MEDIENSPIEGEL 2.9.10
(Online-Archiv: http://www.reitschule.ch/reitschule/mediengruppe/index.html)

Heute im Medienspiegel:
- Reitschule-Kulturtipps (Kino, DS, GH)
- Reitschule bietet mehr: GLP-Nein; Hitparade, Baldachin
- (St)Reitschule: Ruhe vor der Antifasturmzeitungsente
- BernAktuell: gegen Antifademo, Wagenburg + Reitschule
- Fuchshess gegen alle(s): Antifademo, Wagenburg + Reitschule
- RaBe-Info 1.9.10
- Biennale "Wut"
- KuFa Lyss: Wiedereröffnung
- Squat ZH: 1993-2005; Luxusklinik Küsnacht wieder leer
- 30 Jahr Kaserne Basel: Kultur und K(r)ampf
- Big Brother Sport: Runder Tisch Fanarbeit; Hooligangesetz; Polizeikosten Lakers
- Datenschutz und Gigantismus
- Weggesperrt: Kriminalisierung von Jugendlichen
- Drogen: Gassen-Bistrot Lausanne; Bussenmodel Hanfkonsum
- Sexwork: Einreisesperren illegal; Bger schützt Strassenstrich
- ArbeiterInnen-Bewegung: Ostschweiz; Trotzki
- Novartis: Neue Anschläge
- "Eidgenossen": Böser Bube mit Rechtsparole
- Liechtenstein ganz rechts: Vergangenheitsbewältigung
- Stadtentwicklung: Hamburg wehrt sich
- Ausschaffungen: Verletzte Vorschriften
- Asyl: Griechenland-Connection
- Migration Control: Ghadhafis Service
- Anti-Atom: Bözberg; Ausstieg NW; Leibstadt; Mühleberg

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REITSCHULE
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Do 02.09.10
20.30 Uhr - Tojo - "Kurtli VII" Die Trash-Revue zum verflixten Siebten
22.00 Uhr - Rössli - Roy de Roy (SL)

Fr 03.09.10
20.30 Uhr - Tojo - "Kurtli VII" Die Trash-Revue zum verflixten Siebten
22.00 Uhr - Frauenraum - Popshop mit DJ Anouk Amok und Support, Disco
22.00 Uhr - Dachstock - Wax Tailor (Lab?oratoire/FRA). Support: TAKE (Alpha Pup/USA), Studer TM (Bonzzaj/BE) - Hiphop, Triphop, Dub, Electronica

Sa 04.09.10
0-24 Uhr - ganze Stadt - Aktionstag "Reitschule bietet mehr" - siehe Tagespresse und www.reitschulebietetmehr.ch
17.00 Uhr - Reitschule - Öffentliche Führung durch die Reitschule (Treffpunkt beim Tor)
20.30 Uhr - Tojo - "Kurtli VII" Die Trash-Revue zum verflixten Siebten
22.00 Uhr - Dachstock - Benfay Plattentaufe "Hey, what?s wrong baby!" Live: Benfay (MPC, Synths), Simon Baumann (Drums) & Jan Galega (Bassclarinet, Sax, Electronics) + Special Guests. DJs: Round Table Knights & Jay Sanders - Electronica, Techno

So 05.09.10
09.00 Uhr - Grosse Halle - Flohmarkt und Brunch im SousLePont bis 16.00 Uhr
13.30 Uhr - Kino - Kinderfilm am Flohmi-Sonntag: Pippi Langstrumpf, Olle Hellbom, Astrid Lindgren, S/D 1969
17.00 Uhr - Reitschule - Öffentliche Führung durch die Reitschule (Treffpunkt beim Tor)
20.15 Uhr - Kino - TATORT REITSCHULE: Tatort-Direktübertragung (ab 19.00)

Infos:
http://www.reitschule.ch
http://www.reitschulebietetmehr.ch

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Schusswechsel in der Reitschule

In der Reitschule regiert das Verbrechen - zumindest im Kino. Mit Derrick, Tatort und Markus Imbodens "Mörder auf Amrum" huldigt die Reihe "Tatort Reitschule" dem Krimi. Einen Seitenhieb auf die Reitschule-Initivative will man sich nicht verkneifen.

Wenige Wochen vor der Abstimmung zur Reitschulinitiative tut etwas Zerstreuung inmitten des Kampfs um den Kulturort wohl. Lilo Spahr vom Kino Reitschule hat gemeinsam mit Eva Hardmeier und Catherine Weber das Programm "Tatort Reitschule" zusammengestellt, das sich mit dem Filmgenre Krimi befasst. Als Tatort, als Ort des Verbrechens sehen die Gegner die Reitschule, während sie für die Kulturszene als Begegnungsort unerlässlich geworden ist. Ein Ort, an dem viel Schräges Platz hat, was sich auch im Programm der Veranstaltungsreihe zeigt. So flimmert am kommenden Sonntag sinnigerweise der "Tatort" über die Leinwand des Reitschul-Kinos. "Wir wollen zum gemeinsamen Fernsehschauen animieren", erklärt Lilo Spahr. Die 1970 gestartete Fernsehproduktion ist die älteste und beliebteste Krimireihe im deutschen Sprachraum. "Tatort-Fans gibt es in allen Schichten der Gesellschaft, er verbindet die unterschiedlichsten Menschen", ist Lilo Spahr überzeugt. Tatort-Fans schätzten die Nähe zur Realität und die authentischen Figuren.

Mord auf der Insel

Glaubwürdigkeit ist auch dem Filmemacher Markus Imboden (siehe Interview) sehr wichtig. Im Rahmen von "Tatort Reitschule" wird im Beisein des Regisseurs sein Film "Mörder auf Amrum" gezeigt. Auf der beschaulichen, kargen Nordseeinsel ist die Hölle los: Der einfache Polizist Helge Vogt muss über sich hinauswachsen, denn Mitglieder der russischen Mafia wollen eine Moldawierin umbringen, eine Zeugin im Zeugenschutzprogramm, die sich auf die Insel zurückgezogen hat. Hilfe vom Festland kann er wegen eines Orkans nicht holen. Es gibt kein Entkommen.

Nonsensunterhaltung aus losem Mundwerk

Wenn es um Mord und Totschlag geht, darf natürlich auch der für seine Tränensäcke, seinen BMW und seine Rolex berühmte Kommissar Stephan Derrick nicht fehlen. Zwei Derrick-Specials stehen auf dem Programm. Die Gruppe Sisters Funky Tongue, bestehend aus den Bernerinnen El Khoury und Claudia Lozano, werden alte Folgen mit dem Kultdarsteller Horst Trappert (1923- 2008) live synchronisieren. Das Werkzeug der beiden Frauen ist ihr Mundwerk, die Einsätze werden via Handzeichen oder Blickkontakt vereinbart. Was entsteht ist "Nonsensunterhaltung" mit garantiert skurrilen Momenten.
Der zweite Beitrag zu Derrick stammt von Michael Schaak. Seine Comicverfilmung "Derrick - die Pflicht ruft" ist eine Parodie auf die Vorlage. Auf Klamauk und Schenkelklopfhumor wird hierbei ebenso wenig verzichtet wie in dem berühmten Film "Werner - Gekotzt wird später!" des gleichen Regisseurs. Diesen Film darf man trotz Schusswechseln getrost bereits ab sechs Jahren schauen.

Helen Lagger

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Kino in der Reitschule, Bern
Gemeinsam Tatort gucken: So., 5.9., 20.15 Uhr
Derrick-Special: Sa., 11.9., 20 Uhr
"Mörder auf Amrum": Do., 16.9., 19 Uhr
http://www.reitschulebietetmehr.ch

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Imbodens Western-Krimi

Markus Imboden, Ihr Film "Mörder auf Amrum" spielt auf einer Nordseeinsel. Was war das reizvolle an diesem Drehort?

Die Geschichte verlangt nach dieser Abgeschiedenheit, die den Polizisten und die Killer einschliesst. Speziell an Amrum sind sowohl die karge Landschaft wie auch die Verschlossenheit der Insel-Bewohner. Das sind Flachländler, gewöhnt an die Launen der Natur, die ein wenig den Berglern in der Schweiz ähneln.

"Mörder auf Amrum" wurde auch als Western bezeichnet. Wie stark halten Sie sich an Genre-Regeln?

Genre-Konventionen finde ich völlig blöd, dagegen kämpfe ich an. Sie nehmen jeder Geschichte die Möglichkeit, sich zu etwas Spannendem zu entwickeln. Ich glaube, es sind eher die Kritiker, die in Genres denken und nicht die Filmer und Schauspieler.

Was ist denn das Geheimnis einer guten Geschichte?

Der Plot muss simpel sein, so dass man sich auf die Figuren und deren Motive kümmern kann. Mir persönlich ist auch die Glaubwürdigkeit sehr wichtig. Ich informiere mich bei der Polizei, um deren Alltag zu verstehen, oder frage Mediziner, ob man bei einem Schuss in dieses oder jenes Körperteil überlebt und wie die Wunden aussehen.

Interview: hel

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kulturagenda.be 2.9.10

Kurtli-Ensemble mit neuem Theater im Tojo

Seine sieben Sachen packen, über sieben Brücken gehen, ein Siebensiech - die Zahl Sieben ist überall. Auch bei der Trashrevue Kurtli: Es geht in die siebte Runde. "Das verflixte Siebte" heisst das neue Stück der Berner Kunstschaffenden und ist ein Mix aus schrägen, schrillen und manchmal auch schmerzhaften Nummern. Kurtli macht vor menschlichen Abgründen nicht Halt und reisst sein Publikum durch rasantes Tempo mit. Sensible Gemüter müssen sich gut wappnen.
Tojo Theater in der Reitschule, Bern. Do., 2., Fr., 3. und Sa., 4.9., 20.30 Uhr

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Bund 2.9.10

Sounds Wax Tailor

 Filmreife Grooves

 Die Welt hätte nicht auf den Sommerhit 2010 warten müssen, um die erfolgreiche Verquickung von retrophilen Samples mit zeitgenössischer Musik zu erfahren. Denn einer hat das schon lange vor den Machern von "We No Speak Americano" getan - und erst noch besser. In Frankreich sind die Konzerte von Wax Tailor regelmässig mehr als ausverkauft, spätestens seit 2005, als der Produzent sein Album "Tales of the Forgotten Melodies" veröffentlichte, ein Sampling-Prachtstück, das Filmmelodien und historische Soundfetzen elegant mit Hip-Hop-Grooves unterfütterte - so hip hat "Que Sera" noch nie geklungen.

 Später verfolgte Wax Tailor sein Konzept der historischen Musik-Mélange, das er "Cinematic Hip-Hop" nannte, weiter in Richtung Sixties-Soul. Und auf dem jüngsten Album "In the Mood for Life" (2009) verquirlt Wax Tailor die verschiedenen Genres und Zeitalter gar im selben Track. Nach Bern kommt Wax Tailor mit seiner ganzen Band; als Ersatz für die früher angekündigten Breakestra und Chali2na - was alles andere als eine Verlegenheitslösung ist. (reg)

Reitschule Dachstock Freitag, 3. September, 22 Uhr. Zweiter Live-Act: Take (USA).

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BZ 2.9.10

Toptipps

 Träumen mit Tailor

 Wenn Wax Tailor in Frankreich ein Konzert gibt, ist es ausverkauft. Seine Liveshows haben dort mittlerweile Kultstatus. Hierzulande gilt der Songwriter allerdings noch als Geheimtipp. Seine Musik basiert auf Einflüssen aus Soul, Funk, Hip-Hop und dem Pop der 60er-Jahre. pdKonzert: Fr, 3. 9., 22 Uhr, Dachstock in der Reitschule, Bern.

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Bund 2.9.10

Sounds Benfay

 Kunst und Krempel

 In einem Keller, zwischen Gerümpel und einer geerbten Plattensammlung, entstand Benfays neues Album, auf dem der Elektroniker ein Faible für Melodien zeigt.

 Regula Fuchs

 Man muss sich das etwa so vorstellen: Weihnachten, ein idyllischer Ort in der Zentralschweiz, draussen Sonne, Schnee und See, die Begleiterinnen sind auf Skitour - und der Musiker steigt ganz alleine hinab in den Keller, um da zwischen Tonnen, Autoreifen und Tennisbällen nach Klängen zu stöbern. So ist die jüngste LP von Benjamin Fay, der sich als Künstler Benfay nennt, entstanden. "Ich wollte schon immer ein Album auf diese Weise entwerfen: irgendwo in der Abgeschiedenheit mit einem portablen Aufnahmegerät Klänge suchen und daraus Musik bauen", sagt Benfay. Als ihm eine Freundin anbot, ihr Haus in Wilen bei Sarnen dafür zu nutzen, stand diesem Vorhaben nichts mehr im Wege.

 Der Musiker und Produzent aus Bern, der neben seiner Solo-Arbeit auch bei Jagged und den Round Table Knights mittut, wusste, dass er nicht der Erste ist, der mit vorgefundenen Klängen arbeitet. "Ich habe mich immer ein wenig davor gescheut, da ein Matthew Herbert dieses Verfahren zur Meisterschaft gebracht hat. Aber irgendwann dachte ich: Egal, ich tu das, was ich tun will."

 Ein Ohr für die Klassik

 Benfay hat zunächst vor allem perkussives Material zusammengetragen - erzeugt auf Gefässen verschiedenster Art - und sich dann hinter die Plattensammlung der Hausherrin gemacht, die diese von ihren Eltern geerbt hatte. "Darunter war viel klassische Musik, die ich gesampelt habe", so Benfay. Und so kamen zu den knackenden, knisternden Beats einige Melodiebögen - mal von einer ätherischen Frauenstimme gesungen, mal in eine verschnupfte Bassklarinette geblasen. Es ist kein Zufall, dass Benfay auf "Hey, what's wrong baby!" (Everest Records) ein Ohr für die Klassik beweist - das hat er schon seit seiner Ausbildung zum Kontrabassisten am Konservatorium Bern.

 Was jedoch genau von den gefundenen Platten stammt, welche Melodien Benfay selber dazu geschrieben und aus welchen Gegenständen er die Beats geklopft hat - das ist am Ende nicht mehr herauszuhören. Was für den Urheber kein Problem ist: "Mein Konzept bewährt sich für mich musikalisch. Ich empfand es als extrem erfrischend, für einmal mit andersartigen Sounds zu arbeiten." Zufrieden ist Benfay auch mit dem Resultat, er spricht sogar davon, dass dieses Album der Höhepunkt seiner bisherigen Solo-Arbeit sei. "Viele, denen ich die Musik vorgespielt habe, fanden sie zugänglicher und weniger sperrig als mein voriges Album ‹Replay Life›. Und doch scheine ich meine eigene musikalische Ecke gefunden zu haben."

 Die Nische, die sich Benfay stilistisch zimmert, fasziniert vor allem dann, wenn er eine fragile Balance zwischen melodiöser Schönheit und rhythmischer Gebrochenheit findet. So zerlegt er etwa im Stück "Nice biscuits" den Klang einer traurigen Geige, um deren klagende Melodie dann später unangetastet auszubreiten und mit ratternden Beats zu unterlegen. Sowieso klingen viele der Tracks wie aparte kleine Maschinen, die rattern, knacken, zirpen, klappern und schnaufen. In Sachen Beat verfügt Benfay in der Regel über mehr Geschmackssicherheit als in Sachen Melodik - gerade, wenn hohe Frauenstimmen im Spiel sind.

 Und dann ist da noch John Carpenters konsumkritischer Sci-Fi "They Live" aus dem Jahr 1988, den sich Benfay anschaute, um den Albumtitel zu finden - was er in der allerletzten Szene auch tat. Zudem hat das Stück "Obey" eine der versteckten Botschaften zum Titel, mit denen Carpenters Aliens die Herrschaft über die Menschheit gewinnen wollen. Bei Benfays wunderbar relaxtem Song könnte man meinen, das sei schon geschehen. Und dass das gar nichts ausmache, solange es solche Musik gibt.

Reitschule Dachstock Plattentaufe: Sa, 4. 9., 22 Uhr. Gäste: Simon Baumann, Jan Galega.

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kulturagenda.be 2.9.10

Benfay tauft im Dachstock sein neues Album

"Hey, what's wrong baby!" heisst das Album des Berner Musiktüftlers Benfay. Darauf finden sich rohe Klänge aus mehreren musikalischen Welten.


Jäger und Sammler

Als musikalischer Kopf der Round Table Knights hat sich Benfay vor allem in der Elektro-Musik einen Namen gemacht. Doch auf seinem Album sind auch Einflüsse aus Jazz und Klassik zu hören - und viele Gastmusiker.

Im Keller klopfte er hier auf eine Tonne, trommelte da auf einem Plastikfass herum und nahm alle Geräusche und Klänge auf. Für seine neuste Platte "Hey, what's wrong baby!" (Everest Records) zog sich Benfay letzten Winter für zwei Wochen an einen abgelegenen Ort in der Innerschweiz zurück. Mit dabei hatte er ein Aufnahmegerät und einen Sampler, aber keinerlei vorproduzierte Sounds. Die Klänge suchte er mit dem Aufnahmegerät in der Hand im Haus zusammen: im Keller, in der Küche oder im Wohnzimmer aus der Sammlung alter Klassikplatten. Mit diesem Material entwarf Klangjäger und -sammler Benfay die vierzehn Tracks des Albums, die er, zurück im Berner Studio, ausarbeitete. Eine Reihe von Gastmusikerinnen und -musiker steuerten ihrerseits Melodielinien, Klänge und Beats bei.

"Eine Art Schmelztiegel"

Entstanden ist so ein Album, das zwischen elektronischer Musik, Jazz und Klassik pendelt. Wohl fühlt sich Benfay in all diesen Welten. Er studierte Kontrabass an der Musikhochschule, hat sich aber als Produzent der Round Table Knights und als Mitglied von Jagged insbesondere in der elektronischen Musikszene einen Namen gemacht. Von den unterschiedlichen Einflüssen zeugen etwa der hymnische Opener "Obey" und die klagende Geigenlinie auf "Nice Biscuits" oder die nervösen Beats auf "No Thoughts". "Das Album ist eine Art Schmelztiegel der verschiedenen Welten: der elektronischen, der klassischen und der Jazzwelt", charakterisiert Benfay sein Album. Die Instrumentalaufnahmen sind in der Regel unbeschönigt wiedergegeben. Das ist in der elektronischen Musik eher ungewöhnlich. Die Schlagzeugparts von Simon Baumann wurden in voller Länge eingespielt und nicht etwa als Samples zusammengebastelt.
So passt es auch, dass Benfay seine Musik nicht als Partymusik für die Tanzfläche verstanden wissen will, dazu ist sie zu anspruchsvoll. "Die perfekte Umgebung für mein Album ist definitiv das ruhige Wohnzimmer", meint er. "Am besten auf einer guten Stereoanlage.
"
Dachstock heisst die gute Stube

Mit seinem heimeligen Holzgebälk ist der Dachstock der Reitschule, wo die Releaseparty über die Bühne geht, ein guter Stuben-Ersatz. Mit dabei sind einige der auf dem Album vertretenen Musikerinnen und Musiker: Der Klarinettist und Saxofonist Jan Galega Brönnimann, Simon Baumann am Schlagzeug und die Sängerin Gwendolyn Masin. Weitere Gäste, deren Namen Benfay noch nicht verraten will, unterstützen den Produzenten ebenfalls. Benfay freut sich auf jeden Fall schon jetzt darauf, "wenn die Stücke zum ersten Mal über die Anlage donnern".

David Loher

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Dachstock in der Reitschule, Bern Plattentaufe mit Benfay und Gästen sowie den DJs Round Table Knights und Jay Sanders.
Sa., 4.9., 22 Uhr

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kulturagenda.be 2.9.10

Film & Musik 2010
In der Grossen Halle
Reitschule Bern

DO/09.09/20.30/PRAED trifft NORIENT: Audio-visuelle Performances
Die Norient Performance "SONIC TRACES: FROM THE ARAB WORLD"
SA/11.09/20.30/GRASS A Nations Battle for Life. USA 1925, R: Merian C. Cooper, Ernest B. Schoedsack
Dokumentarisch - Nomaden-Kino mit Live-Vertonung
SO/12.09/17.00/BISS ZUM ORIGINAL - NOSFERATU Berner Symphonie Orchester
Stummfi lm mit Live-Musik
MI/15.09/20.00/Sextett TRAVESÍAS & Jugendorchester und -chor Escuela Paulita Concepción
Ergänzt mit visuellen Eindrücken der Probephase in Havanna.
FR/17.09/20.30/Harakiri von Fritz Lang. Komposition und Begleitung: Marco Dalpane, Bologna
SA/18.09/16.00/Die Kleinen Strolche Kino für die Ohren und Musik für die Augen
SA/18.09/20.30/The General Buster Keaton und Musica nel buio, Bologna
SO/19.09/20.00/SMS from Shangri-La Film und Konzert. Film: Dieter Fahrer und Lisa Röösli
Musik: Wege Wüthrich.

http://www.grossehalle.ch

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Blick 1.9.10

PEOPLE

 VIP talk …

 … mit Kasongo (29) Sänger der Gamebois

 "Leute sollen Sex haben zu unserer Musik"

 tino.bueschlen@ringier.ch

 Kasongo, seit wann sind Sie wieder auf freiem Fuss?

 Wie bitte? Ich war doch nie im Gefängnis. Das muss sich um ein böses Gerücht handeln.

 Ich spreche Ihre Guerilla-Tour durch die Schweiz an.

 Ah, okay. Das war schon abenteuerlich: In einer Woche haben wir in rund 20 Städten kurze Konzerte gegeben. Wir sind jeweils mit einem Lieferwagen auf einem bevölkerten Platz vorgefahren, haben die Plane raufgerollt und mit Band losgelegt.

 Wie waren die Reaktionen?

 Die Leute waren begeistert. Gestresste Geschäftsleute haben kurz angehalten, Japaner fotografierten wie wild und die Leute auf den Balkons haben uns zugejubelt. Nur die Polizei war manchmal nicht ganz so begeistert.

 Gabs viele Bussen?

 Es ist einiges zusammen gekommen. Das Schlimmste war, als sie uns in Zürich gedroht haben, die Instrumente zu beschlagnahmen, falls wir wieder irgendwo in der Stadt unerlaubt auftreten würden.

 Mit "Loops" haben Sie Ihr zweites Album aufgenommen. Was kann der Hörer erwarten?

 Klassische Soul-Musik mit Ecken und Kanten und elektronischen Einflüssen. Produzent Pablo Nouvelle war zuständig für die Beats, ich für die Texte.

 Und was erhofft Ihr euch?

 Dass "Loops" die Hörer in allen Lebenslagen begleitet - auch in den horizontalen. Die Leute sollen Sex haben zu unserer Musik. Am liebsten den besten Sex ihres Lebens. Ich denke, dann haben wir etwas richtig gemacht.

 Loops

 Gamebois, überall im Handel. Plattentaufe 11. September, Dachstock, Bern

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REITSCHULE BIETET MEHR
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Bund 2.9.10

GLP sagt Ja zur Kulturinstitution Reitschule

 Die Grünliberale Partei (GLP) der Stadt Bern empfiehlt für die Abstimmungen vom 26. September ein Nein zum Verkauf der Reitschule und ein Ja zur Kreditaufstockung Wankdorf City. Gemäss Mitteilung zeichnet sich die "Kulturinstitution Reitschule" aus durch ein "urbanes, vielseitiges Kulturangebot mit grosser Innovationskraft und Ausstrahlung weit über die Stadt Bern hinaus". Die GLP erwartet von den Reitschulbetreibern allerdings auch, "dass sie sich als verantwortliche und verlässliche Partner verhalten". (pd)

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Blick am Abend 1.9.10

Müslüm in der Hitparade

Hit -> Der Berner Komiker Müslüm stürmt auch die Schweizer Charts: Zweitbester Neueinsteiger.

Von Youtube, über den iTunes-Store direkt in die Schweizer Hitparade. Ob politisch motiviert, wegen der Reithallen-Abstimmung oder aus musikalischer Überzeugung - die Menschen lieben Müslüm auch ausserhalb von Bern. Sein Anti-SVP-Song "Erich, warum bisch du nid ehrlich?" entert die Schweizer Charts als zweitbester Neueinsteiger hinter dem grossen US-Rapper Usher - Platz 46. In der Deutschschweizer Hitparade vom Sonntag figuriert der Hit sogar auf Platz 34.
Müslüm ist begeistert, doch will er auf dem fliegenden Teppich bleiben: "Nur weil ich jetzt in der Hitparade bin, macht mich das noch lange nicht zu einem besseren Menschen. Viel wichtiger ist, dass wir miteinander Liebe machen."
pp

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http://www.hitparade.ch/showitem.asp?interpret=M%FCsl%FCm&titel=Erich%2C%20warum%20bisch%20du%20nid%20ehrlich%3F&cat=s
http://www.hitparade.ch/showitem.asp?titel=Reitschule+beatet+mehr&cat=a

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Bund 1.9.10

Reitschule

Eine Idee ad absurdum geführt: Reitschule-Aktivisten versteigerten gestern den Baldachin auf dem Berner Bahnhofplatz an den Meistbietenden. Christian Brönnimann

 Verkauft für sechs Milliarden

 Führen Philosophen eine Aussage oder eine These "ad absurdum", dann zeigen sie auf, dass aus ihr ein logischer Widerspruch folgt. Daraus schliessen sie, dass die These unsinnig beziehungsweise unwahr ist. Wie eine solche indirekte Beweisführung in der Praxis aussieht, demonstrierten Aktivistinnen und Aktivisten aus dem Komitee "Reitschule bietet mehr" gestern Mittag auf dem Berner Bahnhofplatz. In Anlehnung an die SVP-Initiative zum Verkauf der Reitschule, über die am 26. September abgestimmt wird, inszenierten sie eine - fiktive - Versteigerung des Baldachins. Ziel der unbewilligten Aktion: sichtbar machen, wie "absurd" es aus ihrer Sicht ist, die Reitschule an den Meistbietenden zu veräussern.

 Wer an der Versteigerung teilnehmen wollte, konnte sich ein Schild mit dem Logo eines Weltkonzerns oder dem Konterfei eines SVP-Lokalpolitikers schnappen und in deren Namen mitbieten. Schnell schnellte der fiktive Kaufpreis auf fünf, zehn, hundert Millionen Franken. Passanten blieben stehen und fragten sich kurz, ob auf dem "Vorplatz des Bahnhofs" (Zitat Auktionator) tatsächlich ein Riesendeal eingefädelt wird - bis sie die pinkfarbenen Reitschule-Flaggen am Auktionspodest erblickten. Derweil legten die Bieterinnen und Bieter am Mikrofon dar, was sie mit dem Baldachin anstellen möchten - neue Fenster für einen Firmenhauptsitz herstellen, zum Beispiel. Erwartet wurden solche Ideen explizit nicht: "Sie müssen keinen Plan haben, was sie mit dem Baldachin machen wollen. Das Höchstgebot reicht, um ihn zu kaufen", mahnte der Auktionator mehrmals lauthals.

 Den Zuschlag erhielt zum Schluss übrigens ein Konsortium von UBS, BP und weiteren Konzernen. Nach über einer halben Stunde war der Kaufpreis des Baldachins auf "absurde" sechs Milliarden Franken gestiegen.

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BZ 1.9.10

Bahnhofplatz

 Baldachin wurde "versteigert"

 Das Komitee "Reitschule bietet mehr" will in den nächsten Monaten das Münster, den Zytglogge, das Bundeshaus und den Bärenpark versteigern. An der gestrigen Versteigerungsaktion "Heute der Baldachin - morgen die Reitschule?" auf dem Bahnhofplatz musste der Baldachin "dranglauben". Mit dem höchsten Gebot an Herzblut habe das Komitee den Baldachin gleich selbst ersteigert. Die Aktion sei ein "voller Erfolg" gewesen.
 pd

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20 Minuten 1.9.10

Baldachin kommt "unter den Hammer"

 BERN. Zum Ersten, zum Zweiten, zum Dritten, verkauft: Das Komitee "Reitschule bietet mehr" hat gestern auf dem Bahnhofplatz den Baldachin versteigert - allerdings nur symbolisch. Die Aktion ist Teil der Mobilmachung gegen den Verkauf der Reitschule. Das Komitee will bis zur Abstimmung am 26. September noch weitere Berner Wahrzeichen wie das Münster oder den Bärenpark versteigern.  Foto: nc

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BZ 1.9.10

"Subventionierter Terror"

 Die Reitschule bietet Kriminellen als rechtsfreier Raum nicht nur ein "Versteck" vor der Polizei, sondern auch Kunst im Anblick des Grauens: Abfall, der sich beim kleinsten Windstoss überall verteilt, verwahrloste Junkies, Schlägereien, blutüberströmte Opfer. Das diese "Kultur" nur dank Steuergeldern überlebt, wundert niemand und stört die Reitschüler noch weniger. Nur Eigentümer der Reitschule können dafür zur Verantwortung gezogen werden - deshalb ein Ja zur Reitschul-Initiative am 26. September 2010.

 Mirjam Stähli Bern

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kanalk.ch 20.8.10
http://www.google.com/url?sa=X&q=http://kanalk.ch/Portals/0/Musikredaktion/Playhits/K-Tracks-Playlist%2520Woche%252034-2010.pdf&ct=ga&cad=:s7:f2:v1:d1:i1:lt:e0:p0:t1283335955:&cd=CKMZWX5j6jw&usg=AFQjCNELUBQ8x2J-_5rEtzfbINpH_AAh3g

K-Tracks-Playlist Woche 34 23.08.-29.08.2010

CH - ALBUM DER WOCHE

VARIOUS ARTISTS - REITSCHULE BEATET MEHR

Musik und Politik treffen sich immer dann, wenn Politiker Musik verunmöglichen oder sie für Promotionszwecke nutzen wollen. In Bern ist derzeit ersteres der Fall: Die unzähligen Underground- Acts, die in und um die Berner Reitschule ihr musikalisches Daheim haben, befürchten, dass Berner Stimmvolk wolle das Gelände verkaufen. Deshalb erbeben sie - die Musiker, nicht die Stimmbürger - jetzt ihre Stimme auf einer Compilation. Neben Untergrund-Künstlern wie Reverend Beat Man, Lily Yellow, Copy & Paste oder The Jackets haben auch zahlreiche bekannte(re) Namen wie Tomazobi, Kummerbuben, Patent Ochsner, Sophie Hunger, Züri West oder Kutti MC Songs zur Sammlung beigetragen. Insgesamt wurden 14 der 20 Songs extra für den Sampler released - und es sind ein paar echte Trouvaillen darunter. (…) So wird "Reitschule beatet mehr" definitiv zu einem Genuss auch für all jene, die weder in Bern abstimmen können, noch sich für die örtlichen politischen Ränkespiele interessieren. (Quelle: trespass.ch)
http://www.reitschulebietetmehr.ch

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Songtext + Klingelton
http://www.magistrix.de/lyrics/M%C3%BCsl%C3%BCm/Erich-Warum-Bisch-Du-Nid-Ehrlich-1086062.html

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(ST)REITSCHULE
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Bund 2.9.10

Antifa-Demo eine Woche nach Abstimmung

 Negativschlagzeilen aus dem Umfeld der Reitschule sind selten geworden. Hat sich die Sicherheitssituation tatsächlich entschärft oder herrscht bloss Ruhe vor dem Sturm wegen der Abstimmung vom 26. September?

 Christian Brönnimann

 Das grosse, schwarze Transparent über dem Eingangstor zur Reitschule ist nicht zu übersehen. Es ruft zur Teilnahme am Antifaschistischen Abendspaziergang vom 2. Oktober auf. Die 10. Ausgabe der alljährlichen Demonstration gegen Faschismus und Kapitalismus findet also just eine Woche nach der Abstimmung über den Verkauf der Reitschule statt - so spät im Jahr wie noch nie zuvor. Ein Zufall? "Bei der Wahl des Datums spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Das Datum der Reitschul-Abstimmung war einer dieser Faktoren", schreibt das Bündnis Alle gegen Rechts (BAgR) auf Anfrage. Seit 1990 organisiert das BAgR die Antifa-Abendspaziergänge. Nicht immer blieb der Demonstrationszug so friedlich wie im letzten Jahr.

 "Negative Schlagzeilen vermeiden"

 Reitschul-Skeptiker befürchten, dass die derzeitige Ruhe rund um die Reitschule trügt. "Man bemüht sich, negative Schlagzeilen vor der Abstimmung zu vermeiden", sagt FDP-Stadtrat Philippe Müller. Dass der Antifa-Spaziergang erst am 2. Oktober stattfinde, sei ein deutliches Anzeichen dafür. Auch von Angriffen auf Blaulichtorganisationen bei der Reitschule höre man kaum mehr. Dies stehe "ganz klar" im Zusammenhang mit der Abstimmung. Und es zeige, dass die Verantwortlichen die Gewaltproblematik in den Griff bekommen könnten, wenn sie denn wollten, so Müller. Dass Linksautonome eher nach als vor Reitschul-Abstimmungen Probleme bereiteten, habe die Vergangenheit gezeigt.

 Tatsächlich ist der erste Antifa-Spaziergang nach der letzten Reitschul-Abstimmung vom November 2005 (siehe Kasten) gründlich aus dem Ruder gelaufen. Am 1. April 2006 lieferten sich Demonstranten eine wüste Strassenschlacht mit der Polizei, nachdem der Umzug im Jahr zuvor ohne grössere Zwischenfälle verlaufen war. Berns Sicherheitsdirektor Reto Nause (CVP) schlägt die Bedenken der Skeptiker aber in den Wind: "Objektiv gesehen gibt es keine Anzeichen dafür, dass ein erhöhtes Eskalationspotenzial besteht." Die derzeitige Situation rund um die Reitschule bezeichnet Nause als "stabil und deutlich besser als vor zwei Jahren". Der Kontakt zwischen Stadt und Reitschule habe sich bewährt und funktioniere gut. Dass dies nur wegen der bevorstehenden Abstimmung so sei, "ist pure Spekulation".

 Die Kantonspolizei gibt keine Auskünfte darüber, wie sie die aktuelle Situation im Perimeter Schützenmatte beurteilt. Auch Zahlenmaterial zur Anzahl der Einsätze in diesem Gebiet ist nicht erhältlich. Ein Indiz dafür, dass es rund um die Reitschule ruhiger geworden ist, liefert die Sanitätspolizei. Vor genau zwei Jahren wurde ein Fall bekannt, in dem sie nur unter dem Schutz von zwei Polizeipatrouillen auf die Schützenmatte hat ausrücken können. Auch von Angriffen auf die Feuerwehr war damals die Rede. Im ganzen letzten Jahr habe bei der Reitschule nie Polizeischutz angefordert werden müssen, sagt Sanitätspolizei-Kommandant Peter Salzgeber heute. "Wir haben unsere Arbeit immer uneingeschränkt verrichten können."

 "Taktische Unterstellung"

 Die Reitschule selber reagiert gelassen auf die Vermutung, dass die derzeitige Ruhe der Abstimmung zu verdanken ist. "Das ist eine abstimmungstaktische Unterstellung der Bürgerlichen", schreibt die Mediengruppe auf Anfrage. Gleichzeitig stellt die Mediengruppe klar: "Wir haben in den letzten Jahren wiederholt darauf hingewiesen, dass die Reitschule ein Kultur- und Begegnungszentrum ist und kein Ort für Strassenschlachten (...) sein will. In der Regel wurde dieses Anliegen von den meisten Teilnehmenden nach Demos auch respektiert." In die Organisation des Antifa-Spaziergangs sei die Reitschule nicht involviert, sie unterstütze den Spaziergang aber inhaltlich. Zur allgemeinen Verbesserung der Situation auf dem Vorplatz hätten dessen Belebung durch Aktivitäten der Reitschule und die Gespräche mit der Stadt beigetragen.

 Demo-Verhandlungen laufen

 Laut der Berner Orts- und Gewerbepolizei besteht übrigens bereits Kontakt mit dem Bündnis Alle gegen Rechts. Über die Bedingungen für den Abendspaziergang werde verhandelt, sagt der stellvertretende Leiter Roland Thür. Das Bündnis seinerseits schreibt, dass es kein Bewilligungsgesuch einreichen werde.

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 Reitschule: Fünf Abstimmungen in 20 Jahren

 Am 26. September stimmen die Bernerinnen und Berner über eine Initiative der SVP ab, die die Schliessung und den Verkauf der Reitschule "an den Meistbietenden" verlangt. Stadtrat und Gemeinderat haben sich klar gegen die Initiative ausgesprochen. Das Stimmvolk seinerseits hat die Reitschule seit 1990 bereits vier Mal unterstützt:

 2. Dezember 1990: Per Initiative fordert die Nationale Aktion den Abbruch der Reitschule. An deren Stelle soll ein Sportzentrum entstehen. Die Initiative erleidet Schiffbruch bei einem Nein-Stimmen-Anteil von 57,6 Prozent.

 13. Juni 1999: Der Sanierungskredit für die Reitschule findet bei der Bevölkerung eine äusserst knappe Mehrheit - 85 Stimmen machen den Unterschied. Damit stehen der Reitschule 7,7 Millionen Franken zur Verfügung, um die Gebäudehülle und die Infrastruktur zu erneuern. Bereits vier Jahre zuvor hatte der Stadtrat einen Sanierungskredit von 1,5 Millionen Franken gesprochen.

 24. September 2000: Die Volksinitiative "Reitschule für alle" wird wuchtig, mit mehr als einer Zweidrittelmehrheit abgelehnt. Als Alternativnutzung hatten die Initianten ein Einkaufszentrum vorgeschlagen. Der Titel des "Bund"-Kommentars nach der Abstimmung: "Und sie lebt halt doch".

 27. November 2005: Die Initiative "Keine Sonderrechte für die Reitschule" verlangt, dass die Reitschüler für das Gebäude ortsübliche Mietzinse und Nutzungsgebühren bezahlen müssen. 65 Prozent der Abstimmenden sagen Nein dazu. Dieses Mal betitelt der "Bund" den Kommentar mit: "Das wars dann wohl." Er hat nicht recht behalten. Keine drei Jahre später beginnt die Unterschriftensammlung für die aktuelle Initiative. (bro)

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FUCHS-HESS
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bernaktuell.ch 2.9.10

Pressemitteilung vom 2. September 2010

Vereinigung BernAktiv greift ein: Verbot der Antifademo, Entfernung der Wagenburg im Wankdort und Inseratekampage JA zur Räumung der Reitschule

Die Vereinigung BernAktiv hat mit grossem Befremden zur Kenntnis genommen, dass die linksautonome Wagenburg  mit ihren abgefrackten Wohnwagen und Traktoren wieder im Wankdorf aufgetaucht ist und dort erneut ohne jegliche sanitären Einrichtungen haust. Das bereits viele Monate dauernden Katz- und Mausspiel muss nun durch die zuständigen Behörden endlich beendet werden, bevor es vollends zu einer Kapitulation der Behörden vor einer Horde linker Jugendlicher wird.

Die Vereinigung BernAktiv wird als Zeichen des Protestes gegen diese dauernden Provokationen aus dem Umfeld der Reitschule die Kampagne für ein JA zur  Räumung und zum Verkauf der Reitschule mit 10‘000 Franken unterstützen und wird dazu mit Bärni dem Strassenwischer eine Inseratekampagne mitfinanzieren. Der Schandfleck Reitschule als erster schäbiger Eindruck von Bern für alle Zugsreisenden muss endlich und endgültig beseitigt werden.

Eine Woche nach der Abstimmung ist bereits eine ANTIFA-Demonstration angesagt. Diese Unverfrorenheit seitens der Reitschulaktivisten ist inakzeptabel. Die Vereinigung BernAktiv fordert den Gemeinderat der Stadt Bern sowie die Polizei auf, diesen Saubannerzug durch die Stadt Bern nicht zu bewilligen und notigenfalls polizeilich aufzulösen. Die Unternehmen der Stadt Bern werden aufgefordert, ihre Geschäft gegen die Antifa-Demo zu schützen.


Bärni, der Strassenwischer
http://www.bernaktuell.ch/

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RABE-INFO
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Mi. 1. September 2010
http://www.rabe.ch/uploads/tx_mcpodcast/RaBe-_Info_1._September_2010.mp3
http://www.rabe.ch/nc/webplayer.html?song_url=uploads/tx_mcpodcast/RaBe-_Info_1._September_2010.mp3&song_title=RaBe-%20Info%201.%20September%202010
- Geologische Tiefenlager für radioaktive Abfälle - Öffentliche Anhörung beginnt
- Riesige Süsswasserfische in Gefahr - China gefährdet Biodiversität mit dem Bau eines neuen Staudamms /
- Im Frauenraum der Berner Reitschule

Links:
http://www.radioaktiveabfaelle.ch/anhoerung
http://www.atommuell.ch

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BIENNALE
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Bund 1.9.10

Berner Kunstfestival setzt auf starke Emotionen

 "Wut": So lautet das Thema der Biennale Bern 2010 von 10. bis18. September.

 Alexander Sury

 Hier hat jemand gewütet: Im Foyer des Berner Stadttheaters stehen kaputte Sofas und ramponierte Stühle neben den gediegenen Plüschmöbeln, der repräsentative Spiegel ist zum Teil mit Karton überklebt. Hier entsteht das Festivalzentrum der alle zwei Jahre durchgeführten Biennale, die "Bar Rage", wo jeweils ab 21.30 Uhr ein Late-Night-Programm (u. a. mit Greis und Mani Porno) auch junges Publikum anziehen soll.

 "Wut hat heute einen schlechten Ruf", stellte Roman Brotbeck, der Leiter des Kuratoriums der Biennale Bern, anlässlich der Programmpräsentation fest. Auch von der Kultur erwarte man eher "Abgehobenes als die schonungslose Direktheit eines Wutausbruchs". Brotbeck betonte, dass das Biennale-Festival seit seiner Erstausgabe 2001 - damals noch schwerpunktmässig der Musik gewidmet - in Bern ständig an Akzeptanz bei grossen und vielen kleineren Kulturinstitutionen vom Stadttheater über das Symphonieorchester, Kunstmuseum, Zentrum Paul Klee bis zum Schlachthaus-Theater und der Dampfzentrale gewonnen habe: "Es geht den Beteiligten für einmal um den Austausch und eine Bündelung der Kräfte."

 Willkür und Rachedurst

 Zwischen 80 und 90 Prozent des Budgets der Biennale stellen denn auch die beteiligten Institutionen. Im Programm der Ausgabe 2010 machen die musikalischen Produktionen noch gut ein Viertel aus. Stadttheater-Intendant Marc Adam, seines Zeichens auch Präsident des Vereins Biennale Bern, hatte vor zweieinhalb Jahren den Anstoss gegeben, das Thema "Wut" für die Ausgabe 2010 zu wählen. Als Schweizer Erstaufführung schlug er die Oper "Wut" des Basler Komponisten Andrea Lorenzo Scartazzini vor. Auf der Suche nach einem "archaischen Stoff" stiess Scartazzini auf die verbürgte Geschichte des späteren portugiesischen Königs Pedro I., der im 14. Jahrhundert nach dem gewaltsamen Tod seiner Geliebten zu einem schrecklichen Rachefeldzug aufbrach. Aus der historischen Tragödie öffnet das Werk mit einer "zeitgenössischen Musiksprache" den Blick in die Gegenwart schrankenlos wütender Diktatoren.

 Der Willkür sind auch die "modernen Sklaven" oft ausgeliefert. In einem dreiteiligen, aus einem Film-, Tanz-, Musik- und Sprechtheater bestehenden Projekt "To Serve" - mit den Spielorten Dampfzentrale, Kino im Kunstmuseum und Haus der Universität - setzen sich die Choreografin Simone Aghterlony und der Filmemacher Jorge León mit Dienstverhältnissen aller Art auseinander.

 "Anger Release Machine"

 Die Künstlergruppe "400asa" präsentiert ein Projekt, das vom Film "La Céremonie" von Claude Chabrol inspiriert ist, im Schlachthaus-Theater beginnt und als mobile Theaterperformance im Stadttheater endet. Ein Stadtrundgang der besonderen Art unternimmt der Verein Stattland, der "Wutschichten" freilegt und an Orte führt, die in der Vergangenheit Debatten provozierten.

 Ein weiterer "wütender" Höhepunkt ist die Projektion des Stummfilmklassikers "Nosferatru" mit Livemusik des Berner Symphonieorchesters. Im Schlachthaus-Theater erforscht das Stück "Explodierende Innereien", ausgehend von Interviews, das Spektrum Berner und internationaler Wut. Das Kunstmuseum Bern und das Zentrum Paul Klee zeigen ausgewählte Kunstwerke zum Thema "ira" (Zorn, Wut) aus der gemeinsamen Ausstellung über die sieben Todsünden (ab 15. Oktober). Und im Botanischen Garten kann Gross und Klein "wütenden Pflanzen" wie der Tollbeere oder dem Stinkteufel begegnen.

 Roman Brotbeck hofft, dass es der Biennale mit ihrem Programm gelingt, "die Liebhaber der unterschiedlichen Kunstsparten zusammenzubringen und in fruchtbare Dialoge zu verwickeln". Zu einem Publikumsmagneten könnte die "Anger Release Machine" avancieren, die, an einen Selecta-Automat erinnernd, im Stadttheater auf Kundschaft wartet. Angestaute Wut findet hier ein Ventil, indem nicht etwa Süssigkeiten, sondern Geschirr und Gläser zum lustvollen Zerschlagen im Angebot sind.

http://www.biennale-bern.ch

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KUFA LYSS
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BZ 2.9.10

Festival zur Eröffnung

 Jetzt hat Lyss seine Kulturfabrik zurück

 Das Seeland hat wieder eine Kulturfabrik (Kufa). Das neue Konzertlokal in Lyss wird mit einem dreitägigen Festival eröffnet.

 Vor über drei Jahren musste die Kulturfabrik Lyss ihre Tore schliessen. Nach einer knapp einjährigen Bauphase wird die Kulturfabrik nun wiedereröffnet. "Mit dem Eröffnungsprogramm wollen wir die kulturelle Vielfalt aufzeigen, die nachher in der Kufa geboten wird", erklärt der Leiter Ben Arn. Von Rock über Hip-Hop bis Theater soll in der neuen Veranstaltungshalle alles geboten werden.

 Die Kulturhalle ist zwischen einer bestehenden Baumallee und einem kleinen Waldstück eingebettet. Der Bau mit einer Halle für 700 Personen und einem Club für 200 Besucher liegt im Erdgeschoss. Die Wandelhalle im 1. Obergeschoss dient, nebst der farbigen Fernwirkung, als unbeschallter Aufenthaltsraum. Zurzeit ist sie nicht beheizt und gilt daher als regen- und windgeschützter Aussenraum.

 Das neue Gebäude liegt direkt an der Autobahnausfahrt Lyss-Nord. Für Gäste stehen Gratisparkplätze zur Verfügung. Für Konzertbesucher ohne Auto befindet sich die Moonliner-Haltestelle der Linie Bern-Biel (M10) vor der Kulturfabrik.

 Am dreitägigen Eröffnungsevent treten heute Männer am Meer auf. Gefolgt von den Bernern Round Table Knights und dem Emmentaler Duo Wooden Travel. Das Highlight am Freitag, 3. September, sind Dog Eat Dog aus den USA. Im Vorfeld werden Steff la Cheffe, The Mahones aus Kanada, Hiliyuma aus der Region und Red Charly aus Zürich auf der Kufa-Bühne stehen. Der letzte Festivaltag, Samstag, 4. September, wird von dem DJ-Duo Smith & Smart, der deutschen Band Caracho, der Soultruppe The Gamebois, der Reggae-Combo Team an Faiah und weiteren Bands aus der Region bestritten.

 Tickets für die Eröffnungsfeier sind als Einzeltageseintritte ab 19 Franken oder als Dreitagepass für 59 Franken bei Starticket erhältlich. Ein Tag vor der Eröffnung hat die Kufa bereits mehrere Hundert Tickets verkauft.

 Martina Maurer

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SQUAT ZH
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Indymedia 1.9.10

Hausbesetzungsbewegung 1993 bis 2005 (Teil 5 der Serie)

AutorIn : Nick W.: http://fm5ottensheim.blogspot.com     

Nach der Räumung der Wohlgroth am 23. November 1993, bei der "das ganze Arsenal militärisch-polizeilicher Gewaltmittel in einem Ausmass [eingesetzt wurde], dass damit für die Schweiz neue Massstäbe gesetzt wurden", kam es zwei Nächte lang zu gewalttätigen Protesten mit über einer halben Million Franken Sachschäden in der Innenstadt. Die gewalttätigen Proteste wurden von manchen Zeitungen übrigens schon vor deren Eintreten "herbeigeschrieben". (Stahel, S. 334; Zitat aus Flugblatt "Alles wird Wohlgroth", Dezember 1993, nach Stahel, S. 356) Zahlreiche Tageszeitungen berichteten über die Räumung und die Ausschreitungen, die Rede war teilweise auch von "Berufs-Chaoten aus dem Ausland" (wohl eine Abwandlung des bei reaktionären Kräften und Medien allseits beliebten "deutschen Berufsdemonstranten").     
    
Zu Teil 5 der Serie "Wohnungsnot und Hausbesetzungen in Zürich":

 http://fm5ottensheim.blogspot.com/2010/09/wohnungsnot-und-hausbesetzungen-in.html     

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Tagesanzeiger 1.9.10

Besetzer von Küsnachter Klinik zogen ab

 Pünktlich zum Ablauf des Ultimatums haben die Besetzer der Raphael-Klinik das Gebäude übergeben. Die Eigentümer verlangen jetzt mehr Polizei-Patrouillen.

 Von Lorenzo Petrò und Patrik Berger

 Küsnacht - Wie die typischen Hausbesetzer aus der linken Szene benahmen sich die zehn Künstler bei ihrem erzwungenen Auszug aus der Küsnachter Raphael-Klinik nicht. Gestern Abend um 17.30 Uhr, eine halbe Stunde vor Ablauf des Ultimatums, trugen sie Abfallsäcke zum Container im Hof, fein säuberlich mit Küsnachter Gebührenmarken versehen. "Sie benehmen sich vernünftig", rapportierte Hauswart Walter Tinner.Ihn hatte Beat Badertscher, der Verwaltungsratspräsident der Klinik Pyramide am See, der Eigentümerin der Raphael-Klinik, zur Kontrolle hergeschickt. Auch den Schlüssel, über den die Besetzer verfügten, erhielt Tinner zurück.

 Wie sie zu dem Schlüssel gekommen seien, wollten die Besetzer nicht sagen. "Wir haben aber fest damit gerechnet, im Haus vorübergehend wohnen und arbeiten zu dürfen", sagte der Sprecher der Truppe. "Sonst hätten wir die Klinik nicht besetzt." Man habe seit dem Einzug Ende Juli viel investiert und diverse Handwerker ins Haus bestellt.

 Nächste Besetzer stehen bereit

 Dass die Küsnachter Baukommission die Pläne der Besitzer und Besetzer als nicht zonenkonform zurückwies (TA vom 13. 8.) habe beide überrascht. Die von den Besitzern gesetzte Auszugsfrist sei danach zu kurz gewesen, um einen alternativen Nutzungsvertrag auszuhandeln. Ein Anwalt hätte bereits einen Vertrag zur zonenkonformen Nutzung der leer stehenden Klinik als reines Atelier aufgesetzt gehabt. "Wir hätten sie gerne als Sommerakademie für Künstler genutzt und Lesungen organisiert." Die nächsten Besetzer würden nun bestimmt bald einziehen.

 "Gestern Nacht wurde eine Scheibe eingeschlagen. Die sind bestimmt am Auskundschaften", sagt der Sprecher der abgezogenen Klinik-Besetzer. Badertscher hat noch gestern die Schlösser ausgewechselt. Er fordert jetzt von der Gemeinde regelmässige Polizei-Patrouillen.

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Zürichsee-Zeitung 1.9.10

Küsnacht Kunststudenten verlassen Klinik St. Raphael nach einmonatiger Besetzung

 Besetzer halten ihr Versprechen

 Die Klinik St. Raphael steht wieder leer. Fristgerecht haben die zehn Besetzer aus der Kunstszene das Feld geräumt.

 Daniel Fritzsche

 Gerade mal einen Monat hat die Besetzung der altehrwürdigen Klinik St. Raphael in Küsnacht gedauert. Zehn Kunststudenten nutzten die ehemalige Privatklinik währenddessen als "Lebens- und Arbeitsraum" - zu Unrecht, wie die Gemeinde Küsnacht deutlich machte. Aus baupolizeilichen Gründen sei eine Wohnnutzung strikt verboten.

 Die Eigentümerin der Liegenschaft, die Zürcher Pyramide-Gruppe, gab den Besetzern bis 31. August Zeit, das Feld zu räumen. Die Kunststudenten willigten ein. Wie ein Augenschein vor Ort zeigte, haben sich die Hausbesetzer an die Abmachung gehalten.

 Die Hausregeln befolgt

 Bereits gestern Mittag stand die Klinik oberhalb des Rumensees wieder leer. Das grosse "Besetzt"-Schild, das zuvor vor dem Haupthaus befestigt war, wurde entfernt. Im Eingangsbereich der Klinik haben die Studenten, die sich "Collective Saint Raphael" nannten, eine Nachricht hinterlassen. "Durchgefallen!", schrieben sie mit schwarzem Filzstift an die Wand. Daneben nagelten sie ihre "Hausregeln", welche die von allen Seiten als "anständig" beschriebenen Besetzer während dem letzten Monat befolgt haben. Unter anderem bürgten sie dafür, die Liegenschaft sauber zu halten sowie ihre Nachbarn zu respektieren und nach 22 Uhr keinen Lärm mehr zu machen. Ebenso wollten sie "absolut niemandem" den Zutritt zum Haus gewähren. Beat Badertscher, Verwaltungsratspräsident der Pyramide-Gruppe, hofft, dass mit dem Auszug nun Ruhe einkehrt. Die Diskussion mit der Künstlertruppe sei stets von gegenseitigem Respekt geprägt gewesen. Stutzen musste Badertscher aber, als die Studenten in den letzten Tagen einen Anwalt einschalteten, der mit der Gemeinde und der Pyramide-Gruppe anscheinend verhandeln wollte. "Darauf sind wir aber nicht eingetreten", erklärt Badertscher.

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Szenen einer "zahmen" Besetzung

 Das "Besetzt"-Schriftband liegt zusammengerollt im Schrank. Die Fenster sind unversehrt. Die Wände weiss. Die Böden sauber. Kaum etwas weist darauf hin, dass in der Küsnachter Klinik St. Raphael bis vor kurzem zehn junge Besetzer hausten. Nur wer genauer hinschaut, entdeckt noch vereinzelt Spuren der Kunststudenten, die einen Monat lang in der Klinik wohnten: zum Beispiel ein Türschloss, das sie abgeschraubt und im Gartenschopf liegen gelassen haben. Oder ein weisser Arztkittel mit Kliniklogo, den sie anscheinend gerne trugen, wenn sie die verlassenen Spitalflure entlang trotteten. Oder eine CD mit Liedern von Mani Matter, die sie sich gelegentlich anhörten. In einigen Zimmern stehen Blumentöpfe mit mittlerweile verdorrten Pflanzen. Auf dem Boden vor den Gemeinschaftsduschen liegen durchgelesene Zeitungen. Und in der Klinikküche, sauber geordnet, etwa zwei Dutzend leere Weinflaschen. Dass es sich bei den Küsnachter Besetzern nicht um anarchistische Pogo-Punks handelt, wird auf einen Blick ersichtlich. Im Haupttrakt finden sich allerhand Reinigungsutensilien: Besen, Schaufeln, Eimer und Putzmittel. Die Studenten waren auf Sauberkeit und Ordnung bedacht. Sogar Abfallmarken haben sie gekauft, um ihren Müll legal zu entsorgen. Auch von draussen sieht die Klinik St. Raphael unbeschädigt aus. Keine Graffiti sind zu erkennen. Die Fensterläden sind fast überall geschlossen und die Türen verriegelt. Und der idyllische Garten mit Parkbänken liegt genauso verträumt da wie vor der "zahmen" Besetzung des kurzlebigen "Collective Saint Raphael". (dfr)

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KASERNE BASEL
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Basler Zeitung 1.9.10

Dreissig Jahre Kaserne Basel

 Umbrüche und Ansprüche

 MARC KREBS

 Die Kaserne Basel feiert vom 2. bis 4. September ihr dreissigjähriges Bestehen: Das Dreispartenhaus steht für Kultur, Kampf und zeitweise auch für Krampf. Dasselbe lässt sich über das gesamte Areal sagen.

 Als Queen Elizabeth II 1980 die Gartenschau Grün 80 eröffnete, stand Basel ein heisser Sommer bevor. Zürich brannte bereits. Und auch in Basel loderte das Feuer. Die bewegte Jugend forderte Freiräume mit Megafonen und Molotowcocktails. Das gepflegte Gartengrün am Stadtrand stand in herbem Kontrast zum Wildwuchs, der sich an Demonstrationszügen in der Innenstadt manifestierte. Wildwuchs herrschte zu dieser Zeit auch auf dem Kasernenareal.

 Seit der Waffenplatz 1966 aufgelöst worden war, hatten hier Künstler Unterschlupf gefunden, ebenso ein Globus-Provisorium. Die Stadt stritt sich über die künftige Nutzung der brachliegenden Militärgebäude. Ideen wurden gewälzt, der Kompromiss aber lautete: "Ent-stoh-loo". Man entband das Areal seiner ursprünglichen Funktion, liess Neues entstehen - und die alten Gebäude stehen. In den ehemaligen Stallungen nistete sich 1980 der Verein Kulturwerkstatt Kaserne ein und eröffnete ein alternatives Kulturzentrum. Ein autonomes Jugendzentrum entstand Monate später auf Grossbasler Seite, die Punks riefen dieses an der Hochstrasse aus.

 Alternative

Die Zeichen der Zeit standen auf Sturm und Drang. Die Kulturwerkstatt gehörte politisch betrachtet zu den Nutzniessern der Situation. Sie erhielt bereits 1981 erstmals Subventionen für den Betrieb zugesprochen: 130 000 Franken für ein Programm, das in den Bereichen Tanz, Theater und Musik eine Alternative zu den Angeboten des Bürgertums bot.

 Seither haben die Subventionen und die Anzahl Veranstaltungen markant zugenommen - ebenso die Ansprüche an die Kaserne und die Kritik. Denn wie das gesamte Kasernenareal ist auch der Kulturbetrieb ein Flickwerk, sowohl inhaltlich als auch baulich. Um nur ein Beispiel zu nennen: Allein die Reithalle musste innert 15 Jahren zweimal saniert werden. Dennoch weist sie weiterhin akustische Mängel auf und steht für hohe Kosten der Bühnenumbauten zwischen den Produktionen. Strukturprobleme sind ein Dauerthema.

 Vom Begriff Kulturwerkstatt, der ganz den Geist der achtziger Jahre atmet, sich heutzutage aber anhört wie die Bezeichnung für eine geschützte Bastelstunde, hat sich der Verein nicht verabschiedet. Ebenso wenig von der Trägerschaftsform Verein, die sich mit der Professionalisierung eines Unternehmens, das heute von den Halbkantonen mit jährlich 1,6 Millionen Franken unterstützt wird, schwierig vereinbaren lässt.

 Eine professionelle Instanz wäre wünschenswert, dasselbe lässt sich zum gesamten Areal sagen, diesem Stiefkind der Stadtplanung. Zahlreiche private und öffentliche Mieter verfolgen hier seit Jahren ihre eigenen Interessen, was zu Streitereien um Territorien und zugleich zu einer Blockade der Entwicklung des gesamten Areals geführt hat.

 Absturz

Vor dem Stillstand stand die Kultur-Kaserne in den letzten zehn Jahren auch selber. Was dazu führte, dass der Betrieb viel zu sehr mit sich selber als mit seinem Programm beschäftigt war. Misswirtschaft und Finanzierungsprobleme, häufige Führungswechsel und permanente Interessenkonflikte (Tanz/Theater versus Musik) führten mehrmals an den Rand des Abgrunds. Und ansatzweise (wir erinnern uns an die Idee eines Popkultur-Tempels) gar beinahe zu einem Umsturz.

 Immer wieder griff die Politik der angeschlagenen Kultur-Kaserne unter die Arme. Mitunter zum Unmut der Bevölkerung, die sich der langen Leidensgeschichte überdrüssig ist. Noch vor zwei, drei Jahren wurde in autonomen Kreisen gar über eine Besetzung nachgedacht. Vollzogen wurde sie nicht. Das spricht dafür, dass die Kaserne ihre Berechtigung hat - auch wenn sie manchen Alternativen inzwischen zu wenig alternativ ist.

 Annex

Die Diskussionen über das Areal, über einen Abriss oder Durchbruch des Kopfbaus, drehen sich seit Jahren im Kreis. Was sich aber in den letzten dreissig Jahren geändert hat, ist die Bedeutung der Annexbauten, in denen Konzerte und Tanz- sowie Theateraufführungen stattfinden. Diese in die Luft zu sprengen, steht nicht zur Diskussion. Stattdessen wird die Idee einer Öffnung des gesamten Areals neu debattiert.

 In Zürich geht das geflügelte Wort "die tote Fabrik" um. Die Rote Fabrik, einst Pendant zur Kaserne, hat (wie die Berner Reitschule) in der öffentlichen Wahrnehmung an kultureller Bedeutung eingebüsst. Sie liegt nicht nur geografisch, sondern auch inhaltlich an der Peripherie der pulsierenden Limmatstadt. Das lässt sich von der Kaserne nicht sagen: Sie liegt an bester, zentraler Kleinbasler Lage, wird an lauen Abenden von Hundertschaften frequentiert, drinnen die Performance-, draussen die Gesprächskultur. Ein wichtiger Treff-, Anziehungs- und Ausgehpunkt.

 Zum Jubiläum lädt die Kaserne von Donnerstag bis Samstag zur Reise in die Vergangenheit. "Zeitmaschine" heisst eine Reihe von Kurzperformances, mit denen Musiker, Schauspieler und Tänzer die letzten dreissig Jahre Revue passieren lassen. Den Auftakt macht Regisseur Michael Koch mit einem Werktitel, der an jene Zeit erinnert, als nebst dem Park im Grünen auch der Wildwuchs in Basel aufblühte: "Queen Elizabeth II".

 > Diskussion über die Zukunft des Kasernenareals: Seiten 32, 33.

 > Jubiläumsprogramm: http://www.kaserne-basel.ch

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Unternutzt und eingekesselt: Wie weiter mit der Basler Kaserne?

 Ein Round-Table-Gespräch über das Potenzial der Kaserne, staatliche Pläne betreffend Arealentwicklung und die Wünschbarkeit von einem oder mehreren Durchbrüchen zum Rhein

 Gesprächsleitung: Christoph Heim/Marc Krebs

 Vor dreissig Jahren wurde die Kaserne von der alternativen Kulturszene Basels in Beschlag genommen. Jetzt steht das Kasernenareal vor einem Umbruch: Diskutiert werden Durchbruch oder Abriss des Hauptgebäudes am Rhein sowie verschiedene Nutzungskonzepte.

 Wir diskutieren mit der Grossrätin Mirjam Ballmer (Grüne Partei), der Kasernendirektorin Carena Schlewitt, dem Tattoo-Produzenten Erik Julliard, Christoph Stratenwerth, Mitbegründer der Kulturwerkstatt Kaserne, Manuel Herz, Architekt, und Thomas Kessler, Kantonsentwickler im Präsidialdepartement.

 BaZ: Was ist, in einem Satz gesagt, die Kaserne für Sie?

 Thomas Kessler: Aus Sicht des Kantonsentwicklers ist die Kaserne eine Perle genau im Zentrum der metropolitanen Region Basel, am bestmöglichen Standort. Mit einem nächsten Projekt kann dann dieser Platz komplett mit dem Kasernenareal verbunden werden.

 Manuel Herz: Die Kaserne ist ein Zentrum, dessen Aktivitäten ich sehr schätze, dessen Aufenthaltsqualität aber aufgrund der städtebaulichen Figur grosse Mängel hat. Diese Diskrepanz muss man lösen.

 Christoph Stratenwerth: Ich unterscheide zwischen dem Kulturbetrieb, der etwa zehn Prozent der Fläche bespielt, und dem restlichen Areal. Der Ort ist wie damals, als wir ihn vor dreissig Jahren in Besitz genommen haben, sehr lebendig: ein Stück Brachland mitten in der Stadt mit einem enormen Potenzial.

 Erik Julliard: Die Kaserne, vor allem das Hauptgebäude, gehört zum Stadtbild, ob mit oder ohne Basel Tattoo. Die Kaserne ist für das Basel Tattoo matchentscheidend und gibt unserem Anlass die adäquate Kulisse.

 Carena Schlewitt: Die Kaserne ist ein spannender Ort für Kultur - auch als Produktionsort - und ein grosser Stadtpark. Das Potenzial der Kaserne ist aber bei Weitem nicht ausgeschöpft. Das gilt für die Nutzung der Gebäude wie auch für die Zusammenarbeit unter den Betrieben auf dem Areal.

 Mirjam Ballmer: Die Kaserne ist für mich ein Kultur- und Stadtzentrum in Kleinbasel, das sehr rege genutzt wird. Die Kaserne hat ein Potenzial, zu einem noch offeneren Stadtplatz zu werden.

 Herr Julliard, hat das Areal in Ihren Augen auch ein Potenzial oder sind die Gebäude einfach Kulisse für Ihre Veranstaltung?

 Julliard: Für mich gibt es dieses Potenzial auch. Aber als Produzent des Tattoo kann ich nicht für einen Abbruch des Hauptbaus votieren. Mir hat auch noch niemand erklären können, wie die Nutzungsqualitäten des Areals durch einen Abbruch des Hauptbaus gesteigert werden könnten.

 Schlewitt: Sie sprechen vom Abriss des gesamten Kopfbaus. Die Vorschläge gehen aber heute eher in Richtung Teilabriss oder Durchbruch in den unteren Etagen.

 Stratenwerth: Das Hauptproblem ist der Kopfbau dieser ehemaligen Kaserne. In der Struktur des Gebäudes steckt eine Geschlossenheit. Wenn man die nächste Generation von Umnutzung derartiger Areale anschaut, Stichwort Gundeldingerfeld, dann lernt man, dass man mit einer Art Generalplan beginnen muss, der öffentliche und private Flächen organisiert. Die oberste Regel ist dabei: Das Parterre ist öffentlich und die oberen Etagen werden immer privater. Solche Setzungen, was ist öffentlich, was ist privat, was ist Foyer, was ist Funktion, konnten bei der Kaserne nicht stattfinden, weil das Areal in einer Art Guerillataktik erobert wurde. Gegen den Willen der Verwaltung, die immer wieder Wettbewerbe für Parkhäuser und Einkaufszentren durchführte. Heute könnte man alles abreissen, aber es sehen alle, dass in den vergangenen dreissig Jahren etwas entstanden ist. Der Platz gehört zu den lebendigsten in unserer Stadt. Man muss nun die Entwicklungen beschleunigen, das Areal zum Rhein hin öffnen. Man muss den Kopfbau nicht abreissen, aber das Erdgeschoss sollte öffentlich zugänglich sein. Die ganze Modebranche, die sich im Kleinbasel angesiedelt hat, könnte man dort ansiedeln. Kommt dazu, dass man mit ein paar Eingriffen einige Achsen öffnen muss. Ich bin sehr erstaunt, dass gerade aus der grünen Partei dieser Vorschlag kommt. So ein Gebäude kann ja auch, man denke an die Diskussionen um den Stuttgarter Bahnhof, sehr identitätsstiftend sein.

 Ballmer: Die Initiative von "Kulturstadt jetzt" fordert nicht den Abriss des Kopfbaus, sie fordert lediglich eine grosszügige Öffnung. Das kann der Abriss eines Teils des Kopfbaus, das kann aber auch der Durchbruch im Parterre sein. Es braucht eine öffentliche Nutzung im Parterre und eine Durchlässigkeit zum Rhein hin, beides befruchtet sich gegenseitig.

 Herz: Warum fordern wir denn nicht den Abriss des Hauptbaus? Städtebaulich muss man doch konstatieren, dass Basel zwar sehr stark durch den Rhein geprägt wird, aber einen überaus schlechten Zugang zum Rhein hat. Auf der Grossbasler Seite hat die Stadt überhaupt keinen Platz, der dem Rhein zugewandt ist. Vielleicht die Schifflände…

 Ballmer: …auch der Rheinpark ist eher ein negatives Beispiel…

 Herz: …ja. Dabei sieht man, mit welcher Dankbarkeit jeder Eingriff von der Bevölkerung angenommen wird. Wenn man den Rhein entlang Betonstufen baut, wird das als grossartig empfunden und sofort auch intensiv genutzt. Ein Platz, der sich grosszügig dem Rhein hin zuwendet, wäre städtebaulich die interessanteste Lösung, die man sich vorstellen kann: um die Stadt zum Rhein zu bringen, um den Rhein zur Stadt zu bringen. Natürlich kann man sich streiten, wie gross die Öffnung sein soll. Der Kasernenhauptbau an sich ist aber bauhistorisch nicht von grossem Wert.

 Der Staat will nun eine ganz kleine Öffnung machen, indem der Gebäudeteil zwischen Kirche und Hauptgebäude abgerissen wird. Ist das nicht einfach ein schlechter Kompromiss?

 Kessler: Die Regierung möchte ermöglichen und dynamisieren und dort Akzente setzen, wo es jetzt geht und nicht erst in fünf Jahren. Wir verstehen die Seitenöffnung als Initialzündung, die sinnlich vorführt, wie ein Durchgang zum Rhein hin sich auf das Kasernenareal auswirkt. Kombiniert wird der Durchbruch mit einem neuen Restaurant, das ausstrahlt bis ins Kloster. Das Klingentalweglein wird geöffnet. Der historische Kitsch, der sich dort befindet, etwa das Gitter, kommt weg. Es gibt eine Öffnung bis hinauf zu den Restaurants Ballade und Klingental.

 Wenn man über das Entwicklungspotenzial des Kasernenareals redet, muss man unbedingt auch über den Bezug zum Quartier reden. Auch die Rheinpromenade muss erneuert werden. Wir haben dort eine Pseudoidylle mit Rabatten, die zum Park im Grünen entstanden sind und nicht mehr der heutigen Nutzung entsprechen. Unsere Entwicklungsideen im Kern der Metropole Basel zielen auf eine höhere Ausstrahlung der Kaserne ab und wollen die Wechselbeziehungen zwischen Areal und Kleinbasel verstärken. Was mit dem Hauptbau geschieht, das ist jetzt Thema einer Initiative; darüber wird die Bevölkerung demokratisch abstimmen können.

 Das heisst: Im Grunde genommen ist die Kaserne ein Flickwerk, und die Stadt geht jetzt wieder mit einer Salamitaktik vor?

 Kessler: Nach dreissig Jahren Diskussion über die Kaserne soll nun etwas geschehen. Diese Stadtbrache ist völlig unternutzt. Das Hauptgebäude steht am besten Ort der ganzen Region. In jeder anderen Stadt gäbe es an einem solchen Ort dem Rhein entlang zwanzig wunderbare Restaurants. In Basel gibt es einen Container, der als Buvette dient. Dieser Ort braucht jetzt einen Impuls und nicht nochmals eine fünfjährige Debatte.

 Bereits 1989 entschied sich eine Wettbewerbsjury für ein Projekt, das eine Umgestaltung und einen Durchbruch zum Rhein vorsah. Doch die Stadt konnte die erforderlichen 3,7 Millionen Franken nicht aufbringen.

 Stratenwerth: "Die Wiese zwingt den Rhein ins Knie" hiess das Projekt, und es ist in der Tat aus finanziellen Gründen nicht realisiert worden.

 Kessler: Was die Regierung dem Parlament im November vorlegen wird, kostet drei bis vier Millionen Franken und umfasst den WC-Trakt in der Kaserne, die Abwartswohnung, die Rheinpromenade und reicht der Kirche entlang bis hinauf zum Platz vor dem "Ballade". Dabei werden alle Bedürfnisse für mehr optische Verbindung, Sicherheit und Rollstuhlgängikeit berücksichtigt. Man verbaut sich mit dieser Umgestaltung gar nichts.

 Herr Julliard, können Sie mit dem seitlichen Durchbruch leben?

 Julliard: Jeder Eingriff in die Kulisse ist ungünstig für uns. Zu den Plänen der Regierung muss man freilich anerkennend sagen: Man hat einfach an alles gedacht. An die Aufwertung des Wegleins, an den Einbau eines Restaurants, an den Lichteinfall. Aber wenn man bedenkt, was ein Durchbruch im Parterre bedeutet: Der Niveauunterschied Kasernenplatz-Rheinpromenade beträgt eineinhalb Stockwerke. Das macht eine Verbindung nicht einfach.

 Interessant ist ja, dass das Tattoo einen Grossteil des Hauptbaus durch eine eigene Kulisse verdeckt.

 Julliard: Nein, sicher nicht die ganze Fassade, sondern nur die ersten drei Meter, die bei Renovationsarbeiten schlecht abgedeckt wurden. Dies kann man nicht als mehrheitlich abgedeckt bezeichnen. Zudem wird die Kaserne rheinseitig von so vielen Bäumen verdeckt, dass sie das Stadtbild nicht wirklich stören kann.

 Noch etwas zu den geplanten Durchbrüchen: Wären die Musiker, wir denken da an die Mexikaner beim letzten Tattoo, nicht dankbar, wenn sie durch solche Öffnungen im Gebäude auf die Bühne stürmen könnten? Beim letzten Tattoo mussten sie sich ja regelrecht hineindrängeln.

 Julliard: Logistisch gesehen ist das Tattoo ein Albtraum. Wir haben jeden Abend 10 000 Personen auf dem Platz, und zwar nur auf der asphaltierten Hälfte. Wir werden bestimmt die Öffnung, die jetzt geplant ist, ausnützen.

 Also hat es Vorteile für Sie?

 Julliard: Die Liste der Nachteile ist länger. Wenn der Hauptbau stehen bleibt, hat das visuelle und akustische Vorteile. Wir haben jetzt keine Lärmprobleme mit den Anwohnern.

 Herz: Ich kenne Leute, die wohnen in der Umgebung und die erleben während des Tattoo qualvolle Abende.

 Julliard: Ausserhalb der Kaserne hört man vom Tattoo nichts.

 Herz: Wenn Sie die Musik mögen, mag das stimmen!

 Julliard: Sie waren gar nie da!

 Herz: Ich beziehe mich auf die Aussagen von Anwohnern.

 Julliard: Wir machen unsere Veranstaltung, wo sie historisch gesehen auch hingehört, nämlich im Vorhof der Kaserne!

 Schlewitt: Ich bin ja vor zwei Jahren gekommen. Schon damals hiess es, die Schulen würden ausziehen. Der Kopfbau würde frei und eine Öffnung zum Rhein hin werde kommen. Die Termine für den Auszug der Schulen werden aber dauernd verschoben. Es zieht und zieht und zieht sich.

 Was mir auffällt: Es wird ständig über etwas geredet, aber nie konkret. Seit der Studie von Martin Heller, welche die Kaserne als "Brutstätte" bezeichnete, gibt es keine Überlegungen mehr, was das eigentlich heisst. Auch die Visualisierungen zur Öffnung der Kaserne, die "Kulturstadt jetzt" vorgelegt hat, sind bloss mögliche, unverbindliche Varianten. Es fand kein Architekturwettbewerb statt. Alles bleibt unkonkret bis auf den Vorschlag der Regierung, eine seitliche Öffnung zu machen. Für mich wirkt der Vorschlag, als ob man neben dem Areal eine Fläche frei machen möchte.

 Warum spricht man immer über Abbruch und nie über die Inhalte?

 Stratenwerth: Wir haben uns vor dreissig Jahren überlegt, wo gehen wir hin mit einem Kulturzentrum? Wir sind vor dem Kasernenareal damals zuerst zurückgeschreckt. Schon damals gab es die unterschiedlichsten Ideen für dieses Areal. Was wiederum mit dem Quartier zu tun hat, das unglaublich dicht bebaut ist und intensiv genutzt wird. Wenn man die vergangenen dreissig Jahre ansieht, kann man sagen, dass die Beteiligten alle einen Weg gefunden haben, wie sie miteinander einigermassen fair umgehen können. Sie, Herr Julliard, kommen im Jahr 25 dieser Kaserne und stellen ihre Kiste hinein und werden noch freundlich aufgenommen.

 Die Schlüsselfrage ist, wie finden die Planungsprozesse statt? Ist der städtebauliche Ansatz so, dass ich eine schöne Vision habe, die ich dann im Computer visualisiere? Oder sollte es nicht zuerst um die Inhalte gehen? Was macht Habitat und Bollag am Wiesenplatz? Die beiden privaten Initiativen reanimieren den Wiesenplatz. Wer hat die Rheingasse reanimiert? Der Staat? Nein, private Initiativen. Wer hat das Gundeldingerfeld reanimiert? Gegen den Widerstand der Verwaltung ist dieses Projekt entstanden. Viele lebendige Orte in dieser Stadt sind nicht über städtebauliche Prozesse entstanden, sondern dank risikofreudigen Privaten. Die Frage ist: Ermöglicht die Politik solche Initiativen? Sie muss uns nicht zeigen, wie wir zu leben haben.

 Ballmer: Unsere Initiative sagt ja nicht, dass mit einem Durchbruch alle Probleme gelöst sind. Es braucht die baulichen Voraussetzungen, damit etwas entstehen kann. Gleichzeitig braucht es die privaten Initiativen. Umgekehrt wird kein Schuh draus: Man kann nicht sagen, wir wollen das und das, ohne dass die baulichen Voraussetzungen dafür geschaffen werden.

 Stratenwerth: In der Kaserne läuft ja nicht der Prozess ab, den man von Berlin und Hamburg her kennt: Künstler gehen in ein Areal rein, das Areal wird aufgewertet und damit plötzlich für die Immobilienentwickler interessant, die mit ihren Investitionen die Künstler vertreiben. Bei der Kaserne geht es um etwas völlig anderes: Das Areal ist in seiner baulichen Substanz vielleicht zu zwanzig Prozent genutzt. Wenn die Schule aus dem Kopfbau auszieht, ist der grösste Teil leer.

 Welche Rolle spielt der Staat bei der Kaserne?

 Kessler: Die Behörden sind Ermöglicher: Nach dem Durchbruch geht es um ein Nutzungskonzept für das gesamte Areal. Wir sind auch der Ansicht, dass niemand vom Areal vertrieben werden muss. Wir sind uns aber bewusst, dass die Stadt über zu wenig Wohnungen und Hotels verfügt. Wenn der Roche-Turm kommt, haben wir dagegen ein Überangebot an Geschäftsräumen.

 Sollen im Kopfbau Luxuswohnungen entstehen?

 Kessler: Der Kopfbau ist zu klein für eine solche Wohnungsdiskussion.

 Die Lage ist extrem teuer. Verschwendet der Staat nicht seinen Besitz, wenn er den Kopfbau mit Ateliers und Proberäumen füllen will?

 Kessler: Die Regierung wird übergeordnete Interessen geltend machen: Da ist zum einen der Schutz der Kulturräume, zum anderen sind es soziale Überlegungen. Die Kaserne muss weiterhin für das Quartier wichtige Funktionen übernehmen. Es kann also sein, dass die Regierung sagt, dass Wohnungen auf dem Areal nicht infrage kommen, da die Nutzungskonflikte offensichtlich sind.

 Herz: Ich denke, nicht alle Nutzungen sollen erhalten bleiben. Es steht ja immer noch die Idee im Raum, einen Konzertsaal auf der Kaserne zu bauen. Damit könnte das Areal aufgewertet werden, was wiederum auf das ganze Quartier seine Auswirkungen hätte. Auf den ersten Blick scheint eine rein kleinteilige Nutzung sympathisch zu sein, sie hat aber vermutlich nicht genügend städtebauliche Kraft.

 Stratenwerth: Ich glaube in diesem Falle nicht an das Leuchtturmkonzept, das davon ausgeht, dass mit einem hochwertigen Kulturbau eine positive Entwicklung für ein Quartier initiiert werden kann. Das braucht es nicht für diesen Ort. Die Kaserne ist eine urbane, vielfältige, schöne Situation, die von der Bevölkerung geschätzt wird. Das muss man stützen.

 Kessler: Die Leuchttürme gibt es ja schon. Der Kopfbau hat zwei Türme, die sich hervorragend für einen Barbetrieb eignen. Die Aussicht ist schlicht hinreissend.

 Aus den Reihen von "Kulturstadt jetzt" kommt der Vorschlag, ein Hotel im Kopfbau unterzubringen.

 Kessler: Eine solche Nutzung passt sehr gut zu dieser Lage. Mit einem Hotel könnte man auch eine Querfinanzierung erzielen.

 Ballmer: Auch bei einem Hotel hat man Nutzungskonflikte: Der Hotelgast hat das Bedürfnis auf eine ruhige Nacht. Im Kopfbau könnte ja auch so was wie ein kreativer Thinktank für die Stadt entstehen. Man könnte dort Tagungsräume für die Kreativwirtschaft einrichten.

 Kessler: Man muss den Perimeter weit ziehen. Vielleicht sind die Tagungsräume sinnvoller im "Balade"? Ich gebe zu bedenken, dass wir immer mehr leere Büroräume in der Stadt bekommen. Die Idee, die Kulturadministration in die Kaserne zu verlegen, halte ich jedenfalls nicht für sinnvoll. Wenn man den Perimeter grösser zieht, dann kommt in den Kern, also in die Kaserne, das Wichtigste, Wertvollste, Intensivste.

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30 Jahre Kaserne

 Die Kaserne Basel wird dreissig. Das wird mit einem dreitägigen Fest gefeiert. Mit einer grossen "Zeitmaschine", an der rund dreissig Musikerinnen, Theater-, Tanz- und Performancekünstler beteiligt sind, reist das Publikum in sechs Stunden durch drei Jahrzehnte.

 Gezeigt wird "Die Zeitmaschine" zweimal - einmal vorwärts und einmal rückwärts. Hier eine mehr oder weniger zufällige Auswahl der dreissig Kurzperformances:

 1980: Michael Koch, Theater- und Filmregisseur, mit "Queen Elizabeth II"; 1982: Thom Lutz, Musiker und Regisseur, mit einer "kurzen Gedenkfeier zu den Anfängen der elektronischen Partnervermittlung"; 1986: die Theatergruppe Matterhorn-Produktionen mit "Grüsse aus Tschernobyl"; 1990: Les Reines Prochaines mit "Tiere als Frisur"; 1996: Regisseur Sebastian Nübling und Theaterkritikerin Renate Klett mit "Wie kam die Welt nach Basel?"; 2001: Die Musikerin Anna Aaron mit "Die Verlorenen Ritter der Phantastischen Popmusik"; 2008: Die Theatergruppe Capriconnection mit "Wahrscheinlich wird die Welt an diesem Mittwoch nicht untergehen".

 An allen Vorstellungstagen ist zudem die Installation "Feiertage - Jahrgang 1980" zu sehen. Das Langzeitprojekt von Mats Staub kreist um Alltag, Erinnerung und Imagination. Staub stellt dabei BaslerInnen des Jahrgangs 1980 Fragen zu ihrem Lebenslauf.

 Zu hören sind ausserdem Konzerte von Matthias von Hartz und dem Jugendsymphonieorchester Regio Basiliensis, dem französischen Hip- und Trip-Hopper Wax Tailor und einer nicht ganz unbekannten Reggaeband aus Basel, die sich für die Uraufführung ihres Bühnenprogramms, das eigens für das Kaserne-Jubiläum erarbeitet wurde, hinter dem Namen Chipotle Away verbirgt. adr

 "30 Jahre Kaserne Basel" in: Basel Kaserne, Do, 2., bis Sa, 4. September. http://www.kaserne-basel.ch

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BIG BROTHER SPORT
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admin.ch 2.9.10

Gegen Gewalt im Umfeld von Sportveranstaltungen: Runder Tisch verabschiedet Rahmenkonzept für Fanarbeit in der Schweiz

Bern, 02.09.2010 - Auf Einladung von Sportminister Bundesrat Ueli Maurer versammelten sich heute Vertreter von Sportverbänden, Bund, Kantonen, Städten und von Fanarbeit Schweiz (FaCH) zum achten Runden Tisch gegen Gewalt im Umfeld von Sportveranstaltungen. Sie verabschiedeten das "Rahmenkonzept Fanarbeit in der Schweiz" als Arbeitsgrundlage und Finanzierungsempfehlung für sämtliche Massnahmen im Bereich der präventiven Fanarbeit.

Das "Rahmenkonzept Fanarbeit in der Schweiz" regelt die Koordination und Zusammenarbeit der Beteiligten und beschreibt Modelle einer nachhaltigen Fanarbeit auf lokaler Ebene. Es formuliert methodische Grundsätze der klubbezogenen Fanarbeit (Fandelegierte und Fanverantwortliche als Angestellte oder Mandatsträger der Klubs) und der sozioprofessionellen Fanarbeit (unabhängige Fan- und Sozialarbeitende im Auftrag der öffentlichen Hand und der Klubs), definiert Anforderungsprofile und Aufgaben der verschiedenen Akteure und weist ihnen eine klare Rolle in der Bekämpfung von Gewalt im Umfeld von Sportveranstaltungen zu.

Das Konzept schafft ebenfalls die Basis für die mögliche Schaffung eines nationalen Kompetenzzentrums Fanarbeit. Dieses soll die verschiedenen Akteure vernetzen und begleiten, die Interessen der öffentlichen Hand und der Sportverbände in der Fanarbeit konsolidieren sowie Aus- und Weiterbildungsmodule für die verschiedenen Akteure der Fanarbeit anbieten.

Es ist vorgesehen, dass bis Ende 2012 jeder Klub der Axpo Super League (Fussball) auf der Grundlage des Rahmenkonzepts ein Modell für die Fanarbeit entwickelt. In einem zweiten Schritt sollen die Klubs der Challenge League folgen. Die NL GmbH (Eishockey) beabsichtigt ihrerseits, per Herbst 2010 ein Mandat für Fanarbeit zu vergeben und damit die Klubs der National League A und B beim Aufbau der Fanarbeit zu unterstützen.

Das Rahmenkonzept Fanarbeit Schweiz wurde unter der Leitung von Fanarbeit Schweiz (FaCH) in Zusammenarbeit mit Akteuren aus dem Bereich der Fanarbeit und Verantwortlichen des Bundes und der Sportverbände Fussball und Eishockey entwickelt.

Umsetzung der Massnahmen auf Kurs

Die Teilnehmer des Runden Tischs nahmen weiter Kenntnis vom Umsetzungsstand in den verschiedenen Massnahmenfeldern. An fast allen Standorten der Klubs der Axpo Super League sind Gespräche über den Abschluss lokaler Vereinbarungen zwischen den Sicherheitsbehörden und den Klubs im Gang. In Basel, St. Gallen, Luzern und Bern liegen bereits Vereinbarungen und Reglemente oder ausformulierte Entwürfe vor. Im Eishockey verfügen zum heutigen Zeitpunkt zwei Drittel der NL A-Klubs über eine lokale Vereinbarung. Die übrigen Klubs stehen in Verhandlungen mit den zuständigen Behörden.
Es ist das Ziel der NL GmbH, dass bis Ende der Saison 2010/11 alle 22 Klubs eine Vereinbarung abschliessen, die auf der Mustervereinbarung der KKJPD basiert.

Weit fortgeschritten sind auch die Arbeiten im Bereich Aus- und Weiterbildung von Sicherheits- und Fanverantwortlichen der Klubs sowie im Datenaustausch und in der Harmonisierung der Stadionverbotslisten. In den Bereichen Alkoholprävention erfolgt die Umsetzung gemäss Planung.

Adresse für Rückfragen:
Matthias Remund
Direktor Bundesamt für Sport BASPO
Tel. 032 327 62 18

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Basellandschaftliche Zeitung 2.9.10

Hand in Hand gegen die Chaoten

 Das neue Hooligangesetz ist in Kraft, nur wissen die Vereine noch nichts davon

 Die Stadionverbote in der Schweiz wurden ausgedehnt. Neu sind sanktionierte Chaoten für alle Ligen im Fussball und im Eishockey gesperrt. Und auch Amateurvereine dürfen Platzverbote beantragen.

 Fabian Kern

 Gewaltprävention beginnt im Kopf. Und genau da hat der Schweizerische Fussball-Verband (SFV) in Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Eishockey-Verband den Hebel angesetzt. Seit dem 1. Juli muss sich ein potenzieller Chaot gut überlegen, ob er die Konsequenzen einer Schlägerei oder eines Vandalenaktes tragen will - und sei es "nur" bei einem 4.-Liga-Spiel.

 Der deutsche und der englische Fussball haben gezeigt, was geschehen kann, wenn man die Hooligans aus den Profiligen verbannt: Sie wüten in den unteren Spielklassen weiter. Auch in der Schweiz hat man solche Tendenzen beobachtet. "Besonders bei den U21-Teams der Super-League-Klubs in der 1. Liga sind bereits Ausschreitungen vorgekommen", sagt Ulrich Pfister, Sicherheitschef des SFV. Der Verband hat mit einem neuen Hooligan-Gesetz reagiert, das es den 1.-Liga-Vereinen genau wie jenen aus der Super- oder der Challenge League erlaubt, selbst Stadionverbote auszusprechen. Die unterklassigen Amateurvereine bekommen zudem die Möglichkeit, beim Verband ein Platzverbot gegen fehlbare Personen zu beantragen. Die nach dem 1. Juli ausgesprochenen Zutrittsverbote wurden auch weiter ausgedehnt als bisher. Ein Stadion- oder Platzverbot gilt schweizweit, für alle Ligen sowohl im Fussball als auch im Eishockey. Autsch. "Wir wollen ein klares Signal setzen, dass Gewalt nicht toleriert wird", erklärt Pfister.

 Die Absicht ist löblich, die Stossrichtung klar. Doch bisher wurde es verpasst, die Vereine über ihre neuen, bereits seit zwei Monaten bestehenden Rechte aufzuklären. "Ich kenne das Gesetz bisher nur vom Hörensagen", sagt Andrea Marescalchi. Der Präsident des 2.-Ligisten FC Aesch findet die Massnahmen vernünftig. Allerdings kann sich Marescalchi noch nicht vorstellen, wie Personen mit einem Stadionverbot identifiziert werden sollten, zumal der SFV keine "schwarze Liste" aushändigen wird.

 Dieser Punkt ist auch Rolf Tschan noch nicht klar. "Wenn wir nicht wissen, wie die Leute aussehen, können wir sie auch nicht am Matchbesuch hindern", meint der Vizepräsident des EHC Zunzgen-Sissach. Die Oberbaselbieter lösen Probleme mit Störenfrieden traditionell auf ihre eigene Art. "Wir handeln deeskalierend. Reden reicht meist, um zu schlichten", sagt Tschan. Und sonst seien genügend ehemalige Hockeyaner zur Stelle. Tschan sieht keine grosse Gefahr, dass Hooligans aus Ba-sel nach Zunzgen "ausweichen" könnten. Insofern sei das Gesetz in erster Linie gut für die National League A und B.

 Es bleibt abzuwarten, wie man sich die Umsetzung von Verbandsseite vorstellt. Auf der Verbandswebsite des SFV ist das neue Reglement aufgeschaltet. "Wir arbeiten an einem Merkblatt für die Vereine", sagt Willy Frey von der Amateurliga. Auf Mitte September schätzt das Mitglied der Kommission zum Stadionverbot den Zeitpunkt, an dem die Vereine das Dokument erhalten sollen. Jene Kommission dient in Zukunft als Ombudsstelle für die Klubs. Hoffentlich bekommt sie nicht zu viel zu tun.

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St. Galler Tagblatt 2.9.10

Für die Lakers zahlt der Kanton

 Mehr Sicherheit, weniger Kosten: Dafür haben der Kanton St. Gallen, Rapperswil-Jona und der Eishockeyclub RJ Lakers eine Vereinbarung unterzeichnet. Die Lakers zahlen - anders als der FCSG - nur einen Bruchteil der hohen Polizeikosten.

 Urs-Peter Zwingli

 Rapperswil-Jona. Der Eishockeyclub Rapperswil-Jona Lakers (bis 2005 SC Rapperswil-Jona) ist marketingtechnisch auf Kurs. Vor fünf Jahren gab's einen modernen Namen, aufgepeppte Clubfarben und das renovierte Stadion Diners Club Arena (bis 2006 Lido). Bis zu 6100 Zuschauer finden darin Platz - und einige passen nicht ins Bild des Clubs: die "randalierenden Hooligans", wie sie Benedikt Würth (CVP), Stadtpräsident von Rapperswil-Jona, nennt. Seit Jahren würden diese immer mehr Probleme machen.

 Eine Million Franken ist zu viel

 Neu sind diese Probleme rund um Eishockey- und Fussballspiele in der Schweiz nicht; neu ist, dass die Lakers mit ihrer Stadt und dem Kanton St. Gallen eine Vereinbarung unterzeichnet haben. Diese regelt die Sicherheit im Umfeld der Lakers-Spiele ab der Saison 2010/11 - und soll so weniger Polizeikräfte nötig machen. Denn die gehen ins Geld: 2009 wendete der Kanton St. Gallen 10 800 Polizeistunden oder eine Million Franken für die Sicherheit rund um die Diners Club Arena auf.

 Schnellverfahren auch in Rappi

 Die gestern präsentierte Vereinbarung orientiert sich an der Mustervereinbarung, die im Frühling 2010 von der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren (KKJPD) entworfen wurde. Deren Vizepräsidentin Karin Keller-Sutter, zugleich Vorsteherin des Sicherheits- und Justizdepartements St. Gallen und aktuelle Bundesratskandidatin der FDP, erklärte denn auch gleich, um was es geht: Die Lakers Sport AG und die Kantonspolizei erarbeiten ein Sicherheitskonzept, wobei die Polizei federführend ist. Kommt es zu Straftaten, so "hat die Identifikation der Täter höchste Priorität", so Keller-Sutter. Die Videoüberwachung in und ums Stadion bis hin zum Bahnhof soll darum hochauflösende Bilder produzieren und wird dafür aufgerüstet. Kein Gesicht soll mehr in der Masse untergehen.

 Die gewonnenen Daten werden bei Straftaten von der Lakers Sport AG an die Polizei weitergegeben und "so schnell wie möglich ausgewertet" - für Schnellverfahren, die man im Umfeld der St. Galler AFG Arena bereits kennt. Zudem wird bei Heimspielen erst gar nicht in die Diners Club Arena gelassen, wer unter Alkohol- oder Drogeneinfluss steht. Bei Hochrisikospielen kann die Polizei den Alkoholausschank im Stadion auch ganz verbieten.

 Weitere Massnahmen umfassen polizeiliche "Spotter" und Fanarbeiter, die die Anhänger an Auswärtsspiele begleiten, strengere Hausregeln im Stadion - oder im Extremfall den Unter- oder Abbruch eines Spiels durch die Polizei.

 Kanton zahlt grossen Brocken

 In der Vereinbarung ist von Geld nicht die Rede - bis auf der letzten Seite: Die Lakers Sport AG beteilige sich mit einer Grundpauschale von 35 000 Franken pro Saison an den Sicherheitskosten, heisst es. Diese betrugen 2009 wie erwähnt eine Million - und dürften laut Keller-Sutter erst "längerfristig", also falls die Vereinbarung in ein paar Jahren greift, sinken. Zum Vergleich: Der FC St. Gallen soll der Stadt St. Gallen laut einem neuen Szenario künftig pro Saison 360 000 Franken weniger an die Sicherheitskosten zahlen; bei Gesamtkosten von bis zu 1,5 Millionen bleiben einige Hunderttausend Franken übrig. Gekoppelt ist das Szenario an eine Vereinbarung mit der Stadtpolizei St. Gallen, die rund um die AFG Arena für die Sicherheit zuständig ist.

 Keller-Sutter erklärt diese ungleichen Rechnungen damit, dass der Kanton "auf die finanzielle Situation der Lakers und des Eishockeys allgemein" Rücksicht nehme - während Stadtpräsident Würth die Lakers, die mit einem Budget von 9,5 Millionen operieren, als "wirtschaftlich solide" bezeichnete. Eine Etikette, die dem FC St. Gallen momentan wohl niemand ernsthaft anheften würde.

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Südostschweiz 2.9.10

Stärkere Allianz gegen Gewalt

 Die Lakers, der Kanton St. Gallen und die Stadt Rapperswil-Jona informierten gestern über ihre Sicherheits-vereinbarung. Zudem zogen sie eine positive Zwischenbilanz zum Projekt "Gewaltfreier Sport - Sport als Vergnügen".

 Von Matthias Hobi

 St. Gallen/Rapperswil-Jona. - Nun ist Tatsache, was einige Lakers-Fans seit langem befürchteten: "Bei Hochrisikospielen kann die Kantonspolizei St. Gallen in Absprache mit der Lakers Sport AG für die aus den Stehplatzsektoren zugänglichen Ausschankstellen ein generelles Alkoholverbot anordnen." Dies ist allerdings nur eine von zahlreichen Massnahmen in der neuen Vereinbarung zwischen Rapperswil-Jona, Kanton St. Gallen und den Lakers.

 "Aus der Anonymität holen"

 Ebenfalls geregelt wird der Informationsaustausch zwischen den Parteien. "Zentral ist, dass gewaltbereite Fans aus ihrer Anonymität herausgeholt und bestraft werden", so Regierungsrätin Karin Keller-Sutter. Dieser umfasse den Austausch von Bildern, Videoaufzeichnungen oder dokumentierte Aussagen und Täterbeschreibungen.

 Die getroffene Vereinbarung beruht auf einer Mustervereinbarung der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren (KKJPD). Weitere Punkte der Vereinbarung sind die Zusammenarbeit der Akteure sowie die Durchsetzung der Sicherheitsbestimmungen. Erstmals wurde eine solche Vereinbarung in der Eishockey National League A abgeschlossen.

 Symbolische finanzielle Beteiligung

 Ziele der Vereinbarung sind: Spiele der Rapperswil-Jona Lakers in einer von Anstand geprägten Atmosphäre, die fühlbare Sicherheit der Matchbesucher, die Senkung des Sicherheitsaufwands der Kantonspolizei und der Kosten bei den Lakers, sowie deren Beteiligung an den finanziellen Mehrkosten. Im Vertrag wird klar festgelegt, dass sich die Lakers Sport AG an den Sicherheitskosten der öffentlichen Hand beteiligt. In der kommenden Saison 2010/11 gemäss einer Vereinbarung vom Juni 2004 zwischen dem damaligen Schlittschuhclub Rapperswil-Jona und der Kantonspolizei St. Gallen. Ab der Saison 2011/12 mit einer Grundpauschale von 35 000 Franken. "Diese Beteiligung an den erhöhten Sicherheitskosten des Staates zeigt, dass die Lakers das Problem der Risikofans nicht einfach delegieren", so Keller-Sutter. Doch müsse klar sein, dass dieser Betrag niemals den Mehrkosten von über einer Million Franken (100 Franken mal 10 800 Ordnungsdienststunden zugunsten der Lakers im Jahr 2009) entspreche.

 Neben den im Vertrag festgelegten Massnahmen will der Kanton St. Gallen weitere bewährte Mittel einsetzen. Etwa die Schnellverfahren der Staatsanwaltschaft, welche bei Spielen des FC St. Gallen erprobt wurden. Auch soll ein polizeiliches Beweissicherungs- und Festnahmeelement (BFE) zum Einsatz kommen. Dieses soll gewährleisten, dass Bildmaterial zur Verfügung steht und Gewalttäter aus der Menge gegriffen und der Staatsanwaltschaft zugeführt werden können.

 Erfolgreiche Kameras

 Vor eineinhalb Jahren lancierten Rapperswil-Jona, der Kanton St. Gallen und die Lakers das Projekt "Gewaltfreier Sport - Sport als Vergnügen". Nach dem ersten Drittel des dreijährigen Projekts präsentierten die Verantwortlichen eine positive Bilanz. "Die Sicherheitszonen, das Busparking und der mobile Zaun haben massgeblich zu mehr Sicherheit beigetragen", so Projektleiterin Katharina Ganz. Bewährt habe sich auch die Videoüberwachungsanlage.

 Auseinandersetzungen zwischen Fans, Beschimpfungen von Spielern und Schiedsrichtern sowie Würfe von Gegenständen auf das Spielfeld hätten massiv abgenommen. Deshalb sei die Anlage auf die Sitzplätze ausgeweitet worden, so dass jeder Fan aufgezeichnet und identifiziert werden könne. "Davor haben die Leute wahnsinnigen Respekt", bestätigt Reto Klaus, Geschäftsführer der Lakers Sport AG.

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Zürichsee-Zeitung 2.9.10

Eishockey Zusammenarbeit von Kanton, Stadt und Klub soll Lakers-Spiele familienfreundlicher machen

 Pöbelfans geht es an den Kragen

 Die Lakers werden künftig mehr an die Polizeikosten zahlen. Mit besserer Zusammenarbeit will man aggressive Fans unschädlich machen.

 Sarah Gaffuri

 Sichtbar alkoholisierte oder unter Drogen stehende Hockeyfans haben keine Chance mehr auf Einlass in die Diners Club Arena, das Heimstadion der Rapperswil-Jona Lakers. Die Stehplatzzone kann für ein Spiel auch mal gesperrt werden, oder es kann sein, dass die von dort zugänglichen Bars keinen Alkohol verkaufen, wenn eine Partie als Risikospiel eingestuft wird. Und die Lakers Sport AG bezahlt jährlich 35 000 statt 11 000 Franken an die Kosten der Polizei.

 Dies alles sind Details aus der Vereinbarung, die gestern Vertreter des Kantons St. Gallen, der Stadt Rapperswil- Jona und der Lakers Sport AG unterzeichneten. Im Fussball kennt man solche Verträge, deren Vorlage die Konferenz der kantonalen Polizeidirektoren und -direktorinnen erarbeitet hat, schon länger. Die Lakers sind der erste Eishockeyklub, der sich darauf einlässt. Die Vereinbarung tritt ab der kommendenen Saison, die am 9. September startet, in Kraft.

 Keine Lücken mehr bieten

 Man zeigte sich an der Medienkonferenz zufrieden, die Akteure lobten einander für die Zusammenarbeit. Dabei ist es noch nicht lange her, dass man sich gegenseitig für die Ausschreitungen vor, während und nach Hockeyspielen in Rapperswil-Jona beschuldigte. Damit ist nun Schluss: "Die gewaltbereiten Fans suchen Lücken in der Koordination", sagt Katharina Ganz, Projektleiterin von "Gewaltfreier Sport - Sport als Vergnügen". Mit dem Schulterschluss zwischen Kantonspolizei, Stadt und Hockeyklub will man ihnen diese Lücken nicht mehr bieten; gemeinsam wurde 2009 deshalb das Projekt ins Leben gerufen.

 Zentral in der neuen Vereinbarung ist die Regelung, wer wo wofür zuständig ist, und wie erhobene Daten von Pöbelfans zu den anderen Parteien gelangen. Die Federführung liegt bei der Kantonspolizei. Die Stadt und die SBB überwachen den Weg vom Bahnhof zum Stadion und andere neuralgische Punkte mit Videokameras. Die Lakers filmen in der Halle und speichern die Aufnahmen. Diese Daten werden zwischen Polizei und Sicherheitsleuten der Lakers künftig ausgetauscht. Stadion- oder Rayonverbote werden weiterhin direkt vor Ort ausgesprochen, und neu wird die Einhaltung solcher Verbote auch an Auswärtsspielen überwacht. Hier orten sowohl Reto Klaus, Geschäftsführer der Lakers Sport AG, als auch Verwaltungsratsdelegierter Christian Stöckling Verbesserungspotenzial. Deshalb werden sogenannte Spotter der Kantonspolizei St. Gallen auch an Auswärtsspielen im Einsatz sein. Ausserdem werden die Fans zu diesen Partien immer von einem Fanbetreuer begleitet.

 Mit baulichen Massnahmen am eigenen Stadion habe man das Ziel friedlicher Spiele zuhause bereits erreicht, erklärten die Lakers-Vertreter. Die räumliche Trennung der gegnerischen Fans schon vor dem Spiel bewähre sich. Helfen soll auch "Jack der Fan", eine neue Figur, die in einer handlichen Broschüre die Stadionregeln erklärt.

 Umbau der Fankurve möglich

 Seitens der Stadt Rapperswil-Jona zeigte man sich zufrieden über die Vereinbarung: "Das Gewaltproblem könnte für den Klub existenzielle Folgen haben", sagte Stadtpräsident Benedikt Würth. "Als Eigentümerin des Stadions muss die Stadt die Mittel schützen, die sie im Jahr 2000 in die Sanierung des Stadions gesteckt hat." Ausserdem leide das Sicherheitsimage unter den randalierenden Hooligans. Brigitte Bruhin, Sicherheitschefin von Rapperswil-Jona, ergänzte: "Sollte es aus Sicherheitsgründen erforderlich sein, wird für die Saison 2011/2012 auch ein Umbau der Stehplatzkurve in Erwägung gezogen." Der Entscheid werde mit dem Klub gefällt; die benötigten 120 000 Franken sollen über die Bürgerversammlung im Dezember ins Budget gelangen.

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 20 Rayonverbote

 10 800 Ordnungsdienststunden für die Lakers leistete die Polizei im letzten Jahr. 2001 waren es noch 812 Stunden. "Vorläufig wird der grosse Polizeieinsatz notwendig bleiben", bedauerte Polizeidirektorin Karin Keller-Sutter. Dass letztes Jahr rund 20 Rayonverbote und 24 Stadionverbote ausgesprochen worden seien, spreche für das konsequente Durchgreifen der Sicherheitskräfte. Mit den getroffenen Massnahmen sollten auch die Ausschreitungen und so die investierten Stunden der Polizei zurückgehen. Damit spare man sowohl Geld der Steuerzahler als auch der Lakers Sport AG. "Und die Polizeikräfte können dann andernorts gebraucht werden." (sga)

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20 Minuten 2.9.10

Mit "Big Brother" gegen die Eishockey-Hooligans

 RAPPERSWIL-JONA. An Spielen der Rappi-Jona Lakers werden Hooligans künftig nicht mehr geduldet. Klub, Stadt und Kanton wollen das Problem mit totaler Überwachung eindämmen.

 Bei Heimspielen der Rapperswil-Jona Lakers gab es in der Vergangenheit immer wieder Zoff seitens der Heim- und Gästefans: "Bei jedem dritten Heimspiel gab es Ausschreitungen", präzisiert Harald Düring, Sicherheitschef der St. Galler Kapo, die Situation. Der Verein, die Stadt und der Kanton gehen deshalb ab 9. September mit einer totalen Videoüberwachung gegen die gewaltbereiten Fans vor: "Von der Ankunft am Bahnhof bis zum Stadion und zurück stehen die Fans künftig unter Videoüberwachung", sagt Benedikt Würth, Stadtpräsident von Rapperswil-Jona. Dafür sind zehn neue Videokameras installiert worden. Die Diners Club Arena selbst wird seit 2009 schon komplett per Video überwacht - mit 30 Kameras.

 In der neuen sogenannten Mustervereinbarung, die in dieser Form ein Novum im Eishockey-Sport darstellt, sind auch strengere Hausregeln vorgesehen: Vermummten oder stark betrunkenen Fans wird der Einlass verweigert und Littering nicht mehr geduldet. Zudem sollen ab der neuen Saison, die nächste Woche startet, auch erstmals Schnellverfahren zum Einsatz kommen.  

PASCAL BROTZER

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DATENSCHUTZ
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WoZ 2.9.10

Datenschutz-Dank wachsender technischer Möglichkeiten werden gigantische Datenmengen beschafft, gespeichert und ausgewertet.

 Freibeuter und Fischer

 Von Jan Jirát

 "Fischen im Datenmeer" hiess der Titel des 15. Symposiums über Datenschutz und Sicherheit, das am Dienstag im Hauptgebäude der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich stattfand. Und plötzlich grinste der Filmpirat Jack Sparrow den über hundert TeilnehmerInnen von der Leinwand entgegen. Beat Rudin, Datenschutzbeauftragter des Kantons Basel-Stadt und gemeinsam mit seinem Zürcher Arbeitskollegen Bruno Baeriswyl Gastgeber des Anlasses, erläuterte: "Im riesigen Datenmeer fischen auch Freibeuter, sie gilt es zu stoppen. Aber längst nicht alle Fischer sind Freibeuter. Wir wollen heute gemeinsam herausfinden, welche Regeln für das Fischen im Datenmeer gelten."

 Privatwirtschaft ist weiter

 Im ersten Teil standen die technischen Aspekte von zwei Methoden im Vordergrund. Andreas Meier, Wirtschaftsinformatiker an der Universität Freiburg, stellte das "Data Warehousing" vor, das zentrale Speichern und Sammeln von Daten aus unterschiedlichen Quellen innerhalb eines Unternehmens, das über eine nachfolgende Analyse Antworten über Umsatzmöglichkeiten, Verkaufspreise, Marktanteile, MitarbeiterInnenzufriedenheit oder Kundenmanagement geben kann. Meier sagte: "Kein mittleres und schon gar kein grosses Unternehmen kommt heute ohne Data Warehousing aus." Stefan Rüping vom deutschen Fraunhofer-Institut für Intelligente Analyse- und Informationssys teme äusserte sich zum "Data Mining". Dabei wird ein bereits vorhandener Datenbestand - nicht selten eben Data Warehouses - statistisch-mathematisch ausgewertet mit dem Ziel der Mustererkennung. Zur Anwendung kommt Data Mining vorwiegend in der Privatwirtschaft, die beim Fischen im Datenmeer schon viel weiter ist als die (öffentliche) Verwaltung. Ein Beispiel sind die Kundenempfehlungen beim Versandhaus Amazon. Aber auch Banken, Versicherungen oder Krankenkassen wenden Data Mining an, um beispielsweise Aufschluss über allfälliges Betrugs- oder Missbrauchspotenzial zu erhalten.

 Globales Datenschutzgesetz fehlt

 Im zweiten Teil wurden die beiden erwähnten Methoden aus der Sicht von Datenschützern beurteilt. Das Spannungsfeld war bald einmal abgesteckt: Den immer ausgeprägteren technischen Möglichkeiten stehen juristische Rahmenbedingungen gegenüber. Die entscheidende Frage bleibt allerdings, wie die Rechtswirklichkeit aussieht. Wenn Google beispielsweise eine Firma aufkauft, die über eine Datenbank mit personenbezogenen Daten verfügt, darf Google diese dann für seine Zwecke benutzen? Die Frage führte sogleich zum nächsten Problem: Noch gibt es kein einheitliches, globales Datenschutzgesetz, wie also soll man mit sogenannten Global Players umgehen? Die eingangs aufgeworfene Frage, welche Regeln für das Fischen im Datenmeer gelten, musste so unbeantwortet bleiben.

 In der abschliessenden Paneldiskussion wurden aber doch Lösungsansätze präsentiert: Während Sanktionen eher kritisch bewertet wurden - "eine Busse von 300 000 Euro bezahlt Google doch aus der Portokasse" -, war man sich einig, dass künftig für die Erhebung von Daten eine Deklarationspflicht und die Einwilligung der Kunden nötig seien.

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WEGGESPERRT
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Bund 1.9.10

Die alte Zeit war nicht gut

 Jahrelang haben die Behörden Jugendliche eingesperrt, nur weil sie "nicht recht taten". Und zwar ohne Anhörung und Gerichtsbeschluss. Jetzt trifft sich Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf mit ihnen.

 Mathias Ninck

 Christoph Pöschmann trägt etwas Schweres mit sich herum. Die Vergangenheit. Der Mann ist 50, im besten Alter, wie man sagt, er flickt Bagger, Kräne, Schneeschleudern. Baumaschinenmechaniker ist er, ein Einmannunternehmen. Und er ist Grossvater: Er hat drei Söhne, und die haben selber schon wieder Kinder. Pöschmann redet nicht viel, er ist einsilbig, noch vor zwei Jahren wussten die Söhne kaum etwas über ihn. "Manchmal habe ich eine grosse Gefühlskälte", sagt er. "Meine Jugend bestand nur aus Härte und Disziplin. Das hat mich selber hart gemacht, viel zu hart."

 Diese Sätze hat Christoph Pöschmann einmal zu einem Redaktor des "Beobachters" gesagt, zu Dominique Strebel. Und der hat daraus jetzt ein Buch gemacht. Es ist ein Buch über Menschen, die man weggesperrt hat. Christoph Pöschmann wurde nämlich eingesperrt, aus nichtigem Grund, wie man heute weiss, "administrativ versorgt", wie es damals hiess, das war im Oktober 1976 gewesen, er war 16 Jahre alt. Pöschmann war einer von Zehntausenden.

 Dominique Strebel erzählt im Buch "Weggesperrt" die Geschichten von fünf Menschen, die in ihrer Jugend abgewichen sind von der sogenannten Normalität und dafür mit der harten Hand der Gemeindebehörden abgestraft wurden. Liederliche, Arbeitsscheue, Haltlose, wie man sie damals nannte. Junge Frauen etwa, die unehelich ein Kind geboren hatten. Junge Männer, die tranken. Das war legal, doch: Das alte Zivilgesetzbuch sah vor, dass die Behörden "zum Schutz des Kindes geeignete Vorkehrungen" treffen; sie konnten ein Kind den Eltern wegnehmen und "in angemessener Weise in einer Familie oder Anstalt unterbringen". Kind war man damals bis 20.

 Das Ziel: Nacherziehen

 Der Gemeinderat von Aarburg im Kanton Aargau, irgendjemand dort, hatte das Gefühl, Christoph Pöschmann stehe "in Gefahr, geistig und sittlich zu verwahrlosen". So steht es jedenfalls im Protokoll des Gemeinderats vom 5. Oktober 1976: "Unter einem Zigeuner wird in der Regel ein Mensch verstanden, der ruhelos auf der Wanderschaft ist, sich und die Seinen dabei aber mit ehrlicher Arbeit durchs Leben bringt, ohne der Öffentlichkeit zur Last zu fallen. Das Wort Zigeuner hat aber noch einen andern, weniger vorteilhaften Sinn. Mit einem Menschen dieses Schlages hat sich der Gemeinderat zu befassen: Christoph Pöschmann." Der Gemeinderat beschloss, den jungen Mann in die Anstalt Dietisberg im Baselbiet zu bringen, in der "charakterlich schwache Menschen" nacherzogen wurden, vor allem, indem man sie wie Hunde schuften liess. "Mit Erziehung hatte das rein gar nichts zu tun", sagt Pöschmann.

 Was war passiert? Er war 1960 in Zürich geboren worden, mit eineinhalb Jahren hatte ihn die Mutter in eine Pflegefamilie gegeben, zu Bauern im Thurgau. In der fünften Klasse hatte Christoph Pöschmann zufällig entdeckt, dass er nicht der Sohn seiner Eltern war. Er zieht dann zu der "richtigen" Mutter nach Rheinfelden, Kanton Aargau; als er 16 Jahre alt ist, drückt ihm diese fremde Frau, die ihn geboren hat, eine Hunderternote in die Hand und sagt: "Schau, wie du im Leben zurechtkommst."

 Er geht nach Hamburg, will zur See fahren, findet tatsächlich einen Kapitän - was er noch braucht: ein Dokument aus der Schweiz. Er wartet und trampt derweil durch Deutschland, jobbt in München auf dem Jahrmarkt, wird aufgegriffen, die Polizei nimmt Kontakt auf mit der Gemeinde Aarburg. Oktober 1976: Der Fall Christoph Pöschmann wird an der Sitzung des Gemeinderats behandelt, der Beschluss lautet gemäss Protokoll: "Der Leiter des Sozialdienstes wird den jungen Mann in St. Margrethen abholen und der Arbeitskolonie Dietisberg zuführen. Der Gemeinderat ist sich bewusst, dass dieses Verfahren nicht über jeden Zweifel erhaben ist, sieht sich aber zu dieser Massnahme durch das Verhalten des jungen Mannes veranlasst. Er scheint nicht begriffen zu haben, dass es ohne ernsthafte Arbeit nicht geht. Daran muss er gewöhnt werden."

 Das Delikt: Herumstreunen

 Pöschmanns Lebensgeschichte ist, wie die anderen im Buch aufgerollten Biografien auch, unfassbar, beklemmend. Das Gefühl des Weggesperrtwerdens gehört ohnehin zu den schlimmen Gefühlen; jeder Gefängniswärter kann von Männern erzählen, auch ganz harten Kerlen, die zusammenbrechen in den ersten Stunden der Haft. Noch viel schlimmer ist, wenn man nicht von einem Gericht verurteilt worden ist, also nicht weiss, warum man im Gefängnis sitzt und für wie lange. Christoph Pöschmann ist weder verurteilt worden, noch war er bevormundet oder bebeistandet, er war bloss ein herumstreunender Jugendlicher.

 Bereits 1938 kritisierte der Journalist Carl Albert Loosli, wie man mit diesen Jugendlichen umging. Er schrieb (im "Beobachter"): "Die öffentliche Meinung unseres Landes entrüstet sich mit voller Berechtigung über die Institution der sogenannten Konzentrationslager im diktatorisch regierten Ausland. Je nun - es steht uns in der Schweiz kein Recht zu, uns darob zu entrüsten. Zwei Drittel sämtlicher Insassen in Korrektions-, Arbeits- und Zwangserziehungsanstalten bestehen aus administrativ Enthaltenen, dagegen nur ein Drittel aus gerichtlich gesetz- und regelmässig Verurteilten." Loosli brandmarkt, wie Strebel in seinem mit historischem Hintergrund gut ausgestatteten Buch schreibt, das geltende Recht als Klassengesetz, weil es vor allem die Mittellosen treffe, und fordert die Abschaffung dieser "Willkürjustiz".

 Ernst genommen wird Loosli vorerst nicht, er bleibt ein Einzelkämpfer. Heute weiss man es besser. Heute fragt man: Wer trägt die Verantwortung? Dominique Strebel stellt gleich zu Beginn die Frage nach der moralischen Schuld. Das macht das Buch heikel und zusätzlich interessant, denn es geht darum, ob man im Nachhinein etwas verurteilen darf, was in jener Zeit gar nicht verboten war. Es gab für die Behörden zwar einen Ermessensspielraum, aber zu jeder Zeit herrscht eben auch eine für sie typische Grundstimmung. Das Fürsorgeverständnis der Fünfziger- und Sechzigerjahre folgte einer - aus heutiger Sicht - himmelschreienden Vulgärpädagogik. Damals kämpften die Behörden für die "soziale Heilung" der Abweichler, man fand, wer arm sei oder alkoholsüchtig oder einen unmoralischen Lebenswandel führe, der sei selber schuld und zeige damit nur, dass er mit der Freiheit nicht umgehen könne. "Der Zweck der Anstaltsversorgung ist die Besserung dieser Leute, ihre Angewöhnung an ehrbare, regelmässige Arbeit und geordnete Lebensführung. Sie sollen ordentlich verwahrt sein, das heisst, vor Verwahrlosung und Kriminalität geschützt werden", zitiert Strebel das Handbuch zur Armenfürsorge aus dem Jahr 1955.

 Der Umgang: Wie mit Vieh

 Ja, man hat diese unangepassten Menschen jahrzehntelang wie Vieh behandelt. Den Angepassten wars egal. Erst die 68er haben dann etwas Grundlegendes begriffen: Wie gut eine Gesellschaft funktioniert, zeigt sich daran, wie sie mit Menschen am Rand der Gesellschaft umgeht. Sie fanden: Man darf dem Menschen alles nehmen, nur nicht die Würde. Am 23. September 1972 griff Moritz Leuenberger in der "National-Zeitung" (heute "Basler Zeitung") unter dem Titel "Wenn das Zuchthaus als Heilanstalt gilt" in die Tasten und kritisierte: "Nicht nur schwere Kriminelle, sondern auch lästige Asoziale werden in geschlossenen Anstalten verwahrt." Neun Jahre später wurde das damalige Fürsorgegesetz abgeschafft.

 Und heute? Nach monatelangem Hin und Her haben sich Vertreter der Sozialbehörden, der Kantone und des Bundes geeinigt: Ja, doch, es braucht eine Wiedergutmachung. Nächste Woche, am 10. September, wird sich Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf im Frauengefängnis Hindelbank (wo viele Frauen administrativ versorgt wurden) mit Opfern treffen. Mit dabei sind auch der Berner Polizeidirektor Hans-Jürg Käser und sein Zürcher Amtskollege Hans Hollenstein. Widmer-Schlumpf wird dort ihr Bedauern ausdrücken, vielleicht sich entschuldigen. Oder wird sie gar Entschädigungszahlungen ankündigen? Ihre Rede wird auf jeden Fall ein Präjudiz schaffen, denn nebst den administrativ Versorgten warten auch Tausende von Verdingkindern und Zwangssterilisierten auf einen emotionalen (und allenfalls finanziellen) Ausgleich für erlittenes Elend.

 Der Vorwand: Sicherheit

 Im Kern verweist Strebels Buch auf die Grundrechte. Immer sind sie in Gefahr, immer wieder neu wird die Freiheit bestimmter Menschengruppen unter dem Deckmantel übergeordneter Interessen eingeschränkt. Wieder aktuell: die Jugendlichen. Ihnen wird heute eine zunehmende Gewaltbereitschaft unterstellt, man unterwirft sie Präventionsprogrammen, verbietet Killerspiele und Alkohol. Disziplinierungsversuche allüberall. Oder die Verwahrten, denen man eine hohe Gefährlichkeit unterschiebt. Man stellt Mutmassungen an über ihr künftiges Verhalten. Man sperrt sie ein, obwohl sie ihre Strafe abgesessen haben, es ist ein vorsorgliches Wegsperren unter dem Vorwand der öffentlichen Sicherheit. Keine Frage: "Weggesperrt" ist ein wichtiges Buch.

 Dominique Strebel: Weggesperrt. Beobachter-Buchverlag, Zürich 2010, 144 Seiten, 29 Franken.

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DROGEN
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Bund 2.9.10

Waadtländer Wahlmanöver um Bistro für Drogensüchtige

 Die Lausanner Rechte will bei den Wahlen von der verfahrenen Drogenpolitik des Stadtrats profitieren.

 Richard Diethelm, Lausanne

 Für viele Geschäftsinhaber und Passantinnen sind die Alkoholiker und Drogensüchtigen, die mitten in Lausanne herumhängen, ein Ärgernis. Die Stadtregierung versuchte bisher erfolglos, die Randständigen von der Place de la Riponne wegzubringen. Im Juli 2007 lehnten 54,6 Prozent der stimmenden Lausanner die Einrichtung eines Fixer-Stüblis ab. Seither hat der städtische Sozialdirektor Jean-Christophe Bourquin (SP) in der Sache glück- und mutlos agiert.

 Im Sommer 2008 forderte das Stadtparlament die Exekutive auf, "möglichst rasch" eine Vorlage für ein kleines Restaurant auszuarbeiten, in dem Drogensüchtige sich tagsüber aufhalten können. Ein solches Bistro social war zwar in dem Massnahmenpaket, das Bourquin ein halbes Jahr später vorschlug, enthalten. Aber die Vorlage überzeugte nicht. Die Stadtregierung ging über die Bücher und stellte im vergangenen Mai ein überarbeitetes Drogenkonzept vor, das ein Bistro social neu als zweijähriges Pilotprojekt vorsieht.

 Helfen oder unterdrücken?

 Wie das Fixer-Stübli polarisiert auch das Bistro social, obschon von harten Drogen Abhängige in diesem Lokal keine sauberen Spritzen erhalten würden, sondern nur Alkohol ausgeschenkt würde. Die SP und die Grünen wollen die Drogenabhängigen mit einer besseren Betreuung von der Strasse wegbringen. Auf der Rechten überwiegt die Meinung, die Drogenpolitik müsse repressiver und auf Abstinenz ausgerichtet sein. Die Lausanner SP verlor in der Zwischenzeit die Geduld mit dem Sozialvorsteher, der ihrer Ansicht nach in diesem und anderen Dossiers zu sehr lavierte. Ende Mai entzog der Parteivorstand dem 52-jährigen Bourquin das Vertrauen und zwang ihn damit, nach nur einer Legislatur bei den Wahlen im März 2011 nicht wieder zu kandidieren. Denn als stärkste Partei in Lausanne will die SP bei den Lokalwahlen ihre Macht verteidigen. Zudem hofft sie, nach dem im Jahr 2013 erwarteten Rücktritt des Grünen Daniel Brélaz, das Stadtpräsidium zurückzuerobern.

 Um diese Ziele zu erreichen, darf sich die SP keine Schwäche und keine schwachen Stadträte leisten. Deshalb liess sie Bourquin über die Klinge springen. Rot-grün stellt heute sechs der sieben Stadträte. Diese Dominanz ist bei den kommenden Wahlen infrage gestellt. Die SP hat ihre drei Sitze nicht auf sicher und wird nun versuchen, zwei Mandate mit neuen Gesichtern zu verteidigen.

 Die Handschrift Maillards

 Als Bourquin ausgebootet wurde, vermuteten Beobachter, der starke Mann in der Kantonsregierung und ehemalige Vizepräsident der SP Schweiz, Pierre-Yves Maillard, habe seine Hände im Spiel. Dem Taktiker Maillard war nicht entgangen, dass die verfahrene Drogenpolitik in Lausanne den Bürgerlichen Munition für den Wahlkampf liefern und die SP die bevorzugte Zielscheibe abgeben dürfte. Vor zwei Wochen durchkreuzte Maillard die Wahlstrategie der Rechten. Als Waadtländer Sozial- und Gesundheitsdirektor vereinbarte er mit der Lausanner Exekutive, drei in der Prävention und der Therapie der Alkohol- und Drogensucht ausgewiesene kantonale Institutionen sollten das Bistro social betreiben.

 Die bürgerlichen Parteien sahen die Einmischung des Kantons als wahltaktischen Schachzug der Linken. Daher hiess die bürgerliche Mehrheit im Kantonsrat am Dienstag eine Resolution der SVP gut, die den Staatsrat auffordert, er müsse der "kategorischen Ablehnung" eines Lokals für die Injektion von Spritzen und eines sozialen Bistros durch den Souverän Rechnung tragen. Der Lausanner Stadtrat und grüne Grossrat Jean-Yves Pidoux entgegnete, das Nein der Lausanner habe 2007 nur dem Fixer-Stübli gegolten und nicht dem Bistro social. Maillard sekundierte: "Wir sind überzeugt, dass wir den Lausanner Volkswillen respektieren." Die beiden legen das Ergebnis jenes Urnengangs allerdings frei aus. Die Frage auf dem Stimmzettel lautete nämlich: Nehmen Sie den Beschluss des Gemeinderates vom 15. Mai 2007 an, einen Raum für die Konsumation von Drogen sowie ein Bistro social zu eröffnen und das Konzept über den Umgang mit Drogensüchtigen anzupassen?

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Basler Zeitung 2.9.10

Das Drogengesetz ist das Grundproblem

 Mit dem geplanten Bussenmodell für Hanfkonsum will sich die Politik der Wirklichkeit annähern

 Mischa Hauswirth

 In Reinform wendet Basel-Stadt das Betäubungsmittelgesetz nicht mehr an. Polizei und Staatsanwaltschaft fokussieren sich bei Cannabis auf Dealer und Jugendschutz.

 Die Schweiz nimmt einen neuen Anlauf: Nachdem 2004 die Betäubungsmittelgesetz-Revision und 2008 auch die Initiative für die Hanfliberalisierung scheiterten, wurde es still um die Pflanze mit der botanischen Bezeichnung Cannabis sativa. 2010 schafft es der Hanf erneut, Anhänger wie Gegner zu positionieren.

 Die Stadt Zürich strebt die Legalisierung des Konsums sowie eine staatliche Abgabe von Marihuana an, und in Basel steht ein gleich gelagerter Vorstoss auf der politischen Agenda. Im Kanton St. Gallen verteilen Polizisten bereits Ordnungsbussen, wenn jemand beim Cannabisrauchen ertappt wird. Und am vergangenen Dienstag empfahl die Subkommission Drogenpolitik der nationalrätlichen Gesundheitskommission, den Konsum von Hanfkraut künftig nicht mehr als Vergehen, sondern als Übertretung zu ahnden (die BaZ berichtete).

 Kompromiss

Im Klartext heisst das: Die Politiker wollen die Konsumenten entkriminalisieren und sie auf eine Stufe mit Falschparkern, Wildpinklern und Gurtenmuffeln stellen. Aber so mutig sind die meisten Politiker doch nicht, dass sie Haschraucher 60 bis 100 Franken bezahlen lassen wollen - wie für Ordnungsbussen üblich: Weil niemand sich dem Vorwurf aussetzen will, den Jugendschutz zu vernachlässigen, soll die Strafe 200 Franken betragen.

 Jean Henri Dunant, Basler SVP-Nationalrat und Mitglied der Subkommission Drogenpolitik, stimmte dem neuen Bussenmodell zu: "Es ist ein gesellschaftlicher Kompromiss", sagt er und verweist auf die rund 500 000 Menschen, die in der Schweiz schon einmal Cannabis konsumiert haben oder dies regelmässig tun. Allerdings konnte Dunant sich mit seinem Antrag, 18 Jahre als Mindestalter zu nehmen, nicht durchsetzen. Die Kommission schlägt 15 Jahre als Untergrenze vor.

 Von der Signalwirkung einer hohen Busse ist Dunant dennoch überzeugt: "Wenn ein Jugendlicher einen solchen Betrag bezahlen muss, führt das zu Diskussionen mit den Eltern."

 Priorität

In Basel haben sich SP, Grüne, FDP, CVP, und EVP bereits positiv zu einer staatlich kontrollierten Marihuanaabgabe an über 18-Jährige geäussert. Selbst wenn Legalisierungsanträge innerhalb der SVP chancenlos wären, sieht Dunant Cannabiskonsum nicht nur als Gefahr. "Das sind nicht alles Kriminelle", sagt er.

 Am klarsten wäre eine Änderung des Betäubungsmittelgesetzes, das seit 1975 nicht mehr revidiert worden ist; doch das dürfte in absehbarer Zeit kaum passieren. So lange aber bleibt der Artikel 19 (a bis c) das Richtmass, wonach Konsum, Besitz und Handel von Hanfkraut verboten sind. Die Strafe kann von Busse bis Gefängnis reichen. Die Strafverfolgungsbehörden haben keinen Spielraum.

 Für die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt hat die Bekämpfung von Heroin, Kokain sowie des gewerblichen Handels mit Cannabis Priorität. Ein Verstoss gegen das Betäubungsmittelgesetz mit Hanf zieht nicht zwingend ein Verfahren nach sich. Staatsanwälte beurteilen bereits heute, ob sie bei kleineren Mengen oder ein paar Hanfpflanzen auf dem Balkon für den Eigenkonsum ein Verfahren eröffnen wollen. Oder einen Haschischkonsumenten mit einer Busse bestrafen. Melzl: "Wir eröffnen bei einem geringeren Vergehen erst dann ein Verfahren, wenn jemand innerhalb eines Jahres zweimal wegen Cannabis verzeigt wird."

 Der Basler SVP-Grossrat Eduard Rutschmann bezeichnet sich selber als "strikten Drogengegner", hält es aber für falsch, wenn die Polizei Cannabiskonsumenten "nachrennt". Rutschmann: "Wer im Garten für den Eigenbedarf ein paar Pflanzen zieht, sollte nicht mit allen Mitteln verfolgt werden, ebenso wenig der Besitz bis zwanzig Gramm. Die Polizei hat Besseres zu tun."

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Basler Zeitung 1.9.10

Der Polizist, dein Alleskönner

 Die Polizei soll in Zukunft junge Kiffer auf ihr Suchtpotenzial einschätzen

 Philipp Loser, Bern

 Geht es nach dem Willen der Subkommission Drogenpolitik im Nationalrat, müssen Polizisten bei kiffenden Jugendlichen künftig deren Suchtpotenzial einschätzen. Eine Kiffer-Idee, findet die Polizei.

 Die Szene ist folgende: Auf einer gammligen Strassenbank in irgendeiner Schweizer Stadt zieht sich ein 17-Jähriger einen Joint rein. Ein Polizist entdeckt den Kiffer, schaut ihm tief in die Augen und sagt: "Mein junger Mann, das scheint mir nicht so bedenklich zu sein." Der Polizist zückt den Bussenblock und verdonnert den Kiffer zu einer Strafe von 200 Franken.

 Geht es nach dem Willen der Subkommission Drogenpolitik im Nationalrat, werden solche Szenen in zwei Jahren Realität. Anfang Woche hat die Kommission beschlossen, dass im neuen Ordnungsbussensystem nur noch gegen Kiffer zwingend ein Strafverfahren eingeleitet werden soll, die unter 15 Jahre alt sind. Erwischt die Polizei Kiffer im Alter von 15 bis 18 Jahren, hat sie zwei Möglichkeiten: Wenn die Polizei bei der Kontrolle einen "problematischen Konsum" feststellt, leitet sie ein Strafverfahren ein. "Wenn der Polizist hingegen die Einschätzung macht, dass keine weitere Gefährdung besteht, kann er es bei einer Busse belassen", sagte die Präsidentin der Kommission, Bundesratskandidatin Jacqueline Fehr, gestern gegenüber Radio DRS.

Polizei überfordert

Bei Suchtfachleuten wird die Idee der Subkommission Drogenpolitik verhalten positiv aufgenommen. Dass über 18-jährige Kiffer in Zukunft nur noch gebüsst werden sollen und nicht mehr ein Strafverfahren durchstehen müssen, findet Markus Theunert, Generalsekretär des Fachverbands Sucht, in Ordnung. Bussen bei unter 18-Jährigen seien hingegen ungünstig. Kiffen bei Jugendlichen könne Ausdruck einer normalen, stufengerechten Entwicklung sein. Oder Ausdruck einer psychosozialen Gefährdung. "Die Frage ist: Wer kann das eine vom anderen unterscheiden? Sicher nicht der Polizist an der Front."

 In der Tat stösst das Vorhaben der Subkommission dort, an der Front, auf heftigen Widerstand. "Was sollen wir denn alles noch sein? Ärzte? Sozialmenschen?", fragt Max Hofmann, Generalsekretär des Verbands Schweizerischer Polizeibeamter. In den fünf Minuten, die eine Kontrolle normalerweise dauere, könne man doch nicht wirklich erwarten, dass ein Polizist eine ernsthafte Gefährdung erkenne. Der Basler Polizeisprecher Klaus Mannhart hält es gar für "frivol und höchst fragwürdig", wenn nach einem kurzen Augenschein ein definitiver Entscheid in die eine oder in die andere Richtung gefällt würde.

 Die Basler SP-Nationalrätin Silvia Schenker hat den Antrag in der Subkommission unterstützt. Ihr gehe es grundsätzlich darum, den Konsum von Cannabis so weit wie möglich zu legalisieren. Die Einschätzung, ob der Konsum eines Jugendlichen problematisch sei, müsse aber vom Lehrer oder Lehrmeister gemacht werden - "nicht von der Polizei".

 Hier sieht auch Markus Theunert den "dritten Weg". Bei der Revision des Betäubungsmittelgesetzes im Jahr 2008 wurde neu eine "erweiterte Meldebefugnis" im Gesetz verankert. Bis zur Inkraftsetzung des Gesetzes im nächsten Frühling müssen die Kantone Abklärungsstellen benennen, wohin sich Lehrer oder Arbeitgeber bei einem problematischen Cannabis-Konsum eines ihrer Schützlinge wenden können. "Das ist unsere Perspektive", sagt Verbandssekretär Theunert, "dort sind Fachpersonen am Werk."

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SEXWORK
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BZ 2.9.10

Einreisesperre

 Gericht gibt zwei Prostituierten recht

 Illegale Prostituierte dürfen nicht mit einer Einreisesperre belegt werden. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden.

 Das Bundesverwaltungsgericht hat das Bundesamt für Migration (BFM)   zurückgepfiffen und die Beschwerde von zwei Frauen aus Bulgarien und Rumänien gegen eine Einreisesperre gutgeheissen. Die Schwyzer Kantonspolizei hatte im Oktober 2008 in einem Saunaklub zwei Prostituierte aus Bulgarien und Rumänien angehalten, die über keine gültige Aufenthalts- oder Arbeitsbewilligung verfügten. Die beiden wurden dafür mit je 500 Franken gebüsst.

 Keine Einschränkung

 Das BFM verhängte gegen die beiden Frauen darüber hinaus ein zweijähriges Einreiseverbot. Das Bundesverwaltungsgericht hat ihre dagegen erhobenen Beschwerden nun gutgeheissen. Laut den Richtern in Bern sind die Einreisesperren unter der Geltung des Ausländergesetzes zwar nicht zu beanstanden. Die EU-Mitglieder Rumänien und Bulgarien seien jedoch auf den 1. Juni 2009 in das Freizügigkeitsabkommen (FZA) einbezogen worden. Ausnahmen vom freien Personenverkehr dürfen gemäss dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften nur sehr restriktiv gemacht werden.

 Vorausgesetzt sei dabei eine tatsächliche und schwere Gefährdung eines Grundinteresses der Gesellschaft. Das sei bei der Prostitution nicht der Fall. Diese Tätigkeit werde, sofern von Schweizer Staatsangehörigen ausgeübt, von den Behörden weder strafrechtlich noch anderweitig irgendwie verfolgt oder bekämpft.

 Der Umstand, dass ein FZA-Ausländer die Aufenthaltserlaubnis nicht einhole, rechtfertige ebenfalls keine Einreisesperre. Für Staatsangehörige aus Rumänien und Bulgarien sei die Bewilligung zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit bis auf weiteres zwar Pflicht und nicht nur Formsache wie bei den Angehörigen anderer FZA-Staaten. Selbst in diesem Fall reiche eine Zuwiderhandlung in der Regel aber nicht für die Verhängung eines Einreiseverbotes. Nach den Weisungen des BFM solle dies vielmehr nur in Fällen von ausserordentlich schwerer Schwarzarbeit möglich sein.

 Die Urteile können noch beim Bundesgericht angefochten werden.
 sda

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 Bewilligungen

 Berner Praxis bleibt

 Vor rund einem Jahr hat der Kanton Bern die Bewilligungspraxis für osteuropäische Prostituierte verschärft. Die Frauen müssen den Behörden unter anderem mit einem Businessplan beweisen, dass sie selbstständig erwerbend sind. Der Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts habe keinen Einfluss auf die Praxis des Kantons Bern, sagt der Leiter des kantonalen Migrationsdienstes, Florian Düblin. Denn diese befasse sich nicht mit Fragen der Einreise, sondern lediglich mit arbeitsmarktrechtlichen Fragen. "Wir knüpfen die Bewilligung an Bedingungen, aber schaffen weder schwarzarbeitende Frauen aus, noch schränken wir die Reisefreiheit ein."
 As

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NLZ 2.9.10

Die Einreisesperre gegen zwei "Zeus"-Prostituierte war unzulässig

Urs-Peter Inderbitzin

 Bei einer Razzia im "Zeus" erwischt die Polizei Frauen, die illegal anschaffen - und verhängt Einreisesperren. Zu Unrecht.

 Gegen Frauen aus Bulgarien oder Rumänien, die in der Schweiz illegal der Prostitution nachgehen, können keine Einreisesperren verfügt werden. Zu diesem Schluss kommt das Bundesverwaltungsgericht in Bern. Gemäss einem neuen, gestern veröffentlichten Urteil gefährdet die illegale Prostitution die öffentliche Ordnung nicht in einem Masse, die eine Einreisesperre rechtfertigen könnte.

 Vor rund zwei Jahren nahm die Kantonspolizei Schwyz im Sauna-Club Zeus in Küssnacht eine Milieukontrolle vor. Bei der Hausdurchsuchung traf die Polizei auf eine Reihe von Ausländerinnen, darunter auch eine 29-jährige Bulgarin und eine 31-jährige Rumänin. Für die Behörden war klar, dass sich die beiden Frauen im einschlägig bekannten Sauna-Club prostituiert hatten. Das Bezirksamt Küssnacht verurteilte die beiden Südländerinnen deshalb wegen rechtswidriger Einreise und rechtswidrigem Aufenthalt sowie wegen illegaler Erwerbstätigkeit zu einer Busse von je 500 Franken. Gleichzeitig verhängte das Bundesamt für Migration gegen die beiden Liebesdienerinnen ein zweijähriges Einreiseverbot.

 Nur in schweren Fällen

 Eine dagegen eingereichte Beschwerde der beiden Frauen hat das Bundesverwaltungsgericht nun teilweise gutgeheissen. Die Einreisesperre war nur bis Ende Mai 2009 gültig erlassen worden. Bis zu diesem Zeitpunkt war für Personen aus Bulgarien und Rumänien das Ausländerrecht anwendbar. Seit dem 1. Juni 2009 gilt demgegenüber das Freizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union auch für die neuen EU-Staaten Bulgarien und Rumänien. Personen aus diesen Ländern dürfen grundsätzlich in die Schweiz einreisen und hier auch arbeiten. Fernhaltemassnahmen dürfen dabei nur bei schwersten Zuwiderhandlungen gegen unsere Rechtsordnung verfügt werden. Die Prostitution von Frauen aus Bulgarien oder Rumänien und auch aus den übrigen EU-Ländern stellt laut dem Urteil jedoch keine tatsächliche und schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung dar. Der Erlass einer Einreisesperre nach dem 1. Juni 2009 war deshalb unzulässig.

 Das Bundesamt für Migration kann den Entscheid des Bundesverwaltungsgerichtes noch beim Bundesgericht anfechten.

 Hinweis: Urteil C-7549/2008

 redaktion@neue-sz.ch

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10vor10 1.9.10


Prostituierte dürfen einreisen

Das Bundesverwaltungsgericht hat heute in einem Urteil festgestellt, dass ausgewiesene Prostituierte wieder in die Schweiz einreisen dürfen. Bei den Migrationsämtern herrscht wenig Freude über den Entscheid.
http://videoportal.sf.tv/video?id=ff480f4d-4de5-41c8-9fa8-4fec3fa141f6

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sf.tv 1.9.10

Freizügigkeit gilt auch für Prostituierte

sda/horm

 Illegale Prostituierte aus Osteuropa dürfen nur in schweren Fällen mit einer Einreisesperre belegt werden. Das Bundesverwaltungsgericht hat das Bundesamt für Migration zurückgepfiffen und die Beschwerde von zwei Frauen aus Bulgarien und Rumänien gutgeheissen.

 Die Schwyzer Kantonspolizei hatte im Oktober 2008 in einem Saunaklub zwei Prostituierte aus Bulgarien und Rumänien angehalten, die über keine gültige Aufenthalts- oder Arbeitsbewilligung verfügten. Die zwei Damen wurden dafür mit je 500 Franken gebüsst.

 Keine Einschränkung der Freizügigkeit

 Das Bundesamt für Migration (BFM) verhängte gegen die beiden Frauen darüber hinaus ein zweijähriges Einreiseverbot. Das Bundesverwaltungsgericht hat ihre dagegen erhobenen Beschwerden nun gutgeheissen. Laut den Richtern in Bern sind die Einreisesperren unter der Geltung des Ausländergesetzes zwar nicht zu beanstanden.

 Die EU-Mitglieder Rumänien und Bulgarien seien jedoch auf den 1. Juni 2009 in das Freizügigkeitsabkommen (FZA) einbezogen worden. Ausnahmen vom freien Personenverkehr dürften gemäss dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften nur sehr restriktiv gemacht werden.

 Vorausgesetzt sei eine tatsächliche und schwere Gefährdung eines Grundinteresses der Gesellschaft. Dass sei bei der Prostitution nicht der Fall. Diese Tätigkeit werde, sofern von Schweizer Staatsangehörigen ausgeübt, von den Behörden weder strafrechtlich noch anderweitig irgendwie verfolgt oder bekämpft.

 Bewilligung ist Pflicht

 Der Umstand, dass ein FZA-Ausländer die Aufenthaltserlaubnis nicht einhole, rechtfertige ebenfalls keine Einreisesperre. Für Staatsangehörige aus Rumänien und Bulgarien sei die Bewilligung zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit bis auf weiteres zwar Pflicht und nicht nur Formsache wie bei den Angehörigen anderer FZA-Staaten.

 Selbst in diesem Fall reiche eine Zuwiderhandlung in der Regel aber nicht für die Verhängung eines Einreiseverbotes. Nach den Weisungen des BFM solle dies vielmehr nur in Fällen von ausserordentlich schwerer Schwarzarbeit möglich sein. Die Urteile können noch beim Bundesgericht angefochten werden.

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Tagesanzeiger 1.9.10

Das Bundesgericht schützt den Strassenstrich

 In der CVP kommt der Ruf nach einem generellen Strassenstrich-Verbot auf. Aber das Bundesgericht hat in einem Urteil von 1998 ein Verbot nicht zugelassen.

 Von Maria Rodriguez und Stefan Hohler

 Zürich - Die CVP diskutiert über ein allgemeines Verbot der Strassenprostitution. Treibende Kraft ist die Stadtzürcher Kantonsrätin Nicole Barandun. Für sie hat die Situation am Sihlquai Ausmasse erreicht, die eine härtere Gangart durchaus legitimieren: "Die momentane Situation am Sihlquai ist für die Prostituierten und die Anwohner unwürdig. Ein Verbot des Strassenstrichs ist durchaus ein Thema, das wir parteiintern diskutieren." Sie versucht nun innerhalb der Kantonalpartei eine Mehrheit zu erreichen, die sie bei einer parlamentarischen Initiative unterstützen würde. Ob dies juristisch möglich ist, bleibt aber fraglich. Wie der Regierungsrat in einer Antwort auf das Postulat von Barandun und ihrem Fraktionskollegen Lorenz Schmid zum Strassenstrich geschrieben hat, können Kantone Vorschriften über Ort, Zeit und Art der Ausübung der Prostitution erlassen. In Zürich hat der Kanton die Kompetenzen den Gemeinden übertragen. In der Stadt existiert eine entsprechende Verordnung mit "Strichplan", sie wird im Rahmen des Projekts "Rotlicht" auf Ende Jahr überarbeitet.

 Bordelle als Alternative

 Der Regierungsrat betont aber, dass das Bundesgericht entschieden hat, dass solche Vorschriften die Prostitution nicht übermässig behindern dürfen. "Ein allgemeines Verbot der Strassenprostitution würde dem Bundesrecht widersprechen", ist der Regierungsrat überzeugt. Nicole Barandun betont, dass es ihr nicht darum geht, den Strassenstrich einfach für illegal zu erklären, sondern die Stadt müsse Alternativen bieten: "Kontrollierte Bordelle oder wenigstens der Nachweis, dass die anschaffenden Frauen ein Zimmer zur Verfügung haben, wären Möglichkeiten."

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ARBEITERINNENBEWEGUNG
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WoZ 2.9.10

Sachbuch

 "Links aufmarschieren"-Die erste Gesamtdarstellung zur Geschichte der Ostschweizer Arbeiterbewegung erzählt von Massenarmut und Kinderarbeit, vom zähen Aufstieg der Linken und ihrem Kampf gegen Willkür.

 Die schwierige neue Freiheit

 Von Andreas Fagetti

 In den Anfängen der Industrialisierung lebte ein Grossteil der Landbevölkerung in elenden Verhältnissen. Die Kindersterblichkeit war hoch, die Lebenserwartung tief. Ein Fünftel der Neugeborenen überlebte das erste Lebensjahr nicht, bloss etwa zehn Prozent der Menschen erreichten das 60. Lebensjahr, wie eine Studie über die Innerschweiz belegt. Die Industrialisierung sprengte die alten Gesellschaftsordnungen, entwurzelte Menschen und senkte die Einkünfte mancher ArbeiterInnen. Die Fabrikanten beuteten Kinder aus und schädigten sie in ihrer Entwicklung, sie mussten zwölf Stunden und mehr arbeiten, aber auch familiäre Kleinstbetriebe der Heimsticker setzten auf sie als Billigarbeitskräfte. Erst das eidgenössische Fabrikgesetz von 1877 verbot Kinderarbeit. Bis es durchgesetzt war, dauerte es freilich Jahre.

 Während die unmittelbaren Profiteure der Industrialisierung, die Fabrikherren und ihre freisinnigen Sekundanten, die sozialen Verwerfungen verharmlosten oder ihnen mit Almosen glaubten begegnen zu können, drängten fortschrittliche und selbst konservative Kreise auf politische Lösungen und gesetzlich verankerte Schutzmassnahmen. Den Interessen der arbeitenden Bevölkerung verhalf aber letztlich erst die Arbeiterbewegung zum Durchbruch - Linksparteien, allen voran die Sozialdemokratische Partei, Gewerkschaften und Genossenschaften formierten sich allmählich zu einer Gegenmacht.

 Langwierige Rekonstruktion

 Der Rorschacher Historiker Louis Specker leuchtet die Lebensverhältnisse in der Ostschweiz des 19. Jahrhunderts aus und zeichnet den zunächst zähen Aufstieg der Linken und ihrer Organisationen nach. Seine eben im Chronos-Verlag erschienene Frühgeschichte über die Ostschweizer Arbeiterbewegung untersucht den Zeitraum von den Anfängen Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. Der frühere Direktor des Historischen Museums in St. Gallen ist mit der regionalen Arbeitergeschichte vertraut wie kaum ein anderer. Bekannt wurde er mit seiner Biografie über den Weberpfarrer und späteren Nationalrat Howard Eugster-Züst, der die StickerInnen in Ausserrhoden organisierte.

 Der St. Galler Gewerkschaftsbund und die Bildungsgemeinschaft beauftragten Specker mit der Aufarbeitung dieser Geschichte bereits Anfang der achtziger Jahre. Die Rekonstruktion die ser Frühgeschichte war angesichts des vergleichsweise quellenarmen 19. Jahrhunderts nur möglich, weil Specker in jahrelangen Recherchen eine einzigartige Fülle von Zeitschriften, Archiven und weiteren Quellen zusammentrug. Entsprechend facettenreich präsentiert sich nun sein Buch.

 In der Ostschweiz waren es in ers ter Linie Grütlivereine, vaterländisch gesinnte und bildungsbeflissene Arbeitervereine, und die linksliberalen Demokraten, die sich zunächst der sozialen Frage und der Interessen der ArbeiterInnen annahmen. Sie setzten auf Bildung und einen Reformkurs, der die bürgerlich-kapitalistische Ordnung nicht in Frage stellte. Unterstützt wurden sie dabei auch im konservativen Lager von christlichen Sozialreformern und Philanthropen. Erst die revolutionär gesinnten sozialdemokratischen Parteien, in denen schliesslich Demokraten und Grütlianer aufgingen, die sonst marginalisiert wurden, stellten die Systemfrage und kämpften letztlich mit Erfolg auch für eine ökonomische Besserstellung der Lohnabhängigen.

 In der Ostschweiz war die Organisation der ArbeiterInnen aus verschiedenen Gründen schwierig. Hier fehlten grosse Industriezentren. Die alles beherrschende Textil- und Stickereiindustrie war dezentral organisiert, neben den Fabriken bediente ein Heer von HeimarbeiterInnen den Markt. Obwohl abhängig von den Fabrikanten, verstanden sie sich als UnternehmerInnen. Hinzu kam eine von Obrigkeitsgläubigkeit und Fatalismus geprägte Haltung. Specker beschreibt, wie die Industrialisierung überkommene Bindungen aufhob und die Menschen den Umgang mit den neuen "Freiheiten" erst lernen mussten: Wer in den kurzen Boomphasen plötzlich etwas mehr Geld zur Verfügung hatte, verschuldete sich und kaufte ein Haus oder gab es für andere Verlockungen der aufkeimenden Konsumgesellschaft aus. Auch davon profitierten die Kapitalisten.

 Streikbrecher und Krawalle

 Ende des 19. Jahrhunderts verschärften sich die sozialen Gegensätze; die arbeitenden Menschen begannen sich zu organisieren. Nun waren sie nicht mehr bloss Opfer der Verhältnisse, sondern AkteurInnen. 1871 streikten in St. Gallen die Beschäftigten der Firma Messmer‘schen Appretur. Sie forderten eine Arbeitszeitverkürzung auf zwölf Stunden pro Tag, konnten sich aber nicht durchsetzen. Wer sich wehrte, dem drohte die Entlassung. In industriellen Zentren wie Rorschach oder Arbon kam es zu Arbeitskämpfen. Legendär war der durch Streikbrecher ausgelöste "Giesserkrawall" 1905 in Rorschach. Die Behörden setzten Militär ein, Streikende wurden abgeurteilt und aus dem Kanton ausgewiesen. Wer "kommunistische" Ideen verfolgte, musste mit massiver staatlicher Repression rechnen. Zwischen 1880 und 1914 wurden in der Ostschweiz 23 Mal Truppen zur Niederschlagung von Streiks aufgeboten. Etwas kurios wirkt der Umstand, dass der bedeutende Rickentunnelstreik von 1904 bloss in einer Fussnote abgehandelt wird.

 Die Ostschweiz war aber auch Schauplatz internationaler sozialistischer Kongresse. 1887 gewährte sie Exponenten der verbotenen deutschen SPD Gastrecht, die in St. Gallen heimlich einen Kongress abhielt. Linke Grössen wie Eduard Bernstein, August Bebel oder Wilhelm Liebknecht waren damals in St. Gallen. In Chur tagte ein sozialistischer Weltkongress.

 Specker bietet über weite Strecken eine aufschlussreiche Lektüre. Allerdings ist der Text stilistisch nicht aus einem Guss, mitunter schlägt Specker einen etwas antiquierten Ton an. Schildert er radikale Linke, sind es "Hitzköpfe", etwa in seiner Schilderung der auch in der Ostschweiz aktiven Anarchisten. Er reduziert den Anarchismus auf die Propaganda der Tat und bedient das Klischee von den Bombenlegern und Terroristen. Dagegen stimmt er immer wieder ein Loblied auf die "nüchternen" Ostschweizer und ihren Pragmatismus an.

 Louis Specker: "Links aufmarschieren. Aus der Frühgeschichte der Ostschweizer Arbeiterbewegung". Chronos Verlag. Zürich 2010. 470 Seiten. 68 Franken.

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WoZ 2.9.10

"Trotzki als junger Revolutionär"

 Leo Trotzki und der Kehrichthaufen

 Die Stimmung war geladen im Smolny-Institut in Petrograd, wo der Zweite Allrussische Rätekongress der Arbeiter- und Soldatendeputierten im Herbst 1917 Sitzung hielt. Die Abgeordneten verschiedener sozialistischer Fraktionen aus ganz Russland diskutierten hitzig das weitere Vorgehen. Die Bolschewiki um Lenin sahen die Zeit für einen Umsturz gekommen. Sozialrevolutionäre und Menschewiki sprachen sich gegen ein übereiltes Vorgehen aus und verliessen aus Protest den Saal. "Ihr seid Bankrotteure, eure Rolle ist ausge spielt", rief ihnen der Vorsitzende nach: "Schert euch hin, wohin ihr von nun an gehört: auf den Kehrichthaufen der Geschichte."

 Flüssig und anschaulich

 Der Deputierte, der dieses Urteil fällte, war Leo Trotzki - ein feuriger Revolutionär, brillanter Redner, gewiefter Theoretiker des Marxismus und neben Lenin wohl die zentrale Figur der Russischen Revolution und eine der bedeutendsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts überhaupt. Er sollte recht behalten: Die Oktoberrevolution, an deren Vorabend der Kongress tagte, sollte sich tatsächlich als epochenmachende Zäsur in die Annalen der Weltgeschichte einschreiben. Auch Trotzkis eigener Stern war im Aufsteigen begriffen: 1917 wurde er erster Aussenminister Sowjetruss lands, 1918 baute er als Kriegsminister die Rote Armee auf und führte sie 1920 im Bürgerkrieg zum Sieg. Die Rolle der zögernden Sozialrevolutionäre und Menschewiki dagegen verblasste.

 Das ist alles schon lange her. Vor zwanzig Jahren war es die bankrotte Sowjetunion selbst, die auf dem "Müllhaufen der Geschichte" landete. Trotzkis Schicksal besiegelte sich noch früher: Stalin wollte auch Jahre, nachdem Trotzki im Machtkampf gegen ihn unterlegen war und Russland hatte verlassen müssen, den Tod seines ehemals gefährlichsten Gegenspielers. Am 21. August 1940 erlag Trotzki im mexikanischen Exil den Verletzungen, die ihm durch einen von Stalin gesandten Attentäter zugefügt worden waren.

 Brandaktuelle Grundsätze

 Aber gehört nicht Trotzki selber schon längst auf den von ihm beschworenen Kehrichthaufen? Dagegen argumentiert Jürg Ulrich, emeritierter Professor für Neuropathologie am Universitätsspital Basel, in seiner populärwissenschaftlichen Trotzki-Biografie, die kürzlich neu aufgelegt wurde. Sehr flüssig und anschaulich beschreibt Ulrich den Lebensweg des Revolutionärs. Über seine Rolle als Staatsmann, der nach der Revolution als kalter Machtmensch versucht, seine theoretischen Konzepte auf die sowjetische Wirklichkeit anzuwenden und dabei tragisch scheitert, erfahren wir leider nur im Epilog.

 Das Ziel von Ulrichs auf sympathische Weise persönlich gehaltener Studie ist es, "jungen politisch interessierten Menschen die Entwicklung sozialistischer Ideen und Bewegungen" zu zeigen und sie "über ein Stück Geschichte [zu] informieren, das meiner eigenen Generation von Sozialisten (Jahrgang 1930) selbstverständlich war". In dieser Absicht gründet wohl auch der etwas lehrbuchhafte Duktus, in dem das Werk zuweilen gehalten ist - mit dem Ulrich aber auch einen verständlichen, soliden und undogmatischen Einblick in die marxistische Theorie und in Trotzkis Konzept der permanenten Revolution bietet. Grundsätze wie der, dass sich die Produktionsweise "nicht mehr durch den grösstmöglichen Profit, sondern durch das menschliche Bedürfnis leiten lassen" sollte, damit sich die Gesellschaft aus dem "unheilvollen Zyklus von Konjunktur und Krise" befreien kann, bleiben jedenfalls brandaktuell. Problematisch erscheint allerdings, dass Ulrich seine Erzählung stark auf Trotzkis autobiografischen Schriften stützt und diese nicht immer mit der gebührenden Kritik hinterfragt.

 Die eindeutige Stärke Ulrichs ist seine Fähigkeit, Trotzkis Lebenslauf in die gesellschaftlichen und politischen Strömungen seiner Zeit einzubetten. Seine lesenswerte Studie belegt jedenfalls eindrücklich, dass Geschichte - jenseits der kurzfristigen Wahrnehmung ihrer "Sieger" oder "Verlierer" - mehr Fundgrube als Müllhaufen ist. Thomas Bürgisser

 Jürg Ulrich: "Trotzki als junger Revolutionär". VSA-Verlag. Hamburg 2010. 160 Seiten. Fr. 29.50.

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NOVARTIS
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Bund 1.9.10

Neue Anschläge auf Novartis-Manager und -Einrichtungen

 In Mexiko, Russland und Spanien sind Farb- und Sprengstoffanschläge verübt worden.

 Maurice Thiriet

 Novartis hat nach wie vor ein Sicherheitsproblem. Seitdem militante Tierschützer vor rund einem Jahr die Asche von Daniel Vasellas Mutter vom Friedhof in Chur entwendet haben, sind mindestens vier weitere Anschläge auf Einrichtungen oder Manager von Novartis verübt worden.

 Der jüngste Anschlag ereignete sich am 1. August in Barcelona. Aktivisten verwüsteten nachts die Fassade des Hauses einer Novartis-Geschäftsführerin. Die Tierschützer füllten das Schloss der Haustür laut einem Bekennerschreiben mit Leim und warfen vier Farbbeutel. Neben den Farbschäden prangte der Slogan "M. S. F. quält Tiere. Novartis = HLS". Die Aktivisten wollen mit ihren Aktionen erreichen, dass Novartis die Zusammenarbeit mit dem umstrittenen Tierversuchslabor Huntingdon Life Sciences (HLS) einstellt, was ihnen im Fall des zweiten Schweizer Pharmariesen Roche mit ähnlichen Methoden gelungen ist.

 Bereits am 27. April attackierten militante Tierschützer ein Bürohaus in Moskau, in dem Novartis-Einrichtungen untergebracht sind, mit Steinen, Rauchpetarden und Farbbomben. Und am 19. Mai fand die mexikanische Polizei in Guadalajara eine Rohrbombe vor einer Novartis-Niederlassung, die offenbar kurz vor der Explosion stand. Wie mexikanische Medien berichteten, war an der gleichen Stelle bereits am 22. September 2009 ein Sprengsatz aus Dynamit und Butangas explodiert. Ein Novartis-Sprecher bestätigt die Vorfälle, präzisiert indes, der Anschlag vom 22. September habe in Mexico City stattgefunden. Laut den einschlägigen Internetforen der Tierschutzaktivisten scheint es in keinem der Fälle zu Verhaftungen gekommen zu sein. Novartis wollte sich dazu nicht äussern.

 Einen Erfolg erzielten die Ermittler jedoch Ende Juli in England. Die Polizei nahm zwei Aktivisten der losen Gruppierung Militant Forces Against Huntingdon (MFAH) fest. Sie hatten mutmasslich die Fahrzeuge einer Tierfarm in Brand gesetzt, die mit Huntingdon Life Sciences zusammenarbeitet.

 Die MFAH bekannte sich auch zu den Anschlägen auf Daniel Vasella im letzten Jahr. Die Staatsanwaltschaft Graubünden hat die Ermittlungen im Fall vorübergehend eingestellt. "Daran hat sich bis jetzt nichts geändert, aber die Verbindungen zu den englischen Gruppierungen werden weiterverfolgt", sagt Maurus Eckert vom Untersuchungsrichteramt Graubünden. Das Bundesamt für Polizei Fedpol wollte aus ermittlungstaktischen Gründen nicht darüber Auskunft geben, ob man mit den Engländern in Kontakt stehe.

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EIDGENOSSEN
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Tagesanzeiger 1.9.10

"Schweizer kann jeder werden, Eidgenosse nicht"

 Schwingidol Christian Stucki irritiert mit einer alten rechtsextremen Parole. Alles nur ein Missverständnis, sagt sein Manager.

 Von Maurice Thiriet

 Man sah sie nur vereinzelt am Eidgenössischen Schwing- und Älplerfest in Frauenfeld. Besucher, die rote T-Shirts trugen mit weissem Kreuz und der Aufschrift "Ich bin stolz, ein Eidgenosse zu sein, Schweizer kann jeder werden". Der T-Shirt-Aufdruck ist eine abgewandelte Form einer Songzeile der Neonazi-Band Indizier um den bekennenden Rechtsextremen Dominic Lüthard und die Gebrüder Rohrbach. Im Song "Wir sind Eidgenossen" auf dem Album "Die letzte Bastion" (2007) heisst es: "Hör gut zu, mein Freund, hier kannst du was lernen: Wir sind Eidgenossen, Schweizer kann man werden." Es gibt mittlerweile nicht nur T-Shirts, sondern auch Facebook-Gruppen unter diesem Motto, und die SVP bereitet dem Slogan mit ihrer Terminologie der "Masseneinbürgerung" weiterhin den ideologischen Boden.

 Eidgenosse im Sinn des Sports

 Nun hat sich Christian Stucki, Schwinger des Berner Kantonalverbandes und Drittplatzierter am Eidgenössischen in Frauenfeld, mit einer Interviewaussage in die Nesseln gesetzt, in der er den Slogan zitiert. Auf die Frage des SBB-Magazins "Via": "In Ihrem Selbstverständnis: Sind Sie zuerst Schweizer oder Berner?", antwortet Stucki: "Zuerst bin ich Eidgenosse. (Lacht) Nein, das ist immer ein heikles Thema, weil es schnell heisst, man sei ausländerfeindlich. Aber Schweizer kann jeder werden, Eidgenosse nicht."

 Christian Stucki wollte seine Aussage gegenüber dem TA nicht persönlich kommentieren. Stuckis Manager bei der internationalen Sportvermarkterin IMG, Rolf Huser, bezweifelte erst, dass Stucki so etwas gesagt und ohne Präzisierungen autorisiert haben soll, was "Via" aber klar belegen kann.

 Stucki sei in keiner Weise fremdenfeindlich eingestellt, sagt Huser. Die Äusserung stehe im Zusammenhang mit dem Schwingsport, wo "Eidgenosse für sportliche Herausforderung und Erfolg" stehe. "Es kann nicht jeder als Schwingerkönig oder Kranzgewinner vom Platz gehen und dann als eidgenössischer Kranzgewinner gelten, denn hierzu benötigt es die Verbindung als Athlet in diesem Ur-Sport, Talent, Fleiss und weitere Stärken, um erfolgreich diesen Sport auszuüben. In diesem Sinne kann wirklich nicht jeder Eidgenosse werden", sagt Huser.

 Doris Angst, Geschäftsleiterin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR), hat das Interview ebenfalls gelesen und einen anderen Eindruck gewonnen. "Es ist schade, dass der Stolz auf das Eigene mit der Abwertung anderer einhergehen muss, die den gewünschten Standard gar nicht erreichen können. Schliesslich haben die anderen Kulturen genauso ihre selbst erworbenen Qualitäten, die mindestens gleichwertig sind", sagt Angst.

 Die deutsche Discounterkette Lidl, Stuckis Hauptsponsor, wollte sich nicht zu Stuckis Abwertung uneidgenössischer Schweizer äussern. Ziel von Stuckis Verpflichtung war, der Marke zu mehr "Swissness" zu verhelfen.

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 Christian Stucki

 1,98 m gross und 140 Kilogramm schwer. Erreichte beim Eidgenössischen 2010 den dritten Rang. Er kam damit bei seinem dritten Eidgenössischen in die Kranzränge.

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LIECHTENSTEIN GANZ RECHTS
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WoZ 2.9.10

Liechtenstein und Nationalsozialismus-Ein neuer Krimi stochert in der antisemitischen Geschichte des Fürstentums. Bürgerlich-konservative Kreise wollten die Veröffentlichung behindern.

 Die "roten Herren" und ihr Tabu

 Von Robert Best

 Vaduz, Liechtenstein: Ein Autor spricht von Zensur und Boykott. Davon, dass eine ganze Gesellschaft Probleme habe mit der Verarbeitung der eigenen Geschichte. Von mächtigen Männern, die heikle Themen abwürgen statt sie zu diskutieren.

 Armin Öhri hat ein Buch geschrieben über ein Kapitel der liechtensteinischen Geschichte, an das sich nicht alle gern erinnern lassen. Es ist eine Erzählung, eine Fiktion. Aber sie kreist um eine Begebenheit, die als heftigster Ausbruch des Nationalsozialismus in Liechtenstein gilt: der Überfall auf die Brüder Fritz und Alfred Rotter am 5. April 1933.

 Im Berlin der Weimarer Republik waren die Rotters gefeierte Theaterdirektoren und besassen mehrere Schauspielhäuser. Hier lief seichte Unterhaltung. Den Nationalsozialisten waren die Brüder Inkarnation von "Verjudung" und Unmoral. 1931 erwarben die zwei die liechtensteinische Staatsbürgerschaft, 1933 meldeten sie ihre Theater bankrott und flohen nach Vaduz. Die Nazis verlangten vergeblich ihre Auslieferung, die deutsche Presse überzog das Land mit einer Schmutzkampagne.

 Die "Rotter-Affäre"

 Doch auch im Fürstentum gab es Leute, die ein "judenfreies" Land wollten. Namentlich der Künstler und Hotelbesitzer Rudolf Schädler und der rechtsgewendete Architekt Franz Roeckle, der noch 1908 die Westend-Synagoge in Frankfurt gebaut hatte. Mit einer Handvoll Komplizen lockten sie die Rotters, die in Begleitung zweier Damen erschienen, in Schädlers Hotel auf Gaflei. Der Plan: die Brüder überfallen und im Auto über die Grenze bringen. Das scheiterte an der Gegenwehr der Rotters. Bei der anschliessenden Verfolgungsjagd im Gebirge wurden Alfred Rotter und seine Gattin Gertrud zu Tode gehetzt.

 Der folgende Prozess geriet zum Schmierenstück. Der Zürcher Anwalt der Rotters durfte kein Plädoyer halten. Man lachte ihn aus. 700 Liech ten stei ner In nen unterschrieben ein Gnadengesuch für die Täter. Diese bekamen Haftstrafen von vier Monaten bis zu einem Jahr, die sie nur zum Teil verbüssten. Im Juni 1933 wurde die NSDAP-Ortsgruppe Liechtenstein gegründet. Schädler wurde "Landesleiter" der Volksdeutschen Bewegung, die den Anschluss ans Deutsche Reich forderte.

 "Nenn es Zensur …"

 So viel ist historisch gesichert und wird heute von niemandem mehr bestritten. Doch es scheint immer noch schwierig zu sein, darüber zu sprechen oder zu schreiben. Die grösste Zeitung des Landes, das "Vaterland", verweigerte Öhri schon vor Veröffentlichung seines Buches ein Interview oder eine Besprechung. Dass es sich hierbei um eine politische Entscheidung handelt, offenbaren E-Mails aus der Redaktion an Öhri. Die "Rotter-Affäre", wird ihm mitgeteilt, "war, ist und bleibt immer ein Tabuthema". Und: "Nenn es Zensur oder wie du willst, wir können uns nicht vertieft mit der Rotter-Affäre befassen. … Wir sind nun mal eine Parteizeitung, und die alten roten Herren sitzen (noch) am längeren Hebel."

 Die roten Herren - damit sind im Liechtensteinischen jene gemeint, die der Regierungspartei Vaterländische Union nahestehen (entstanden ist diese 1936 aus dem Zusammenschluss der 1918 gegründeten, christlich-sozial ausgerichteten Liechtensteiner Volkspartei mit dem deutschnational ausgerichteten Liechtensteiner Heimatdienst). Ein solcher "Roter" ist "Vaterland"-Chefredaktor Günther Fritz. Er verteidigte in einem Leitartikel seine "einsame Entscheidung", Öhri weder Interview noch Besprechung einzuräumen, mit dem "Eindruck, dass sensible Themen in Liechtenstein mit besonderem Fingerspitzengefühl behandelt werden sollten". Beiträge zur "Rotter-Affäre" hätten immer Kritik der LeserInnen zur Folge gehabt. Den Unmut des Volkes bekam denn auch Öhri zu spüren. In (meist) anonymen E-Mails wurde er als "Verräter" beschimpft und bedroht.

 Dennoch: Das gesellschaftliche Klima sei heute entspannter und offener als früher, sagt Peter Geiger, bis vor fünf Jahren Leiter einer Historikerkommission zu Liechtensteins NS-Geschichte. Es herrsche heute reges Interesse an der Vergangenheit, die rechtsextreme Szene sei eine - wenn auch ernst zu nehmende - Randerscheinung.

 Vor einer Woche ist Öhris Buch erschienen. Ihm ist zu wünschen, dass geschieht, was Geiger bei seiner historischen Interviewarbeit herausgefunden hat: "Sobald man detailliert über diese Zeit schreibt und ernsthaft fragt, verliert das Tabu seine magische Wirkung."

 Armin Öhri: "Die Entführung". Van Eck Verlag. Triesen FL 2010. 120 Seiten. Fr. 19.80.

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STADTENTWICKLUNG
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WoZ 2.9.10

Hamburg-Seit Jahren wird saniert und "aufgewertet", die Gentrifizierung in der Hansestadt ufert aus, und der ­Widerstand in der Bevölkerung wächst. Bringt der neue Bürgermeister die Wende?

 Kein Recht auf Stadt

 Von Rainer Kreuzer, Hamburg

 "Es ist hier nicht so Mainstream, sondern viel individueller und alternativer", sagt eine junge Frau, die durch das Schanzenviertel in Hamburg spaziert. In der Innenstadt gebe es nur Geschäfte, die sie ebenso gut in Frankfurt finden könne.

 Ob das im Schanzenviertel auch so bleiben wird, ist ungewiss. Die Schanze ist zum Paradebeispiel einer Turbogentrifizierung geworden; ImmobilienmaklerInnen bewerben sie mittlerweile als "absolute Trendlage". Anfang der neunziger Jahre wurde dort noch vielerorts mit Kohle geheizt, und der Putz blätterte von den Fassaden. Doch das änderte sich allmählich mit der Sanierung eines Teils der Schanze, die vor knapp zwanzig Jahren begann. Die Besetzung der Roten Flora 1998, eines Theaters, das heute ein autonomes Kulturzentrum beherbergt, machte das Viertel dann erstmals bundesweit berühmt. Und für die Werbebranche plötzlich interessant.

 Image für den Wettbewerb

 Dazu kam der New-Economy-Hype in den neunziger Jahren - die Mieten stiegen noch schneller. Wo einst Tante-Emma-Läden, Alternativkneipen und türkische GemüsehändlerInnen das Strassenbild bestimmten, reihen sich heute Boutiquen, Bars, Restaurants und Werbeagenturen aneinander. Und wenn am Wochenende Tausende Besucher Innen aus dem Umland kommen, wird gefeiert wie auf Mallorca. "Stadtteile wie die Schanze unterstützen ein Image als weltoffene und tolerante Stadt", steht in einem Senatsbericht - die Stadt sieht sich im globalen Wettbewerb um Inves torinnen, Touristen und Unternehmen. Im Städteranking der Organisation Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft rangiert Hamburg in Deutschland, was Wettbewerbsfähigkeit, Wohlstand und Sozialniveau angeht, auf Platz drei.

 Im neuen Stadtteil Hafencity werden Wohnungen für bis zu 11 000 Euro pro Quadratmeter gehandelt, und im einstigen Drogenviertel St. Georg werden stuckverzierte Altbauwohnungen auf 6000 Euro den Quadratmeter hochspekuliert. Der eins tige sozialdemokratische Bürgermeis ter Klaus von Dohnanyi verkündete schon 1983 das Programm "Unternehmen Hamburg". Die Stadt sollte für die Wirtschaft attraktiver werden und bei den Sozialausgaben sparen: weg von der sorgenden und hin zur konkurrierenden Stadt.

 Doch dieser Unternehmensgeist gerät zunehmend in Verruf. "Die Innenstadt wird zum Erlebnisraum für neu angesiedelte Gutverdiener", kritisiert Johanna Adler vom Bündnis "Recht auf Stadt", das sich dem Erhalt des öffentlichen Raumes verschrieben hat.

 Die Stadt hat ihre Grundstücke seit Jahren an die meistbietenden Investor Innen verkauft, denen es nur um Profit ging. Sozialwohnungen rentierten nicht, und so ist ihr Bestand seit 1993 um mehr als die Hälfte geschrumpft. Der Bürobau hingegen führte zu einer immer grösseren Immobilienblase. Inzwischen stehen über eine Million Quadratmeter Bürofläche leer, für die reihenweise historische Bauwerke abgerissen wurden. Als dann die niederländische Investorengruppe Hanzevast 2006 plante, auch noch die Überreste des 300 Jahre alten Gängeviertels in Büros und Eigentumswohnungen zu verwandeln, war das zu viel. Die letzten KünstlerInnen im Quartier weigerten sich 2009, als es ernst wurde, zu gehen. Seither halten sie die Gebäude besetzt. "Das war unglaublich, wie viele Menschen in leitenden Positionen in der Stadtverwaltung das be grüsst haben - inoffiziell natürlich", sagt Chris tine Ebeling, Sprecherin der Initiative "Komm in die Gänge", die damals zwischen Kulturschaffenden und Behörden vermittelte. Als dann sogar die Springer-Presse die BesetzerInnen lobte, lenkte der Senat ein: Die Stadt kaufte 14 Backsteinhäuser zurück und verhandelt seitdem mit den rund 200 BesetzerInnen über deren Sanierung.

 Auch in anderen Stadtteilen brodelt es: 16 Initiativen haben sich im Bündnis "Recht auf Stadt" zusammengeschlossen. 260 Kulturschaffende haben sich letztes Jahr mit dem Manifest "Not In Our Name, Marke Hamburg!" dagegen gewehrt, als ImageträgerInnen von der Stadt instrumentalisiert zu werden.

 Die Grünen ringen um ihr Profil

 Mit den Rücktritten des Bürgermeis ters Ole von Beust und drei weiterer CDU-SenatorInnen begann letzte Woche ein neuer Abschnitt in Hamburgs Politik. Ob dieser aber die erhoffte Wende bringt, ist fraglich. Die Grün-Alternative Liste (GAL) hat die Koalition mit der CDU fortgesetzt und dazu sogar den bisherigen Innensenator und konservativen Hardliner Christoph Ahlhaus zum neuen Bürgermeister gewählt; auch hat die GAL ihre Wählerhochburgen in den neu yuppisierten Stadtteilen Schanze, St. Pauli und St. Georg.

 Doch die Grünen ringen um ihr Profil und versuchen, Stimmen zu gewinnen, dort, wo ihnen die Linkspartei eifrig den Rang abläuft: bei der neuen Bewegung "Recht auf Stadt". So versprachen die Grünen, alles für den Erhalt des Gängeviertels zu tun. Auch sollen öffentliche Grundstücke nicht mehr nur nach der Höhe des Gebots verkauft werden, und für St. Georg und St. Pauli wird geprüft, ob weitere Luxusmodernisierungen und Umwandlungen von Miet- in Eigentumswohnungen unterbunden werden können. Tatsächlich: Bis zur Wahl des Landesparlaments 2012 brauchen die Grünen dringend den Erfolg, der ihnen bislang mit der CDU verwehrt geblieben ist.

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AUSSCHAFFUNGEN
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WoZ 2.9.10

Tod bei Ausschaffung

 Verletzte Vorschriften

 Der Tod von Joseph Ndukaku Chiakwa bleibt weiterhin ungeklärt. Der 29-jährige Nigerianer hätte am 17. März vom Flughafengefängnis Zürich nach Lagos, Nigeria, ausgeschafft werden sollen. Doch das Flugzeug mit den sechzehn weiteren Ausschaffungshäftlingen hob nie ab. Chiakwa starb, als man ihn für die Zwangsausschaffung fesselte.

 Ende Juni hatte die Zürcher Staatsanwaltschaft mitgeteilt, dass die Todesursache geklärt sei. Chiakwa habe an einer "schwerwiegenden Vorerkrankung des Herzens" gelitten, die nicht bekannt und "bei Lebzeiten praktisch nicht diagnostizierbar" gewesen sei. Vor zwei Wochen kritisierte der Anwalt des Verstorbenen das rechtsmedizinische Gutachten scharf. Er hatte das Gutachten anderen Ärzten zur Prüfung übergeben. Diese kamen zum Schluss, dass die Diagnose Herzfehler "keineswegs gesichert" sei.

 Anfang dieser Woche nun bestätigte der zuständige Staatsanwalt Christian Philipp einen Bericht der "NZZ am Sonntag", wonach die Behörden verschiedene Vorschriften missachtet haben. Chiakwa hatte sich nicht - wie anfänglich von der Polizei behauptet - einige Tage, sondern mindestens 45 Tage im Hungerstreik befunden. Das gehe aus dem Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin hervor, das der Ehemann der Asylhardlinerin und Bundesratskandidatin Karin Keller-Sutter verfasst hat.

 Einigen Aussagen zufolge sei der Ausschaffungshäftling gar 76 Tage lang im Hungerstreik gewesen. Dabei hatte er 33 Kilogramm abgenommen, mehr als ein Drittel seines Körpergewichts. Obwohl im Gutachten festgehalten wird, dass es sich hierbei um eine "ernsthafte körperliche Störung" handelte, wurde Chiakwa vor dem Ausschaffungsflug von den Behörden nicht medizinisch untersucht. Derzeit wird abgeklärt, ob der Gefängnisarzt oder andere Personen ihre Pflichten verletzt haben. ch

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ASYL
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WoZ 2.9.10

Asylpolitik-Das Bundesamt für Migration überstellt Asylsuchende nach Griechenland, wo sie keine Chance auf ein faires Asylverfahren haben. Die Rechtsanwältin Victoria Banti kritisiert diese Praxis.

 "Es ist ein Teufelskreis"

 Interview: Jan Jirát

 WOZ: Victoria Banti, in Ihrem Bericht, den Sie im Auftrag von ­Amnesty International verfasst haben, üben Sie schärfste Kritik am griechischen Asylwesen.

 Victoria Banti: Die bürokratischen Hürden für die Asylsuchenden, von denen die meisten aus Ländern wie Afghanistan, Irak, Iran, Somalia und Sudan stammen, sind viel zu hoch. Das beginnt beim Asylantrag selbst, auf den jeder Asylsuchende gesetzlich ein Recht hat. Im Grossraum Athen gibt es beispielsweise nur eine einzige Dienststelle, die für die Annahme von Asylanträgen verantwortlich ist. Derzeit werden dort etwa zwanzig Anträge pro Tag geprüft, während vor den Toren bis zu 2000 Perso nen warten. Zwei Menschen sind im Oktober 2008 und im Januar 2009 vor der Dienststelle gestorben, als eine Panik unter den Wartenden ausgebrochen ist.

 Hinzu kommen weitere inakzeptable Punkte: Die Anerkennungsquote von Asylsuchenden liegt aufgrund der beschriebenen Behördenpraxis praktisch bei null - im Jahr 2008 waren es gerade einmal 0,05 Prozent. Ausserdem herrscht ein grosser Mangel an DolmetscherInnen und Informationen zum Asylverfahren. Viele Asylsuchende haben unter diesen Umständen keine Chance auf ein faires Asylverfahren. Sie enden als Sans-Papiers auf der Strasse oder in einem Park und können jederzeit festgenommen werden. Die Dublin-II-Verordnung geht davon aus, dass alle Dublin-Staaten gleich faire Asylverfahren anbieten. Das ist ein grosser Irrtum, wie das Beispiel Griechenland zeigt.

 Welche Behörde ist in Griechenland eigentlich für das Asylverfahren zuständig?

 Das ist ein weiterer Kritikpunkt. Nach griechischem Recht ist dies nämlich einzig und allein die Polizei, was wir für völlig inakzeptabel halten. Der Polizei fehlt es in hohem Masse an geschultem und spezialisiertem Personal. Uns sind mehrere Fälle von polizeilichen Misshandlungen zugetragen worden. Die Asylsuchenden haben keinerlei Chance, sich dagegen zu wehren. Ausserdem sind seit Anfang des Jahres keine Vertreter des Uno-Flüchtlingswerkes mehr ins Verfahren eingebunden. Wir verlangen deshalb eine neue, unabhängige Instanz, die für das Asylverfahren zuständig ist.

 In Ihrem Bericht kritisieren Sie auch, dass die griechischen Behörden vor Abschiebungen nicht zurückschrecken, obwohl sie wissen, dass die Betroffenen etwa aus Ländern wie der Türkei weiter abgeschoben werden.

 Ja. Es handelt sich bei solchen Kettenabschiebungen um ein klar völkerrechtswidriges Verfahren. Die Gefahr besteht aber nicht nur für Dublin-II-Überstellte, sondern allgemein für Asylsuchende in Griechenland. Im Laufe meiner Untersuchung habe ich mehrere Asylsuchende interviewt, die von der griechischen Polizei einfach in die Türkei abgeschoben wurden. Sie berichteten, wie sie gezwungen wurden, mitten in der Nacht auf kleinen Booten einen Fluss in die Türkei zu überqueren, wo sie dann die dortige Polizei festgenommen und später in ihre Herkunftsländer abgeschoben hat, obschon ihre Rechte dort nicht genügend geschützt sind.

 Auf welchen Grundlagen vollziehen die Behörden eigentlich eine Dublin-II-Überstellung?

 Im Normalfall über den Eintrag in der europäischen Fingerabdruck-Datenbank Eurodac. Für die Überstellung nach Griechenland braucht es teilweise sogar weniger als einen Fingerabdruck. Es genügt, dass jemand erwähnt, er sei durch Griechenland gereist, auch wenn es keinerlei Anzeichen dafür gibt - keinen offiziellen Antrag, keinen Fingerabdruck, rein gar nichts. Ich erinnere mich an den Fall einer Asylsuchenden aus Georgien. Sie konnte in Russland ein gefälschtes griechisches Visum auftreiben und reiste damit in die Niederlande, wo bereits Familienangehörige lebten. Sie war in ihrem ganzen Leben kein einziges Mal in Griechenland gewesen, die niederländischen Behörden schickten sie unter der Dublin-II-Verordnung trotzdem dahin, weil das Visum entsprechend ausgestellt war.

 Haben Sie für Ihre Untersuchung auch mit Dublin-II-Überstellten aus der Schweiz gesprochen?

 Ja. Eine der befragten Personen war ein christlicher Asylsuchender aus dem Iran, der Ende 2009 aus der Schweiz nach Griechenland überstellt worden war. Während fast eines Jahres lebte er in der Schweiz, wo er einen Sprachkurs besuchte und in Kontakt mit mehreren nichtstaatlichen Organisationen sowie Schweizer Bürgern stand. Er fühlte sich hier sicher. Sein Asylantrag wurde aber abgelehnt, weil er bereits in Griechenland registriert war. Im Gegensatz zu den meisten anderen Asylsuchenden war er eigentlich in einer glücklichen Position: Sein Asylantrag war zwar abgelehnt worden, aber er hätte die Möglichkeit gehabt, einen Rechtsbehelf einzulegen. Wir versuchten ihn zu überzeugen, von diesem Recht Gebrauch zu machen, doch er hat abgelehnt. Er gab an, kein Vertrauen ins griechische System zu haben und dass er versuchen würde, zurück in die Schweiz zu gelangen.

 Wissen Sie, was aus ihm geworden ist?

 Nein. Das letzte Mal habe ich ihn an der Ecke einer reformierten Kirche gesehen, ohne Job, ohne nichts. Ich kann versuchen, ihn anzurufen. (Victoria Banti wählt eine Nummer auf ihrem Handy und wartet. Keine Antwort.) Wer weiss, vielleicht ist er bereits in Italien ...

 Kommt es öfter vor, dass Dublin-II-Überstellte erneut aus Griechenland fliehen?

 Im Laufe meiner Untersuchungen habe ich drei Personen interviewt, die bereits das zweite Mal nach Griechenland überstellt worden sind. Es ist also beileibe kein Einzelfall. In den beiden grössten Häfen Griechenlands mit Verbindungen zu Italien, Patras und Igoumenitsa, warten Hunderte Asylsuchende darauf, sich auf ein Schiff zu schmuggeln. Es ist ein Teufelskreis.

 Bei aller Kritik am Asylsystem in Griechenland gab es jüngst doch auch Erfolge. Das Flüchtlingslager Pagani auf der Insel Lesbos ist Ende 2009 geschlossen worden, nachdem schockierende Bilder von den dortigen Bedingungen aufgetaucht waren.

 Ja, die Schliessung von Pagani war ein Erfolg. Der Fall hat viel Aufmerksamkeit in den Medien und in der Öffentlichkeit erhalten, der Druck war schliesslich zu gross für die Behörden. Aber es gibt andere Lager in Griechenland, wo es noch schlimmer ist als in Pagani. Besonders im Norden des Landes, an der Grenze zur Türkei, ist die Lage schlimm. Die dortigen Internierungslager sehen zwar wie Häuser oder Warenhäuser aus, sind aber in Tat und Wahrheit Gefängnisse. Wir sind sehr besorgt darüber, was dort geschieht, uns sind Fälle über Misshandlungen zugetragen worden. Die Bedingungen sind miserabel, die Asylsuchenden leben dort eng zusammengepfercht, können sich nicht frei bewegen, Kinder und Erwachsene, Frauen und Männer, alles ist durchmischt.

 Sie fordern grundlegende Refor men.

 Wir haben aufgrund der Erkenntnisse unserer Untersuchung eine Reihe von Empfehlungen an die griechischen Behörden, aber auch an die Dublin-Staaten und EU-Institutionen abgegeben. Griechenland braucht ein umfassendes Asylsystem, das den Normen für den Schutz und die Aufnahme von Asylsuchenden gerecht wird. Dazu gehört, dass der Zugang zu einem fairen und effektiven Asylverfahren für alle schutzbedürftigen Personen garantiert und auf Kettenabschiebungen verzichtet wird. Wir haben mit der neuen Regierung bereits Gespräche geführt. Sie ist sich des Problems durchaus bewusst, und wie es scheint, hat sie gute Absichten, doch in der Praxis ist bisher nichts geschehen.

 Auf der europäischen Ebene fordern wir eine Reform des Dublin-II-Sys tems, um eine ausgewogenere Verantwortung zwischen den Mitgliedstaaten zu erreichen. Das heutige System benachteiligt die südeuropäischen Länder stark. Heute können die Länder des Nordens verhindern, dass eine grosse Anzahl von Asylsuchenden an ihre Türen klopft. Es ist vor allem aus einer humanitären Perspektive unfair, denn die Asylsuchenden in Griechenland finden dort nicht die gleichen Möglichkeiten vor wie in den meisten anderen europäischen Ländern.

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Vergeblicher Brief an Widmer-Schlumpf

 Im März 2010 wandte sich Amnesty International per Brief an Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf und ersuchte sie, das Bundesamt für Migration anzuweisen, Dublin-II-Überweisungen nach Griechenland per sofort einzustellen, solange dort kein Zugang zu einem fairen Asyl- und Beschwerde verfahren gewährleistet sei. Einen Monat später traf die Antwort der Bundesrätin ein: Griechenland sei der Europäischen Menschenrechts- und der Flüchtlingskonvention sowie der Uno-Folterkonvention beigetreten und deshalb verpflichtet, diese einzuhalten. Das Bundesamt für Migration verfüge über keinerlei konkrete Indizien, die dafür sprächen, dass Griechenland seine Verpflichtungen verletze. Die Furcht, die Asylgründe von nach Griechenland überstellten Personen würden nicht untersucht, sei nicht begründet.

 Das Bundesamt habe jedoch beschlossen, verletzliche Personen (Familien mit minderjährigen Kindern, unbegleitete Jugendliche, Kranke und betagte Personen) nicht nach Griechenland zurückzuschicken, weil sie dort keine geeignete Betreuung erwarten könnten.

 Amnesty International hat den Entscheid des Bundesamtes, verletzliche Personen nicht mehr nach Griechenland zu schicken, begrüsst, verlangt allerdings einen vollständigen Stopp der Dublin-II-Überweisungen.

 Nachdem das Bundesamt für Migration - wenig überraschend - trotz der inakzeptablen Situation im griechischen Asylwesen offenbar keinen Handlungsbedarf sieht, liegen die Hoffnungen beim Bundesverwaltungsgericht. Dieses fällt bis Ende Herbst den Entscheid in der Frage, ob die Schweiz weiterhin Asylsuchende - gestützt auf die Dublin-II-Verordnung - nach Griechenland überweisen darf. Bereits im Februar 2010 hat das Bundesverwaltungsgericht eine bis dahin gängige Praxis bei der Umsetzung von Dublin-II-Verfahren für rechtswidrig erklärt: Die Asylsuchenden erhielten erst unmittelbar vor der Abschiebung Bescheid darüber und wurden so der Möglichkeit beraubt, eine Beschwerde einzureichen.

Jan Jirát

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MIGRATION CONTROL
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Bund 1.9.10

Ghadhafi erpresst EU mit Immigranten

 Der libysche Staatschef Muammar al-Ghadhafi hat von der EU "jährlich mindestens fünf Milliarden Euro" für den Kampf gegen illegale Einwanderer aus Afrika gefordert. Gehe die EU nicht darauf ein, könne Europa "schon morgen zu einem zweiten Afrika werden". Die EU wollte Ghadhafis Aussage nicht kommentieren, man setze weiterhin auf den Dialog, hiess es aus Brüssel. (sda/aus)

 Berichte Seite 3, Kommentar Seite 10

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Ghadhafi erpresst die EU

 Libyens Revolutionsführer bringt die Europäische Union mit seiner Geldforderung in Verlegenheit.

 Stephan Israel, Brüssel

 Der Revolutionsführer stösst mit seiner neusten Eskapade in Brüssel auf wenig Gegenliebe: "Wir können die Erklärungen von Herrn Ghadhafi nicht kommentieren", sagte gestern EU-Kommissionssprecher Matthew Newman. Libyens Staatschef Muammar al-Ghadhafi hat am Rande seines Besuchs in Rom von der EU eine Entschädigung von fünf Milliarden Euro jährlich dafür gefordert, dass er afrikanische Einwanderer auf dem Weg nach Europa stoppt. Libyen sei das Einfallstor für unerwünschte Einwanderer nach Europa, mahnte Ghadhafi. Er bezeichnete es am Rande des Staatsbesuchs in Rom als ganz im Interesse der EU, auf seine Forderungen einzugehen. Europa könnte sonst zu einem zweiten Afrika werden. Die "unerwünschte Immigration" aus Afrika in die EU könne nur an der Grenze zu Libyen gestoppt werden. Nur so könne Europa sicherstellen, dass es "nicht schwarz" werde.

 Ghadhafi weiss um seinen Preis. Er hat bewiesen, dass er Migrationsströme steuern und für seine Interessen nutzen kann. Seit Libyens Staatschef vor zwei Jahren mit Berlusconi ein "Freundschaftsabkommen" geschlossen hat, sind kaum mehr afrikanische Flüchtlinge über Italien in die EU gelangt. Berlusconi hatte bereits damals im Gegenzug fünf Milliarden Euro als Entschädigung für die italienische Kolonialherrschaft überweisen müssen.

 Der Erpressungsversuch des libyschen Diktators überrascht bei der EU-Kommission nicht. Es ist nicht das erste Mal, dass Ghadhafi damit droht, die Schleusen wieder zu öffnen. Zuletzt tat er das im Frühjahr, um in der Konfrontation mit der Schweiz die EU unter Druck zu setzen und auf seine Seite zu ziehen. Der Revolutionsführer ist in Brüssel als schwieriger Gesprächspartner bekannt, deshalb wird noch stärker als sonst jedes Wort abgewogen.

 "Die Kommission ist der Auffassung, dass die EU durch Dialog und umfassende Zusammenarbeit die Lage an Ort und Stelle verbessern kann", sagte Matthew Newman gestern diplomatisch. Die EU unternehme jede Anstrengung, um den Dialog mit den libyschen Stellen zu verbessern, besonders bei der Verhinderung illegaler Wanderungsströme aus Afrika. Konkret verhandelt die EU seit Ende 2008 mit Libyen über ein sogenanntes Rahmenabkommen, in dem die Beziehungen zum Mittelmeeranrainer auf eine neue Grundlage gestellt werden sollen.

 "Anbiederung" an Ghadhafi

 Bereits in den letzten zwei Jahren hat die EU das Ghadhafi-Regime mit einstelligen Millionenbeträgen dabei unterstützt, etwa die Grenzkontrollen Richtung Niger oder die Aufnahmekapazitäten für Flüchtlinge auf libyschem Territorium zu verbessern. Italiens Politik gegenüber Ghadhafi und die Zurückhaltung der EU gegenüber dem libyschen Regime stossen auf Kritik von internationalen Menschenrechtsorganisationen. Zwischen Europa und einer menschenverachtenden Diktatur dürfe es keine Zusammenarbeit geben, kritisiert Pro Asyl. Die Hilfsorganisation kritisiert die "Anbiederung" an Ghadhafi und die Tatsache, dass bereits jetzt Millionenbeträge für die Fluchtabwehr geflossen sind.

 Kommentar Seite 10

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Reaktion der katholischen Kirche

 "Rom ist die Hauptstadt des Katholizismus"

 Italiens Bischöfe kritisieren das Bekehrungsspektakel Ghadhafis in Rom - und auch das italienisch-libysche Flüchtlingsabkommen.

 René Lenzin, Mailand

 Die Kritik am Auftritt des libyschen Staatschefs Muammar al-Ghadhafi ("Bund" von gestern) riss auch am dritten und letzten Tag seines Staatsbesuchs in Italien nicht ab. Mit ungewöhnlich scharfen Worten rügte "Avvenire", die Tageszeitung der italienischen Bischofskonferenz, die Bekehrungsshow des libyschen Diktators. "Es gibt wohl nicht manches Land, in dem so etwas überhaupt möglich wäre", hiess es im Frontkommentar von Chefredaktor Marco Tarquinio. Und weiter hinten sagte der Jesuit und Islamwissenschafter Samir Khalil: "Ich möchte daran erinnern, dass Rom nicht der Speakers' Corner im Hyde Park ist, sondern die Hauptstadt des Katholizismus. Wir müssen aufwachen: Welches Europa wollen wir? Soll nur die Wirtschaft Wert und Einfluss haben?"

 Tarquinio wiederholte auch die bereits früher geäusserte Kritik der italienischen Bischöfe am italienisch-libyschen Flüchtlingsabkommen. Es sei zwar schön, dass man das Elend der Boatpeople im südlichen Mittelmeer habe stoppen können, schrieb er. Aber die "Aus den Augen, aus dem Sinn"-Mentalität vieler italienischer Politiker erfüllten einen mit Schmerzen. Er spielte damit auf den Umstand an, dass die Bootsflüchtlinge Libyen seit der Unterzeichnung des Abkommens gar nicht mehr verlassen können oder sofort dorthin zurückgeschafft werden. Und dann irgendwo in der Wüste in Lagern landeten, wo "weder Menschlichkeit noch die Gesetze der zivilisierten Welt Geltung haben".

 Flüchtlingselend in der Wüste

 Bereits im vergangenen Jahr gab es Medienberichte, wonach Flüchtlinge vor allem aus Eritrea in libyschen Lagern systematisch gefoltert und vergewaltigt würden. Nach einem Besuch in einem Lager mit 600 bis 700 Flüchtlingen aus Eritrea, Somalia, Nigeria und Mali berichtete Amnesty International von misslichsten Zuständen. Das Lager sei völlig überfüllt, die hygienische Situation unhaltbar, und die Flüchtlinge seien der Willkür der libyschen Sicherheitskräfte ausgeliefert. Die Menschenrechtsorganisation erinnerte daran, dass Libyen die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 bis heute nicht unterzeichnet habe und auch nicht über ein rechtsstaatlich korrektes Asylverfahren verfüge. Zudem müssten die Flüchtlinge mit der Rückschaffung nach Eritrea rechnen, wo ihnen Gefängnis, Folter und die Misshandlung ihrer Angehörigen drohten.

 Das sei kein Problem zwischen Italien und Libyen, hatte ein Sprecher des Aussenministeriums damals abgewiegelt. Und es sei auch nicht einzusehen, weshalb sich immer nur Italien um diese Flüchtlinge kümmern müsse. Anlässlich von Ghadhafis Staatsbesuch haben sich Italiens Premier Silvio Berlusconi und sein Innenminister Roberto Maroni von der Lega Nord erneut für das Abkommen auf die Schulter geklopft, weil der Ansturm auf die Mittelmeerinsel Lampedusa endlich gestoppt worden sei. Tatsächlich gehörten die Badestrände der Insel diesen Sommer erstmals seit mehreren Jahren wieder den Touristen und standen nicht mehr im Scheinwerferlicht der internationalen Medien.

 Maroni will das Abkommen nun gar auf weitere Staaten ausdehnen. Er reagiert damit auf neue Routen, welche die Schlepper einschlagen, um die strengeren Kontrollen an der nordafrikanischen Küste zu umgehen ("Bund" vom 23. August). Im Visier hat er vor allem die Türkei und Griechenland, von wo afghanische, kurdische, iranische, irakische und syrische Flüchtlinge vermehrt nach dem italienischen Festland übersetzen (siehe Karte). Allerdings wären auch diese erweiterten Abkommen nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Denn vier von fünf Flüchtlingen gelangen illegal auf dem Landweg oder mit einem Touristenvisum nach Italien, bevor sie abtauchen.

 Daher verlangen kirchliche und andere Nichtregierungsorganisationen seit langem, Italien müsse die Einwanderungsfrage endlich grundsätzlich angehen, statt sich mit solchen Abkommen kurzfristig Luft zu verschaffen. Am italienisch-libyschen Festspektakel fanden solche Forderungen jedoch kein Gehör.

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Meinungen

Libyen Ghadhafis Drohung an Europa.

 Der Spuk ist nicht vorbei

Luciano Ferrari

 Die Schweiz hat die Libyen-Affäre inzwischen bereits wieder verdrängt. Innenpolitisch laboriert man zwar noch daran herum - eine Parlamentskommission untersucht die Rolle von Bundesrätin Micheline Calmy-Rey. Aussenpolitisch jedoch ist die Krise als "unangenehmer Zwischenfall" abgehakt. Das dürfte sich als Fehleinschätzung erweisen. Denn der libysche Wüstenfürst Ghadhafi ist zurück.

 Keine 600 Kilometer von der Schweizer Grenze entfernt hat er in Rom erneut seine Zelte aufgeschlagen. Und wieder droht er. Diesmal der EU - und indirekt auch der Schweiz: Er werde Europa in ein zweites Afrika verwandeln, es schwarz werden lassen, wenn er nicht jährlich 5 Milliarden Euro für den Kampf gegen die illegalen Einwanderer erhalte.

Ghadhafi, der sein Regime bisher mit den Öl- und Gasvorkommen zu festigen wusste, hat ein neues Druckmittel gefunden. Feinsinnig hat der Despot die steigende Angst vor Einwanderern im wirtschaftlich angeschlagenen Europa registriert - die Roma-Debatte in Frankreich oder die Sarrazin-Affäre in Deutschland zeugen davon -, und er will sie nutzen.

 Dabei soll ihm die frühere Kolonialmacht Italien helfen. Bereits in der Rezession Mitte der Siebzigerjahre "rettete" der libysche Oberst das Vorzeigeunternehmen des Landes, Fiat, indem er Kapital einschoss und einen Aktienanteil von 9,5 Prozent übernahm.

 Jetzt hat er mit massiven Investitionen der grössten Bank Italiens, Unicredit, unter die Arme gegriffen, die sich in Osteuropa verspekuliert hatte. Gleichzeitig stockte er seine Beteiligung am grössten italienischen Unternehmen auf, dem Energieriesen Eni. Dieser Ausverkauf der "heimatlichen Wirtschaft" wird nicht nur von der rechtspopulistischen Lega Nord kritisiert. Auch der Vatikan und die Oppositionsparteien sind besorgt über das immer unverfrorenere Auftreten Ghadhafis in Rom und seinen wachsenden Einfluss auf die italienische Politik.

 Als Schengen-Mitglied ist auch die Schweiz von seinen Drohungen betroffen. Bern sollte deshalb mit der Europäischen Union die Lehren aus der Geiselaffäre ziehen. In den Beziehungen zu Libyen ist grösste Zurückhaltung geboten. Europa darf sich nicht noch stärker abhängig und damit erpressbar machen.

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ANTI-ATOM
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NLZ 2.9.10

Tiefenlager für radioaktive Abfälle

 Anwohner in Bözberg sind tief besorgt

 Ein Endlager will wohl niemand in seiner Region - das zeigte eine Veranstaltung des Bundes in Bözberg.

 sda/mm. Für die Suche nach einem Tiefenlager für radioaktive Abfälle in der Schweiz kommen noch sechs Regionen in Frage. Zum Abschluss der ersten Etappe der Standortsuche beginnt nun eine dreimonatige öffentliche Anhörung. Den Auftakt machte gestern die Region Bözberg (AG). 250 Anwohner kamen in die Gemeindeturnhalle, um ihre Anliegen kundzutun. Ihnen versuchten die Referenten vom Bundesamt für Energie aufzuzeigen, weshalb der Bözberg überhaupt als Standort auserkoren wurde - und sie stiessen auf grosse Skepsis. "Ein atomares Tiefenlager ist für unsere Region eine Gefährung von unglaublichem Ausmass", sagte etwa eine Anwohnerin.

 Am Montag, 20 September, findet die gleiche Veranstaltung in Stans statt - dann geht es um den Standort Wellenberg.

 Seite 5

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Atom-Endlager Bözberg

 "Dann will hier niemand mehr wohnen"

Von Christoph Reichmuth

 Der Bözberg im Kanton Aargau ist einer von sechs möglichen Standorten für ein Atom-Endlager. Gestern fand eine Orientierung statt. Die Emotionen gingen hoch.

 Die hügelige Landschaft rund um Unterbözberg wirkt in der abendlichen Herbstsonne malerisch. Unweit der Kleingemeinde mit ihren 744 Einwohnern findet sich das Gasthaus Vierlinden, von dem man sagt, es biete sich von dort die schönste Aussicht über den Kanton Aargau. Diese Idylle ist in den Augen der Dorfbewohner bedroht, der Bund sucht nämlich ein Tiefenlager für radioaktive Abfälle. Einer der möglichen Standorte ist neben dem Wellenberg der Bözberg.

 250 Anwohner strömten gestern Abend in dïe Turnhalle, um ihre Bedenken, Anliegen und Ängste den Vertretern des Bundes, der Kantonsregierung und der Nationalen Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) kundzutun. Die Referenten vom Bundesamt für Energie (BFE), Michael Aebersold und BFE-Direktor Walter Steinmann, sowie Thomas Ernst, Direktor der Nagra, versuchten aufzuzeigen, weshalb der Bözberg aus geologischer und raumplanerischer Sicht als Standort für das Tiefenlager überhaupt in Frage kommt.

 Verbreitete Skepsis

 Doch die Voten der Bevölkerung verrieten die Skepsis. "Der Kanton Aargau hat schon die Atomkraftwerke, müssen wir zur Strafe nun auch noch all die atomaren Abfälle bei uns entsorgen?", ereiferte sich eine Frau. Eine andere warnte: "Wer will dann hier noch freiwillig wohnen?" Kritik gab es auch für die knappe Frist bis Ende November, die das BFE der Gemeinde einräumt, um zu den Standortvorschlägen Stellung zu beziehen. Dem pflichtete sogar der auf dem Podium sitzende Aargauer Regierungsrat Peter C. Beyeler bei. "Wir wären dankbar, wenn uns Bern mehr Zeit einräumen würde." In Zweifel gezogen wurde auch die Unabhängigkeit der Nagra. Sie hänge "am Tropf der AKW", war zu hören.

 christoph.reichmuth@neue-lz.ch

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 Wellenberg

 Am 20. September Diskussion in Stans

 Für die Suche nach einem Tiefenlager für radioaktive Abfälle in der Schweiz wurden zahlreiche Berichte und Gutachten erstellt. Sechs Regionen kommen in Frage. Das Bundesamt für Energie (BFE) führt dazu Informationsveranstaltungen durch. Den Auftakt machte gestern ein Diskussionsabend für die Region Bözberg. Am Montag, 20. September, geht es um den Wellenberg. Diese Informationsveranstaltung beginnt um 19 Uhr im Schulzentrum Turmatt in Stans.

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SVP Nidwalden

 "Die SP-Initiative ist Fantasiererei"

Kurt Liembd

 Die SVP ist klar gegen den Ausstieg des Kantons aus der Atomenergie. Dies bekam der SP-Vertreter deutlich zu spüren.

 Den Parolen der SVP Nidwalden für die Abstimmungen vom 26. September fehlt es nicht an Deutlichkeit. Die Volksinitiative der SP Nidwalden über den schrittweisen Ausstieg aus der Atomenergie wird massiv verworfen, klar unterstützt wird hingegen die nationale Initiative über die Arbeitslosenversicherung (Ausgabe von gestern).

 Alt Landrat Georg Niederberger hatte sich an der SVP-Versammlung für die Atomausstiegs-Initiative seiner Partei stark gemacht. Er betonte, dass es zahlreiche Alternativen zur Kernenergie gebe wie Wasserkraft, Sonnenenergie, Windenergie, Biomasse, Geothermie und auch Energie-Effizienz. Er bezeichnete die Initiative langfristig als "riesige Chance fürs EWN", zumal der gänzliche Verzicht auf Atomstrom erst bis zum Jahr 2039 erfolgen solle. Niederbergers Kritik: "Die Strategie des EWN ist nicht zukunftsgerichtet und steht im Widerspruch zur Haltung im Zusammenhang mit dem Endlager am Wellenberg."

 Anders sah es Regierungsrat Ueli Amstad: "Die Kernenergie schont Umwelt und das Klima", sagte der Umweltdirektor. Zudem gab er zu bedenken, dass sich bei einer Annahme der Initiative der Strompreis in Nidwalden etwa verdreifachen würde. "Bei einem Ja wäre das EWN in seiner Existenz gefährdet", so Amstads Befürchtung. Auch in der Diskussion blies Georg Niederberger ein rauer Wind entgegen, obwohl er seine Argumente sehr sachlich darlegte.

 Vorstandsmitglied ist alleine

 So bezeichnete der Oberdorfer SVP-Landrat Toni Niederberger die Initiative als "unrealistisch und Fantasiererei". Es folgte eine energiepolitische Diskussion mit zahlreichen engagierten Voten. Toni Niederberger machte einen Link zur Bildungspolitik und kritisierte, dass es zu wenige Ingenieure gebe, die Alternativenergie zu fördern imstande seien. Die Linken hätten es mit ihrer Bildungspolitik versäumt, genügend Ingenieure auszubilden. "Wir brauchen Vernunft statt Fantasiererei", sagte auch Leonhard Zrotz an die Adresse der Initianten. Als einziger Votant sprach sich SVP-Vorstandsmitglied Peter Kuster für die Initiative aus. Er bezeichnete die Situation des Kantons als "schizophren", denn man wolle Atomstrom und wehre sich gegen ein Endlager, so Kuster. Bei der Parolenfassung blieb er allerdings als Einziger auf der Seite der Initianten.

 redaktion@neue-nz.ch

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CVP Nidwalden

 Das EWN sieht sich in Gefahr

Von Markus von Rotz

 SP-Landrat Beat Ettlin fand bei der CVP nur wenige Sympathisanten für die Atomausstiegs-Initiative. Heftigen Gegenwind gab der Vertreter des EWN.

 In der kurzen Diskussion vor der Parolenfassung wies Hanspeter Niederberger, alt Bauernpräsident, die Delegierten auf den Widerspruch hin, den Atomausstieg und gleichzeitig das Wellenberg-Endlager abzulehnen. "Heute brauchen wir den Atomstrom, weil es so aufgegleist ist, aber man sollte die Richtung wieder ändern." Er blieb der einzige Redner, der der SP Unterstützung gewährte. Die CVP fasste mit 48:7 (10 Enthaltungen) die Nein-Parole (siehe Ausgabe von gestern).

 Es entstünden Arbeitsplätze

 Beat Ettlin kritisierte, das Elektrizitätswerk Nidwalden und die Regierung würden die Zeichen der Zeit nicht erkennen. "Wir müssen die Strategie ändern und in Richtung erneuerbarer Energien gehen. Nidwalden braucht keine Atomenergie." Er erinnerte an die Gefahren von Atomkraftwerken und die ungelöste Entsorgungsfrage für den atomaren Abfall (Wellenberg). Ettlin meinte, es sei auch bei steigendem Energieverbrauch "alles nur eine Frage des politischen Willens". Er erwähnte, dass ganz neu die Neuenburger Regierung beschlossen habe, 50 Windräder zu bauen, mit denen 200 Gigawattstunden Energie produziert oder 70 Prozent der Haushalte versorgt werden könnten. Ettlin erinnerte daran, dass erneuerbare Energien anders als Atomkraftwerke willkommene neue Arbeitsplätze in diversen Branchen schaffen würden.

 Als Unternehmen gefährdet

 Hart ins Gericht mit Ettlin ging Silvio Boschian, seit Juli Verwaltungsratspräsident des EWN. "Schweden, Finnland und Italien proben den Ausstieg aus dem Ausstieg", begann er. Erneuerbare Energien seien richtig, aber sie könnten nie und nimmer den Atomstrom ersetzen, der gerade in kälteren Monaten für die Versorgung Nidwaldens unerlässlich sei. Der Energieverbrauch steige dauernd, Elektroautos und die neuen Kommunikationsmittel bedingten ebenfalls mehr Strom. "Das EWN wäre als Unternehmen mittelfristig gefährdet, falls die Initiative angenommen würde", betonte Boschian.

 Er erinnerte daran, dass 296 Personen die SP-Initiative unterschrieben hätten, aber nur 69 EWN-Kunden bereit seien, auf Atomenergie zu verzichten, nämlich jene, die einen Regiomix ohne Kernenergie bestellt hätten. Diese Zahlen würden für sich sprechen.

 Trotz der Niederlage endete es versöhnlich: "Wir sind anständige Gastgeber und haben noch etwas Energie besorgt", sagte Kantonalpräsident André Scherer und überreichte den zwei SP-Referenten Beat Ettlin und Brigitte Gut Honig.

 markus.vonrotz@neue-nz.ch

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20 Minuten 2.9.10

Tiefenlager: Bund beginnt Anhörung

 UNTERBÖZBERG AG. Der Bund hat zum Abschluss der ersten Etappe der Standortsuche nach einem Tiefenlager eine Anhörung gestartet. Bis im November können sich Bevölkerung, Parteien, Organisationen, Kantone und Nachbarstaaten zur ersten Etappe des Sachplans geologisches Tiefenlager äussern. Den Auftakt machte gestern die Region Bözberg (AG). Mitte 2011 wird der Bundesrat vermutlich entscheiden, welche Standorte weiter im Auswahlverfahren bleiben.

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Bund 2.9.10

Taucher im AKW leicht verstrahlt

 Leibstadt - Bei der Jahreshauptrevision im Atomkraftwerk Leibstadt AG ist es am Dienstag zu einem Zwischenfall gekommen. Ein Mitarbeiter wurde bei Taucharbeiten an der Hand verstrahlt. Dabei wurde der Jahresdosisgrenzwert für Hände überschritten. Der Mitarbeiter werde nach ersten ärztlichen Untersuchungen voraussichtlich keine bleibenden gesundheitlichen Schäden davontragen, teilte das AKW gestern mit.

 Der Grenzwert für die Ganzkörperdosis sei nicht überschritten worden. Zum Zwischenfall kam es während Instandhaltungsarbeiten im Transferbecken für Brennelemente. Der Taucher habe einen Gegenstand vom Boden des Beckens aufgehoben und ihn in einen Behälter gelegt.

 Beim Hochziehen dieses Behälters - noch unter der Wasseroberfläche - habe die Raumstrahlungsüberwachung Alarm ausgelöst. Darauf sei der Behälter wieder ins Wasser abgelassen worden. (sda)---

WoZ 2.9.10

AKW Beznau

 Niemand kontrolliert die Kontrolleure

 Das Atomkraftwerk Beznau darf unbehelligt weiterlaufen. Das Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek) hat acht Organisationen und Parteien abblitzen lassen. Die­se hatten im November vom Uvek verlangt, das AKW unverzüglich stillzulegen, nachdem bekannt geworden war, dass das Notstromsystem nicht richtig funktioniert und das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) nichts dagegen unternimmt. Das Uvek gibt nun dem Ensi formal recht, weil es sich vom Verfahren her richtig verhalten hat.

 Das bedeutet aber nicht, dass Beznau sicher ist. Das Notsystem hatte in den neunziger Jahren nachträglich installiert werden müssen. Ein Kadermann, der an der Nachrüstung beteiligt war, sagte gegenüber der WOZ, das Notsystem könne im Notfall gar nicht funktionieren, weil es - aus technischen Gründen - nicht richtig installiert werden konnte. Die Vorwürfe wurden aber nie richtig untersucht. Das Ensi verlangt heute grössere Sicherheitsnachrüstungen in Beznau, die aber erst in vier Jahren installiert sein müssen. sb

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Handelszeitung 1.9.10

Markt

 KKW Mühleberg in Revision

 Das Kernkraftwerk Mühleberg der BKW FMB Energie AG (BKW) ist am 15. August 2010 planmässig für die jährlich wiederkehrenden Revisionsarbeiten und die Auswechslung von Brennelementen abgeschaltet worden. Die Revision dauert rund vier Wochen. Im Hinblick auf Langfristbetrieb führt die BKW verschiedene wichtige Erneuerungs- und Unterhaltsarbeiten durch. In der vergangenen Betriebsperiode von Anfang September 2009 bis Mitte August 2010 produzierte das Kernkraftwerk brutto 3136 Mio kWh (2008/09: 3119 Mio kWh) während 8163 Betriebsstunden CO2-freien Strom ins BKW-Netz ein. Damit erzielte das KKM den besten Betriebszyklus seit der Inbetriebnahme.