Autobahnanschluss ist schwieriger, weil die Strasse durch ein steiles Waldstück führt. Grössere Erdbewegungen und Rodungen wären nötig.

 der Tunnel vom Logistikplatz zur Baustelle neben dem bestehenden AKW wäre 1 Kilometer lang, doppelt so lang wie bei der BKW-Variante.

 Die Zufahrt zum Tunnel durchschneidet ein Landschaftsschutzgebiet. Die Zufahrt von der Kantonsstrasse her ist deutlich länger.

 Dadurch ist die Zahl der benötigten LKW-Fahrten fast doppelt so hoch. Auch bei einer Kombinationsvariante wären es gemäss den Berechnungen immer noch 40 Prozent mehr.

 BKW gegen IG: 14 zu 2

 Ueli Zaugg, ehemaliger Regierungsstatthalter des Amtes Konolfingen und jetzt Inhaber des Beratungsbüros BüroZA, prüfte die beiden Varianten auf ihre Bewilligungsfähigkeit. Er habe viele informelle Gespräche mit den beteiligten Amtsstellen geführt, sagte Zaugg. Schriftliche Stellungnahmen gab es zwar nicht, Zaugg hat aber 17 Kriterien danach beurteilt, welche Variante von den Amtsstellen voraussichtlich bevorzugt würde. "Keines der Kriterien war ein Killer-Kriterium", sagte Zaugg. "Beide Varianten, auch diejenige der IG, scheinen bewilligungsfähig." Bei 14 Punkten schwang die BKW-Planung obenaus, nur bei zwei Punkten der Vorschlag der IG, einer blieb offen. Wem das Land gehöre, sei im Bewilligungsprozess irrelevant, erklärte Zaugg.

 Die zwei Pluspunkte für die IG-Variante sind die Immissionen - in der Marfeldingenau sind weniger Personen betroffen - und der Naturschutz. Bei der BKW-Variante gibt es einen permanenten Eingriff in ein Naturschutzgebiet von lokaler Bedeutung (Marfeldingenbach). Die Lösung der BKW sei klar zu bevorzugen, sagte Zaugg. Sie sei während der Bau- und der Betriebsphase umweltverträglicher, benötige weniger Auflagen und Ersatzmassnahmen und hinterlasse weniger irreversible, permanente Eingriffe in Landschaft und Natur.

 Die BKW kommt darum zum Schluss, dass es keinen Sinn mehr macht, die Variante der IG weiterzubearbeiten. "Bei unserer Lösung besticht die ganzheitliche Sicht", erklärte der BKW-Medienverantwortliche Antonio Sommavilla. "Wir sind uns bewusst, dass die Bauarbeiten für die Bevölkerung ein Problem darstellen", versicherte Standortmanager Marcel Jüni. Man werde deshalb weiterhin versuchen, eine gangbare und vernünftige Lösung zu finden.

--

 Haltung der IG

 "Experten von BKW bezahlt"

 Die IG der Grundeigentümer und Anwohner ist am Donnerstag über die Resultate der Gutachten informiert worden. Landwirt Christian Minder sagt als Vertreter der Interessengemeinschaft, die IG nehme die "Meinung der BKW, der Gemeinde Mühleberg und der von der BKW bezahlten externen Experten zur Kenntnis". Bei Varianten gebe es stets Vor- und Nachteile, in diesem Fall seien die Vorteile der IG-Variante zu wenig hoch gewichtet worden. "Logistikplatz, Wohnsiedlung und Aushub, alles wäre schön nebeneinander auf BKW- eigenem Land an versteckter Lage gewesen." Die IG will nicht aufgeben. "Wir werden sicher in irgendeiner Form weiterkämpfen", sagt Minder. Die BKW als grösste Grundbesitzerin Mühlebergs möchte vier Hektaren von Minders Land für die Wohnsiedlung verwenden. Als Grundeigentümer werde er "ein Mehrfaches Realersatz für zerstörtes Kulturland" fordern. "Ich werde nicht Boden verschenken, damit sich die Atomlobby bereichern kann." Den Entscheid über ein neues AKW werde aber das Stimmvolk fällen. "Die kantonale Abstimmung ist vorentscheidend", sagt Minder. Die Abstimmung wird voraussichtlich im Februar 2011 stattfinden. (wal)

--

 Ersatz-AKW Mühleberg

 Langer Instanzenweg

 Die Planung für das Projekt EKKM (Ersatzkernkraftwerk Mühleberg) wird von der Firma Resun ausgeführt, einem Tochterunternehmen der Energiekonzerne BKW und Axpo. Für den Logistikplatz werde man rund 10 Hektaren benötigen, sagte Projektleiter Thomas Staffelbach. Der Logistikplatz werde etwas kleiner ausfallen, weil der Aushub auf der anderen Seite der Aare (Brättele) deponiert werden soll. In der Wohnsiedlung soll es Platz haben für bis zu 1700 Bauarbeiter. Gearbeitet wird in zwei Schichten von 6 bis 22 Uhr.

 Nun folgt eine lange Reihe von Schritten mit Gutachten, Vernehmlassungen, Fach- und Kommissionsberichten, ehe das Projekt dann von Bundesrat und Parlament behandelt wird. Die Volksabstimmung auf schweizerischer Ebene ist für Ende 2013 geplant. Die Zeit für das Baubewilligungsverfahren wird von Staffelbach auf vier Jahre veranschlagt. Ab ca. 2017 könnte in Mühlberg gebaut werden, und im Zeitraum 2023-2025 könnte das neue AKW ans Netz gehen. Danach würde das alte AKW abgebrochen. Die Kosten für das EKKM werden von der BKW laut Sprecher Antonio Sommavilla auf 6 bis 8 Milliarden Franken geschätzt.

 Noch nicht festgelegt hat sich die BKW, welche Folgen ein Nein bei der kantonalen Abstimmung 2011 für das Projekt hätte. Die Abstimmung hat konsultativen, aber nicht bindenden Charakter. "Das Resultat muss berücksichtigt werden", sagt Sommavilla dazu lediglich. (wal)

--

 Involvierte Planungsbüros: B + S AG, Bern. Das Büro hat im Auftrag der BKW die IG-Variante geprüft. Das Büro IUB untersuchte in einem Gutachten die technische Korrektheit. Das BüroZA bewertete die Bewilligungsfähigkeit.

---

BZ 28.8.10

AKW Mühleberg

 Anwohner blitzen ab

 Bereits steht fest, wie die BKW den Bauplatz erschliessen will, falls sie in Mühleberg ein neues Kernkraftwerk bauen darf.

 "Slum": So nennt ein Anwohner die Arbeitersiedlung für das Ersatzkraftwerk in Mühleberg. Dieser "Slum" mit 1700 Bewohnern würde während der etwa siebenjährigen Bauphase wertvolles Kulturland blockieren, kritisiert die IG Salzweid. Stattdessen schlug sie vor, die Arbeiter samt Logistikplatz auf BKW-eigenem Land an der Saane unterzubringen.

 Dieser Variante erteilt der Stromkonzern nun aber eine Abfuhr. Zwei externe Expertisen geben der BKW-Variante viel bessere Noten als jener der Anwohner aus der Salzweid. Diese hoffen nun, dass das AKW-Projekt an der Urne scheitert.
 kle

 Seite 27

--

Atomkraftwerk Mühleberg

 BKW verwirft Variante der Anwohner

 Sieben Jahre wird die Region Mühleberg eine Baustelle sein, falls das neue AKW kommt. Bauherrin BKW präsentiert bereits die Pläne für diese Phase. Nicht zum Zug kommt eine Variante der Anwohner. Diese geben aber nicht auf.

 Frühestens in acht Jahren wird die BKW in Mühleberg ihr neues AKW in Angriff nehmen. Und dies auch nur, wenn Volk und Behörden das wollen (siehe Kasten). Für die Bauphase dagegen stehen schon viele Details fest. "Dort befinden wir uns bereits auf dem Niveau Kirschbaum", sagt Standortprojektleiter Thomas Staffelbach. Das bedeutet: Zwar kennt man noch nicht einmal den Reaktortyp des neuen Werks, weiss aber schon, ob die Baupiste links oder rechts neben einem bestimmten Baum durchführt.

 Das AKW kostet 6 bis 8 Milliarde, die Bauinfrastruktur einen höheren zweistelligen Millionenbetrag.

 Urteil: 14 zu 2 für BKW

 Die siebenjährige Bauphase sei von den Dimensionen her mit jenen am Lötschberg und Gotthard vergleichbar, sagt Staffelbach. Gestern trat er für die BKW vor die Medien, um über die Erschliessung des Bauplatzes zu informieren. Die drei Hauptelemente sind: eine Siedlung für die 1700 Bauarbeiter, ein Logistikplatz von 10 Hektaren und Zufahrten (Autobahnanschluss, Baupiste, 500-Meter-Tunnel).

 Die IG Salzweid - sie nennt sich auch "Interessengemeinschaft Anwohner und Grundeigentümer EKKM" - wehrte sich gegen den Bau der Arbeitersiedlung in der Salzweid. Die IG hatte der BKW stattdessen eine eigene Variante vorgelegt: Die Arbeitersiedlung und den Logistikplatz solle man am Saaneufer in Marfeldingen bauen. Dieses Land gehört der BKW. Das Areal solle mit einem 1 Kilometer langen Tunnel mit der AKW-Baustelle verbunden werden. Diese Vorschläge werden aber nicht umgesetzt, wie die BKW gestern bekannt gab. Der Konzern hatte zwei externe Gutachter beauftragt, um die Ideen der IG zu prüfen. Das vernichtende Urteil: 14 von 17 Punkten sprechen für die Lösung, welche die BKW zusammen mit der Gemeinde Mühleberg ausgearbeitet hat (siehe Grafik). In bloss 2 Punkten geben die Gutachter den Anwohnern den Vorzug, in einem geben sie ein Unentschieden.

 Die beiden Pluspunkte des IG-Vorschlags: Es sind weniger Anwohner betroffen, und das lokale Naturschutzgebiet Marfeldingenbach wird nicht tangiert. Insgesamt sei aber die BKW-Lösung wesentlich umweltverträglicher, sagen die Experten. Es seien weniger irreversible Eingriffe in die Landschaft nötig.

 Nahe beim "Slum"

 Die IG Salzweid gibt aber nicht klein bei. Das Stimmvolk werde entscheiden, ob das AKW gebaut wird, "nicht die Atomlobby, nicht die Standortgemeinde oder von der BKW bezahlte Gutachter", sagt der Frauenkappeler Landwirt und IG-Vertreter Christian Minder. Auf seinem Land würden die 1700 Arbeiter wohnen. "Dies bedeutet eine massive Beeinträchtigung der Wohnqualität für mich und meine Nachbarn, die zum Teil noch näher bei diesem ‹Slum› wohnen." Er sei nicht bereit, 4 seiner 14 Hektaren besten Kulturlands an bester Lage zu verschenken, damit sich "die Atomlobby und die Gemeinde Mühleberg bereichern können". Er werde ein Mehrfaches an Realersatz fordern.

 Katharina Merkle

--

Der Zeitplan

 Baustart frühestens 2018

 In der Schweiz sollen zwei neue Atomkraftwerke gebaut werden. Im Rennen sind drei Standorte:   Mühleberg (BKW), Beznau AG (Axpo) und das Niederamt SO (Alpiq). 2008 haben die drei Stromkonzerne beim Bund die Gesuche für die Rahmenbewilligung eingereicht.

 So sieht der Zeitplan für das Ersatzkernkraftwerk Mühleberg (EKKM) aus:  

 Der Grosse Rat stimmt im November darüber ab, ob es eine kantonale Abstimmung zu Mühleberg geben wird.

 Sagt er Ja, werden die Stimmberechtigten des Kantons Bern am 13. Februar 2011 in einer konsultativen Abstimmung sagen, ob sie den Bau eines neuen AKW in Mühleberg begrüssen und ob sich der Kanton positiv zum Gesuch äussern soll.

 Bis Ende März 2011 reichen alle 26 Kantone ihre Stellungnahmen zu den Projekten ein.

 Mitte 2012 entscheidet der Bundesrat, wer die Konzession erhält. Danach stimmen National- und Ständerat ab.

 Eine nationale Referendumsabstimmung für die Konzession wird für Ende 2013 erwartet.

 Erhält die BKW den Zuschlag, rechnet sie bis Ende 2017 mit der Baubewilligung für Mühleberg. Die Bauzeit beträgt ungefähr sieben Jahre.

 Irgendwann zwischen 2023 und 2025 würde Mühleberg ans Netz gehen.
 kle

---

Tagesanzeiger 28.8.10

Endlager: Der Widerstand erwacht endlich

 Der Kampf gegen ein atomares Tiefenlager im Zürcher Unterland geht vom Aargau aus: Eine Politikerin initiiert die Gründung eines Vereins.

 Von Andrea Söldi

 Unterland - Während sich der Widerstand gegen ein atomares Tiefenlager in den anderen infrage kommenden Regionen längst formiert hat, ist es nördlich der Lägern bis jetzt ruhig geblieben. Nun soll auch hier ein Verein aktiv werden, in dem sich die Bevölkerung der 26 betroffenen Gemeinden Gehör verschaffen kann. Unter dem Namen "LOTi" (Nördlich Lägern ohne Tiefenlager) wird er am 6. September gegründet. "Wir sind unter Zugzwang", sagt Initiatorin Astrid Andermatt. Die Aargauer SP-Grossrätin aus Lengnau befürchtet, dass das Lager am Ende nicht dort gebaut werden könnte, wo es aus geologischen Kriterien am sichersten ist, sondern dort, wo der Widerstand am geringsten ist.

 Dass die radioaktiven Abfälle irgendwo langfristig entsorgt werden müssen, ist Andermatt klar. Ebenso, dass dies in der Schweiz zu geschehen hat. Allerdings findet sie, die Region habe bereits genügend Lasten zu tragen: das Zürcher Unterland mit Fluglärm und Kiesabbau, der Kanton Aargau mit den Atomkraftwerken und dem Zwischenlager für radioaktive Abfälle. Ausserdem spüre sie, dass es nun plötzlich schnell gehen müsse: Um die Bevölkerung für den Bau neuer Kernkraftwerke zu gewinnen, müsse man ihr signalisieren, dass das Entsorgungsproblem gelöst sei. "Aber für uns hat die Sicherheit höchste Priorität."

 Ein Verein für die Basis

 Der Verein soll eine Ergänzung sein zum Forum Lägern-Nord. Während Letzteres eine Vereinigung von Behördenvertretern aus 49 Gemeinden ist, soll der Verein LOTi der Basis eine Plattform bieten. "Das sind verschiedene Ebenen", sagt Andermatt, die sich selber als Präsidentin zur Verfügung stellen würde, aber auch gern jemand anderem den Vortritt lässt. Sie hat bereits zahlreiche Kontakte zu Personen geknüpft, die am Thema interessiert sind. Dazu gehören hauptsächlich Leute aus Kreisen der SP und der Grünen - so etwa der Regensdorfer SP-Kantonsrat Marcel Burlet und die kürzlich zurückgetretene grüne Kantonsrätin Susanne Rihs. Ausserdem konnte sie eine engagierte Vertreterin der Region Hohentengen gewinnen.

 Andermatt will aber auch ihre Kontakte zu bürgerlichen Politikern nutzen, um einige zum Mitmachen zu gewinnen. "Das soll kein grün-rot-linker Verein werden", stellt sie klar. Sie wünscht sich einen grossen Vorstand, in dem bis zu 20 Personen aus verschiedenen Gemeinden vertreten sind.

 Der Verein will sich im Prozess der regionalen Partizipation einbringen, den das Bundesamt für Energie (BfE) nächstes Jahr anstösst. Ausserdem soll er bereits am 9.   September an der Informationsveranstaltung des BfE in Glattfelden mit einer ersten Aktion in Erscheinung treten.

 Im neuen Verein sieht Hanspeter Lienhart, Präsident des Forum Lägern-Nord, keine Konkurrenz. Er begrüsst es, dass sich die Gegner nun formieren und auch bei der regionalen Partizipation mitwirken. Eine punktuelle Zusammenarbeit kann er sich gut vorstellen. Zum Beispiel würde er den Verein punkto Wissen und Know-how unterstützen.

 Gründungsversammlung LOTi am 6. September, 20 Uhr, im Restaurant Neuhof Bachs. Für Rückfahrgelegenheit wird gesorgt. http://www.lo-ti.ch

---

Thurgauer Zeitung 28.8.10

Tiefenlager liegt öffentlich auf

 Frauenfeld - Sechs Standorte schlägt die Nagra vor, die für die Lagerung radioaktiver Abfälle in der Schweiz geeignet wären. Bereits in der ersten Planungsetappe kann die Bevölkerung mitwirken. Der Sachplan zu den möglichen geologischen Tiefenlagern - darunter eines bei Schlatt im Zürcher Weinland - liegt nun öffentlich auf, wie die Staatskanzlei gestern im Amtsblatt kundtat. Alle betroffenen oder interessierten Organisationen und Personen können die Unterlagen in der Staatskanzlei im Regierungsgebäude in Frauenfeld oder in der Gemeindeverwaltung Schlatt einsehen und dann Stellung nehmen. (hal)