MEDIENSPIEGEL 9.9.10
(Online-Archiv: http://www.reitschule.ch/reitschule/mediengruppe/index.html)

Heute im Medienspiegel:
- Reitschule-Kulturtipps (Rössli, DS, GH)
- Reitschule bietet mehr: Ruhe vor dem Sturm im Hess-Wasserglas
- Bewegungsmelder bietet mehr
- Philippe Müller bietet mehr?
- Rabe-Info 9.9.10
- Biennale Bern
- Bibliothek des Widerstandes
- Drogen: Kampagne gegen Kokain + Nigerianer; Drogenscheinkäufe
- Alkverbot: Schnapsidee
- Police ZH: Aufstockung
- Schnüffelstaat: Ursprünge CH; BS; Grundrechtsschutz
- Solidarité sans fronitères: Balthasar Glättli geht
- Jenische: Staatliche Kindsentführung
- Skander Vogt: Knasttod nicht vergessen
- Weggesperrt: Portrait in der Rundschau
- Queer Cinema: "Luststreifen" in Basel
- Hetero-Bravo-normativ: 50 Jahre Bravo + Homosexualität
- Big Brother Sport BS: Falscher Hooligan verliert Stelle
- Waffenhandel: Bundesrats-Herzeli für die Rüstungsindustrie
- Fragwürdiger Prozess gegen Tierschützer in Wien geht weiter
- Anti-Atom: BKW-Propaganda; Tiefenlager, 3. Generation Reaktoren; Uranabbau-Skandal

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REITSCHULE
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Do 09.09.10
17.00 Uhr - Reitschule - Öffentliche Führung durch die Reitschule (Treffpunkt beim Tor)
19.00 Uhr - Frauenraum - "Frauenhandel in der Schweiz - wie sieht der Schutz der Opfer aus?" Veranstaltung des Bleiberechtskollektivs Bern
20.30 Uhr - Tojo - Dying for Oil, Gods and iPods, An Apocalyptic Comedy von Action Theatre
21.00 Uhr - Rössli - james reindeer, james p honey (London), babel fishh (USA), son kas und Das Fest (D)
20.30 Uhr - Grosse Halle - Praed trifft Norient: Audio-visuelle Performances

Fr 10.09.10
20.30 Uhr - Tojo - Dying for Oil, Gods and iPods, An Apocalyptic Comedy von Action Theatre
23.00 Uhr - Dachstock - Wild Wild East: SHANTEL DJ-Residency - Balkan, Gypsy

Sa 11.09.10
14.00 Uhr - Frauenraum - AMIE Frauenkleidertauschbörse abseits der Modeindustrie, women only
17.00 Uhr - Reitschule - Öffentliche Führung durch die Reitschule (Treffpunkt beim Tor)
20.00 Uhr - Kino - TATORT REITSCHULE: "Harry hol schon mal den Wagen" - 2x Derrick Specials!
20.30 Uhr - Tojo - Dying for Oil, Gods and iPods, An Apocalyptic Comedy von Action Theatre
20.30 Uhr - Grosse Halle - Grass: Dokumentarisch-Nomaden-Kino mit Live-Vertonung
22.00 Uhr - Dachstock - Gamebois Plattentaufe "Loops". Support: James Gruntz (BS), DJ?s Sassy J & Benfay - Soul, Hiphop

So 12.09.10
17.00 Uhr - Grosse Halle - Berner Symphonie Orchester: Biss zum Original - Nosferatu
21.00 Uhr - Tojo - Influx Controls von Boyzie Cekwana (Biennale Bern)

Mo 13.09.10
20.30 Uhr - Tojo - Influx Controls von Boyzie Cekwana (Biennale Bern)

Infos:
http://www.reitschule.ch
http://www.reitschulebietetmehr.ch

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Bund 9.9.10

James Reindeer

 Bürgerschreck-Rap im Rössli

 Rap hat ja ein gewaltiges Imageproblem. Er wird nicht mehr gefürchtet. Dies zu ändern haben sich die fünf Herren vorgenommen, die heute Abend im Rössli einkehren. James Reindeer, James P. Honey, Babel Fishh und Das Fest. Sie zelebrieren das Genre des Indie-Rap: abstrakt, psychedelisch, technoid, verstörend, wutschwanger und wunderbar wild. (len)

 Reitschule Rössli Donnerstag, 9. September, 21 Uhr.

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Bund 9.9.10

Sounds Gamebois

 Soul und Unterhaltungselektronik

 Ein Sänger auf Knien, eine quietschende Gameboy- Orgel, eine Handvoll wasserdichter Refrains und ein grosses Missverständnis: Die Berner Soulbrüder Gamebois legen ihr zweites Album vor.

 Christoph Lenz

 Benjamin Kasongo ist keiner, der lange fackelt. Schon nach den ersten acht Takten kniet er nieder. Um zu flehen und zu flöteln, um zu schmachten und zu charmieren. Die Sache ist eben die, dass sie, das "süsseste Ding", das ihm je unter die Augen gekommen ist, fort ist und er immer noch da. Und was gibt es Schlimmeres.

 Der Berner Soul-Zweispänner Gamebois legt also ein neues Album vor. "Loops" heisst es. Aber nicht, weil die Repetition von Klangschnipseln darin besonders häufig Verwendung findet. Sondern weil, wie Sänger Benjamin Kasongo und Programmierer Fabio Friedli erklären, der Albumtitel zu einem Zeitpunkt festgelegt wurde, als ebendiese Technik noch prägnantes Element ihrer Songs war, was inzwischen aber nicht mehr der Fall ist. Insofern sei der Titel, das sähen sie selbst ein, vielleicht schon ein bisschen irreführend. Aber so ein Album sei halt eine lange Geschichte, eine komplizierte Sache.

 Musik aus dem Forschungslabor

 Kompliziert ist etwa die Arbeitsweise der Berner Gamebois. Statt einem Konzept oder einer Leitidee zu folgen, gehen Fabio Friedli und Benjamin Kasongo bei der Entwicklung ihrer Songs vor wie ein Forschungslabor. Es gibt als Rohmaterial einen Beat, einen Text oder auch nur ein Lick. Und dann wird getestet: Tempo rauf, Tempo runter, mehr Druck, dünneres Arrangement, dieser Sound, jenes Geräusch, dieser Synthesizer, jene Melodie. Mit der Zeit häufen sich dreissig und mehr Versionen desselben Songs an. Welche Fassung letztlich auf dem Album verewigt wird, diese Entscheidung folgt erst ganz zum Schluss. So lässt sich auch das Missverständnis beim Albumtitel erklären. Als die Marketingabteilung den Produktnamen festgelegt hat, war die Forschungsabteilung noch nicht bereit, die Arbeit einzustellen.

 Kann ja mal passieren. Und schliesslich ist es just dieser Tüftlergeist, der den Gamebois vor zwei Jahren mit ihrem Debütalbum "If I Ever" etliche Auszeichnungen, unter anderem bei der M4Music Demotape Clinic, eingebracht hat. Die kruden Klangcollagen, die ungeschliffenen, verstolperten Beats, die finstere Atmosphäre - ein Hochrisiko-Album war das, sehr beeindruckend.

 "Loops" (Equipe Music) weist nun in eine andere Richtung: Nu-Soul. Die Sounds erscheinen sehr viel geschmeidiger als auf dem Vorgänger, die Songs zutraulicher. Auf den Beat ist Verlass, die Refrains sind meist neckische Mitsumm- und Fingerschnippgaranten. Und dann hat sich Fabio Friedli mittlerweile auch das Register der Gute-Laune-Instrumente erschlossen: Vom klimpernden Vaudeville-Piano bis zur quietschenden Atari- oder Gameboy-Orgel wird nichts ausgelassen.

 Für die Spannung sorgt dann Sänger Benjamin Kasongo, der - eben - seit dem achten Takt seine Verflossene bekniet und betrauert, und diese eher ungemütliche Körperhaltung während der folgenden 45 Minuten nur selten aufgibt. Aber wozu auch? Emotional-Hygiene lässt sich in Bodennähe immer noch am besten betreiben. Sicher, bisweilen wird auf "Loops" ein bisschen zu viel geschmachtet. Aber wer es so wie die Gamebois versteht, die ganz grossen Gefühle mit den ganz kleinen Sounds der Unterhaltungselektronikgeräte zu verbinden, der darf auch die Grenze zum Kitsch mal grosszügig ignorieren.

 Reitschule Dachstock Samstag, 11. September, 22 Uhr.

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 bewegungsmelder.ch Sept 2010

gamebois 'loops'-plattentaufe

>soul / electropop

Die Gamebois haben es mit ihrem ersten Album geschafft, in kürzester Zeit abzusahnen, wovon die meisten Bands nur träumen dürfen: Winner der Demotape Clinic am M4Music, SwissTop Award im August 2008 und nicht zuletzt 2010 die Teilnahme am Island Job mit einem Videodreh in der Karibik als Hauptpreis. Nun erscheint ihr zweites Album 'Loops', welches sich wohltuend leicht und verspielt anhört und gegenüber dem Vorgänger noch kompakter und ausgereifter daher kommt. Zu fünft auf der Bühne beeindrucken sie mit kreativen Liveshows, mit BJ Kasongo's unverwechselbarer Stimme, sowie der groovigen Band rund um Keyboarder und Beat-Bastler Pablo Nouvelle. Soul trifft auf Elektropop. Den Gamebois gehört die Zukunft!
[text by: Sibille Rohrbach / september 2010]

sa 11.09. ab 22h dachstock bern

goodies! wir verlosen 2x2 tickets

http://www.gamebois.ch

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bonaparte

>indie / folk / rock / trash

Kaiser Tobias Jundt hat seine Truppe eindrücklich im Griff. Deutschland hat Bonaparte im Trabtempo erobert und ihre neue Songskavallerie 'My Horse likes you' reitet nicht der Sonne, sondern neuen Horizonten entgegen. Ihre Show reisst jetzt wirklich jeden von der ersten Minute an mit und kein Schwein kann behaupten, sich nach einem ihrer zirkusbunten und energiegeladenen Konzerten nicht einen abgeschwitzt zu haben. Und wen mal der Kaiser seine schwer zähmbare Truppe in die Hauptstadt beordert, dann gibt's kein Wenn und Aber: Anwesend sein und sein musikalisches Reich würdigen.
[text by: Pablo Sulzer / september 2010]

fr 17.09. ab 22h dachstock bern

goodies! wir verlosen 2x2 tickets

http://www.bonaparte.cc

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BZ 9.9.10

Jugendorchester mit Jetlag

 Von Kuba nach Köniz: Kubanische Jugendliche spielen mit dem Sextett "Travesías" Kompositionen des Berner Musikers Simon Ho. Die Premiere findet am Freitagmorgen im Münster statt. Ein Probenbesuch.

 Gähnend sitzen am Mittwochnachmittag über dreissig kubanische Teenager hinter ihren Notenständern im Zingghaus Köniz. Kein Wunder sind sie müde. Wenn es in Köniz 14 Uhr schlägt, ist es in ihrer Heimat erst 8 Uhr morgens, und die Orchesterprobe ist bereits seit zwei Stunden im Gange. Für die Schülerinnen und Schüler ebenso ungewohnt sind die herbstlichen Temperaturen: Die Mädchen tragen mehrere Schichten dünner Pullis, einige haben sich Wollmützen übergestülpt.

 Ja, so ein Kulturschock inklusive Jetlag ist anstrengend. Aber sobald der Dirigent die Arme hebt, sind alle Gedanken bei der Musik, und die Begleiterscheinungen gehen vergessen. Bläser, Streicher, Perkussionisten und Sängerinnen richten sich auf, den Blick nach vorn - das Stück kann beginnen.

 Zuhause in der Ferne

 "Travesías 2010" heisst der Grund, warum Schüler der Escuela Paulita Concepción statt in Havanna in Köniz musizieren. Unter der Leitung von Lorenz Hasler erarbeiteten die neun bis fünfzehnjährigen Kinder gemeinsam mit dem Sextett "Travesías" (Überquerungen) ein Programm zum Thema "Daheim in der Ferne". Die insgesamt elf Stücke sind vertonte Gedichte von europäischen und kubanischen Lyrikern, die Kompositionen stammen vom Berner Komponisten und Travesías-Pianisten Simon Ho. Seine rhythmisch dynamischen Stücke lassen mal an französische Chansons, mal an fröhlich-träumerische Filmmusik denken.

 Mit Jugendlichen aktiv

 Die Musiker realisierten 2008 bereits ein Projekt mit Könizer Schülern - Lorenz Hasler ist ihr Musikschulleiter. Die Idee, mit kubanischen Schülern ein interkulturelles Projekt zu machen, entstand nicht zuletzt dank des kubanischen Gitarristen Victor Pellegrini und der Cellistin Amparo del Riego Vidal des Sextetts. Ermöglicht hat es unter anderem der Interkantonale Rückversicherungsverband (IRV). Im Rahmen der Festlichkeiten zu seinem 100-jährigen Bestehen hat der IRV die Reise und Unterkunft der kubanischen Jugendlichen finanziert.

 Austausch als Ziel

 Von den kubanischen Schülern ist Hasler begeistert. "Sie lassen sich ganz auf die Sache ein und verhalten sich für ihr Alter sehr professionell", schwärmt er.

 In ihrer Heimat haben die Kinder keine Sonderstellung; sie gehen in Havanna in eine normale Volksschule mit den Schwerpunkten Tanz und Musik. "Sie führen ein sehr einfaches Leben, das Pfadiheim ist für sie wie ein Fünf-Sterne-Hotel", meint Hasler. Die Zusammenarbeit sei toll, da sie sich aufs Wesentliche konzentrierten. In der Schweiz seien viele Leute von Kommerz übersättigt und ständig abgelenkt, und das sei nicht selten ein Hindernis beim Arbeiten.

 Und gearbeitet wird in dieser ersten Berner Probe hart. Die Schüler spielen auf hohem Niveau. Trotzdem werden einzelne Takte zigmal wiederholt. So lange, bis Hasler zufrieden ist.

 Manchmal schmunzeln die Schüler heimlich, wenn er seine Anweisungen auf Spanisch nicht richtig ausspricht. Umgekehrt singen die Mädchen das einzige französische Stück mit einem doch sehr kubanischen Akzent. Über die Sprache der Musik verstehen sich aber alle problemlos. Und dieses Erlebnis möchten sie an ihrem Konzert weitergeben.

 Martina Kammermann

 Konzerte in Bern am Freitag, 10. 9., um 10 Uhr im Münster; am 15. 9. um 20 Uhr in der Grossen Halle der Reitschule; am 19. 9. um 20.00 Uhr in der Mühle Hunziken; am 20. 9. um 18.30 Uhr mit Könizer Schülern im Gemeindehaus Köniz.

 Infos: http://www.travesias.ch

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REITSCHULE BIETET MEHR
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BZ 9.9.10

Ist die Ruhe trügerisch?

 Seit zwei Jahren ist es relativ ruhig um die Berner Reitschule. Erich Hess befürchtet neue Krawalle nach der Abstimmung.

 Die Dealerszene auf dem Vorplatz der Berner Reitschule hat sich verkleinert. Angriffe gegen Polizei- und Ambulanzfahrzeuge nahmen laut Berns Polizeidirektor Reto Nause (CVP) deutlich ab. "Die Zeiten, als sich gewalttätige Demonstranten in die Reitschule zurückgezogen haben, sind vorbei", sagt Nause.

 Reitschule-Gegner Erich Hess misstraut dem Frieden. Die Reitschule-Betreiber hielten sich bewusst zurück, weil am 26. September über die vom ihm verfasste Schliessungsinitiative abgestimmt werde, sagt er. "Sobald die Abstimmung vorbei ist, können die Reitschule-Gegner wieder wüten." Diese These sei spekulativ, entgegnet Nause. "Es fehlen die Fakten."
 tob

 Seite 19

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Berner Reitschule

 Ist die Zeit der Krawalle vorbei?

 Die Reitschule provoziert kaum noch Negativ-Schlagzeilen. Doch Reitschule-Gegner Erich Hess befürchtet, dass bald neuer Krawall ausbricht. Berns Sicherheitsdirektor Nause hält dagegen: "Für diese These fehlen die Fakten."

 Just eine Woche nach der Abstimmung über die Schliessung der Reitschule steht in Bern am 2. Oktober der nächste antifaschistische Abendspaziergang an. Nie zuvor fand diese militante Demo so spät im Herbst statt - die Organisatoren haben das Datum bewusst hinter den Abstimmungstermin gelegt.

 Erich Hess, SVP-Grossrat und Verfasser der Anti-Reitschule-Initiative, befürchtet Krawalle. "Sobald die Abstimmung vorüber ist, können die Reitschule-Aktivisten wieder wüten, ohne dass es Konsequenzen hat", sagt er. So sei es nach jeder Abstimmung über "diesen Schandfleck" gewesen. So werde es immer sein.

 Drogenszene ist kleiner

 Fakt ist: In jüngster Vergangenheit wurde aus dem Umfeld der Reitschule kaum noch Krawall gemacht in der Stadt Bern. "Die Zeiten, als sich gewalttätige Demonstranten in die Reitschule zurückgezogen haben, sind seit zwei Jahren vorbei", sagt Berns Sicherheitsdirektor Reto Nause (CVP). Zudem seien die Attacken gegen Polizei, Sanität und Feuerwehr, wie sie früher aus der Reitschule heraus getätigt wurden, deutlich zurückgegangen. Der Kommandant der Sanitätspolizei, Peter Salzgeber, bestätigt dies: "In den letzten Jahren rückten wir immer ohne Polizeischutz auf den Vorplatz aus."

 Auf ebendiesem Vorplatz hat der Stadtberner Sicherheitspolitiker und FDP-Grossrat Philippe Müller nach mehreren Augenscheinen festgestellt: "Die Dealer- und damit die Drogenszene haben abgenommen."

 Anders siehts Erich Hess: "Es ist so schlimm wie immer dort, und es hat Dealer und Drogensüchtige, und es kommt immer wieder zu Übergriffen gegen die Polizei." Erst nach wiederholtem Nachfragen räumt er ein, dass sich die Situation in letzter Zeit wohl etwas entschärft habe. Als Grund dafür erwähnt Hess die Schliessungs-Initiative. "Diese schwebt wie ein Damoklesschwert über der Reitschule. Eigentlich sollte ich in regelmässigen Abständen eine neue lancieren."

 Für die Mediengruppe der Reitschule kontert Tom Locher: "Da schmückt sich Erich Hess wieder einmal mit fremden Federn." Viel mehr als mit der Initiative habe die Entwicklung auf dem Vorplatz mit den sogenannten Stadtgesprächen zu tun. Auch Reto Nause sagt: "Seit der Dialog zwischen den Behörden und der Reitschule strukturiert wurde, hat sich die Situation entspannt." Die Reitschüler schenkten dem Sicherheitsaspekt mehr Beachtung, sagt Nause. Polizeisprecher Michael Fiechter fügt an: Das Kontakttelefon zwischen Polizei und Reitschulbetreibern funktioniere "in aller Regel gut". Ausnahmen von der Regel gibts offenbar nach wie vor. In den Worten von Reto Nause tönt das so: "Die Zusammenarbeit könnte noch besser sein. Aber es entwickelt sich in eine gute Richtung."

 Bekenntnis der Reitschüler

 Bleibt die Frage nach der Zukunft: "Wer für die Zeit nach der Abstimmung bereits neue Krawalle heraufbeschwört, betreibt Spekulation", sagt Nause. Klar, ausschliessen könne er eine solche Entwicklung nicht. "Doch es fehlen Zeichen und Fakten, die diese These stützten."

 Die Reitschulbetreiber schreiben in einer E-Mail an die Redaktion dieser Zeitung: "Wenn wir unseren Freiraum schützen wollen, müssen wir auch selber sorgfältig damit umgehen." In den letzten Jahren hätten sie deshalb wiederholt darauf hingewiesen, dass die Reitschule kein Ort für Strassenschlachten zwischen einigen Hitzköpfen sein will - sei es bei den Demonstrierenden oder bei der Polizei. "Selbstverständlich wollen wir diesen Freiraum auch gegen die mafiösen Strukturen des Drogenhandels verteidigen."

 Nagelprobe steht bevor

 Solch versöhnliche Worte seien in den letzten 20 Jahren mehrmals gefallen, sagt Philippe Müller. "Leider blieben die Taten bisher aus. Nach der Abstimmung werden wir sehen, wie ernst es den Reitschülern diesmal ist."

 Die erste Nagelprobe stehe mit der Antifa-Demo vom 2. Oktober bevor. Zwar wird dieser Umzug nicht von der Reitschule, sondern vom Bündnis Alle gegen rechts organisiert. "Doch die ruhigen letzten Jahre haben gezeigt, dass die Reitschüler durchaus Einfluss auf die radikalen Gruppen in ihrem Umfeld haben", sagt Müller. Er traut den Betreibern durchaus zu, dass sie endlich Erwachsen werden und ihre Versprechen einhalten. "Ich wäre aber auch nicht überrascht, wenns wieder anders kommt."

Tobias Habegger

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Bund 9.9.10

Leserbrief "Die Reitschule sollte erwachsen werden", "Bund" vom 4. September

 Es gibt wichtigere Probleme als die Mediengruppe

 Als ehrenamtlich arbeitendes und unter anderem auf Medienanfragen antwortendes 8-köpfiges Kollektiv müssen wir leider unsere Brötchen mit Jobs jenseits der Medienwelt verdienen. Und da kann es selten mal geschehen, dass nicht wie üblich innert weniger Stunden eine Antwort kommt, sondern dass halt gerade niemand verfügbar für Medienantworten ist, weil der/die Monatsverantwortliche und alle anderen gerade mit Job und/oder Ausbildung beschäftigt sind.

 Mal ehrlich: Gäbe es nicht dringendere Themen in dieser Stadt als die Reitschule und deren Mediengruppe? Beispielsweise (Jugend-)Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Sozialabbau, die immer grösser werdende Ausgrenzung von nicht ins "Schema" passenden Menschen, der Verlust von Freiräumen durch den obrigkeitlichen Kontroll- und Verreglementierungswahn, die unter den Teppich gekehrten gesundheitspolitisch und menschlich katastrophalen Folgen der repressiven Drogen- und Vertreibungspolitik oder die verzweifelte Situation von illegalisierten Migrant(innen)?

 Leider beobachte ich in den letzten Jahren die zunehmende Tendenz von vielen Parteipolitiker(innen) und teilweise auch von Medienschaffenden, anstatt "erwachsen" konstruktive und realistische Lösungen für diese Probleme zu erarbeiten, lieber möglichst viele reisserische Schlagzeilen und populistischen Klamauk anzustreben. Zum Beispiel mit abstrusen Forderungen gegenüber der Reitschule, die in den letzten Monaten und Jahren nicht nur von SVP-Seite zu hören waren.

 Als "Bund"-Leser und Medien-Kollege empfehle ich der "Bund"-Lokalredaktions-Chefetage, aber auch Parteipolitiker(innen), dringend mehr "Herzeli" zu zeigen - für die wirklich wichtigen Probleme in dieser Stadt, aber auch für die Reitschule und deren Mediengruppe. Denn auch "Bund"-Redaktionsleiter(innen) und Parteipolitiker(innen) tragen dazu bei, dass sie infrage gestellt werden.

 Tom Locher Mitglied Mediengruppe Reitschule Bern

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DAS ORIGINAL:

Leserbrief
zum Bund-Leitartikel vom 4.9.10, "Die Reitschule sollte erwachsen werden" von Bernhard Ott

Lieber Kollege.

Es ist schön, dass auch die gut verdienenden und professionell arbeitenden KollegInnen vom "Bund" die Arbeit der Mediengruppe der Reitschule wahrnehmen. Allerdings ist es ein bisschen verwirrend, wenn mensch am Donnerstag von der Bund-Lokalredaktions-Basis Komplimente für die schnelle und effiziente Arbeit ausgerichtet bekommt, aber am Samstag drauf vom Bund-Lokalredaktions-Chef als "unprofessionell" und "miserabel" kommunizierend medial in die Pfanne gehauen wird. Als ehrenamtlich arbeitendes und unter anderem auf Medienanfragen antwortendes 8-köpfiges Kollektiv müssen wir leider unsere Brötchen (und auch das teuere Bund-Abo) mit Jobs jenseits der Medienwelt verdienen. Und da kann es selten mal geschehen, dass nicht wie üblich innert weniger Stunden eine Antwort kommt, sondern dass halt gerade niemand verfügbar für Medienantworten ist, weil der/die Monatsverantwortliche und alle anderen gerade mit Job und/oder Ausbildung beschäftigt sind. Oder dass niemand Lust hat, auf jede Sommerloch-"Hafechäs"-Anfrage sofort zu antworten.

Mal ehrlich, lieber "Chollege": Gäbe es nicht dringendere Themen in dieser Stadt als die Reitschule und deren Mediengruppe? Z.B. (Jugend)-Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Sozialabbau, die immer grösser werdende Ausgrenzung von nicht ins "Schema" passenden Menschen, der Verlust von Freiräumen durch den obrigkeitlichen Kontroll- und Verreglementierungswahn, die unter den Teppich gekehrten gesundheitspolitisch und menschlich katastrophalen Folgen der repressiven Drogen- und Vertreibungspolitik oder die verzweifelte Situation von illegalisierten MigrantInnen?

Leider beobachte ich in den letzten Jahren die zunehmende Tendenz von vielen Partei-PolitkerInnen und z.T. auch von Medienschaffenden, anstatt "erwachsen" konstruktive und realistische Lösungen für diese Probleme zu erarbeiten, lieber möglichst viele reisserische Schlagzeilen und populistischen Klaumauk anzustreben. Zum Beispiel mit abstrusen Forderungen gegenüber der Reitschule, die in den letzten Monaten und Jahren nicht nur von SVP-Seite zu hören waren.

Als Bund-Leser und Medien-Kollege empfehle ich der Bund-Lokalredaktions-Chefetage, aber auch Partei-PolitikerInnen dringend mehr "Herzeli" zu zeigen - für die wirklich wichtigen Probleme in dieser Stadt, aber auch für die Reitschule und deren Mediengruppe. Denn auch Bund-RedaktionsleiterInnen und Partei-PolitikerInnen tragen dazu bei, dass sie infrage gestellt werden.

Tom Locher
Mitglied Mediengruppe Reitschule Bern

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BEWEGUNGSMELDER BIETET MEHR
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bewegungsmelder.ch Sept 2010
http://www.bewegungsmelder.ch/files/pdf/bm142_be_web.pdf

Nackte Tatsachen

Nach 1990, 2000 und 2005 stimmen wir Berner am 26. September wieder über die Zukunft der Reitschule ab. Man weiss langsam nicht mehr, ob man weinen oder lachen soll. Darum zeigen wir in diesem Monat auf unserem Cover nackte Tatsachen. Auf die Gefahr hin, dass sich das Spiessbürgertum auch daran empört! Egal, denn wir sind alle ein wenig Müslüm: "Wir sind cheine Drögeler, Erich, warum sagsch du das? Wir sind für de Liebä und gegä de Fremdenhass." Darum stimmen wir NEIN. Denn das Berner Kulturleben wäre ohne Reitschule nackt und unser Magazin im übrigen auch. Bern ist nicht nur, aber auch Reitschule. Also, auf an die Urne am 26. September, die Reitschule bietet mehr! Nachzulesen in dieser Ausgabe.

P. S. Noch etwas in eigener Sache: nach über zwei Jahren, mehr als die Hälfte davon als Chefredaktorin, verlässt uns die liebe dim [Deborah Imhof] Richtung Zürich. Es ist zu erwarten, dass sie auch Downtown Switzerland im Sturm erobern wird. Vielen lieben Dank für dein Herzblut, Einsatz und abertausende von Wörtern und Buchstaben, die du für den bewegungsmelder niedergeschrieben hast! Es war eine tolle Zeit mit dir! Und herzlich willkommen blo [Pablo Sulzer]! Wir wünschen einen guten Start, Nerven aus Stahl und viel Spass als neuer Chefredaktor. [maw]

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unterwegs mit david böhner

Unser Melder empfängt diesmal starke Bewegungssignale aus der Reitschule. Brennt's? David Böhner lädt uns ein, erzählt uns über seine 20Jahre Reitschule und zeigt, wer sich alles für ein Nein an der nächsten Abstimmung zusammengefunden hat.


Unterwegs in der Reitschule, für den bewegungsmelder alles andere als Aussergewöhnlich. Doch irgendwie sind dies keine normalen Umstände, denn die in diesem September kommende Abstimmung beeinflusst die Atmosphäre. Unser Besuch der Berner Reitschule wird ein Besuch ins Zentrum der aktuellen Diskussion, über die Nichtig- oder Wichtigkeit dieses Kulturhauses. Hinein in den Hof.

Vorbereitung auf einen bewegten Winter

Im Hof treffen wir David Böhner, der vor allem in der Druckerei der Reitschule zu Hause ist. Seit bereits 20 Jahren trifft man ihn im Kulturzentrum fast täglich an, seine Erlebnisse und Erfahrungen hier fliessen unvermeidbar in unser Gespräch mit ein. "Die Druckerei hat sich langsam entwickelt, so eins nach dem anderen". Gearbeitet wird auch heute, es riecht nach Tinte und überall hängen Plakate, die auch ein Teil der Reitschulgeschichte erzählen. Von digitalem Druck über Siebdruck ist einiges machbar, die interne Zeitung 'megafon' wird zum Beispiel hier produziert. "Trotzdem sind die Möglichkeiten zum Teil begrenzt, doch die Freiheiten des Jobs kompensieren viel." Seinen Arbeitsplatz würde er gegen keinen anderen eintauschen wollen, auch wenn vergleichsweise weniger Geld in sein Portemonnaie fliesst.

Zurück im Hof bemerkt man vor allem eins: An allen Ecken wird renoviert. Es scheint, als ob man sich auf einen bewegten und intensiven Winter vorbereiten würde. "Es ist nicht so aussergewöhnlich, dass im Sommer überall umgebaut wird. Diesmal vielleicht etwas mehr." Durch den Hof gelangen wir in einen etwas grösseren Raum, dem Kino. Mittlerweile sind fast alle alte Sofas durch neue Kinosessel ersetzt worden. Manch einer wird dabei wehmütig: "Schade, dass die Sofas immer mehr verdrängt wurden. Es bleiben nur noch ein paar wenige in den vordersten Reihen", trauert David der Änderung nach, "aber auch sonst ist dieser Raum einer der schönsten der Reithalle". Die grosse schwere Türe, die Beleuchtung, wahrlich ein besonderer Kinosaal.

"Wände raus, Wände rein, das gehört zur Reitschule"

Geduldig führt er uns durch weitere Räume. Wie bei einem Postenlauf erreichen wir als drittes Ziel die Bibliothek namens Infoladen, nehmen darauf die Treppen hoch und gucken plötzlich in die innersten und sonst nicht öffentlichen Räume der Reitschule. Verschiedene Arbeitsgruppen haben im oberen Teil ihre Büros und Zimmer eingerichtet. An PCs und Pulten wird besprochen und geplant, in einem Nebenzimmer entsteht der riesige Spielplan für das am Abend stattfindende Pingpong-Turnier. An all dem vorbei geht es ein Stock weiter nach oben und David läuft voraus. Auf unsere Frage, ob dies hier auch renoviert wird oder worden sei, antwortet er besonnen: "Hier ändert sich immer ein wenig was. Wände raus, Wände rein, das gehört zur Reitschule". Das destruk- und kreative Element ist eindeutig spürbar.

"Seit 20 Jahren wohne ich nun in Bern. Als ich damals hierher kam, habe ich mich in ein paar Arbeitsgruppen betätigt." Im Infoladen sei er zuerst gewesen, bevor er dann in die Druckerei kam. Jede AG könne zwar sehr autonom handeln, doch der Verein IKuR bilde die Verbindung zwischen allen. "Natürlich gibt es ab und zu Reibereien zwischen den Einzelnen, doch im Ganzen hat es jetzt nun seit mehr als 20 Jahren funktioniert." Man merkt, dass ihm dieses System wichtig und er überzeugt davon ist, dass die Reitschule so gut bestehe, gerade weil sie auf diese Weise funktioniert.

"Erich, warum bisch du nid ehrlich?"

David verabschiedet sich, wir danken und warten im Hof auf den Abend. Der steht gänzlich im Zeichen der CD-Veröffentlichung 'Reitschule beatet mehr'. Eine Musik-CD zur Abstimmung, die erste CD-Release in der Geschichte der Reitschule überhaupt. "Nach zahlreichen Abstimmungen in der Vergangenheit werden wir ein wenig routinierter. Die Zustimmung in der Bevölkerung hat aber auch zugenommen." Bei den Kulturschaffenden ist sie eindeutig vorhanden. Die Platte ist deswegen auch gespickt mit exklusiven Tracks von bekannten Künstlern wie Patent Ochsner, Sophie Hunger, Baze oder auch Komiker Müslüm. Letzterer feierte, am selben Abend und unter tosendem Applaus, die Videopremiere seines Songs 'Erich, warum bisch du nid ehrlich'. Spätestens jetzt wird erkenntlich, welche Umstände dieses Unterwegs zu einem speziellerem Unterwegs machen. Sogar Kuno Lauener gibt sich die Ehre und erzählt auf dem Podium neben Breitschmeitschi Steff La Cheffe von seiner Verbundenheit zur Reitschule und wieso es sie unbedingt braucht: 'Die Zeit um 1987, als die Reitschule besetzt wurde, war für uns als Band aber auch persönlich eine sehr intensive Zeit. Ob's die Reitschule braucht, da besteht keine Frage'

Alle Jahre wieder und doch ist es diesmal keine Wiederholung mehr. Die Zustimmung für die Reitschule, mit ihrem reichhaltigen und stets gewachsenem Kulturangebot, scheint seit der letzten Abstimmung gestiegen zu sein, ja vielmehr könnte die Diskussion im Vergleich zu 2005 als unnötiger denn je angesehen werden. Die erfolgreiche Entschärfung der Vorplatz-Problematik, die bessere und intensivere Zusammenarbeit mit der Stadt sowie das Ausbleiben von Kravallen über längere Zeit scheinen der Berner Stadtbevölkerung Beleg genug zu sein. Die seit 2005 geleistete Arbeit trägt Früchte und überzeugt grossflächig. Diese Anerkennung könnte am 26. September mit einem klaren Nein und einem Overall-Score von 5:0 gewonnen Abstimmung münden. Vor allem würde ein Nein zur Initiative den Gegner verdeutlichen, wie wichtig den Bernern ihre Reitschule im Jahre 2010 geworden ist.
[text by: Pablo Sulzer / september 2010]

sa 18.09. ab 16h grossen halle, tojo, frauenraum, sous le pont, dachstock

http://www.reitschulebietetmehr.ch
http://www.reitschule.ch
http://www.endorphinentertainment.ch

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The Grumbler

schwarzmaler vs. schwarzwasser

Nein, nein, auch wenn sich meine beiden Lieblingsfeindbilder Thommy F. und Erich H. wieder mal exemplarisch doof aufführen, nein, ich haue sie an dieser Stelle nicht erneut in die Pfanne. Aber es ist schon frappant, wie Grossrat Fuchs wegen des Müslüm-Songs reflexartig die juristische Keule schwingt, umgekehrt aber in Einklang mit dem Übervater aus Herrliberg immer die Selbstverantwortung des Bürgers predigt.

Henu, wenden wir uns nun den profanen Dingen des Lebens zu, weg von den politischen Irrungen und Wirrungen. Stimuliert von einem frühmorgendlichen Swiss-View-TV-Flug entlang des 16,2 Kilometer langen Schwarzwasserlaufes - zieht euch Swiss View regelmässig rein, das hat was Meditatives, echt, und man lernt erst noch die schönsten Flecken unseres Landes kennen -, packte ich an einem August-Samstag die ganze Familie in den Charen. Auf gings zum Cervelat-Bräteln und Glunggen-Bade in der Schwarzwasser. Es war schlicht ein Hit: Bier dank eines improvisierten Wehrs im nahen Nass gekühlt, Holz pfadimässig eingesammelt, Feuerchen gezündet mit Glückspost-Papierfetzen, die Schweizer Nationalwurst von den immer rareren brasilianischen Rinderdärmen befreit und an den Enden kreuzweise eingeschnitten, Chips-Packung geöffnet etc., und dazwischen immer noch rasch einen Gump in das klare, leicht schwefelige Wasser gemacht.

Zum Schluss begingen wir dann noch Hochverrat und hüpften von der Schwarzwasser für eine Stippvisite in die Sense rüber. Und tatsächlich, die trumpfte mit mindestens zwei Grad wärmerem Wasser auf (geschätzte 18,6 Grad). Aber wetten, das kommt daher, dass die Friburger einfach viel unschinierter in "ihren" Bach pissen. Darum würde ich eh nur die Bachforellen aus der Schwarzwasser (Tipp für maw!) verspeisen.
Leute, dieses Canyon-Erlebnis könnt ihr etwa 25 S-Bahn-Minuten von Bern entfernt geniessen. Marzili & Co. sind ein müder Furz dagegen. Ach ja, das ist noch wichtig: Tewa's an den Füssen sind ein Must, wenn man sich mit einigermassen Grazie über die vielen kleineren und grösseren Chempen fortbewegen möchte.

PS. Noch rasch zu Thommy F. zurück, ich konnte nämlich in der Zwischenzeit ein Rätsel lösen, das auch schon Stoff für diese Zeilen bot: Das F. steht also für "Füdu" - ein Schlimmer, der jetzt Schlüpfriges denkt…
[text by: the grumbler / september 2010]

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bärn, machet lärm für d'riitschueu !

>abstimmungsfest reitschule

Wieso verdammt noch mal muss alle paar Jahre wieder über den gleichen Brei gestusst werden? Wieso kommen von den Gegner so hirnspinstige Behauptungen, die Reitschule sei von Terroristen besetzt, ein einziger Drogenumschlagsort oder auch sonst Chaos pur? Muss diese Diskussion wirklich immer und immer wieder (nun bereits zum 4. Mal) geführt werden? Ach egal. Dass die Reitschule Bern mittlerweile auf dem Vorplatz für mehr Ordnung gesorgt und erfolgreich umfunktioniert hat, die eigenen, inneren Institutionen und Gruppen wie Theater, Kino und andere stets neu organisiert und aufgeräumt hat, ist längst Tatsache. So sollte doch bei der nächsten Abstimmung die Masse mit einem gewaltigen Stimmenplus die Reitschule als ein Kulturplatz Bern anerkennen können. Das dem auch wirklich so wird, dafür wollen diverse Künstler am riesigen und an diesem Wochenende unumgehbaren Fest sorgen. Rap, Rock, Electro und was auch sonst immer. Baze, Tomazobi, Müslum & The Funky Boys, Steffe La Cheffe, Churchhill, The Monsters, Mani Porno, Copy & Paste feat. Bubi Rufener, DJ DannyRamone und Kutti MC. Alle werden anwesend sein. Zeigen für was dieser Kulturplatz steht und ihr Zeichen für die Reitschule setzen. Ein ziemlich klares Zeichen. Oder?
[text by: Pablo Sulzer / september 2010]

sa 18.09. ab 16h grossen halle, tojo, frauenraum, sous le pont, dachstock

http://www.reitschule.ch

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PHILIPPE MÜLLER BIETET MEHR?
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Bund 9.9.10

Philippe Müller Der abtretende FDP-Fraktionschef im Stadtrat sieht sein zehnjähriges Wirken als Kampf gegen die Arroganz der Macht.

 Der Abgang des Störenfrieds

Bernhard Ott

 Philippe Müller hat sich für seinen Abgang einen Knalleffekt ausgedacht: Der Stadtrat diene mehr und mehr als "Akklamationsorgan" für die "eigenmächtige Politik" des Gemeinderates, schreibt er in einem Antrag, den er heute Abend an seiner letzten Stadtratssitzung einreichen wird ("Bund" von gestern). Das Parlament müsse Massnahmen ergreifen, um sich den verlorenen Spielraum wieder zurückzuerobern. Die in der Gemeindeordnung (GO) festgelegten Kompetenzen der Stadtregierung müssten "zurückgefahren" werden, hält Müller fest.

 Der Frontalangriff auf die Macht der Exekutive gründet in einem tief sitzenden Misstrauen. Das Sozialwesen sei eigentlich nicht sein Thema gewesen, sagt der 47-jährige Direktor des global tätigen Medizinalunternehmens CSL Behring. Hellhörig geworden sei er aber durch die "arrogante Art", wie die Stadtberner Sozialdirektion von Edith Olibet (SP) mit seinen ersten Vorstössen zu den Mängeln im Kontrollwesen der Sozialhilfe umgegangen sei. Auf die einfachsten Fragen hin habe man ihn "mit Zahlen zugemüllt", die alles Mögliche belegt hätten - aber keine Antwort auf die gestellten Fragen gewesen seien. So habe er erst beim vierten Nachhaken eine konkrete Antwort auf die Frage nach den Kosten für die Massnahmen zur beruflichen Integration von Sozialhilfebezügern erhalten. Die Debatte um den Missbrauch in der Sozialhilfe hat Müllers Ruf als inoffizieller "Oppositionsführer" in der Stadtberner Politik begründet. Rückblickend kann er sich durch den Gang der Ereignisse bestätigt fühlen. In der Stadt Bern sind heute Sozialinspektoren tätig. Zudem wird die Sozialbehörde als Kontrollorgan der Verwaltung nicht mehr durch Gemeinderätin Olibet, sondern durch eine paritätisch zusammengesetzte Kommission bestellt.

 Den Verdacht der Profilierungssucht stellt der stets apart gekleidete Müller in Abrede. "Mich stört einfach, wenn etwas nicht in Ordnung ist." Auf das Parteibuch nehme er dabei keine Rücksicht. Auch Parteikollegin und Finanzdirektorin Barbara Hayoz sei gegen das "magistrale Gehabe" im Gemeinderat nicht immun. Er finde es daneben, wenn Hayoz die Budgetdebatte von nächster Woche schwänze, um an den Jubiläumsfeierlichkeiten in New Bern teilzunehmen. Aber auch bürgerliche Politikerinnen und Politiker würden Opfer einer "Gehirnwäsche", sobald sie in den Gemeinderat einträten. Dieses Phänomen hat Müller auch beim einstigen FDP-Gemeinderat Stephan Hügli und bei Reto Nause (CVP) beobachtet. Beide hätten sich als Gemeinderäte von der Initiative zur Erhöhung der Polizeipräsenz distanziert, obwohl sie diese als Parlamentarier noch unterstützt hätten. Der einstige Gemeinderat Kurt Wasserfallen (FDP) habe gezeigt, dass man das Kollegialitätsprinzip nicht derart streng auslegen müsse. Im Fall von Nause sei das Schwanken aber ein Stück weit erklärbar, da die CVP seit jeher eine Partei der Windfahnen gewesen sei.

 Dass dieser Vorwurf gelegentlich auch die FDP Stadt Bern trifft, findet Müller ungerechtfertigt. Die Annahme der Anti-Reitschule-Initiative durch die Parteibasis sei zu akzeptieren, obwohl die Partei das letzte Volksbegehren ähnlichen Charakters noch abgelehnt habe. "Ich persönlich lehne die Initiative ab." Entgegen seinem Ruf sei er nämlich "gesellschaftspolitisch liberal" und habe sich längere Zeit für die Liberalisierung des Cannabiskonsums eingesetzt. Wer nun künftig gegen die Arroganz der Macht im Gemeinderat wettern wird, lässt Müller offen. Vielleicht ist das ja aber auch gar nicht mehr so dringend nötig. Denn die Politik des Gemeinderates ist offenbar nicht mehr ganz so arrogant, wie dies von Müller in seinem letzten Antrag angeprangert wird. "Heute würde sich ja sogar der Gemeinderat gegen Sprayereien bei Kindergärten und Schulhäusern einsetzen", sagt Müller unter Anspielung auf einen seiner zahlreichen Vorstösse.

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RABE-INFO
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Do. 9. September 2010
http://www.rabe.ch/uploads/tx_mcpodcast/RaBe-_Info_9._September_2010.mp3
http://www.rabe.ch/nc/webplayer.html?song_url=uploads/tx_mcpodcast/RaBe-_Info_9._September_2010.mp3&song_title=RaBe-%20Info%209.%20September%202010
- Zäme läbe - Zäme stimme: Pro und Contra zur Abstimmung über das Ausländerstimmrecht
- Aus Wut wird Kunst: Morgen wird die Biennale Bern eröffnet
- Megafon: Zeitschrift der Reitschule

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BIENNALE
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BZ 9.9.10

Festival Biennale Bern

 Schlag den Schurken

 Eine Woche im Zeichen des Zorns: Morgen beginnt die Biennale Bern - mit einem ambitiösen Programm, das von Musik, Tanz, Theater und Film bis zu bildender Kunst reicht.

 Es gibt viele Gründe, wütend zu werden. Zum Beispiel wenn ein Festival so üppig daherkommt, dass man glatt den Überblick verliert. Die jüngste Ausgabe der Biennale Bern (10. bis 18. September) widmet sich dem "ausserordentlichen Gefühl namens Wut" - und präsentiert an achtzehn Spielorten nicht weniger als drei Dutzend Veranstaltungen mit mehr oder weniger deutlichem Bezug zum Festivalthema.

 Umso verdienstvoller mutet es an, dass dem Publikum die Möglichkeit geboten wird, allfälligen Zorn gleich vor Ort abzulassen - oder künstlerisch zu sublimieren. Zum Beispiel bei der "Anger Release Maschine" im Stadttheater, das in den nächsten Tagen zum "Zentrum des Zorns" wird. Die "interaktive Skulptur" des Künstlerduos Yarisal & Kublitz funktioniert wie ein Selecta-Automat. Statt Snacks und Getränken enthält die wunderliche Wutmaschine allerhand Kitsch aus Glas und Porzellan, der förmlich danach schreit, zerschlagen zu werden. Letzteres lässt sich mittels Einwurf von Kleingeld bewerkstelligen.

 "Angry Coach" im Museum

 Sollte dies nicht genügen, ist ein Gang ins Kunstmuseum angezeigt, wo ein "Angry Coach" auf Kundschaft wartet. Unter seiner Anleitung können sich zornige Zeitgenossen an den vom südafrikanischen Künstler Kendell Geers entworfenen Fussbällen austoben, die mit Latexmasken von berühmt-berüchtigten Herrschern versehen sind.

 Schweizer Erstaufführung

 Wenn das nichts bringt, hilft nur noch der Gang an die frische Luft: Ein Stadtrundgang führt täglich zu Berner "Orten der Wut". Etwa zum Münster, wo Bilderstürmer während der Reformation ihre Spuren der Wut hinterliessen, oder zum Meret-Oppenheim-Brunnen, der in der Bundesstadt lange für hitzige Diskussionen sorgte.

 Zum Auftakt des Festivals morgen Abend geht im Stadttheater die erste Opernpremiere der Saison über die Bühne: "Wut" des Tessiner Komponisten Andrea Lorenzo Scartazzini basiert auf einer verbürgten Tragödie im Portugal des 14. Jahrhunderts und erzählt von der unglücklichen Liebe eines Prinzen, die am mörderischen Veto seines Vaters scheitert. Im Anschluss an die Premiere erhalten die Besucher im Stadttheaterfoyer die Gelegenheit, von den "härtesten Songs der Rockgeschichte", dargebracht von Sänger und Schauspieler Thomas U. Hostettler, zugedröhnt zu werden. Was will man mehr?
 mei

 Festival Biennale Bern: 10.-18. September, an zahlreichen Spielorten in der Stadt Bern. Weitere Infos und detailliertes Programm unter: http://www.biennale-bern.ch.

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Bund 9.9.10

Sounds "Promenade à travers une oeuvre"

 Ein Gang durch einen Gang

 Die Biennale Bern erobert immer neue Kulturstätten - aber auch Orte wie die Lorrainebrücke, deren Inneres Schauplatz einer szenischen Installation ist.

 Regula Fuchs

 Auf einer Brücke stehen, das geht. Unter einer Brücke auch. Aber in einer Brücke? Auch das ist möglich, wie eine szenische Klanginstallation an der diesjährigen Biennale beweist, die das Publikum in die Eingeweide der Berner Lorrainebrücke führt. Gruppen von 25 Personen werden ab nächsten Mittwoch die paar Treppenstufen rechts von der Brücke herabgeleitet - so wie die Schreibende, die zusammen mit dem Bieler Komponisten Jonas Kocher schon vor der Premiere eine Besichtigungstour dieses unorthodoxen Bühnenterrains unternimmt.

 Ein verschrobenes Genie

 Eben noch wuselte das Volk von der Drogenabgabestelle herum, und eben noch brüllte der Verkehr; kaum aber hat sich die etwas versteckte Metalltüre hinter einem geschlossen - Stille. Nur ein dumpfes Rumpeln ist in dem bunkerartigen Vorraum zu hören, wenn oben auf der Strasse ein Bus oder ein Lastwagen auf die Brücke fährt.

 Hier erzählt der 33-jährige Jonas Kocher, der sich die Klang-Performance "Promenade à travers une œuvre" ausgedacht hat, von Alexander Grothendieck, dem genialen und verschrobenen Mathematiker, dem die Installation gewidmet ist. Der 1928 in Berlin geborene Grothendieck ist in den Sechzigerjahren ein Star der Mathematik und auf dem Gebiet der Algebraischen Geometrie die unbestrittene Autorität, mit Preisen überhäuft. Doch dann kommt der Bruch in Grothendiecks Leben: Beeinflusst von der 68er-Revolution wendet er sich von der mathematischen Forschung ab, die ihm weltfern erscheint, und beschäftigt sich mit Ökologie, Philosophie und Religion. Seit den 70er-Jahren verfasst Grothendieck "Meditationen", die Tausende Seiten füllen und grösstenteils unpubliziert bleiben. 1991 verschanzt er sich in seinem Haus in Südfrankreich und bricht alle Kontakte zur Aussenwelt ab.

 Es ist weniger der kauzige Sonderling, der Kocher fasziniert, sondern die vielschichtige Persönlichkeit Grothendiecks: "Einerseits agierte er ganz radikal, vertrat seine Meinungen mit einer grossen Konsequenz. Andererseits offenbart sich in den metaphysischen Schriften eine ganz fragile, träumerische Person." Ein Plätschern unterbricht ihn - draussen vor der Tür erleichtert sich jemand. Auch das gehört zu den Arbeitsbedingungen an diesem für Kulturschaffende ungewohnten Ort.

 Kocher öffnet eine Tür, und hinein geht es in den Bauch der Brücke - oder besser vielleicht, in ihre Wirbelsäule. Dicke Kabel ruhen schwer auf Metallleisten, ein langer Gang öffnet sich, nur gerade mannshoch, aber auch nicht bedrohlich eng. Kocher beschreibt seine erste Begegnung mit diesem Raum so: "Die Atmosphäre in der Brücke ist anfangs ziemlich beklemmend. Nach einer Minute hat man aber vergessen, dass man in einer Brücke ist, und der Raum beginnt zu leben." Ein Schauspieler wird das Publikum durch die Brücke führen, dazu kommen ein Saxofonist, elektronische Musik, Videos, Licht. Rechts und links öffnen sich Luken, die bespielt werden, und unten vergitterte Schächte. Einen Ausweg gibt es nicht, man schreitet entweder voran oder zurück - Grothendiecks kompromissloses Leben wird auf diese Weise körperlich erfahrbar. Was Kocher auch in der Musik hörbar macht: "Die Musik ist zum Teil nicht angenehm. Grothendieck ist auch nicht nur angenehm. Er hat in seiner Radikalität auch etwas Verstörendes."

 Die Töne der Brücke

 "Wuschschsch!" - von Zeit zu Zeit zischt ein Geräusch vorbei, das schwer zu verorten ist und von einem Ohr zum anderen zu sausen scheint. Wir halten inne. Auch in der Installation wird der Text, werden die zitierten Stellen aus den Schriften Grothendiecks mit der Zeit immer weniger Raum einnehmen. Dafür lenkt Kocher die Aufmerksamkeit auf die Musik - und auf die Geräusche der Brücke selber.

 Kocher, der in Bern an der Hochschule der Künste studiert hat und kompositorisch viel mit Improvisationen arbeitet, konzipiert seine Werke stets vernetzt: Da kommt nicht erst die Musik und dann das Szenische, da werden alle Ausdrucksmittel gleichzeitig ausprobiert. In "Promenade à travers une œuvre" soll das Publikum mittels Text, Klang und Rhythmus in erster Linie fürs Hinhören sensibilisiert werden, auch für die Klänge der Brücke: "Ich möchte die Aufmerksamkeit fürs Hören schärfen", so Kocher, "und die Leute in mein Hören miteinbeziehen."

 Einer, der aller Wahrscheinlichkeit nach nichts von alledem erfahren wird, ist Alexander Grothendieck selber. Kontaktiert hat ihn Kocher jedenfalls nicht: "Ich weiss nicht, ob er die Performance erlaubt hätte. Es kann sein, dass er verboten hätte, dass wir ein Stück über ihn machen. Aber ich habe auch nicht den Anspruch, den wahren Grothendieck zu zeigen. Sondern ‹meinen› Grothendieck."

 Der Lärm hat einen wieder

 Immer wieder öffnet sich eine neue Türe und gibt ein weiteres Stück des Ganges frei. Wie weit wir gegangen sind, lässt sich kaum abschätzen, das Gefühl für Distanzen verflüchtigt sich in diesem fensterlosen Raum. Und so kommt es fast überraschend, dass wir irgendwann wieder im Freien stehen. An der Luft, im Licht - und im Lärm.

 Lorrainebrücke Treffpunkt: Ecke Hodlerstrasse/Lorrainebrücke. Mittwoch, 15. September, 18 und 20 Uhr. Weitere Aufführungen: 16. und 18. September, Platzzahl beschränkt, Sprache: Französisch.

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WoZ 9.9.10

Wut in Bern

 Seit dreissig Jahren hat Bern für alle Rechtsdrehenden ein "Wut-Zentrum": die Reitschule. Ende Monat steht deren Zukunft an der Urne wieder einmal zur Diskussion. Passend dazu im Vorfeld ist das Thema "Wut" der Biennale Bern. Ein breit gefächertes Programm ist an verschiedenen Spielorten innerhalb der Aareschlaufe angesiedelt, dazu werden Aussenstationen eingebunden.

 Jugendliche und SchauspielerInnen unter der Leitung von Katharina Vischer haben zum Thema recherchiert und für das Schlachthaustheater das ortsspezifische Stück "Explodierende Innereien" erarbeitet. Weiter wird der Stadtrundgang "Orte der Wut" angeboten. Die Gruppe Agent provocateur hat zwischen 2005 und 2008 mit diversen Aktionen auf schweizerische Reizthemen hingewiesen. Einige Kurzfilme zeigen ihre pointiertesten Aktionen.

 Andere Produktionen setzen sich mit dem Terror hinter verschlossenen Haustüren auseinander. Die Choreografin Simone Aughterlony und der Filmemacher Jorge León nutzen dazu Performance, Theater und Film. Im Bühnenstück "Deserve" werden Berichte von Hausmädchen analytischen Diskursen gegenübergestellt, und der Film "Vous êtes servis" zeigt eine indonesische Haushälterinnenschule, die junge Mädchen auf ihre dienende Zukunft hin drillt.

 Für die "Concorde Sonata" hat der US-amerikanische Komponist Charles Ives (1874-1954) das Leben der Trans­zendentalisten Ralph Waldo Emerson, Nathaniel Hawthorne, Bronson Alcott und Henry David Thoreau, die sich alle zwischen 1840 und 1860 in Concorde (Massachusetts) aufhielten, als Inspirationsquelle genutzt. In den nach ihnen benannten Sätzen arbeitet Ives ihre Individualität heraus. Mit dem sze nischen Konzert "Walden" nimmt der Komponist Heiner Goebbels ein Thema von Thoreau auf. Dieser Ansatz wird von Jugendlichen in "Abwalden - Ein Tonstörprojekt" weitergesponnen. Sie beschäftigen sich mit dem Rückzug aus der Gesellschaft, der auch als Ausdruck unterdrückter Wut gelesen werden kann. ibo

 Biennale Bern 2010 in: Bern Dampfzentrale, Progr, Reitschule, Schlachthaus Theater, Stadttheater (Festivalzentrum "Bar Rage") und andere Orte, Fr, 10., bis Sa, 18. September. www.biennale-bern.ch

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 bewegungsmelder.ch Sept 2010

wut bricht aus
>biennale

Eine Woche lang verbünden sich kleine und grosse Kulturorganisationen aus Bern, um gemeinsam zu wüten. Neben täglich stattfindenden Veranstaltungen gibts auch solche, die einmalig sind, wie die Konzerte von Steff la Cheffe und Greis. Aber auch Opern, Theater, Führungen, Filme und Kinderprogramme werden geboten. Für jedermann und jedefrau ist etwas mit dabei, denn das Programm umfasst alle Kunstsparten. Gemeinsam haben sie eines: Sie setzen sich mit Gefühlsausbrüchen auseinander. Wer will darf an den Publikumsbeschimpfungen teilnehmen und sich mit allerlei Unfreundlichem betiteln lassen oder Geschirr zertrümmern. Die, die an blutrünstigem Gefallen finden, sehen sich die Premiere der Oper 'Wut' an und wer Grünzeugs mag, lässt sich im botanischen Garten auf die Palme bringen. Endlich ein Anlass, an welchem öffentlich auf den Tisch gehauen und danach höflich applaudiert wird. Wut wird nie so langweilig sein wie Diplomatie.
[text by: Sophie Reinhardt / september 2010]

fr 10. - sa 18.09. diverse locations bern

http://www.biennale-bern.ch

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BIBLIOTHEK DES WIDERSTANDS
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WoZ 9.9.10

"Bibliothek des Widerstands"-Seit Frühjahr publiziert der Laika-Verlag eine Serie von Büchern und Filmen über linke Widerstandsbewegungen ab den sechziger Jahren. Ein grandioses Unterfangen.

 Projekt Gedächtnis

 Von Pit Wuhrer

 Der Globus-Krawall im Sommer 1968 - wer erinnert sich noch daran? Wer weiss noch, was damals geschah, als Lehrlinge und StudentInnen durch Zürichs Strassen zogen, das Renditedenken der kapitalistischen Konsumgesellschaft anprangerten und ein autonomes Jugendzentrum forderten? Wie Stadtrat, Polizei und Justiz auf die Proteste reagierten, wie die Medien von NZZ über "Blick" bis zum Schweizer Fernsehen den Aufruhr kommentierten und Informationen unterschlugen? Und welch kluge Worte der Schriftsteller Walter M. Diggelmann an einer Vollversammlung im Volkshaus fand, als er davor warnte, sich von den jungen SteinewerferInnen zu distanzieren?

 Vergessen und vorbei. Und doch nicht ganz. Denn der Hamburger Laika-Verlag hat zu den Krawallen kürzlich ein Buch und eine DVD publiziert. Im Textteil der Dokumentation erzählt Wolfgang Bortlik, wie er als junger Zugereister die Schweiz erlebte, welche Stimmung herrschte, als Jimi Hendrix nach Zürich kam, wie die Polizei nach dem Konzert das Publikum vermöbelte und sich danach der seit langem schwelende Unmut über die spiessbürgerlichen Verhältnisse Luft verschaffte. Oliviero Pettenati schreibt, wie sich die globale Revolte von 1968 auf die Schweiz auswirkte, Roland Gretler erinnert sich an die Demonstrationen und den Kampf für ein AJZ, und der Rockmusiker und Freejazzer Mani Neumeier erläutert in einem Interview, welche befreiende Wirkung die Revolte hatte: "Wir dachten: Jetzt verändern wir alles, jetzt haben wir es gepackt."

 Geschichte von links

 Die eindrücklichen Beiträge würden schon einem reinen Textbuch gut anstehen, doch die Dokumentation bietet mehr - hervorragende Archivfotos aus Gretlers "Panoptikum zur Sozialgeschichte" und auf einer beigelegten DVD den Film "Krawall" (1969). Jürg Hassler charakterisiert in seinem Agitpropstreifen die Gewerkschaftsaufmärsche der damaligen Zeit: Ordentlich zu den Klängen einer Blaskapelle marschierende Arbeiter, die sauber gemalte Transparente ("Haltet unsere Lebensmittel frei von Gift!") mit sich tragen. Er lässt Jugendliche von ihrem Frust erzählen. Er dokumentiert die Polizeieinsätze, interviewt Ärzte über die Folgen der staatlichen Knüppelei und fasst die zentralen Positionen der RebellInnen zusammen. "Wer sind denn die Akademiker?", fragte beispielsweise ein Demonstrationsredner im Zürich von 1968. "Das sind doch die Herren, die den Lohnabhängigen tagtäglich in den Fabriken und Büros begegnen." So aktuell kann Geschichte sein.

 Der Film-, Foto- und Textband "Krawall" ist die vierte Publikation in der Reihe "Bibliothek des Widerstands" des Hamburger Laika-Verlags. Der erste Band, erschienen im März, beschreibt die Ereignisse rund um den 2. Juni 1967. Das war der Tag, an dem der von den Westmächten unterstützte iranische Potentat, Schah Mohammed Reza Pahlavi, Westberlin besuchte und an dem "ein systematischer, kaltblütig geplanter Pogrom" stattfand, wie der Publizist Sebas tian Haffner später im "Stern" schrieb, "begangen von der Berliner Polizei an Berliner Studenten". Eine etwas übertriebene Darstellung (Pogrome sehen anders aus), aber der 2. Juni war ohne Frage "das Schlüsselereignis, das die Sozialrevolte in Westdeutschland und Westberlin ausgelöst hat" (Karl Heinz Roth). Denn an diesem Tag erschoss der Kriminalbeamte Karl-Heinz Kurras, der - wie man inzwischen weiss - auch der ostdeutschen Stasi zuarbeitete, den Studenten Benno Ohnesorg.

 Die Buchtexte beschreiben die Ereignisse, Zustände und den Widerstand in einer Gesellschaft, deren Mehrheit von den Nazis sozialisiert und deren Elite von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern dominiert war. Aber eine Ahnung von den damaligen Stimmungen und Verhältnissen vermittelt erst die DVD, die auch diesem Band beiliegt - der Film "Der 2. Juni 1967" von Thomas Giefer und Hans-Rüdiger Minow und die Reportage "Polizeistaatsbesuch" (1967) des Schweizer Dokumentarfilmers Roman Brodmann, der dafür den renommierten Adolf-Grimme-Preis erhielt. "Mit der Bibliothek stellen wir der bürgerlichen Interpretation der Welt eine eigene, linke entgegen", sagt Karl-Heinz Dellwo, neben Willi Baer und Carmen Bitsch Mitherausgeber und Mitbegründer des Hamburger Laika-Verlags.

 Eine nachträgliche Aufklärung sozusagen, die aber oft verblüffend aktuelle Einsichten bietet - gerade durch die Kombination von Wort- und Filmbeiträgen. "Texte ordnen ein, vermitteln Inhalte, reflektieren", für ein sinnliches Nachempfinden dessen, was damals die Menschen bewegte, seien audiovisuelle Medien jedoch weitaus geeigneter, erläutert Dellwo das Konzept der Reihe. Denn wer, der nur darüber liest, begreife heute noch den Sinn einer Minirock-Demonstration wie der in Zürich 1968? "Man wollte damals in allen Bereichen aufbrechen", sagt der radikale Linke, der wegen eines Anschlags der Roten Armee Fraktion in Stockholm zwanzig Jahre im Gefängnis sass. "Uns geht es nicht darum, diese Aufbrüche zu glorifizieren", sonderlich systemverändernd seien Miniröcke und lange Haare nun wirklich nicht gewesen. Aber sie gehörten dazu.

 Hundert Bände soll die filmische Bibliothek umfassen, vielleicht werden es auch ein paar mehr. Über siebzig Filme sind bereits lizenziert. "Wir haben bei Filmschaffenden eine hohe Akzeptanz, weil wir die Filme restaurieren." Immer mehr Cinematheken, so Dellwo, wenden sich an den Kleinverlag, "da ältere Filme nach dreissig Jahren ausbleichen und es im staatlichen Bereich kaum Gelder für die aufwendige Restauration gibt" - und schon gar nicht für Filme über Widerstandsbewegungen. Die Wiederherstellung alten Filmmaterials ist teuer. Bis zu 18 000 Euro habe der Verlag, dessen Bibliotheksprojekt von Privaten vorfinanziert wird, schon für die Restaurierung und Digitalisierung eines Films hinblättern müssen.

 Zeitenbrüche

 Ziemlich teuer war beispielsweise das "Portrait of a Revolutionary" von Yolande DuLuart (1972), von dem es in den USA nur noch ein Exemplar gab. Der Film zeigt die junge Angela Davis, die Ende der sechziger Jahre ihren Job als Hochschullehrerin verlor, weil sie sich für die Rechte der Schwarzen und der Frauen eingesetzt hatte (siehe WOZ Nr. 35/10) und nach ihrer Inhaftierung weltweit zu einer Ikone des linken Widerstands wurde. Auch dieser Film, der die Dozentin und Aktivistin Davis ausführlich zu Wort kommen lässt, verschafft ein Gefühl für die Stimmungen und Subjektivitäten der damaligen Zeit.

 Die sechziger Jahre waren ein Zeitenbruch, in dem eine neue Linke, vor allem eine internationalistische Linke entstand. Die Bibliothek beschränkt sich nicht auf weit zurückliegende Rebellionen: Der dritte Band der Reihe thematisiert die griechische Jugendrevolte Ende 2008 ("Schrei im Dezember" von Kostas Kolimenos). Schwerpunkt aber bleiben die sechziger und siebziger Jahre: "Rebels with a Cause" über den US-amerikanischen StudentInnenverband SDS ist bereits erschienen; Bände über die US-Stadtguerilla Weathermen, über den Widerstand gegen den US-Putsch in Chile und die argentinische Militärjunta sowie über die globalisierungskritische Bewegung Attac werden folgen. Die grossartige Reihe - sie ist auf acht bis zehn Jahre angelegt - kann auch abonniert werden.

 "Krawall. Die Jugendrevolte 1968 in der Schweiz". Bibliothek des Widerstands, Band 4. Laika Verlag. Hamburg 2010. 120 Seiten, Fr. 32.90. http://www.laika-verlag.de

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DROGEN
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20min.ch 9.9.10

Kokain in der Schweiz: Weisses Pulver, dunkle Machenschaften

 Der Kokainhandel in der Schweiz ist hochmodern gemanagt. Enthüllungen der Bundeskriminalpolizei offenbaren, wie das Business im Detail funktioniert.

Amir Mustedanagic

 Wie alt der Nigerianer M.J. ist, weiss die Polizei bis heute nicht so genau. Sicher ist inzwischen hingegen: Der junge Mann war ein erfolgreicher Drogendealer und seine Geschichte gilt als "exemplarisch für die Problematik und die Schwierigkeiten im Kampf gegen die afrikanischen Kokain-Netzwerke", wie Urs Winzenried am Montag vor den Medien erklärte. Gemäss dem Chef der Aargauer Kriminalpolizei begann die Drogengeschichte des "zirka 25 Jahre alten" Afrikaners wie die von vielen: als Strassenhändler.

 Die Dealer auf der Strasse bilden die unterste Ebene im Vertriebsnetz der vor allem westafrikanischen Kokain-Netzwerke. Erfahrungsgemäss sind es meistens Asylbewerber aus Nigeria, wie Patric Looser von der Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen erklärte. Die Strassenhändler nutzen die Zeit bis zur Ausweisung oder Ausreise aus der Schweiz dazu, möglichst viel Geld zu verdienen. Zu verlieren haben die Asylbewerber nichts.

 Karrieresprung im Asylheim

 Früher oder später werden sie allerdings oft erwischt - so wie M.J. in St. Gallen. Die Polizei schnappte ihn als er Kokain-Kügelchen unter die Leute brachte. Er wurde gebüsst und in den Aargau abgeschoben, ins Asylheim Holderbank AG. Zunächst schien die Verschiebung in den Aargau eine heilende Wirkung auf M.J. zu haben. "In Holderbank blieb M.J. in der Unterkunft, verhielt sich unauffällig, hilfsbereit - er ist ein richtiger Wunschbewohner geworden", so Winzenried. In Wirklichkeit stieg M.J. in der Hierarchie eine Stufe auf: Er betätigte sich neu als Zwischenhändler. "Statt sich einem Risiko auszusetzen und auf die Strasse zu gehen, wurde er zum Mittelsmann", so Winzenried.

 Er bestellte Kokain bei Grosshändler in Spanien, liess sie von Kurieren in die Schweiz und von Helfern ins sein Asylheim bringen. Anschliessend rekrutierte er Strassenhändler, die seine Ware draussen verkauften. Wie bei M.J. handelt es sich bei Zwischenhändler meist um abgewiesene Asylbewerber aus Nigeria. Sie leben entweder illegal in der Schweiz oder legalisieren ihren Aufenthalt mit einer Heirat. "Viele Frauen fallen auf die zuvorkommende Art und den Charme hinein", so Staatsanwalt Looser. Von den krummen Geschäften würden die Frauen meist nichts mitbekommen, weil sie einerseits oft nicht die plötzliche finanzielle Potenz hinterfragten, anderseits ein Problem haben, welche auch die Polizei hat: Die Sprache.

 900 000 Franken nur für Übersetzer

 "Die Nigerianer sprechen Igbo, eine sehr schwer verständliche Sprache, die nur wenige Dolmetscher beherrschen", sagte Winzenried. Weshalb die Untersuchungen sehr teuer seien: "Allein die Kosten für die Übersetzung der abgehörten Telefongespräche belaufen sich auf 900 000 Franken", so der Kripochef. Was den grössten Teil der Verfahrenskosten von 1,25 Millionen Franken in den 33 Fällen ausmacht, die die Kapo Aargau im vergangenen Jahr erfolgreich beendete. Die Polizei sei aber gerade auf die kostspieligen Dolmetscher angewiesen, weil sie genau damit auch hinter die Machenschaften von M.J. gekommen sind. Die Polizei hatte seine Telefone überwacht und bekam Bestellungen, Lieferungen und Termine mit.

 1,3 Kilo "Nationalspeise" im Magen

 Die Zwischenhändler wie M.J. bestellen bei Grosshändlern, die das weisse Pulver aus Südamerika erhalten, wie Michael Perler erklärt. Schmuggelrouten, Kurier und Vertriebskanäle veränderten sich ständig, so Michael Perler, Chef der Bundeskriminalpolizei (BKP). Auf verstärkte Kontrollen von Zoll und Polizei reagierten die Schmuggler, indem sie die Kurierfahrten von unauffälligen EU-Bürgern durchführen lassen.

 Das Kokain wird in Spanien oder Holland umgeschlagen und für den Verkauf in die Schweiz transportiert. Allerdings ist "transportiert" ein harmloser Ausdruck für das, was die Schmuggler auf sich nehmen: Sie schluckten teilweise bis zu 1,3 Kilogramm Drogen, die in Dutzende sogenannte Fingerlinge verpackt seien, sagte Perler weiter. Für den Kurier ein tödliches Risiko, aber auch ein sehr lukratives: Pro Gramm, das er abliefert, erhält er bis zu sechs Franken.

 Dank der verstärkten Anstrengungen der Polizei enden solche Transporte aber inzwischen oft in den Armen der Justiz, wie auch im Beispiel von M.J: Dank der überwachten Telefone konnte die Polizei einen Kurier abfangen. Ein Helfer des Nigerianers brachte ihn in einem Hotel in Brugg unter. Er sollte sich dort der geschluckten Fingerlinge entledigen, doch die Polizei wartete bereits auf ihn. Was dann auf dem Polizeiposten geschah, werden die Beamten von der Kapo Aargau so schnell wohl nicht vergessen: Der Kurier "schied 75 Fingerlinge aus", wie Winzenried höflich formulierte. "Sie können sich vorstellen, wie lange dies gedauert hat", sagte der Kripo-Chef vor den Medien und hielt zur Veranschaulichung den über ein Kilo schweren Sack mit den Drogenpäckchen hoch. "Er hat versucht uns weis zu machen, dass es sich dabei um eine Nationalspeise handle", so Winzenried weiter.

 "Es ist wie eine Pfütze"

 Nach der Festnahme des Kuriers und der Helfer war der Rest für die Polizei nur noch Routine. Bei der Hausdurchsuchung im Asylheim beschlagnahmten die Beamten bei M.J.: 1180 Franken Bargeld, 40 Gramm Kokain, drei Handys und zwei Digitalwaagen. Den Gewinn aus seinem Kokain-Geschäft hatte M.J. bereits ausser Landes geschafft - über 100 000 Franken, wie die Polizei nachweisen konnte. Die Gewinne würden regelmässig mit Bargeldübermittlungsdiensten ins Heimatland gesandt. Nun blüht dem Nigerianer eine mehrjährige Freiheitsstrafe.

 Die Behörden lassen sich aber von solchen Erfolgen nicht blenden, wie BKP-Chef Perler sagte. Er verglich den Kokainmarkt und den Kampf der Polizei mit einer Pfütze: "Sobald wir den Fuss wieder rausnehmen, fliesst das Wasser wieder an die tiefste Stelle zurück." Das Ziel müsse es sein, den Schweizer Markt durch weitere Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen für die Händler unattraktiv zu machen.

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Tagesanzeiger 9.9.10

Nigerianer beherrschen den Kokainhandel in der Schweiz

 Die Polizei spricht von einem afrikanischen Netzwerk und koordiniert den Kampf gegen die Dealer.

 Von Stefan Hohler

 Kokain ist nach Cannabis die am häufigsten konsumierte illegale Droge in der Schweiz. Allein 2009 stellten Polizei und Zoll rund 560 Kilogramm Kokain sicher ein neuer Rekordwert.

 Der Kokainmarkt wird hauptsächlich von Nigerianern dominiert, daneben mischen weitere Gruppierungen aus Westafrika und der Dominikanischen Republik im einträglichen Geschäft mit. Der Kilopreis in der Schweiz beträgt zwischen 50 000 und 80 000 Franken.

 Seit rund eineinhalb Jahren koordinieren die verschiedenen Kantonspolizeien und die Bundeskriminalpolizei ihren Kampf gegen den Kokainhandel. Mit Erfolg, wie Michael Perler, Chef der Bundeskriminalpolizei, in Aarau gestern vor den Medien sagte. So habe sein Amt im In- und Ausland 70 Verfahren koordiniert und unterstützt.

 Ein Grossteil des Kokains gelangt von Südamerika über die Drehscheiben Spanien und die Niederlande direkt nach Europa oder wird via Afrika transportiert. Die gut organisierten Nigerianer-Gruppierungen haben ein internationales Kuriersystem mit Arbeitsteilung aufgebaut: Die Drogenkuriere bringen den Stoff, in Fingerlingen geschluckt, auf dem Flug-, Strassen- oder Schienenweg in die Schweiz. Auf den Bargeldtransport spezialisierte Geldkuriere sammeln den Verkaufserlös ein und bringen das Geld zurück nach Afrika. Dort wird es in Liegenschaften, Grundstücke und teure Autos investiert. Die Akteure in diesem Drogenbusiness sind stark vernetzt - die Polizei spricht von einem afrikanischen Netzwerk. Die Dealer seien sehr anpassungsfähig und mobil.

 Stark gestrecktes Kokain

 Gemäss Beat Rhyner, Fahndungschef der Stadtpolizei Zürich, ist der Kokainhandel in Zürich seit rund drei Jahren unverändert. Im Strassenhandel sind vor allem westafrikanische Asylbewerber oder Afrikaner mit B- und C-Bewilligung aktiv. Die Kügeli-Dealer im Langstrassen-Quartier hätten allerdings nur einen kleinen Anteil am ganzen Drogenkuchen, betont Rhyner. Der Grossteil der regelmässigen Kokainkunden kaufe den Stoff nicht auf der Strasse, sondern im Kollegenkreis oder von einem Stammdealer. Die Konsumenten stammen aus allen Bevölkerungsschichten: "Der Kokainmarkt ist sehr heterogen."

 Laut Rhyner sind in Zürich neben den Westafrikanern auch Leute aus der Dominikanischen Republik im Kokain-Deal sehr aktiv. Der Heroinhandel dagegen befindet sich fest in den Händen ethnischer Albaner. Rhyner betont, dass der Reinheitsgrad des Kokains durch die vielen Zwischenhändler stetig sinke. "Auf der Strasse beträgt er noch 30 Prozent." 70 Prozent der verkauften Drogen, heisst das, sind Streckmittel. Bei der Einfuhr dagegen sei der Stoff noch sehr sauber. "Das deutet darauf hin, dass das Kokain in Südamerika bei Organisationen mit direktem Zugang zu den Drogenlabors der Herstellerländer gekauft wird."

 Laut Norbert Klossner, Chef der Drogenabteilung der Kantonspolizei Zürich, spannen die Nigerianer nebst Landsleuten auch vermehrt Europäer als Kuriere ein weil sie Zoll und Polizei weniger verdächtig erscheinen. Seit 2005 hat die Kantonspolizei rund 200 Kuriere und Händler verhaftet und 150 Kilogramm Kokain sichergestellt. Klossner: "Die koordinierte Tätigkeit zwischen Bund und Kanton verbessert die Effizienz im Kampf gegen den internationalen Kokainhandel." Damit werde die Attraktivität der zentral gelegenen Schweiz für Kokaineinfuhren nach Europa vermindert.

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Bund 9.9.10

Nigerianer dominieren den Kokainhandel

 Die Polizei koordiniert den Kampf gegen die Dealer.

 Im Kampf gegen den Kokainhandel in der Schweiz spannen die Bundeskriminalpolizei (BKP) und mehrere Kantone eng zusammen. Dank eines Informationsaustausches ist es gelungen, mehrere komplexe Netzwerke der Kokainhändler zu zerschlagen. Das Projekt wird deshalb vorerst weitergeführt. Die Anstrengungen richteten sich gegen die Netzwerke von Kriminellen afrikanischer Herkunft, die im Schweizer Kokainmarkt eine wichtige Rolle spielten, sagte Michael Perler, Chef der Bundeskriminalpolizei, gestern vor den Medien in Aarau.

 Es gehe darum, die Schweiz als Standort für Kokainhändler möglichst unattraktiv zu machen. Eine Vielzahl von Akteuren prägten Schmuggel und Handel mit Kokain. Gruppen aus Westafrika und der Dominikanischen Republik beherrschten diesen lukrativen Drogenmarkt in der Schweiz, sagte Perler. Die Mehrheit der Verhafteten stamme aus Nigeria, weitere kämen aus Guinea oder Sierra Leone; es seien oft Asylbewerber. In geringerem Masse seien auch Gruppen und Personen aus den Balkanstaaten in der Schweiz aktiv, sagte Perler.

 Gezielte Aktionen

 Der Informationsaustausch spielt bei der Zusammenarbeit der Behörden die zentrale Rolle. Die im Frühling 2009 gegründete Arbeitsgruppe innerhalb der Bundeskriminalpolizei koordinierte und unterstützte bisher 70 Verfahren im In- und Ausland. Die BKP, die zum Bundesamt für Polizei (Fedpol) gehört, analysiert dabei die eingehenden Informationen von ausländischen, von Interpol und Europol aus, wertet diese aus und stellt sie den Kantonen zur Verfügung.

 Ziel sei es, neue Ermittlungsansätze zu erkennen und den Druck der Polizei auf den Betäubungsmittelhandel zusätzlich zu erhöhen, erläuterte der BKP-Chef. Die Kantone können beim Kampf gegen den Schmuggel auch auf die Unterstützung des Grenzwachtkorps und des Zolls zählen. Am gleichen Strick ziehen unter anderem die Kantone AG, BE, LU, SG, SO, NE, VD, TI, SH und JU sowie die beiden Basel. Das Projekt werde mindestens noch ein halbes Jahr weitergeführt, sagte BKP-Chef Perler. In sechs Monaten werde nochmals eine Bilanz gezogen. "Der Kampf geht weiter", machte er klar.

 Rekordmenge an Kokain

 Bei den koordinierten Aktionen gegen die Drogenhändler wurden in den beteiligten Kantonen bislang mehrere Hundert Kilo an Kokain sowie mehrere Hunderttausend Franken an Drogengeldern sichergestellt. Zoll und Polizei beschlagnahmten 2009 gesamtschweizerisch rund 560 Kilogramm Kokain. Dies ist gemäss BKP ein neuer Rekordwert. Bei den Drogenkurieren und -händlern habe es sich herumgesprochen, "dass die Schweiz kein gutes Pflaster mehr ist", sagte Urs Winzenried, Kripo-Chef der Kantonspolizei Aargau.

 Doch Schmuggelrouten, Kuriere und Vertriebskanäle verändern sich ständig. Das Kokain wird von der Schweiz aus telefonisch in Nigeria bestellt. Geliefert wird es in grossen Mengen aus Südamerika. In Spanien oder Holland wird das Kokain umgeschlagen und für den Verkauf in die Schweiz transportiert. Die Schmuggler schlucken teilweise bis zu 1,3 Kilogramm Drogen, die in Dutzende Fingerlinge verpackt sind. (sda)

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20 Minuten 9.9.10

Kokain-Dealer: Bestens organisierte "Unternehmen"

 BERN. Afrikanische Banden überschwemmen die Schweiz mit Koks. Laut Polizei sind sie organisiert wie erfolgreiche Firmen.

 Die afrikanischen Netzwerke, die den Kokainhandel in der Schweiz dominieren, sind vernetzt, verästelt und handeln überregional. Auf den Druck der Polizei reagieren die Netzwerke laut der Bundeskriminalpolizei rasch - wie erfolgreiche Unternehmer. Schmuggelrouten, Kuriere und Vertriebskanäle veränderten sich ständig, sagte Michael Perler, Chef der Bundeskriminalpolizei. Auf verstärkte Kontrollen von Zoll und Polizei reagierten die Schmuggler, indem sie die Kurierfahrten von unauffälligen EU-Bürgern durchführen liessen.

 Das Kokain werde von der Schweiz aus telefonisch in Nigeria bestellt. Das weisse Pulver werde dann in grossen Mengen aus Südamerika nach Europa geliefert. In Spanien oder Holland werde das Kokain umgeschlagen und für den Verkauf in die Schweiz transportiert. Die Schmuggler schluckten teilweise bis zu 1,3 Kilogramm Drogen, die in Dutzenden sogenannten Fingerlingen verpackt seien.

 Auf der tiefsten Ebene bewegten sich die Strassenhändler, berichtete Patric Looser von der St. Galler Staatsanwaltschaft. Es handle sich meistens um Asylbewerber aus Nigeria. Die Strassenhändler nutzen gemäss Looser die Zeit bis zur Ausweisung oder Ausreise dazu, möglichst viel Geld zu verdienen. Die Gewinne würden regelmässig mit Bargeldübermittlungsdiensten ins Heimatland gesandt.  SDA

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NZZ 9.9.10

Grosse Allianz gegen den Kokainhandel

 Erfolgreiche Zusammenarbeit von Kantonen, Bundeskriminalpolizei und Grenzwachtkorps

 Kokain wird in solchen Mengen konsumiert wie noch nie. Dank enger Kooperation von Bundeskriminalpolizei, Kantonen und Grenzwacht soll die Schweiz nun aber als Standort für Kokaindealer unattraktiv werden.

 fsi. Aarau · Kokain ist nach Einschätzung der Polizei nach Cannabis in der Schweiz die meistkonsumierte Droge. Das hängt mit der leichten Erhältlichkeit des weissen Pulvers zusammen. Händlergruppen aus der Dominikanischen Republik, in geringerem Masse aus dem Balkan und vor allem aber aus Westafrika haben feinmaschige Verteilnetze mit einer grossen Zahl von Strassenhändlern aufgezogen, und Schmuggelrouten und Vertriebskanäle ändern sich ständig. Die Dealer-Netzwerke sind flexibel und stellen die kantonalen Polizeien vor grosse Herausforderungen.

 Um die Schweiz als Standort für den Kokainhandel unattraktiv zu machen, arbeiten die Bundeskriminalpolizei, die Polizeien der grösseren Kantone und der Grenzkantone sowie das Grenzwachtkorps (GWK) seit Frühling 2009 intensiv zusammen. Die Anstrengungen richten sich besonders gegen die Netzwerke westafrikanischer und vor allem nigerianischer Herkunft, wie Michael Perler, Chef der Bundeskriminalpolizei (BKP), am Mittwoch an einer Medienorientierung in Aarau erklärte.

 Eine Arbeitsgruppe der BKP koordiniert den Informationsaustausch zwischen Kantonen, GWK und ausländischen Behörden sowie Europol und Interpol. Dies mit Erfolg: Allein im Jahr 2009 stellten Polizei und Zoll rund 560 Kilogramm Kokain sicher. Als Folge des härteren Vorgehens gegen die Dealer ist der Preis bei gleichzeitiger Verschlechterung der Reinheit der Droge stark gestiegen, und aus abgehörten Telefongesprächen geht hervor, dass die afrikanischen Drogenhändler die Schweiz nicht mehr als gutes Pflaster betrachten.

 Wie Patric Looser von der Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen in Aarau erklärte, werden die Drogen in den Niederlanden oder in Spanien umgeschlagen und von Kurieren in die Schweiz geschmuggelt. Die hiesigen Zwischenhändler sind meist abgewiesene nigerianische Asylbewerber, die entweder untergetaucht sind oder aber ihren Aufenthalt durch die Heirat mit einer Schweizerin legalisiert haben. Sie geben das Kokain an die Strassenhändler weiter, die es in kleinen Mengen verkaufen. Diese Dealer sind grossmehrheitlich nigerianische Asylbewerber, die auf diesem Weg bis zur Ausweisung möglichst viel Geld verdienen und in die Heimat schicken wollen. Sie werden meist erst nach der Ankunft in der Schweiz von Landsleuten angeworben. Geldkuriere schliesslich sammeln den Drogenerlös bei den Zwischenhändlern ein und bringen das Geld ins Ausland.

 Weil sich die Nigerianer untereinander in der Igbo-Sprache unterhalten, sind Telefonabhörungen und polizeiliche Befragungen sehr kostspielig. Oft kommen sechsstellige Beträge für Dolmetscherkosten zusammen, wie der Aargauer Kripochef Urs Winzenried anhand von zwei Beispielen erläuterte. Die Schweizer Ehefrauen hätten in der Regel keine Ahnung von den Geschäften ihrer Männer, weil sie deren Sprache ebenfalls nicht verständen. Die Männer träten ihnen gegenüber liebenswert und charmant auf. Überhaupt seien die nigerianischen Kokaindealer, anders etwa als jene vom Balkan, kaum gewalttätiger Natur. Sie seien viel eher freundliche Händlertypen und oft auch Märchenerzähler: Neulich habe ein Kurier doch tatsächlich behauptet, die Fingerlinge mit insgesamt 1,3 Kilogramm Kokain in seinem Magen seien ein nigerianisches Nationalgericht, das er vor der Abreise in die Schweiz zu sich genommen habe.

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Aargauer Zeitung 9.9.10

Kampf gegen die Kokaindealer

 Das unföderalistische Projekt "Cola" soll die organisierten Drogenhändler abschrecken

 Bundeskriminalpolizei, Kantone und Grenzwacht bekämpfen seit über einem Jahr mit vereinten Kräften den Kokainhandel. Trotz Erfolgen ist klar: Die Arbeit ist aufwändig und die Kosten sind hoch.

 Michael Spillmann

 Nach Cannabis ist Kokain nach wie vor die am häufigsten konsumierte illegale Droge. Während über die tatsächlich gehandelten Mengen nur spekuliert werden kann, bedeuten die 2009 schweizweit beschlagnahmten 560 Kilo Kokain einen neuen Rekord. Den Kokainhandel beherrschen mehrheitlich Banden westafrikanischer Herkunft. Seit Mitte 1990er-Jahre bauen sie ihr Netz in der Schweiz kontinuierlich aus.

 Über Föderalismus hinweg

 Der Kampf gegen die florierenden Kokaingeschäfte hatte sich durch die föderalistischen Strukturen jahrelang erschwert. Wie Michael Perler, Chef der Bundeskriminalpolizei (BKP), gestern an einer Medienkonferenz in Aarau erklärte, sei die Bekämpfung lange durch Projekte kantonaler Strafverfolgungsbehörden geprägt gewesen. So habe es nur "eine Verschiebung" der Banden gegeben. Aufgrund der Problematik war es 2009 unter anderen die St.Galler Staatsanwaltschaft, die sich mit der Bitte um eine koordinierte Zusammenarbeit an den Bund wandte. Im Projekt "Cola" zusammengeschlossen sind nun etwa die Kantone Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Bern, Luzern, Aargau oder Solothurn. Während der Kanton Solothurn gestern wirksam Ermittlungserfolge kommunizierte, fehlte auf der Liste der Mitstreiter der Kanton Zürich. Wie der BKP-Chef erläuterte, seien die Zürcher Behörden sehr wohl mit dabei, es sei aber "gewünscht" worden, dies nicht zu erwähnen.

 70 Verfahren koordiniert

 Wie der St.Galler Untersuchungsrichter Patric Looser sagte, spiele der Informationsaustausch eine zentrale Rolle. Denn die Banden agieren sehr flexibel - vom Strassenhändler, in den meisten Fällen Asylbewerber, zum Kurier und den Zwischenhändlern bis zum international tätigen Grosshändler, die in Spanien oder Holland aktiv sind.

 Die Verantwortlichen zeigten sich mit den ersten Erfolgen zufrieden. So hat die Arbeitsgruppe bislang 70 Verfahren im In- und Ausland koordiniert. Die Drogenhändlerbanden seien gewarnt, zudem habe sich der Kokainpreis bereits erhöht, hiess es. "Ziel ist weiterhin, die Schweiz als Standort möglichst unattraktiv zu machen", so BKP-Chef Michael Perler.

 Dass der Kampf nicht nur aufwändig, sondern auch sehr teuer ist, zeigt sich im Aargau: Für die 33 Personen, die in den letzten zwei Jahren gefasst wurden, musste die Polizei insgesamt 1,25 Millionen Franken für Dolmetscher und Telefonüberwachung aufwenden, wie Kripo-Chef Urs Winzenried sagte.

 Wie es mit dem Projekt weitergeht, ist noch offen. Thomas Zehnder, Kommandant der Grenzwachtregion Schaffhausen und Thurgau, betonte aber: "Die Zahlen der Aufgriffe sind noch nicht eingebrochen. Es wäre schade, wenn das Projekt gestoppt wird."

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 Kurier aus Amsterdam

 Die Solothurner Staatsanwaltschaft hat im Zusammenhang mit dem Projekt "Cola" bereits zwölf Personen verhaftet und dabei 3,5 Kilogramm Kokain beschlagnahmt. In einem Fall soll ein gesprengter Drogenhändlerring insgesamt 20 Kilo Kokain von Amsterdam in den Kanton Solothurn geschmuggelt haben. Bei den mutmasslichen Drogenhändlern handelt es sich mehrheitlich um Nigerianer. Wie der zuständige Staatsanwalt Philipp Rauber erklärte, liegen in mehreren Fällen bereits Anklageschriften vor. Den Ermittlungserfolg kommunizierten die Strafverfolgungsbehörden zeitgleich mit der Medienkonferenz im Aargau, als"Zusammenfassung" der Ermittlungen. (SPI)

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NLZ 9.9.10

Bundeskriminalpolizei

 560 Kilo Kokain konfisziert

Von Daniel Schriber

 Kaum eine Droge ist in der Schweiz beliebter als Kokain. Nun haben Kantone und Bund den Kampf gegen die kriminellen Händler verschärft. Mit Erfolg.

 "Bei vielen Kokainhändlern hat sich mittlerweile herumgesprochen, dass die Schweiz kein gutes Pflaster mehr ist für den Drogenhandel", sagt Urs Winzenried, Kripo-Chef der Kantonspolizei Aargau. Kein Wunder: Zoll und Polizei beschlagnahmten im Jahr 2009 gesamtschweizerisch über eine halbe Tonne Kokain - rund 560 Kilogramm. "Rekord", verkündete gestern Michel Perler, Chef der Bundeskriminalpolizei (BKP), anlässlich einer Medienkonferenz in Aarau. Zudem hat die Polizei im vergangenen Jahr Drogengeld in der Höhe von mehreren hunderttausend Franken beschlagnahmt. Es geht also etwas, im Kampf gegen die Drogenkriminalität.

 Mehrere Netzwerke zerschlagen

 Seit rund eineinhalb Jahren spannen die Bundeskriminalpolizei, das Grenzwachtkorps sowie mehrere Kantone - darunter Luzern - im Kampf gegen den Kokainhandel in der Schweiz zusammen. Und es scheint, als würde sich die Arbeit über die Kantons- und Landesgrenze hinaus bewähren. "Dank des Informationsaustausches gelang es, mehrere komplexe Netzwerke der Kokainhändler zu zerschlagen", so BKP-Chef Perler.

 Die Schweiz "unattraktiv" machen

 Dabei richtet sich der Fokus der Ermittler auf die Netzwerke von Kriminellen afrikanischer Herkunft, die im Schweizer Kokainmarkt die wichtigste Rolle spielen. "Es geht darum, die Schweiz als Standort für Kokainhändler möglichst unattraktiv zu machen."

 So hätten sich die föderalistisch geprägten Polizeistrukturen der Schweiz in der Vergangenheit zum Teil hinderlich auf den Kampf gegen die Drogenkriminalität ausgewirkt. "Schliesslich verfügen die Akteure des Drogenbusiness über ein hohes Mass an Mobilität und Anpassungsfähigkeit und wickeln ihre Geschäfte stark arbeitsteilig ab", weiss Patric Looser, Staatsanwalt des Kantons St. Gallen. Umso bedeutender sei eine "koordinierte Zusammenarbeit" der betroffenen Kantone.

 Ermittlungserfolge in Luzern

 Gleicher Meinung ist auch Simon Kopp, Informationsbeauftragter der Strafuntersuchungsbehörden des Kantons Luzern. Auch hier wird mit Kokain gedealt.

 Kopp bezeichnet die Zusammenarbeit mit den Grenzwachtkorps, der Bundespolizei - "aber auch den anderen kantonalen Polizeikorps" - als sehr gut. So seien auch die Luzerner Strafuntersuchungsbehörden immer wieder mit Verfahren konfrontiert, welche über mehrere Kantone koordiniert werden müssen, da sich die Täterschaft verschiebt oder geografisch an verschiedenen Punkten aktiv ist.

 Im Mai dieses Jahres vermeldeten die Luzerner Strafuntersuchungsbehörden gleich mehrere erfolgreiche Aktionen gegen den Kokainhandel. So konnte die Luzerner Polizei mehrere Nigerianer festnehmen, welche in den Jahren 2004 bis 2010 Kokain im zwei- bis dreistelligen Kilobereich in den Kanton Luzern importierten und verkauften.

 Übrigens: Das Gemeinschaftsprojekt zwischen der Bundespolizei und den Kantonen wird vorerst weitergeführt. In sechs Monaten wird laut Michael Perler von der Bundeskriminalpolizei nochmals eine Bilanz gezogen. Klar ist: "Der Kampf geht weiter." Schliesslich ist Kokain nach Cannabis noch immer die am häufigsten konsumierte illegale Droge in der Schweiz.

 daniel.schriber@neue-lz.ch

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St. Galler Tagblatt 9.9.10

Gemeinsam gegen Kokainhändler

 Im Kampf gegen den Kokainhandel in der Schweiz spannen die Bundeskriminalpolizei und mehrere Kantone eng zusammen. Dabei gelingt es, Kokainhändler-Netzwerke zu zerschlagen.

 Aarau. Die Anstrengungen der Polizei richteten sich gegen die Netzwerke von Kriminellen afrikanischer Herkunft, die im Schweizer Kokainmarkt eine wichtige Rolle spielten, sagte Michael Perler, Chef der Bundeskriminalpolizei (BKP).

 Schweiz unattraktiv machen

 Es gehe darum, die Schweiz als Standort für Kokainhändler möglichst unattraktiv zu machen. Neben Gruppen aus Westafrika würden auch Akteure aus der Dominikanischen Republik im lukrativen Drogenmarkt in der Schweiz mitmischen. Die Mehrheit der Verhafteten stamme aus Nigeria, weitere kämen aus Guinea oder Sierra Leone; es seien oft Asylbewerber. In geringerem Masse seien auch Gruppen und Personen aus den Balkanstaaten in der Schweiz aktiv, sagte Perler.

 Gezielte Aktionen

 Der Informationsaustausch spielt bei der Zusammenarbeit der Behörden die zentrale Rolle. Die im Frühling 2009 gegründete Arbeitsgruppe innerhalb der Bundeskriminalpolizei koordinierte und unterstützte bisher 70 Verfahren im In- und Ausland. Die BKP, die zum Bundesamt für Polizei (Fedpol) gehört, analysiert dabei die eingehenden Informationen von Interpol und Europol, wertet diese aus und stellt sie den Kantonen zur Verfügung. Ziel sei es, neue Ermittlungsansätze zu erkennen und den Druck der Polizei auf den Betäubungsmittelhandel zusätzlich zu erhöhen, erläuterte der BKP-Chef.

 Die Kantone können beim Kampf gegen den Schmuggel auch auf die Unterstützung des Grenzwachtkorps und des Zolls zählen. Das Projekt werde mindestens noch ein halbes Jahr weitergeführt, sagte BKP-Chef Perler. In sechs Monaten werde nochmals eine Bilanz gezogen. "Der Kampf geht weiter", machte er klar.

 Rekordmenge an Kokain

 Bei den koordinierten Aktionen gegen die Drogenhändler wurden in den Kantonen bislang mehrere hundert Kilogramm Kokain sowie mehrere hunderttausend Franken an mutmasslichen Drogengeldern sichergestellt. Zoll und Polizei beschlagnahmten 2009 gesamtschweizerisch rund 560 Kilogramm Kokain. Dies ist gemäss BKP ein neuer Rekordwert.

 Kein gutes Pflaster mehr

 Bei den Drogenkurieren und -händlern habe es sich herumgesprochen, "dass die Schweiz kein gutes Pflaster mehr ist", sagte Urs Winzenried, Aargauer Kripo-Chef. Die Preise für Kokain seien gestiegen, die Qualität nehme ab. Gemäss Polizei kostet ein Kilogramm Kokain in der Schweiz 40 000 bis 80 000 Franken. (sda)

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 Erfolgreiche St. Galler

 Die St. Galler Justiz hat seit Anfang 2009 mehr als 40 Kokainhändlern, Drogen- und Geldkurieren das Handwerk gelegt. 30 Personen, zumeist Nigerianer, wurden festgenommen, mehrere Kilo Kokain beschlagnahmt und einige hunderttausend Franken sichergestellt.

 Dies teilte die St. Galler Kantonspolizei gestern im Rahmen der Information der Bundeskriminalpolizei über koordinierte Ermittlungen gegen nationale und internationale Kokainhändler-Ringe mit.

 Die Aktionen sei erfolgreich, so die St. Galler. Viele Kantone hätten vermehrt Drogenhändler (vor allem Nigerianer) festgenommen, grosse Geldbeträge sichergestellt, und es seien mehr Dealer verurteilt worden. So wurden ein 45jähriger Nigerianer und drei Frauen aus Kamerun erwischt, die in Altstätten einen schwunghaften Kokainhandel führten. Sie sollen innert eines Jahres 15 Kilogramm Drogen für 1,2 Millionen Franken verkauft haben.

 Die vier Personen waren laut Polizei international organisiert. Sie wurden zu Freiheitsstrafen von zwei bis sechs Jahren verurteilt. Die Polizei nahm auch Lieferanten, Abnehmer und Zwischenhändler fest, insgesamt 20 Personen. Ausserdem wurden 25 Konsumenten angezeigt.

 Ziel sei es, die Schweiz für afrikanische Drogenhändler möglichst unattraktiv zu machen. Bund und Kantone versuchen, die internationalen Grosshändler gemeinsam zu verfolgen. (sda)

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Drogenscheinkäufe bleiben ein Thema

 Die St. Galler Regierung wird nicht auf Bundesebene aktiv, um die Aktion "Ameise" wieder einzuführen. Dort würden nämlich schon entsprechende Vorstösse behandelt, schreibt sie.

 St. Gallen. - Nachdem die Aktion "Ameise" aufgrund eines Bundesgerichtsurteils gestoppt wurde (die "Südostschweiz" berichtete), hat die Kantonspolizei verschiedene Ersatzmassnahmen im Kampf gegen den Drogenkleinhandel auf der Strasse angeordnet. Die SVP-Fraktion des Kantonsrates fordert in ihrer Interpellation aber mehr: Sie will wissen, was die St. Galler Regierung auf Bundesebene unternimmt, um die sogenannten Drogenscheinkäufe wieder aufnehmen zu können.

 In Bern laufen schon Vorstösse

 Das Urteil des Bundesgerichts berief sich auf das eidgenössische Betäubungsmittelgesetz, welches vorsieht, nur schwere Widerhandlungen zu bekämpfen. Geschäfte von Kleindealern werden jedoch gemäss der St. Galler Regierung nicht als schwere Widerhandlungen angesehen, wie sie in ihrer Antwort schreibt.

 Die St. Galler Regierung erklärt weiter, dass sie "trotz der derzeitigen unbefriedigenden Rechtslage" nicht auf Bundesebene aktiv werde. Als Grund führt sie an, dass dort bereits mehrere Vorstösse behandelt werden, welche Scheinkäufe wieder ermöglichen wollen. Zum einen verlangt eine Parlamentarische Initiative von Nationalrat Daniel Jositsch, dass dies durch eine Gesetzesänderung erreicht wird. Zum anderen hat die Konferenz der Strafverfolgungsbehörden der Schweiz einen ähnlichen Vorstoss unternommen.

 Die Aktion "Ameise" war sehr erfolgreich. Es konnten rund 400 Kleinhändler von Kokain überführt werden, wie die St. Galler Regierung in ihrer Antwort auf die Interpellation schreibt. Die Aktion führte ausserdem dazu, dass die Verkäufer erheblich vorsichtiger wurden. Seit dem Verbot der Scheinkäufe durch das Bundesgericht habe sich aber die Situation verschlechtert: "Die Drogenhändler agieren wieder offensiver und aggressiver und sprechen mögliche Kunden von sich aus aktiv an. Drogengeschäfte werden wieder auf offener Strasse abgewickelt", beklagt sich die Regierung. (so)

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Tagesschau sf.tv 8.9.10

Bund und Kanton gemeinsam gegen Kokainhandel

Kokain ist nach Cannabis die meistkonsumierte illegale Droge in der Schweiz. Die Bundeskriminalpolizei hat bekannt gegeben, dass der Bund und die Kantone beim Kampf gegen den Kokainhandel zusammengespannt haben.
http://videoportal.sf.tv/video?id=93f05f16-571d-4e6c-b156-8d0bd6044040

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sf.tv 8.9.10

Schweiz macht weiter intensiv Jagd auf Kokain-Dealer

sda/vaid

 Seit einem Jahr arbeiten die Bundeskriminalpolizei (BKP), mehrere Kantone und das Grenzwachtkorps eng zusammen im Kampf gegen Kokain-Dealer. Bis heute wurden mehrere Aktionen gegen die Drogennetzwerke durchgeführt. Schweizweit beschlagnahmten Zoll und Polizei alleine im letzten Jahr 560 Kilo Kokain. Das Projekt wird deshalb vorerst weitergeführt.

 Die Anstrengungen richteten sich gegen die Netzwerke von Kriminellen afrikanischer Herkunft, die im Schweizer Kokainmarkt eine wichtige Rolle spielten, sagte Michael Perler, Chef der Bundeskriminalpolizei (BKP), in Aarau an einer Medienkonferenz.

 Es gehe darum, die Schweiz als Standort für Kokainhändler möglichst unattraktiv zu machen. Der lukrative Drogenmarkt werde in der Schweiz von Gruppen aus Westafrika und der Dominikanischen Republik beherrscht, sagte Perler.

 Die Mehrheit der Verhafteten stamme aus Nigeria, weitere kämen aus Guinea oder Sierra Leone; es seien oft Asylbewerber. In geringerem Masse seien auch Gruppen und Personen aus den Balkanstaaten in der Schweiz aktiv.

 Gezielte Aktionen gegen Netzwerke

 Der Informationsaustausch spielt bei der Zusammenarbeit der Behörden die zentrale Rolle. Die im Frühling 2009 gegründete Arbeitsgruppe innerhalb der Bundeskriminalpolizei koordinierte und unterstützte bisher 70 Verfahren im In- und Ausland.

 Die BKP, die zum Bundesamt für Polizei (fedpol) gehört, analysiert dabei die eingehenden Informationen von ausländischen, von Interpol und Europol aus, wertet diese aus und stellt sie den Kantonen zur Verfügung.

 Ziel sei es, neue Ermittlungsansätze zu erkennen und den Druck der Polizei auf den Betäubungsmittelhandel zusätzlich zu erhöhen, erläuterte der BKP-Chef.

 Die Kantone können beim Kampf gegen den Schmuggel auch auf die Unterstützung des Grenzwachtkorps und des Zolls zählen. Am gleichen Strick ziehen unter anderem die Kantone AG, BE, LU, SG, SO, NE, VD, TI, SH und JU sowie die beiden Basel.

 Das Projekt werde mindestens noch ein halbes Jahr weitergeführt, sagte BKP-Chef Perler. In sechs Monaten werde nochmals eine Bilanz gezogen. Perler: "Der Kampf geht weiter".

 Rekordmenge an Kokain

 Bei den koordinierten Aktionen gegen die Drogenhändler wurden in den beteiligten Kanton bislang mehrere hundert Kilo an Kokain sowie mehrere Hunderttausend Franken an mutmasslichen Drogengeldern sichergestellt.

 Zoll und Polizei beschlagnahmten im letzten Jahr in der Schweiz rund 560 Kilogramm Kokain. Dies ist gemäss BKP ein neuer Rekordwert. Bei den Drogenkurieren und -händlern habe es sich herumgesprochen, "dass die Schweiz kein gutes Pflaster mehr ist", sagte Urs Winzenried, Kripo-Chef der Kantonspolizei Aargau, vor den Medien.

 Die Preise für Kokain seien gestiegen, und die Qualität der Droge nehme ab. Gemäss Bundeskriminalpolizei kostet ein Kilogramm Kokain in der Schweiz 40'000 bis 80'000 Franken. Entsprechend hoch seien die kriminellen Gewinne.

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ALKVERBOT
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Aargauer Zeitung 9.9.10

Kantonales Alkoholverbot: Eine Schnapsidee

 Der Vorstoss zur kantonalen Einführung von Bussgeldern für minderjährige Trinker stösst auf wenig Gegenliebe

 Michael Küng

 Gut gemeint - aber zu wenig durchdacht: Das ist der Tenor unter Fraktions- und Parteipräsidenten zu einer in der jüngsten Grossratssitzung eingereichten Motion. Sie fordert für den ganzen Kanton, was die Stadt Aarau bereits am 1. September eingeführt hat: Unter 16-Jährige, die auf öffentlichem Grund Alkohol trinken, sollen mit 60 Franken, unter 18-Jährige, die Spirituosen trinken, mit 80 Franken gebüsst werden.

 Konsequenter Jugendschutz

 Für den Anfang Juli aus der EDU ausgetretenen Initianten Samuel Schmid ist eine kantonale Regelung der nächste logische Schritt zur Umsetzung des Jugendschutzes: "Weil das Verkaufsverbot allein nicht reicht, muss auch eine Einschränkung beim Konsum her", sagt er gegenüber a-z.ch. Schmid rechnet seiner Motion gute Chancen aus: Was auf kommunaler Ebene so gut funktioniere, dürfte auch im Grossen Rat klappen, findet er. Getragen wird der Vorstoss von zehn weiteren Grossräten. Unter anderem vom Schweizer Demokraten Dragan Najman, der den Vorstoss mit demselben Argument rechtfertigt: "Eine kantonale Regelung dient dem konsequenten Jugendschutz."

 Breite Opposition

 Der Vorstoss stösst bei anderen Parteien auf wenig Gegenliebe. SVP-Frak- tionschef Andreas Glarner sagt, dass seine Fraktion das Anliegen ablehnen werde. Mit den Bussen ist er grundsätzlich einverstanden. Der Grosse Rat sei aber der falsche Weg: "Derartige Regeln müssen auf kommunaler Ebene umgesetzt werden. Dies, weil dadurch die demokratische Legitimation grösser ist", erklärt Glarner. Rechtliche Gründe führt CVP-Parteipräsident Franz Hollinger an. Er moniert, dass polizeiliche Verfügungen in die Kompetenz der Gemeinden fallen - "und darüber soll sich der Kanton nicht hinwegsetzen". Auch FDP-Fraktionschef Daniel Heller wertet die Motion als gut gemeint. Und trotzdem: "Das ist eine unausgegorene Lösung." Gegenwehr auch von SP-Seite: Frak- tionschef Dieter Egli befürchtet Interpretationsschwierigkeiten beim Begriff der "Öffentlichkeit". Für fragwürdig hält er auch, ob die Polizei die nötigen Kapazitäten hat, um minderjährige Alkoholkonsumenten abzustrafen.

 Unterstützung für Gemeinderegelung

 Gemeinsam haben die Gegner mit den verschiedensten Couleurs ihre Sympathie für eine Umsetzung auf Gemeindeebene. Denn dass eine Bussenregelung punktuell sinnvoll sein kann, halten sie dem Vorstoss unisono zugute. Auch der Co-Fraktionschef der Grünen, Hansjörg Wittwer, befürwortet repressive Massnahmen für Zentren, die mit entsprechenden Problemen zu kämpfen hätten, etwa Aarau, Brugg oder Baden. Dass aber kleine, ruhige Gemeinden ebenfalls diese Regel aufnehmen müssen, hält er für unnötig.

 Strikte Ablehnung bei Rot-Grün

 Gar nicht infrage kommen diese Bussen für die grüne Co-Fraktionschefin Eva Eliassen, denn "das Erlernen des Umgangs mit Alkohol gehört nun mal zum Erwachsenwerden". Ins gleiche Horn stösst Noch-Juso-Präsident Cédric Wermuth: "Wenn jemand mal über die Stränge schlägt, ist das kein Problem. Wichtig ist eine verstärkte Präventionsarbeit in den Schulen und Familien."

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POLICE ZH
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NZZ 9.9.10

Polizeikorps soll aufgestockt werden

 Gemeinderat gegen CVP-Sicherheitskonzept, aber für mehr Stadtpolizisten

 Daniel Leupi, der Vorsteher des Zürcher Polizeidepartements, prüft eine Aufstockung der Stadtpolizei. Gleichzeitig sollen die internen Arbeitsabläufe verbessert werden.

 Christina Neuhaus

 In der Nacht auf den 7. Februar richtete ein gewaltbereiter Haufen von Linksautonomen, Hooligans und Partyvolk in den Stadtkreisen 4 und 5 einen Sachschaden von mehreren hunderttausend Franken an und stellte den Saubannerzug als "Reclaim the Streets"-Aktion dar. Die vollständig überrumpelte und personell unterdotierte Zürcher Stadtpolizei war nicht einmal in der Lage, Personenkontrollen durchzuführen. Zu Verzeigungen und Festnahmen kam es damals nicht.

 Die unglückliche Rolle der Stadtpolizei und die ausufernden Formen von Jugendgewalt in den Ausgehvierteln haben am Mittwoch im Gemeinderat zu reden gegeben. Anlass für die Diskussion im Stadtparlament gab eine CVP-Motion, die ein umfassendes Konzept zur Verbesserung der Sicherheit in den Trendkreisen 4 und 5 forderte. Dass die Angst als ständiger Begleiter vor allem im lebendigen, attraktiven Zürich-West stillschweigend und fatalistisch akzeptiert werde, könne und dürfe nicht sein, schrieben die beiden Gemeinderäte in der Begründung.

 Der Stadtrat zeigte Verständnis für das Anliegen, weshalb er den Vorstoss in Form eines weniger verbindlichen Postulats annehmen wollte. Im Gemeinderat erinnerte Polizeivorsteher Daniel Leupi (gp.) aber daran, dass die Erarbeitung eines Sicherheitskonzepts die Aufgabe der Exekutive sei. Schliesslich müsse die Stadtpolizei auf veränderte Situationen rasch reagieren können. Ein auf die Ausgehzone zugeschnittenes Sicherheitskonzept würde dem Generalauftrag der Polizei zuwiderlaufen. Laut Leupi will die Stadtpolizei dem Wunsch nach vermehrter Präsenz an Wochenenden entsprechen. Gratis sei dies aber nicht zu haben, warnte er den Rat. Mit dem heutigem Personalbestand sei eine Verstärkung der Präsenz nur begrenzt möglich.

 Wie Daniel Leupi weiter ausführte, ist man im Polizeidepartement derzeit dabei, ein neues Sicherheitskonzept zu erarbeiten. Auch eine Erhöhung des Personalbestands werde geprüft. Zudem suche man nach Möglichkeiten, die Arbeitsabläufe effizienter zu gestalten. So werde abgeklärt, ob Polizisten beispielsweise von Schreibarbeit entlastet und vermehrt auf der Strasse eingesetzt werden könnten. Laut Leupi könnte es dafür an anderen Orten zu Personaleinsparungen kommen; allenfalls sei auch eine Verzichtplanung nötig. Nach kurzer Diskussion stellte sich eine Mehrheit der Ratsmitglieder schliesslich hinter die Argumentation Leupis. Die Motion der CVP wurde abgelehnt.

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SCHNÜFFELSTAAT
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WoZ 9.9.10

Fichen - Das eifrige und unkontrollierte Anlegen von Dossiers und Karteien ist so alt wie der Staatsschutz selbst.

 Spirigs 10 000 Fichen

 Von Ralph Hug

 Das extensive Fichieren war dem Staatsschutz von allem Anfang an inhärent. Dies zeigt das Beispiel von Martin Spirig, einem subalternen Polizeibeamten in der Ostschweiz. Nach dem Vorbild der deutschen Gestapo legte er im Alleingang zehntausend Fichen an.

 Martin Spirig (1884-1978) war noch ein unbedeutender Wachtmeister, als er 1932 zur Kantonspolizei St. Gallen stiess. Dort verbrachte er die erste Zeit mit dem Redigieren des Polizeianzeigers und dem Erstellen von Statistiken. Die langweilige Arbeit änderte sich, als 1935 die Bundespolizei geschaffen wurde und die Beobachtung politischer Vorgänge zur Polizeiaufgabe erklärt wurde. Spionage, das Aufleben von Nazigrüppchen, aber auch die zunehmende antifaschistische Agitation liessen aus Sicht der Behörden die Schweiz als zunehmend bedroht erscheinen. Die "politische Abteilung" sei geschaffen worden, um "fremden und unschweizerischen Einflüssen wehren zu können", schrieb Spirig im xenophob-patriotischen Jargon der Zeit.

 Tummelfeld für Spione

 Der Rheintaler ging mit grossem Eifer an seine neue Aufgabe heran. Nach und nach baute er eine umfangreiche Registratur mit Personen- und Sachdossiers und dazugehörigen Karteikarten (Fichen) auf. Material fand er genug. Aufgrund ihrer Grenzlage war die Ostschweiz damals ein Tummelfeld für allerlei Spione, AgentInnen und Oppositionelle. Insbesondere deutsche EmigrantInnen, die auf der Flucht vor Hitler waren, wollten den Kampf gegen den Diktator im Exil fortsetzen und waren wegen ihrer Tätigkeit im Untergrund verdächtig. Allen Seiten widmete sich Spirig mit gleicher Verve, denn er sah sich in der Rolle als Retter des Vaterlands und der schweizerischen Demokratie. Bis 1939 hatte er schon 1263 Personen- und 270 Sachdossiers erstellt. Während des Zweiten Weltkriegs explodierte dann seine Sammlung: 1945 bestand sie aus nicht weniger als 12 000 Registerkarten und 8485 Dossiers.

 Niemand hinderte Spirig an seiner extensiven Fichiererei, weder seine direkten Vorgesetzten noch der sozialdemokratische Regierungsrat Valentin Keel. Vermutlich waren sie gar nicht so genau über die Exzesse der "politischen Abteilung" im Bild. Spirig bildete sich viel darauf ein, direkt mit der Bundesanwaltschaft und der Bundespolizei zu verkehren und somit ein "höherer" Beamter zu sein, der hauptsächlich Bern Rechenschaft schuldig sei. Im Polizeikorps war er isoliert und nicht besonders gut gelitten, was aber seinen Tatendrang nur noch verstärkte.

 Bezeichnend ist, dass Spirigs Vorbild beim Aufbau der Datensammlung die systematische Kartothek der Gestapo-Zweigstelle in Lind au am deutschen Bodenseeufer war. Seit Hitlers Machtergreifung 1933 hatte die Gestapo ein grosses operatives Know-how in der Beschaffung und Verwaltung von Daten über Staatsfeinde und Oppositionelle erworben. "Gut geführte Kartothekkästen sind eine unerlässliche Grundlage", pries Spirig die Bedeutung solcher Fichen. Persönlichkeits- und Datenschutz waren damals noch kein Thema.

 "Privates" Spitzelnetz

 Weil er wegen des knappen Budgets seiner Dienststelle kaum über eigene Mitarbeiter verfügte, zog Spirig ein "privates" Spitzelnetz auf. Es bestand aus informellen MitarbeiterInnen, die er in rechtspatriotischen Kreisen rund um den reaktionären "Vaterländischen Verband" und seinen teilweise paramilitärisch organisierten Bürgerwehren fand. Die se Gruppierungen waren von verängstigten Bürgerlichen im Anschluss an den Generalstreik von 1918 gegründet worden. Sie sahen im Arbeiterstreik einen "bolschewistischen Angriff" auf die Schweiz und pflegten einen fanatischen Antikommunismus. Diese fragwürdige Kooperation von Staatsschutz und rechts stehenden Privaten - ein Modell, das sich später bei Cincera wiederholte - war wie die exzessive Fichiererei eine zwingende Begleiterscheinung des Staatsschutzes seit seinen Anfängen.

 Spirig heuerte übrigens nicht nur Spitzel an, sondern rückte abends auch selber zu Observationen aus. Im Verhinderungsfall schickte er sogar seine Frau auf die Pirsch. An mancher anti­faschistischen Versammlung sass er mit dem Notizblock in der hintersten Reihe.  Nicht selten wurde er dabei von den Veranstaltern höhnisch begrüsst. Doch er blieb in stoischer Pflichterfüllung sitzen, um nachher seine Rapporte abzufassen. Wie schon der erste Fichenskandal im Jahr 1989 zeigte, ging ein Achtel der damaligen Bundesfichen auf die 1930er Jahre zurück. Die Spirigs in den Kantonen lieferten dazu die Angaben. Als wohl einzige kantonale Dossier- und Karteikartensammlung aus dieser Zeit blieb jene von Martin Spirig erhalten. Sie wurde 1989 in einem vergessenen Schrank gefunden und dann ins Bundesarchiv transferiert.

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Datenschutz

 Kantone vs. Bund

 Den kantonalen Datenschutzbeauftragten waren im Bereich des Staatsschutzes bisher die Hände gebunden (siehe WOZ Nr. 33/10). Alle Staatsschutzdaten, die gestützt auf das Bundesgesetz zur Wahrung der inneren Sicherheit erhoben werden, sind Bundesdaten - auch wenn sie von den Kantonspolizeien bearbeitet werden. Gemäss dieser Argumentation der Bundesbehörden entscheidet einzig der Nachrichtendienst des Bundes (NDB), ob jemand Einblick in diese Daten erhält. Eine Kontrolle von Staatsschutzdaten durch kantonale Datenschutzbehörden ist daher unmöglich. Nun fordert "privatim", die Vereinigung der Datenschutzbeauftragten, die Bundesbehörden in einem offiziellen Schreiben auf, die Notwendigkeit einer Zustimmung durch den NDB aufzuheben. Die Konferenz der Kantonsregierungen solle diese Forderung unterstützen. jj

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Basler Zeitung 9.9.10

Staatsschutz lässt Politik zweifeln

 Kritik von Mitte-Links

 Kantonale Aufsicht. Die kantonale Aufsicht über den eidgenössischen Staatsschutz bleibt ein Thema der Basler Politik. Im Rahmen der Diskussionen zur Geschäftsprüfungskommission sagte zum Beispiel Tanja Soland (SP), es sei ein "Graus", was beim Staatsschutz in Bern geschehe und man müsse sich für die Zukunft vorbehalten, allenfalls wieder über die Mittelvergabe an den Staatsschutz zu diskutieren.

 Auch David Wüest-Rudin (GLP) stellte fest, dass die politische Unterstützung für den Staatsschutz abhängig davon sei, wie gut das kantonale Einsichtsrecht nun mit der neuen Bundesverordnung gewährleistet sei. Sicherheitsdirektor Hanspeter Gass (FDP) nutzte Wüest-Rudins Interpellation für eine Gesamtschau und sagte, Basel-Stadt passe nun seine Staatsschutzverordnung an die neue Bundesverordnung an. Wüest-Rudins Fragen jedoch beantwortete Gass nicht. Dieser zeigte sich unbefriedigt von der Antwort und sagte, er hege Zweifel, ob das neu geregelte Einsichtsrecht wirklich zu einer effektiven Kontrolle des Staatsschutzes führe.  map

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NZZ 9.9.10

Im Dilemma zwischen Effizienz und Grundrechtsschutz

 Der neue, fusionierte Nachrichtendienst des Bundes soll eine einheitliche gesetzliche Grundlage erhalten

 Nach dem Scheitern des Gesetzes über die innere Sicherheit im Parlament im letzten Jahr muss Bundesrat Maurer nun einen Neuanlauf nehmen - gemäss den rigiden Vorgaben der Räte.

 Hanspeter Mettler

 Bis Ende September, so der Auftrag des Bundesrates, soll das Verteidigungsdepartement (VBS) eine Zusatzbotschaft zum Thema Staatsschutz vorlegen. Hintergrund ist die Tatsache, dass im vergangenen Jahr beide Parlamentskammern die Revision des Bundesgesetzes zur Wahrung der inneren Sicherheit (BWIS) zur Überarbeitung an die Landesregierung zurückgewiesen haben. Die noch unter Bundesrat Christoph Blocher ausgearbeitete Vorlage, so die Begründung der Räte, ritze beziehungsweise verletze mehrere verfassungsmässige Grundrechte. Die vom Parlament formulierten Vorgaben für einen BWIS-Neuanlauf zielen auf einen massvollen Einsatz der neuen Mittel zur Informationsbeschaffung durch den Nachrichtendienst.

 BWIS "light"

 Dazu gehörten gemäss der zurückgewiesenen Vorlage die präventive Überwachung von Post- und Telefonverkehr, die Durchsuchung von Computern und gar die Überwachung in privaten Räumen, ohne dass gegen die Betroffenen zuvor ein gerichtliches Verfahren eingeleitet worden wäre. Weiter verlangt das Parlament, dass der Bundesrat vor einer Neuauflage des Gesetzes dessen Verfassungsmässigkeit detailliert prüft, dass die parlamentarische Aufsicht verbessert wird und dass die Verdachtsmerkmale und die geschützten Rechtsgüter präziser definiert werden.

 Die genannte Zusatzbotschaft soll darlegen, welche Punkte der gescheiterten BWIS-Vorlage unbestritten sind. Diese sollen in einer neuen Gesetzesvorlage "light", voraussichtlich noch diesen Herbst, übernommen werden. Bis Ende 2012 will Bundesrat Ueli Maurer, in dessen Departement der neue fusionierte Inland- und Ausland-Nachrichtendienst NDB (Nachrichtendienst des Bundes) angesiedelt ist, einen Entwurf für ein neues Nachrichtendienstgesetz vorlegen. Diese einheitliche gesetzliche Grundlage soll die Aufgaben, Rechte, Pflichten und Informationssysteme für die nachrichtendienstliche Tätigkeit festlegen und die heute im BWIS, im Militärgesetz und im Bundesgesetz über die Zuständigkeit des Nachrichtendienstes verstreuten Regeln ersetzen. Im Erlass werden auch die umstrittenen Punkte der 2009 zurückgewiesenen BWIS-Vorlage neu geregelt.

 Der frühere Inlandnachrichtendienst DAP (Dienst für Analyse und Prävention) hatte zu viele, für die nachrichtendienstliche Arbeit irrelevante Personen erfasst. Zudem blieben diese Daten oft ohne die gesetzlich vorgeschriebene Überprüfung gespeichert. Nach dem Marschhalt des Parlaments, aber auch nach der harten Kritik der Geschäftsprüfungsdelegation (GPDel) von Ende Juni am DAP ist klar, dass Aspekte des Datenschutzes und der Garantie der freiheitlichen Grundrechte der Bürger im Wettbewerb mit dem Ziel nachrichtendienstlicher Tätigkeit, also dem Schutz der Bevölkerung, hoch gewichtet werden dürften. In diesem Sinn hat sich im Parlament auch Bundesrat Maurer geäussert. Und im NDB selber sind erste Konsequenzen gezogen worden. Am 2. Juli erliess Direktor Markus Seiler eine Weisung, wonach Personen nur dann im Informationssystem Isis erfasst werden dürfen, wenn sie für den Staatsschutz wirklich relevant sind, das heisst eine Gefahr für die innere oder äussere Sicherheit der Schweiz darstellen. - Im neuen Nachrichtendienstgesetz wird unter anderem die Frage zu regeln sein, ob ausschliesslich Verdächtige in die Datenbank Eingang finden oder ob auch zur Prävention erhobene Daten erfasst werden dürfen. Abklärungen zur heiklen Frage sind zurzeit im Bundesamt für Justiz im Gang. Klar ist, dass von den Zielsetzungen des Nachrichtendienstes her eine reine Verdächtigten-Datenbank Probleme bietet. Es geht dabei um sogenannte Verknüpfungen. Nicht verdächtigte Drittpersonen können für die Beurteilung eines potenziell gewaltbereiten Netzwerkes durchaus Bedeutung haben. Dürfen sie nicht erfasst werden oder müssen sie aus der Datenbank gelöscht werden, sind auch alle von dieser Person ausgehenden Verbindungen für die Staatsschutztätigkeit verloren.

 In Nachrichtendienstkreisen spricht man hier gelegentlich von einer Überlebensfrage: "Dürfen wir ausschliesslich bei Verdacht tätig werden, dann machen wir kaum noch mehr als die Bundeskriminalpolizei." Auf der anderen Seite akzeptiert man im NDB Vorwürfe der GPDel, so jenen der übertriebenen Sammelwut. In Zukunft soll die Qualität vor der Quantität Vorrang haben. Anstelle des Notierens beispielsweise von Hunderten von Autokennzeichen an einer Veranstaltung mit extremistischem Hintergrund müsse es darum gehen, Kenntnisse über die Drahtzieher zu gewinnen. Und es sei in der Vergangenheit auch falsch gewesen, jeden Aspekt der Lebensführung einer erfassten Person aufzuzeichnen. "Wir sind keine Biografen", lautet die Lehre im NDB.

 Bei der Rückweisung der BWIS-Vorlage hat das Parlament dem Bundesrat auch die Auflage mit auf den Weg gegeben, Fragen der Zusammenarbeit mit inländischen und ausländischen Polizeistellen genau abzuklären. In diesen Kontext gehört die Kooperation mit ausländischen Nachrichtendiensten. Wenn beispielsweise ein solcher Dienst an den NDB herantritt mit der Feststellung, er habe Kenntnis von einem Fall der Proliferations-Finanzierung in der Schweiz, der Schweizer Dienst sich dann aber stumm stellt, ist damit zu rechnen, dass die ausländischen Staatsschützer selbst in unserem Land tätig werden. Unter dem Aspekt des Schutzes der Grundrechte wäre das wegen des Fehlens jeglicher Kontrolle wohl die zweitbeste Lösung.

 Nötige Grundsatzdebatte

 Im Hinblick auf die Schaffung des neuen Nachrichtendienstgesetzes wird es zwingend sein, dass die Konsequenzen aus der Kritik an der in einigen Punkten gegen das Gesetz verstossenden Praxis des alten Inlandnachrichtendienstes gezogen werden. Eine Debatte ist indessen nicht nur über den Schutz der Grundrechte zu führen. Der Erörterung bedürfen auch die Zielsetzungen des Staatsschutzes (vergleiche untenstehenden Artikel): Was muss der NDB können, und unter welchen Rahmenbedingungen, zu denen auch die Kontrolle durch das Parlament gehört, hat er seine Leistungen zu erbringen?

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Auch die Schweiz braucht Auslandspionage
 
Die gegenwärtige Debatte über die Rolle des Nachrichtendienstes ist zu sehr auf die innenpolitischen Aspekte fixiert

 Ein international eng vernetztes Land wie die Schweiz benötigt Wissen über andere Staaten. Der Nachrichtendienst des Bundes steuert Informationen bei, die nicht öffentlich zugänglich sind.

 Eric Gujer

 Die Aufregung um die Planungen für eine Befreiungsaktion der beiden Geiseln in Libyen hat überdeutlich gemacht, dass auch ein neutraler, sich von den Händeln der Welt nach Möglichkeit fernhaltender Staat wie die Schweiz auf einen guten Auslandnachrichtendienst angewiesen ist. Denn dem Nachrichtendienst oblag es, die diversen Szenarien für eine Ausschleusung der beiden Schweizer aus dem Land zu bewerten. Mit seiner Einschätzung der Lage trug er wesentlich dazu bei, dass der Einsatz angesichts der unkalkulierbaren Risiken verworfen wurde.

 Der Fall Libyen zeigt exemplarisch, wie ein Nachrichtendienst offene und geheime Informationen zu einer Gesamtanalyse verschmilzt. Das Wissen über die in die libysche Wüste und von dort in Nachbarländer führenden Pisten, über die zahlreichen Checkpoints in Ghadhafis Polizeistaat und andere, für einen unbemerkten Grenzübertritt wichtige Details sind im Prinzip öffentlich. Doch man benötigt eine Stelle, die diese Daten kompetent und nicht allein unter militärischen Gesichtspunkten zu bewerten vermag - und mit nicht allgemein zugänglichem Wissen ergänzt. Neben vielen offenen Informationen kann eine einzelne geheime Information einen echten Mehrwert bringen. Die Faustregel, wonach westliche Auslandnachrichtendienste 80 Prozent ihrer Kenntnisse aus öffentlich zugänglichen Quellen schöpfen, beweist also nicht, dass Geheimdienste eigentlich überflüssig sind. Entscheidend ist die Qualität des Gesamtbildes.

 Qualität in der Nische

 Der zivile Nachrichtendienst des Bundes (NDB) ist im internationalen Vergleich klein, mit dem Ausland befassen sich weniger als 200 Personen. Hinzu kommen die Stellen in der Armee für die Überwachung der internationalen Telekommunikation (Signals Intelligence, kurz Sigint). Der deutsche Auslandgeheimdienst BND hat unter Einschluss der Sigint-Kapazitäten rund 6000 Mitarbeiter - und der deutsche Dienst nimmt sich neben den amerikanischen Schwergewichten CIA, NSA und DIA wiederum klein aus. Vergleiche verbieten sich jedoch nicht nur wegen der Grösse. So mutiert die CIA im Zuge des "Global War on Terror" zu einer paramilitärischen Organisation. Die klassische Aufgabe eines Nachrichtendienstes - die Informationsbeschaffung - gerät dabei ins Hintertreffen gegenüber der Kriegführung mit CIA-Spezialkommandos und Drohnen nicht nur im Irak und in Afghanistan.

 Die Schweiz führt nachrichtendienstlich ein Nischendasein, hat aber einzelne Stärken, die ihr bei der Kooperation mit den Diensten anderer Länder helfen. Das Klischee des Agenten, der fremde Geheimnisse stiehlt, ist nicht Sache des NDB, schon deswegen nicht, weil ihm hierfür die Ressourcen fehlen. Die Arbeit mit Informanten (Human Intelligence, Humint) ist personalintensiv. Der Geheimdienst unterhält jedoch keine grossen Vertretungen an den Schweizer Botschaften, allenfalls kümmert sich der Militärattaché um das Nachrichtendienstgeschäft. Wenn man im Ausland wenige hauptamtliche Mitarbeiter hat, wird man dort auch nur wenig Informanten anwerben. Präsenz im Ausland wird vorab mit Reisen markiert, und hier setzt die Schweizer Auslandspionage traditionell einen Schwerpunkt im Maghreb und in der französischsprachigen Subsahara. Hier haben Nachrichtendienst-Mitarbeiter aus der Romandie einen Vorteil gegenüber deutschen oder britischen Kollegen.

 Die internationale Zusammenarbeit in der Schattenwelt der Nachrichtendienste basiert auf Tauschhandel. Ein kleiner Dienst wie der NDB erhält von engen Partnern wie dem BND zwar immer mehr Informationen, als er selbst zu geben vermag. Aber es kommt dann darauf an, als Tauschobjekt hochklassige Informationen aus einem Spezialgebiet wie Nordafrika zu offerieren. Das wichtigste Mittel zur Beschaffung geheimer Informationen ist für den NDB wie für die meisten anderen westlichen Nachrichtendienste die Kommunikationsüberwachung. Auch grössere Staaten wie Deutschland schöpfen den Grossteil ihres geheimen Wissens aus dem Äther und immer häufiger aus dem Eindringen in fremde Computer.

 Frühzeitige Erkenntnisse

 Im Gegensatz zu Glasfaserleitungen und Handy-Netzen lässt sich der Verkehr über Satelliten relativ einfach aus grosser Distanz mit entsprechenden Antennen überwachen. Viele Konflikte spielen sich in abgelegenen Regionen ab, in Wüsten und Bergen, wo Satellitentelefone die einzige Kommunikationsmöglichkeit sind. In den technischen Disziplinen kann auch ein kleiner Dienst gute Ergebnisse erzielen, wenn er kreative Spezialisten hat. Die Schweizer Nachrichtendienste haben relativ früh den Cyberspace als lohnendes Ziel entdeckt: das Ausspähen anderer Rechner ebenso wie die Abwehr von fremden Angriffen, wie sie die Bundesverwaltung mehrfach zu verzeichnen hatte.

 Die Kontrolle der Telekommunikation verdeutlicht auch, wie unterschiedlich die rechtlichen Grundlagen für den Nachrichtendienst im Inland und im Ausland sind. Im Inland benötigt die Polizei eine richterliche Erlaubnis zum Abhören eines Telefons, und dem Nachrichtendienst ist die technische Überwachung gänzlich untersagt. Im Ausland hingegen soll der NDB Informationen sammeln, auch wenn dies mit Gesetzesverstössen verbunden ist, und er bedient sich hierbei auch der im Inland verpönten Lauschangriffe. Der unterschiedliche juristische Rahmen führt in der Praxis zu vielfältigen Problemen, da gesammelte Daten je nach Herkunft unterschiedlich gehandhabt werden müssen. Die jüngst aufgedeckte Sammelwut inländischer Staatsschützer, die 200 000 Personen fichiert haben, hat den Ruf nach Gesetzesverschärfungen ausgelöst. Allfällige gesetzgeberische Massnahmen im Hinblick auf den Inlandnachrichtendienst dürfen die Arbeit im Ausland nicht erschweren.

 Ohnehin operiert der NDB im Vergleich zu anderen westeuropäischen Nachrichtendiensten in einem engen rechtlichen Korsett. Selbst in Deutschland, das aufgrund der historischen Erfahrungen mit Gestapo und Stasi ebenfalls strenge Vorschriften kennt, ist dem Inlandnachrichtendienst gestattet, Telefone abzuhören und etwa in den Moscheen gewaltbereiter Islamisten verdeckt Informationen zu sammeln. Beides ist dem NDB im Inland nicht gestattet, obwohl ein Blick über die Grenze nach Deutschland oder Frankreich zeigt, dass die Überwachung des Mail- und Telefonverkehrs entscheidendes Wissen über die islamistische Szene liefert. Ein extremistisches Umfeld, in dem die meisten Personen nicht gewalttätig sind, sich aber Einzelne immer weiter radikalisieren, muss möglichst frühzeitig überwacht werden - nicht erst dann, wenn eine Straftat droht. Diese präventive Arbeit ist Sache des Nachrichtendienstes, nicht der Polizei.

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privatim.ch 2.9.10

privatim
die schweizerischen datenschutzbeauftragten
les commissaires suisses à la protecion des données
c/o Datenschutzbeauftragter des Kantons Zürich
Postfach, CH-8090 Zürich
Tel. +41 (43) 259 39 99, Fax +41 (43) 259 51 38
praesident@privatim.ch, www.privatim.ch

Medienmitteilung

Zürich, 2. September 2010

Unabhängige Datenschutzaufsicht im Staatsschutz fehlt nach wie vor

Im Bereich des Staatsschutzes ist eine unabhängige und wirksame Datenschutz-kontrolle nicht möglich. privatim, die Vereinigung der schweizerischen Daten-schutzbeauftragten beanstandet, dass eine Kontrolle der Datenbearbeitungen der Staatsschutzorgane von der Zustimmung des Bundes abhängig ist und damit die zu kontrollierenden Organe über den Umfang der Kontrollen bestimmen. privatim fordert deshalb die Aufhebung des Zustimmungserfordernisses, um eine unabhän-gige Kontrolle durch die Datenschutzbeauftragten gewährleisten zu können.

Das Fehlen einer wirksamen Kontrolle über die Staatsschutztätigkeit von Bund und Kan-tonen ist kürzlich auch schweizweit zur Kenntnis genommen worden. Das Defizit betrifft alle drei Arten der Kontrolle:
- die parlamentarische Kontrolle durch die Geschäftsprüfungsorgane der Parlamente in Bund und Kantonen (Oberaufsicht),
- die Kontrolle durch die vorgesetzten Stellen in Bund und Kantonen (Dienstaufsicht) und
- die Kontrolle durch die Datenschutzbeauftragten in Bund und Kantonen (Datenschutz-aufsicht).

Inzwischen wurden verschiedene Massnahmen zur Verbesserung der Situation eingelei-tet. Sie betreffen in aller Regel die Dienstaufsicht (Stärkung der internen Kontrolle im Bund, Änderung der Verordnung über den Nachrichtendienst des Bundes [V-NDB] zur näheren Regelung der Dienstaufsicht in den Kantonen). Ob diese Massnahmen die Kon-trolldefizite bei der Dienstaufsicht in genügendem Masse beseitigen, ist offen. Mindestens die Unabhängigkeit der kantonalen Dienstaufsicht wird geschwächt, wenn nach dem ge-änderten Art. 35 V-NDB den vorgesetzten Stellen die Dienstaufsicht obliegt. Die bisherige Pflicht, für die kantonale Dienstaufsicht ein vom Vollzugsorgan getrenntes Kontrollorgan einzusetzen, wurde aufgehoben. Neu ist es den Kantonen überlassen, ein solches Kon-trollorgan einzusetzen, das den vorgesetzten Stellen verantwortlich ist.

Defizite bei der Datenschutzaufsicht

Die geplanten und beschlossenen Massnahmen beheben die Defizite bei der Daten-schutzaufsicht auf jeden Fall nicht. Der in der Verordnung über den Nachrichtendienst des Bundes angelegte Grundfehler bleibt bestehen: Staatsschutzdaten werden als Bundesda-ten bezeichnet und mit diesem Argument der unabhängigen Aufsicht der Datenschutzbe-hörden entzogen: Zwar hat der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) begonnen, die Zu-stimmung zur Einsichtnahme der kantonalen Datenschutzbeauftragten in diese Daten nicht mehr a priori zu verweigern. Aber auch so bleibt eine Datenschutzkontrolle weiterhin abhängig vom Willen der Kontrollierten. Der Bund argumentiert, dass alle Daten, die gestützt auf das BWIS bearbeitet werden, "Bundesdaten" seien. Auch wenn sie durch kan-tonale Behörden bearbeitet werden, habe einzig der Nachrichtendienst des Bundes zu entscheiden, ob jemand Einblick in sie erhalte. Wenn beispielsweise die Kantonspolizei Informationen an das kantonale Staatsschutzvollzugsorgan weitergibt, welches sie an den Nachrichtendienst des Bundes weiterleitet, sollen diese gleichsam nachträglich zu "Bun-desdaten" werden. Damit darf auch in diese Daten nur noch mit Zustimmung des Nach-richtendienstes des Bundes Einblick genommen werden.

Datenschutzaufsicht abhängig vom Wohlwollen der Kontrollierten

Mit den Anpassungen, die in den Datenschutzgesetzen im Hinblick auf die Schengen-Assoziierung der Schweiz vorgenommen werden mussten, sollte eine unabhängige und wirksame Datenschutzaufsicht sichergestellt werden. In etlichen Datenschutzgesetzen werden die Datenschutzbeauftragten verpflichtet, das Datenbearbeiten nach einem durch sie autonom aufzustellenden Prüfplan zu kontrollieren. Damit ist es nicht vereinbar, dass sie im Staatsschutz Einblick nur mit Zustimmung des Nachrichtendienstes des Bundes erhalten.

Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen im Datenschutz

Das Konzept der "Bundesdaten" verletzt, wenn es den Kantonen im Bereich der Daten-schutzaufsicht entgegen gehalten wird, die verfassungsrechtlichen Kompetenzen der Kantone. Der Bund besitzt keine umfassende Kompetenz zur Rechtsetzung im Daten-schutz. Er kann wohl im öffentlichrechtlichen Bereich für das Bearbeiten von Personenda-ten durch Bundesorgane ein Datenschutzgesetz erlassen. Für das Datenbearbeiten durch kantonale (und kommunale) öffentliche Organe gelten dagegen die kantonalen Daten-schutzgesetze.
Dem Bund stehen sodann Regelungskompetenzen in bestimmten Aufgabenbereichen zu. Für den Staatsschutz besteht eine solche Regelungskompetenz. Gestützt darauf steht es dem Bund zu, im Bundesgesetz über Massnahmen zum Schutz der inneren Sicherheit (BWIS) zu bestimmen, welche Personendaten durch welche Organe zu welchem Zweck erhoben, weiterbearbeitet und an andere Organe bekannt gegeben werden dürfen. Diese Bestimmungen gelten auch, wenn ein kantonales Organ sie vollzieht. Sie dürfen jedoch nicht dazu führen, dass von den Kantonen vorgesehene Kontrollorgane ihre Aufgabe nicht mehr wie vorgesehen wahrnehmen können.

Forderungen von privatim

Wenn auch im Staatsschutz eine unabhängige und wirksame Datenschutzaufsicht mög-lich sein soll, darf das Konzept der "Bundesdaten" der Datenschutzkontrolle des Staats-schutzes in den Kantonen nicht entgegengehalten werden.

privatim, die Vereinigung der schweizerischen Datenschutzbeauftragten, fordert deshalb die Bundesbehörden auf, den Vorbehalt der Zustimmung durch den Nachrichtendienst des Bundes für die Datenschutzkontrolle des Staatsschutzes in den Kantonen aufzuhe-ben.

privatim fordert die Konferenz der Kantonsregierungen auf, bei den Bundesbehörden auf die Aufhebung des Vorbehalts dieser Zustimmung für die Datenschutzkontrolle des Staatsschutzes in den Kantonen hinzuwirken.


Weitere Auskunft erteilen:

(deutsch)
Dr. Bruno Baeriswyl, Präsident von privatim, Tel.: 043 259 39 99
Dr. Beat Rudin, Mitglied Büro von privatim, Tel.: 061 201 16 42

(français)
Christian Raetz, Mitglied Büro von privatim, Tel.: 021 316 40 64

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SOLIDARITÉ SANS FRONTIERES
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WoZ 9.9.10

Balthasar Glättli-Der Geschäftsführer von Solidarité sans frontières hat genug von der "täglichen Sisyphusarbeit" in der Migrationspolitik und wechselt zur Gewerkschaft VPOD.

 Konflikte hat er nie gescheut

 Von Dinu Gautier

 Ist es Resignation? Sieben Jahre lang hat Balthasar Glättli beruflich gegen die herrschende Asyl- und Ausländerpolitik gekämpft - und viele Niederlagen einstecken müssen. Jetzt gibt er seine Stelle als Geschäftsführer von Solidarité sans frontières ab.

 "In der Migrationspolitik geht es nicht mehr um die Sache, sondern dar um, wer sich als Absender von Massnahmen gegenüber einer xenophoben Bevölkerung besser profilieren kann", sagt Glättli. "Es ist uns nicht gelungen, den Themenbereich Asyl und Migration als normales politisches Thema mit echten Debatten und Kompromisslösungen zu etablieren", so das selbstkritische Fazit des 38-Jährigen. Das politische Tagesgeschäft sei "reinste Sisyphusarbeit" gewesen, in letzter Zeit habe er die alltäglichen Schlagzeilen zunehmend mit Zynismus bewältigt. "Da war es an der Zeit, jemandem mit frischen Kräften den Stab zu übergeben."

 Mit Glättli verliert die Bewegung eine wichtige Persönlichkeit. Der Mann hat libertäre Grundsätze, ist ein Kämpfer für Grundrechte, also für Schutzrechte der Einzelnen gegenüber Diskriminierung durch den Staat. Aus dieser Haltung heraus versuchte er eine offensive Migrationspolitik zu betreiben, statt auf die Tränendrüse zu drücken. Das Ziel: eine breite Bewegung der Migrant Innen, die selbstbewusst Rechte einfordert - und sei es per Streik.

 Landsgemeinden

 An von Solidarité sans frontières organisierten "Landsgemeinden der Migration" sollten die Basisgruppen gemeinsame Strategien entwickeln. Es wurden Grossdemos organisiert, Referenden gegen Asyl- und Ausländergesetzesrevisionen gesammelt - genützt hat das auf realpolitischer Ebene wenig. Glättli zum gescheiterten Versuch, eine starke Bewegung zu schaffen: "Wer in einem Quartier eine Tempo-30-Zone erkämpft, der geht nachher selten zum VCS, um sich für Tempo-30-Zonen anderswo zu engagieren." Ähnliches beobachte er bei MigrantInnen, die eine Aufenthaltsbewilligung erhielten. "Häufig wird der Aufenthaltsstatus als individuelles Problem gesehen - nicht als ein politisches", sagt Glättli. Das sei kein Vorwurf, AusländerInnen seien ja keine besseren Menschen, zumal es "den Ausländer" ja ebenso wenig wie "den Schweizer" gebe.

 Die Kampagnensucht

 Der ehemalige Ko-Präsident der Grünen des Kantons und amtierender Gemeinderat der Stadt Zürich hat sich immer wieder in Debatten auf nationaler Ebene gestürzt, Allianzen geschmiedet und dabei auch Konflikte mit den eigenen Leuten nicht gescheut. Dass Solidarité sans frontières die Schengen- und Dublin-Abkommen bekämpft hatte, verziehen ihm einzelne grüne Nationalrät Innen während Monaten nicht. Heute zeigt sich: Das Dublin-Abkommen konnte die Verschärfungsspirale im Asylrecht nicht aufhalten, dafür sprach sich die Schweiz mit dem Segen linker Parteien für die Festung Europa aus.

 Nun wechselt Glättli zur Gewerkschaft VPOD, wird Leiter Kommunikation und Werbung. Kampagnen zu führen, bezeichnet Glättli als "Sucht". Zuletzt hatte er massgeblichen Anteil an der erfolgreichen Wahlkampagne von Daniel Leupi, der nun Polizeivorsteher der Stadt Zürich ist. Trotz neuem Kampagnenjob: Ist es eine Herausforderung, für eine Beamtengewerkschaft zu arbeiten? Glättli: "Sicher. Dort werden wesentliche gesellschaftliche Auseinandersetzungen geführt. Etwa wenn öffentliche Betriebe in einen marktfetischistischen Pseudoprivatbereich verschoben werden sollen." Abgesehen davon hoffe er, durch den kürzeren Arbeitsweg über mehr Zeit zu verfügen.

 Glättlis Nachfolge bei Solidarité sans frontières tritt Moreno Casasola an. Der 31-Jährige hat keine Angst, durch den Job zum Zyniker zu werden: "Zynismus ist doch ein gutes Mittel, um Niederlagen zu verarbeiten."

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JENISCHE
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WoZ 9.9.10

"Jung und jenisch" - Bis in die siebziger Jahre wurden Kinder von Fahrenden ihren Familien entrissen. Heute sind viele junge Jenische wieder mit ihren Wohnwagen unterwegs. Zwei Filmemacherinnen haben sie dabei ein Jahr lang begleitet.

 "Es zieht uns einfach"

 Von Dominik Gross

 Wer sind die Jenischen? Diese Frage steht am Beginn des Dokumentarfilms "Jung und jenisch" von Karoline Arn und Martina Rieder über junge Fahrende in der Deutschschweiz. "Wenn ich nicht sagen würde, dass ich ein Jenischer bin, könntest ja du eine Jenische sein. Und ich könnte dich befragen. Ich kann es ja in meinem Ausweis nicht beweisen", sagt Daniel Huber, Präsident der Radgenossenschaft der Landstrasse, der Dachorganisation der Schweizer Jenischen, die seit 1975 deren Interessen in der Schweiz vertritt, ins Off. Nur in der Aufarbeitung der je eigenen Leben der Fahrenden könne ein Sesshafter begreifen, wer die Jenischen seien.

 Arn und Rieder machten dies zum Prinzip ihres Films: Ein Jahr lang begleiteten sie die jungen Fahrenden Pascal und Miranda Gottier, Franziska Kunfermann und Jeremy Huber auf ihren Fahrten im Sommer von Durchgangsplatz zu Durchgangsplatz und besuchten sie in den Wohncontainern auf ihren Standplätzen, wo sie überwintern.

 "Ebe chli jännisch"

 Die üblichen Zigeunerklischees, die das sesshafte Denken in seinem Drang zur Schublade ansteuert, werden in diesem Film schnell widerlegt, ohne dass die Filmemacherinnen oder die Fahrenden selber darum viel Aufhebens machen. Wenn zufällig, wie bei einem Kammermusikduo an einem Fest, ein schnurrbärtiger Bassist ins Bild rückt, dann spielt er nicht irgendeine Gipsy-Polka, sondern begleitet das Schwyzerörgeli.

 Umso genauer schaut die Kamera von Rieder hin, wenn etwa die 17-jährige Franziska Kunfermann auf ihrer ersten Sommerreise den sehr langen Wohnwagen akribisch putzt. Und die Autorinnen lassen ihr und dem 19-jährigen Jeremy Huber Zeit, wenn sie das Publikum durch deren mobiles Heim der Marke Dethleffs, Modell Beduin, führen: im Heck ein weisses Ledersofa mit Leopardenkissen vor weissen Rüschenvorhängchen, vorne ein Doppelbett, auf dem Franziska grad Herzchenkissen drapiert. Jeremy sagt: "Das isch ebe chli jännisch, echli e schöns Deckbett." Offenbar ist nicht alles, was jenisch ist, nur jenisch.

 Gut, Pascal und Miranda Gottier hören vielleicht lieber neuere deutsche Volksmusik als viele ihrer sesshaften AltersgenossInnen. Aber jenische Musik ist das deswegen nicht. Es tätowiert sich auch nicht jeder seinen Familiennamen auf den Unterarm wie Pascal (25), und nicht jede sagt wie Miranda, sie gelte manchmal schon als "alte Schachtel", weil sie mit einundzwanzig noch nicht Mutter sei. Spätestens mit fünfzehn, sagt sie, könne eine fahrende Frau den Haushalt selbstständig führen: "Der Mann bringt das Fleisch, die Frau kochts." Bei ihnen sei die Rollenverteilung halt noch wie in den Fünfzigern.

 Es wird noch enger

 "Jung und jenisch" streicht auch enge Bande unter den Männern der Familien heraus: Pascal Gottier ist Daniel Hubers Neffe, Jeremy sein Sohn, Beni Huber sein Bruder, und alle sitzen sie in der Geschäftsleitung der Radgenossenschaft und gehen miteinander im Herbst auf die Jagd. Der Ehrenpräsident der Radgenossenschaft ist Robert Huber, Grossvater von Beni, Pascal und Jeremy. Soeben ist über ihn eine Biografie mit dem Titel "Zigeunerhäuptling" erschienen.

 Robert Huber ist eines von 586 Opfern des Hilfswerks Kinder der Landstrasse der Pro Juventute, das zwischen 1926 und 1973 jenische Kinder und Jugendliche aus ihren Familien riss und unter Vormundschaft stellte. Er wuchs bei Sesshaften auf. Im Film wird deutlich, dass die Erinnerung an dieses Leid das Verhältnis der Jenischen zu ihrer sesshaften Umwelt bis heute prägt, es ist immer noch eines der Distanz und des Misstrauens, sogar der Angst: Mirandas Neffe Nico fürchte im Kindergarten, dass niemand mehr da sei, wenn er heimkomme, sagt Mirandas Mutter. Dass diese Angst bis heute noch in den Knochen auch der Jüngsten steckt, verwundert nicht, wenn Mirandas Mutter, Nicos Grossmutter, erzählt, dass sie Mirandas ältere Schwester noch 1985 fast zur Adoption freigeben musste.

 Was aber ist am jungen jenischen Leben noch typisch jenisch, neben einer leidvollen Geschichte der Eltern und Grosseltern, die diesen die Sesshaften aufzwangen? Frauen am Herd, Jagdliebhaber und Patriarchen gibt es schliesslich nicht nur bei den Fahrenden. Arn und Rieder wollen darauf keine definitiven Antworten geben: Ihr Film bleibt immer in Bewegung, so wie es auch der gezeigte Alltag der jungen Fahrenden wenigstens im Sommer ist. Er ist von Unverbindlichkeiten, Unberechenbarkeiten, spontanen Aufbrüchen und Abbrüchen geprägt.

 Vielleicht ist das jenisch: "Es zieht uns einfach", sagt Jeremy einmal. Jenisch ist auch der gegenwärtige Kampf der Jungen um die Erhaltung ihrer Lebensgrundlage, des Fahrens selbst: Wollen Hubers und Gottiers auch in Zukunft fahren, dann brauchen sie mehr Durchgangsplätze für die sommerlichen Zwischenhalte und mehr Standplätze zum Überwintern: Den 3000 fahrenden Jenischen (die anderen 32 000 SchweizerInnen, die sich zur anerkannten schweizerischen Minderheit zählen, sind sesshaft, sogenannte "Beton-Jenische") und den ausländischen Sinti und Roma, die durch die Schweiz ziehen, stehen zurzeit 12 offizielle Stand- und 44 Durchgangsplätze zur Verfügung. Da die Möglichkeiten spontaner Halte und die Anzahl informeller Plätze in den letzten Jahrzehnten ab- und gleichzeitig die Zahl der Fahrenden zunimmt, wird es auf den Plätzen immer enger.

 Können die jungen Jenischen nicht mehr fahren, dann können sie auch nicht mehr so arbeiten, wie sie es heute tun - vielleicht das Althergebrachteste an ihrer Lebensweise: Sie sind Dachdecker, Maler, Spengler oder Scherenschleifer. Die Aufträge "schränzen" sie sich, wie Pascal Gottier sagt, beim Hausieren. Anerkannte Berufsabschlüsse besitzt niemand der Jenischen im Film. Müssten sie sesshaft werden, dann wäre auch ihre materielle Existenz gefährdet.

 Die Abstimmung von Ibach

 Die mangelhafte Infrastruktur in der Schweiz bringt die fahrenden Jenischen in eine Identitätsbredouille: Wollen sie Abstimmungskämpfe um neue Plätze im konservativen Schweizer Hinterland gewinnen, wie jenen am 26. September bei Ibach in der Gemeinde Schwyz, dann müssen sie "das Schweizerische" an sich betonen, um sich von den ausländischen Roma zu distanzieren, deren schlechter Ruf nicht nur diesen selber zum Verhängnis wird, sondern auch den Jenischen schadet. Damit aber das Stimmvolk die Notwendigkeit von öffentlichen Plätzen für Fahrende versteht, müssen die Jenischen die Eigenständigkeit ihrer Lebensweise gegenüber den sesshaften SchweizerInnen betonen.

 So zielt der Satz auf dem Abstimmungsflyer des Pro-Komitees in Ibach am Kern der Sache vorbei: "Ja zum Durchgangsplatz, weil Schweizer Fahrende Schweizer Bürger sind." Schweizer Fahrende brauchen nicht Durchgangsplätze, weil sie BürgerInnen sind, sondern weil sie Fahrende sind. Wer "Jung und jenisch" sieht, wird das begreifen.

 Karoline Arn und Martina Rieder: "Jung und jenisch". Schweiz 2010.

 Das Schweizer Fernsehen strahlt am Montag, 13. September, 22.55 Uhr, auf SF1 eine leicht gekürzte Fassung aus.

 Filmvorführungen in: Schwyz MythenForum, Mo, 20. September, 17 Uhr. Bern Reitschule, Sa, 25., bis Mo, 27. September.

http://www.dschointventschr.ch

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SKANDER VOGT
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WoZ 9.9.10

StrafVollzug-Skander Vogts Tod in seiner Zelle soll nicht vergessen werden. Dies verspricht die ehemalige Nationalrätin der Grünen Partei Anne-Catherine Menétrey.

 Die Gefängnistür einen Spalt öffnen

 Von Helen Brügger

 "Wir leben in einer Zeit, die nur auf Repression setzt", sagt Anne-Catherine Menétrey-Savary. Sie ist noch immer schockiert vom Schicksal des dreissigjährigen Skander Vogt, der zehn Jahre in Verwahrungshaft im Gefängnis Bochuz sass und den die Wächter im Rauch einer brennenden Matratze ersticken liessen. Zusammen mit zwei Kolleginnen hat sie untersucht, wie dieser Tod hätte verhindert werden können. Heute Donnerstag stellt ihre Initiativgruppe den Medien das Ergebnis ihrer Recherchen vor. "Es braucht eine demokratische Überwachung der Gefängnisse durch die Zivilgesellschaft", ist Menétrey überzeugt.

 Skander Vogt starb als Opfer der Verwahrungspolitik und einer falsch verstandenen Sicherheitspolitik, weil sich "die Wärter wie Roboter hinter den Sicherheitsdirektiven verschanzt" hätten, schrieb der ehemalige Bundesrichter Claude Rouiller in seinem explosiven Rapport über die Umstände von Vogts Tod (siehe WOZ Nr. 28/10). Der Rouiller-Bericht erschütterte die Waadtländer Institutionen, Justizdirektor Phil ippe Leuba versprach Reformen: mehr Mittel und neue Institutionen für die Betreuung psychisch auffälliger Häftlinge, klarere Richtlinien und Verantwortlichkeiten für das Personal.

 "Knastgruppe" wiederbeleben?

 "Das ist alles schön und recht, aber es genügt nicht", sagt Menétrey, die seit ihrer Zeit im Nationalrat Spezialistin für Fragen des Strafvollzugs ist. Nach dem Tod von Skander Vogt sei sie von vielen Medienschaffenden gefragt worden, ob es eine neue "Knastgruppe" brauche. Der "Groupe Action Prison", entstanden im Umfeld der linksradikalen und autonomen Szenen der siebziger und achtziger Jahre, hat mit Klagen gegen Strafvollzug und Justiz von sich reden gemacht und ist dann in einem veränderten politischen Umfeld eingeschlafen. In den letzten Wochen ist Menétrey zusammen mit der ehemaligen Sozialarbeiterin Patricia Lin und der ehemaligen Aktivistin der Waadtländer "Knastgruppe" Muriel Testuz der Frage nachgegangen, ob die Wiederbelebung des Waadtländer "Groupe Action Prison" nötig und möglich sei.

 Sicher: Menétrey und ihren Kolleginnen geht es nicht um die Utopie einer repressionsfreien Gesellschaft, an die die "Knastgruppen" der achtziger Jahre glaubten. Sondern um Ansätze im Strafvollzug, die in der allgemeinen Sicherheitshysterie vergessen worden sind. "Wenn eine Gesellschaft nur Repression kennt, läuft etwas grundsätzlich falsch." Neben dem Prinzip "Strafe" sei das Prinzip "Resozialisierung" verloren gegangen. Alternative Methoden wie Arbeitseinsätze im Interesse der Allgemeinheit, Kontakte zwischen TäterIn und Opfer, Schlichtung mit dem Ziel von Wiedergutmachung, mehr Mittel für den Einsatz neuer soziotherapeutischer Methoden seien in Vergessenheit geraten.

 Trotzdem wird es im Kanton Waadt keine neue "Knastgruppe" geben. Es gebe sehr viele verschiedene Institutionen und Organisationen, die sich mit der Problematik befassten, sagt Menétrey. So hätten sich etwa die Anwaltskammer oder die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter kritisch zur Verwahrungshaft geäussert. Die kleine Initiativgruppe von Menétrey hat unter anderen auch die Gewerkschaft der Gefängnisangestellten, die Schweizer Sektion von Amnesty International, die Schweizer Liga für Menschenrechte, Schulen und Universitäten kontaktiert. "Wir sind mit unserem Anliegen überall auf Interesse gestossen, und die angesprochenen Organisationen haben versprochen, aktiv zu werden."

 Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter untersucht, wie sich die Praxis der Verwahrungshaft auf die psychische Verfassung der Inhaftierten auswirkt, sie will in Zukunft ihre Arbeit verstärkt mit anderen koordinieren und vermehrt Öffentlichkeitsarbeit betreiben. Und die Waadtländer Sektion der Schweizer Liga für Menschenrechte ist bereit, die Ergebnisse aller Recherchen und Aktivitäten zu bündeln. "Die Liga wird zum Ort, wo die Fäden zusammenlaufen und weiter gehende Initiativen ergriffen werden", freut sich Menétrey.

 Kein Einzelfall

 Denn der Fall Skander Vogt ist kein Einzelfall. Der Initiativgruppe liegen die Akten einer Person vor, die 1995 wegen kleiner Eigentumsverstösse zu neun Monaten Haft verurteilt wurde. Der Vollzug wurde seither in zeitlich unbegrenzte Verwahrungshaft umgewandelt; 2008 wurde die Person nach einer Revolte gegen die Verwahrungshaft als "gewalttätig" eingestuft und in den Hochsicherheitstrakt verlegt.

 "Gewalt gegen Gewalt, das muss notwendigerweise scheitern", ist Menétrey überzeugt. Solange nichts gegen die Gewalt unternommen werde, die vom Haftsystem selbst erzeugt werde, könne es zu neuen tragischen Vorfällen kommen. "Mit unserer Initiative wollen wir erreichen, dass die Tür zu den Gefängnissen, die Skander Vogts Tod einen Spalt geöffnet hat, nie wieder ganz zufällt."

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WEGGESPERRT
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Rundschau sf.tv 8.9.10

Weggesperrte Frauen

1970 sitzt eine 18-jährige Frau im Gefängnis - ein ganzes Jahr lang unter Mörderinnen, Totschlägerinnen und Räuberinnen. Gina Rubeli hatte gegen ihre Eltern rebelliert und einen Selbstmordversuch gemacht. Schliesslich wurde sie amdinistrativ versorgt. Gina Rubeli ist eine von vielen "Liederlichen" und "Arbeitscheuen", welchen es in den sechziger und siebziger Jahren ähnlich ging. Die Rundschau hat mit Gina Rubeli noch einmal die Frauenanstalt Hindelbank besucht. Könnte ein solcher Fall heute auch noch geschehen?
http://videoportal.sf.tv/video?id=a9717823-5f3b-4a71-a03f-6f346a7d9693

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QUEER CINEMA
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WoZ 9.9.10

Luststreifen

 Zum dritten Mal findet im Neuen Kino in Basel das kleine Filmfestival "Luststreifen - Queer Cinema" statt. Unter dem Titel "Sex, Gender & Desire" werden im September Filme gezeigt, die sich mit dem Geschlecht ausserhalb der traditionellen Vorstellungen von Mann und Frau auseinandersetzen.

 Der dänische Dokumentarfilm "Nobody Passes Perfectly" von Saskia Bisp zeigt die Suche nach der Geschlechter identität; die chilenische Dokufiktion "Aztlan" von Carolina Adriazola Astudillo erzählt die Geschichte einer Frau mit männlichen Sexualorganen und jene eines Mannes in einem Frauenkörper; die argentinische Regisseurin Julia Solomonoff berichtet in ihrem Drama "El ultimo verano de la Boyita" von der zwölfjährigen Jorgelina und dem jungen Mario, der ein Geheimnis hütet, das Jorgelina durch ihre zaghaften Annäherungen aufdeckt.

 Auch die weiteren Filme bringen das Thema der Geschlechteridentität auf die Leinwand und appellieren an mehr Toleranz und Spielraum innerhalb der strengen zweigeschlechtlichen Ordnung. süs

 "Luststreifen - Queer Cinema" in: Basel Neues Kino, bis 25. September. "Nobody Passes Perfectly" und "Aztlan", Sa, 11. September, 19 Uhr, "El ultimo verano de la Boyita", Sa, 11. September, 21 Uhr. Weiteres Programm: http://www.neueskinobasel.ch / http://www.luststreifen.ch

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HETERO-BRAVO-NORMATIV
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WoZ 9.9.10

"Bravo"-Ein neues Buch untersucht, wie Homosexualität während fünfzig Jahren in der Jugendzeitschrift thematisiert wurde.

 "Man hört sie stöhnen"

 Von Martin Büsser

 Als es noch kein Internet gab, war die "Bravo" für Jugendliche sexuell so ziemlich das Freizügigste, was man sich im deutschsprachigen Raum erträumen konnte. Mit Nacktfotos und der offenen Thematisierung von Onanie und Petting hat die "Bravo" mindestens drei Generationen "aufgeklärt" und damit Aufgaben übernommen, die in Schulen und Elternhäusern lange tabu waren. Doch halfen die BeraterInnen wirklich dabei, an einer unverkrampften Einstellung zur Sexualität zu arbeiten?

 Erwin In het Panhuis hat in einer Studie untersucht, wie die "Bravo" mit dem Thema Homosexualität seit der Gründung 1956 umgegangen ist - und kommt zu einem ernüchternden Ergebnis: Die "Bravo" ist nie liberaler als der Rest der Gesellschaft, sondern bestenfalls deren Spiegelbild gewesen.

 1963 erschien die erste Aufklärungsreihe unter dem Titel "Knigge für Verliebte". Ein gewisser Dr. Christoph Vollmer beantwortete LeserInnenbriefe und schrieb selbst grössere Reportagen. Hinter dem Pseudonym verbarg sich die Erfolgschriftstellerin Marie Louise Fischer (1922-2005). Ein 16-Jähriger schrieb, dass er den Annäherungsversuchen des Sitznachbars in der Schule ausgesetzt sei. Dr. Vollmer hierzu: "Geh zu Deinem Klassenlehrer und bitte ihn mit Nachdruck, auf einen anderen Platz gesetzt zu werden. Fragt er nach Gründen, dann sagst Du, dass Du darüber nicht sprechen möchtest. Du wirst sehen, dass Dein Lehrer Dich verstehen und Deinen Wunsch erfüllen wird."

 Krank - wenn auch heilbar

 Homosexualität galt in der "Bravo" noch bis 1966 als Krankheit, dem Thema Transsexualität wird gar völlig ratlos begegnet. 1966 erklärt der 16-jährige Lutz in einem Leserbrief, dass er oder es sich in allen Punkten für ein Mädchen hält, und fragt: "Könnte es sein, dass ich ein Hermaphrodit bin?" Die Antwort: "Du solltest Dich [...] nicht in die Idee verrennen, ein Mädchen werden zu wollen - viel besser wäre es, Du würdest doch noch ein richtiger Mann."

 Dieses "richtig" ist das Schlüsselwort in der Sexualaufklärung der "Bravo" bis in die späten sechziger Jahre: Es geht darum, heterosexuellen Paaren den Weg zu ihrem (Ehe-)Glück zu ebnen. Alles andere gilt als krank - wenn auch heilbar - oder vorübergehende Phase.

 Im Oktober 1969 kommt es schliesslich zu einer Wende. Dr. Martin Goldstein übernimmt unter dem Pseudonym Dr. Sommer die Aufklärungsseiten der "Bravo". Doch weder er noch die Leser Innenschaft waren so weit, homosexuelles Begehren offen zum Ausdruck zu bringen. Viele LeserInnenbriefe zu diesem Thema waren verschlüsselt. So berichtete etwa ein Leser davon, dass sein Vater nach der Trennung von seiner Mutter schwul geworden sei und seitdem einen Mann mit nach Hause bringe: "Man hört sie die ganze Nacht stöhnen." Dieser Mann habe einen Sohn, im gleichen Alter wie der Leserbriefschreiber. "Mir war es peinlich, ihm nicht."

 Dr. Sommer erklärt, dass man solche Briefe erst "übersetzen" müsse, da das ganze Drumherum nur dazu diene, das eigene Begehren zu kaschieren. Die Antwort der Redaktion liest sich allerdings weniger fantasievoll als der Brief selbst: "Das Einzige, was Dir also fehlt, ist mehr Kontakt mit Gleichaltrigen und auch mit Mädchen." Denn auch wenn der Umgang mit Homosexualität in der "Bravo" im Laufe der Zeit unverkrampfter wird, bleibt bis in die späten siebziger Jahre hinein ehernes Gesetz: Homosexuelle Handlungen unter Jugendlichen sind meist Ersatzhandlungen, weil das andere Geschlecht nicht zur Hand ist oder man dem anderen Geschlecht gegenüber noch zu schüchtern ist.

 Obwohl sich die "Bravo" nicht besonders weit aus dem Fenster lehnte, wurden 1972 zwei Hefte wegen Beiträgen zu gleichgeschlechtlichen Handlungen indiziert. Anstoss erregte laut Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften "die Schilderung der gegenseitigen Onanie [...] Sie hat ausgesprochenen Aufforderungscharakter." Ein anderer Artikel über gleichgeschlechtliche Sexualität unter Mädchen wurde als "sozial-ethisch begriffsverwirrend" indiziert. Für die Bundesprüfstelle wurden in den Artikeln "lesbische und onanistische Praktiken Minderjähriger [...] in allen Einzelheiten mit Aufforderungs- und Rechtfertigungscharakter" vorgeführt. Im Klartext: Wer das liest, möchte onanieren oder lesbisch werden.

 Fatale Doppelmoral

 Ab den achtziger Jahren trat eine gewisse Normalität im Umgang mit dem Thema ein. Homosexualität wurde nicht mehr als Lebensphase bezeichnet, sondern als "gefestigte sexuelle Orientierung" anerkannt. Hatte die "Bravo" aus alten Fehlern gelernt? Über schwul-lesbisches Begehren wird in der "Bravo" seit der Zeit, als die Zeitschrift im Zuge des sich ausbreitenden Mainstreams ihre Sprechmacht in Sachen Jugendaufklärung verloren hat, ganz selbstverständlich berichtet.

 Zu jener Zeit allerdings, als die Jugendzeitschrift im deutschsprachigen Raum die wichtigste und zum Teil sogar einzige Anlaufstelle für sexuelle Fragen war, versagte die Redaktion auf der ganzen Linie. Bis in die achtziger Jahre hinein wurde zum Thema Homosexualität herumgedruckst und eine fatale Doppelmoral gefahren: Schwule sind zwar nicht krank, sollten aber dennoch einen Arzt oder Familienberater aufsuchen. Oder aber: Schwule sollte man nicht belachen, sondern tolerieren ... wenngleich es sie eigentlich gar nicht gibt, denn gleichgeschlechtliche Zuneigung ist nur eine vorübergehende Phase.

 Ähnlich ignorant ging die "Bravo" auch mit Aids um. Statt Schwulen Tipps zur Verhütung zu geben, richtete sich die "Bravo" fast ausschliesslich an ein heterosexuelles Publikum und beschwichtig te: "Junge Leute sind weniger gefährdet und können sich vor Aids schützen, wenn sie einem gesunden Partner treu bleiben." In einer heterosexuellen Beziehung, versteht sich.

 Erwin In het Panhuis: "Aufklärung und Aufregung. 50 Jahre Schwule und Lesben in der ‹Bravo›". Archiv der Jugendkulturen. Berlin. 2010. 195 Seiten. Fr 40.50.

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"Extrem peinlich"

 Knallig, wirr, überladen - so wirkt die aktuelle "Bravo" auf eine über Dreissigjährige. Die Stars sind zwischen dreizehn und zwanzig Jahre alt, tragen Zahnspange und sind der überalterten Leserin grösstenteils unbekannt. Doch was meint eine sechzehn Jahre alte langjährige "Bravo"-Leserin? Marie aus Bern gibt Auskunft:

 "Die ‹Bravo› ist peinlich aufgemacht, und es steht extrem viel Scheiss drin: Die Teeniestars werden wie Erwachsene behandelt, und es wird getan, als ob sie extrem wichtig seien. Als ich jünger war, schaute ich zu diesen Stars auf, doch dann merkte ich, dass sie nur peinlich sind. Es geht immer darum, ob zwei Stars ein Paar sind oder nicht.

 Schwule und Lesben kommen überhaupt nicht vor. Es werden auch beim Dr.-Sommer-Team nie Fragen zu Homosexualität gestellt. Wer sich nur über die ‹Bravo› aufklären würde, wüsste gar nicht, dass Homosexualität existiert. Zum Beispiel Ricky Martin: Als der schwule Sänger Vater wurde, berichtete die "Gala" über ihn - in der ‹Bravo› war gar nichts drin.

 Auch dicke oder hässliche Menschen gibt es nicht. Wenn du selber nicht hübsch und nicht so selbstsicher bist, verunsichert dich das Lesen der ‹Bravo›, denn es spiegelt eine Welt vor, in der nur Schöne existieren. Sogar in den Fotoromanen sind alle immer dünn!

 Das Allerschlimmste finde ich die Doppelseite, die auf Betroffenheit macht, wie die hier über die Flutkatastrophe in Pakistan. Die finde ich so fehl am Platz, dass ich die gar nie lese."

 süs

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BIG BROTHER SPORT
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Tagesanzeiger 9.9.10

Der falsche Hooligan

 Ronnie Schlauri wurde verhaftet, weil er an einem Fussballkrawall in Basel beteiligt gewesen sein soll. Daraufhin verlor der FCZ-Fan seine Stelle. Doch er war an diesem Spieltag gar nicht in Basel.

 Von Dario Venutti

 Zürich - Glatze, rechte Gesinnung, dumpf - so stellt man sich gemeinhin Hooligans vor. Was Ronnie Schlauri mit ihnen verbindet, sind Äusserlichkeiten. Mit der gewaltbereiten Fanszene hat der 33-Jährige jedoch nichts zu tun, im Gegenteil: Schlauri, ein Hobby-Rapper, komponierte einen Song für ein Gewaltopfer. "Warum dä Roli?" ist eine Benefiz-CD-Single für Roland Maag, der an der Meisterfeier des FCZ 2006 zum Invaliden geschlagen wurde. Sie spielte rund 6000 Franken ein.

 Vielleicht kannten die Szenekenner der Hooliganismus-Abteilung der Stadtpolizei Zürich deshalb Schlauris Namen. Jedenfalls ist es ihm schleierhaft, warum seine Personalien aktenkundig sind. Die Polizei verweigert dazu jede Auskunft. Schlauri sagt, nie in eine Schlägerei an einem Fussballspiel verwickelt gewesen zu sein. Er ist auch nicht Mitglied einer Fan-Gruppierung, und ein Stadion- und Rayonverbot hat er nur deshalb seit kurzem, weil den Behörden ein Fehler unterlaufen ist.

 Ronnie Schlauri wurde Ende Juni verhaftet. Zwei Zivilpolizisten holten ihn in der Znüni-Pause an seinem Arbeitsplatz auf einer Baustelle ab. Der ausgebildete Maurer musste zunächst eine Nacht in einer Zelle in Zürich bleiben. Am nächsten Tag wurde er in Handschellen in einem Wagen mit abgedunkelten Scheiben nach Basel gefahren. Dort verbrachte er wieder eine Nacht in einer Zelle, bevor er am späteren Nachmittag endlich einvernommen wurde.

 Basler Polizei gibt Fehler zu

 Schlauri stand unter Verdacht, am Cupspiel FCB - FCZ im letzten November randaliert zu haben. "Landfriedensbruch und Anführen eines Mobs" wurden ihm vorgeworfen. Am Match in Basel war die Situation eskaliert, nachdem FCZ-Anhänger den Eingang gestürmt und einen Verpflegungsstand im Gästesektor demoliert hatten, während die Polizei die ausserhalb des Stadions wartenden FCZ-Fans mit Gummischrot auf den Extrazug zwingen wollte. Via Rechtshilfeersuchen verlangte die Basler Polizei von ihren Zürcher Kollegen die Namen von rund 50 mutmasslichen Krawallmachern, von denen sie Bilder hatte. Kürzlich wurde ein Teil auch per Internet gesucht.

 Ronnie Schlauri war an dem besagten Tag gar nicht in Basel: "Ich war dort noch nie an einem Match." Er sagt, den Abend zu Hause mit seiner Frau und seiner damals halbjährigen Tochter verbracht zu haben. Was für seine Version spricht, ist die Tatsache, dass während der Einvernahme der Basler Polizist den Irrtum schnell bemerkte. "Nachdem er das Fahndungsbild mit meinem Gesicht verglichen hatte, telefonierte er dem Staatsanwalt und sagte ihm: Das ist er nicht", so Schlauri. Daraufhin konnte er das Gefängnis verlassen, doch damit war der Fall für ihn nicht erledigt.

 Weil Schlauri kein Geld auf sich hatte, musste er ohne Billett mit dem Zug nach Zürich fahren. Ein Sprecher der Basler Staatsanwaltschaft räumt gegenüber dem TA ein, dass der Polizei hier ein Fehler unterlaufen sei. Sie hätte Schlauri Geld geben oder ihn nach Zürich bringen sollen. Mehr wollte der Sprecher zum Fall nicht sagen.

 Fans unter "Generalverdacht"

 Als Schlauri tags darauf an seinem Arbeitsplatz erschien, beschied ihm sein Vorgesetzter: "Mit Leuten wie dir wollen wir nichts zu tun haben." Schlauri war entlassen.

 "Als Fussballfan steht man unter Generalverdacht", sagt Schlauri. Es war sein Glück, dass er drei Wochen später eine Stelle als Kurier fand. Damit wollte er es aber nicht auf sich bewenden lassen. Schliesslich hatte er einen Lohnausfall und wollte für die Umtriebe entschädigt werden. Also beschloss Schlauri, Schadenersatz zu fordern. Seine Rechtschutzversicherung sagte ihm, er könne erst klagen, wenn das Verfahren abgeschlossen sei. Schlauri aber hatte das Gefängnis verlassen, ohne ein Dokument in Händen zu halten. Im Prinzip konnte er nicht beweisen, dass er im Gefängnis war, und deshalb auch keinen Schadenersatz fordern.

 Ronnie Schlauri rief mehrere Male bei der Polizei in Basel an, um einen schriftlichen Beleg zu erhalten, dass das Verfahren gegen ihn eingestellt worden sei. Die Telefonistin verband ihn jeweils weiter. Allerdings kam er nie zur zuständigen Stelle durch, oder die Leitung brach ab. Drei Tage nachdem der Journalist bei der Polizei nachgefragt hatte, erhielt Schlauri ein Schreiben aus Basel: Das Verfahren sei eingestellt worden.

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WAFFENHANDEL
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Bund 9.9.10

Der Bundesrat zeigt Herz für die Nöte der Rüstungsindustrie

 Mit Verweis auf seine strengen Ausfuhrkriterien bekämpfte der Bundesrat ein Exportverbot für Kriegsmaterial. Nun erwägt er, die Kriterien zu lockern.

 Fabian Renz

 Die Gegner sprechen von einem "Geschäft mit dem Tod". Für CVP-Ständerat Bruno Frick dagegen sind Kriegsmaterialexporte "Export von Sicherheit". So jedenfalls liest man es auf der Homepage des von Frick präsidierten "Arbeitskreises Sicherheit und Wehrtechnik", welcher der Rüstungsindustrie nahesteht.

 Diese "stolze, leistungsfähige" Branche solle nun "gleich lange Spiesse" wie die europäische Konkurrenz erhalten, fordern Frick und die Vizepräsidentin des Arbeitskreises, FDP-Nationalrätin Sylvie Perrinjaquet. In zwei identischen Postulaten verlangen sie vom Bundesrat einen Bericht darüber, wie die durch die strengen Ausfuhrkriterien erzeugte "Diskriminierung" der einheimischen Rüstungsindustrie beseitigt werden könne. Kritisiert wird in erster Linie die 2008 "erheblich verschärfte" Kriegsmaterialverordnung, die Exporte in Länder mit prekärer Menschenrechtslage oder bewaffneten Konflikten verbietet. Die "drakonischen" Regeln hätten sich bereits negativ ausgewirkt, insbesondere für Lieferungen nach Pakistan, Saudiarabien und Ägypten.

 Der Bundesrat scheint die Bedenken zu teilen, wie seine bislang unbeachtet gebliebenen Antworten auf Fricks und Perrinjaquets Postulate zeigen. Im Vergleich mit der Europäischen Union, schreibt die Regierung, bestünden tatsächlich "Unterschiede" bei der Bewilligungspraxis. Man sei daher bereit, die Anliegen der Postulanten zu "prüfen", und beantrage die Annahme ihrer Vorstösse.

 "Bruch eines Versprechens"

 "Diese Antwort kann nichts anderes heissen, als dass der Bundesrat die Ausfuhrbestimmungen für Kriegsmaterial wieder lockern will. Das ist der klare Bruch eines Versprechens", kritisiert Patrick Angele von der Gesellschaft für eine Schweiz ohne Armee (GSoA). Tatsächlich dienten die von Frick und Perrinjaquet beklagten Verschärfungen vor zwei Jahren als Argument gegen eine Volksinitiative, die Kriegsmaterialexporte generell verbieten wollte. Dass nun ebendiese Verschärfungen wieder auf dem Prüfstand stehen, findet auch der linksalternative Nationalrat Josef Lang "unglaublich". In der Herbstsession wird Lang daher in einer Anfrage vom Bundesrat genauere Informationen über dessen Pläne verlangen.

 Für Simon Plüss vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) zielt die Wut der Armeekritiker "zum jetzigen Zeitpunkt ins Leere". Falls das Parlament die beiden Postulate gutheisse, werde man einen sorgfältigen Vergleich der schweizerischen und der europäischen Ausfuhrregeln vornehmen - "mit völlig offenem Ergebnis". Jetzt, zwei Jahre nach der Revision der Kriegsmaterialverordnung, sei doch die Gelegenheit günstig für eine Lagebeurteilung.

 "Keine Abmachung getroffen"

 Auch Postulant Bruno Frick versteht die Aufregung nicht: "Wie kann die GSoA etwas dagegen haben, Fakten miteinander zu vergleichen?" Zum Vorwurf, es werde ein Versprechen aus dem Abstimmungskampf von 2008 gebrochen, meint der CVP-Ständerat kurz und trocken: "Ich habe mit der GSoA keine Abmachung getroffen."

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 Schweizer Geschenk

 Militärhelikopter für Pakistan

 Die Schweiz schenkt dem hochwassergeschädigten Pakistan zehn Helikopter des Typs Alouette III. Dies hat der Bundesrat gestern beschlossen. Drei Alouette-Helikopter hatte die Schweiz Pakistan schon Mitte August zur Verfügung gestellt. Nun sollen gemäss Mitteilung des Verteidigungsdepartements auch die restlichen sieben Maschinen dieses Typs, die noch in Schweizer Besitz sind, dem asiatischen Land kostenlos abgetreten werden. Im Frühjahr hatte der Bundesrat ein Kaufangebot Pakistans für dieselben Helikopter wegen Sicherheitsbedenken noch abgelehnt. Inzwischen ist man im Verteidigungsdepartement aber der Ansicht, dass die Umrüstung der Alouettes zu Kampfmaschinen "technisch kaum möglich" wäre. Auch sei Pakistan zu einer friedlichen Nutzung verpflichtet worden. (sda/fre)

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PROZESS
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Radiofabrik (Salzburg) 9.9.10
http://www.freie-radios.net/mp3/20100909-justizskand-35928.mp3

Justiz-Skandal um Tierschützer in Österreich

In Wiener Neustadt erlebt seit Anfang September ein Prozess seine Fortsetzung, der in Österreich bisher beispiellos ist. Auf der Anklagebank sitzen zwölf TierschützerInnen. Die Vorwürfe gegen sie lauten nicht nur Sachbeschädigung und Nötigung. Erstmals kommt in Östereich der so genannte Mafiaparagraf 278a zur Anwendung - den Tierschützern wird Gründung und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen. Nach beinahe einem halben Jahr Verhandlung konnte bisher aber keiner der Anklagepunkte bewiesen werden. Nach der Sommperause wird jetzt weiter verhandelt. Wir haben aus diesem Anlass mit Chris Moser aus Wörgl in Tirol gesprochen. Chris Moser ist einer der Angeklagten und erzählt uns, wie es sich lebt, wenn man sei einem halben Jahr auf der Anklagebank sitzt.
Aktuelle Infos unter http://tierschutzprozess.at

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ANTI-ATOM
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Bund 9.9.10

BKW gelobt Mässigung bei AKW-Kampagnen

 Die SP will der BKW Propaganda für ein neues AKW in Mühleberg verbieten. Die BKW signalisiert - vorerst - Zurückhaltung.

 Simon Thönen

 Am 13. Februar 2011 werden die Stimmberechtigen im Kanton Bern voraussichtlich über ein neues Atomkraftwerk in Mühleberg abstimmen. Der Abstimmungskampf dürfte hart werden - die SP-Fraktion im Grossen Rat jedenfalls bereitet das Kampfterrain schon jetzt mit einer Serie von Vorstössen vor. Sie betreffen Fragen zum Reaktortyp oder zu erneuerbaren Energien. Die Grünen reichten Fragen zu Atomunfallfolgen ein.

 In erster Linie nimmt die SP jedoch vorsorglich den Abstimmungskampf der Gegenseite, genauer der BKW Energie AG, ins Visier. Da diese mehrheitlich dem Kanton Bern gehört, solle der Regierungsrat "finanzielle Beteiligungen der BKW an Abstimmungskampagnen und Abstimmungskomitees unterbinden", fordert SP-Grossrätin Nadine Masshardt in einer Motion. Für das Anliegen hatte die rot-grüne Kantonsregierung in der Antwort auf einen älteren SP-Vorstoss Verständnis gezeigt: "Unternehmen wie die BKW, welche mehrheitlich der öffentlichen Hand gehören, sollen bei Volksabstimmungen grundsätzlich keine Informations- und Kommunikationsmassnahmen finanzieren." Allerdings sagte die Regierung auch, sie habe keine direkte Eingriffsmöglichkeit, um der BKW Kampagnen zu verbieten.

 "Keine besonderen Informationen"

 Eher überraschend ist deshalb, dass die BKW nun freiwillig Zurückhaltung signalisiert. "Gegenwärtig sind keine besonderen Abstimmungsinformationen geplant", sagt auf Anfrage BKW-Sprecher Antonio Sommavilla. Man werde den eigenen Standpunkt via die existierenden Informationskanäle wie Kundeninformationen, die Firmen-Website und Medienmitteilungen einbringen.

 Verglichen mit früheren Atom-Abstimmungskämpfen, in denen die BKW jeweils stark in Kampagnen investierte, wäre dies eine bemerkenswerte Zurückhaltung. Noch 2009 hatte die BKW bei einer kantonalen Abstimmung zu Mühleberg in der Waadt 500 000 Franken für eine Kampagne ausgegeben.

 Allerdings lässt sich die BKW mit dem Wort "gegenwärtig" eine Hintertür offen. Falls doch "ausserordentliche Massnahmen getroffen werden müssten", fügt Sommavilla an, dann werde die BKW ihr finanzielles Engagement offenlegen. Dies allerdings auch nur dann, "falls die Gegenseite dies auch tut".

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Solothurner Zeitung 9.9.10

Tiefenlager Aufruf zu sachlicher Diskussion

 Im Zuge der hitzigen Diskussionen über ein allfälliges Tiefenlager für radioaktive Abfälle im Niederamt meldet sich nun die Aktion für eine vernünftige Energiepolitik Schweiz (AVES) Solothurn zu Wort. "Das vom Bund lancierte Sachplanverfahren zur Tiefenlagerung radioaktiver Abfälle ist weltweit einzigartig", so AVES in einer Medienmitteilung. Es fördere die demokratische Meinungsbildung und sichere die Mitsprache der betroffenen Bevölkerung. Die AVES ruft "zum sachlichen Dialog über Vor- und Nachteile, gestützt auf Fakten und technisches Wissen" auf. Denn: Unsere Generation müsse die Verantwortung übernehmen und die Suche nach dem technisch und geologisch sichersten Ort für die Tiefenlagerung radioaktiver Abfälle aktiv unterstützen. (szr)

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La Liberté 9.9.10

Dans l'antre du réacteur de troisième génération

 Nucléaire ● Alors que trois nouvelles centrales nucléaires sont en projet en Suisse, les yeux se tournent vers la Finlande, où s'achève bientôt la construction du premier réacteur EPR de troisième génération. Plus puissant que nos trois vieilles centrales de Mühleberg et Beznau réunies, ce gigantesque projet, réalisé par le consortium Areva-Siemens sur la presqu'île d'Olkiluoto, se voudra sûr et efficient. Il devrait être opérationnel dès 2013, avec quatre ans de retard et un surcoût de plusieurs milliards d'euros. > 10

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Réacteur de la troisième génération.

 Le nucléaire finnois comme modèle?

 Alors que trois nouvelles centrales sont en projet en Suisse, les yeux se tournent vers la Finlande, où s'achève bientôt la construction du premier réacteur EPR de 3e génération. Visite de ce mastodonte franco-allemand.

 Pascal Fleury de retour d'Olkiluoto

 A l'entrée de la zone sécurisée qui couvre l'ensemble de la presqu'île d'Olkiluoto, à 270 kilomètres au nord-ouest de la capitale finlandaise Helsinki, un indicateur lumineux affiche la puissance des deux réacteurs nucléaires à eau bouillante qui desservent la région depuis trente ans. "Notre production d'électricité est devenue très efficiente ces dernières années", se réjouit Mikko Kosonen, vice-président de l'entreprise privée TVO, qui exploite le site. Les deux centrales couleur brique de la génération de Gösgen et Leibstadt fonctionnent quasiment à pleine capacité. Et grâce à de récentes modernisations, elles atteignent désormais la puissance unitaire de 880 MW.

 Dans le bus affrété par le Forum nucléaire suisse, les regards se tournent cependant déjà vers le mastodonte de béton et d'acier qui a surgi au bout de la presqu'ìle: "Olkiluoto 3" (OL3). Le premier réacteur EPR de troisième génération fourni par le consortium Areva NP et Siemens AG multiplie les superlatifs. Plus grand projet industriel jamais réalisé en Europe du Nord, le chantier emploie plus de 4000 personnes de 55 nationalités. Les consignes de sécurité y sont données en huit langues. Sa puissance électrique sera de 1600 MW, soit davantage que nos trois vieilles centrales de Mühleberg et Beznau réunies.

 Contre la chute d'avion

 La cuve du réacteur (420 tonnes) vient d'être installée en juin à l'intérieur d'une double enceinte circulaire comprenant deux couches en béton armé de 1,8 m d'épaisseur, séparées par une zone tampon de 2 m. Le confinement est coiffé d'un vaste dôme en acier. "Grâce à cette double coque, l'EPR pourrait amortir la chute - peu vraisemblable - d'un avion de ligne", commente Christian Wilson, porte-parole d'Areva.

 Le réacteur à eau pressurisée se voudra particulièrement efficient. "Cette nouvelle génération utilisera moins de combustible et produira moins de déchets", assure Jean-Pierre Mouroux, responsable du projet OL3 pour Areva.

 L'eau sous pression quittera le réacteur à 330 degrés pour suivre un circuit fermé. Ce circuit primaire passera à travers un échangeur de chaleur pour transformer l'eau d'un second circuit en vapeur sous pression. Cette vapeur non contaminée par l'uranium fera alors tourner les turbines, installées dans une halle annexe plus vaste qu'une cathédrale. Le circuit secondaire sera ensuite refroidi par de l'eau de mer pompée à raison de 57 m3 par seconde. Les turbines, gigantesques avec leurs rotors de 7 m de diamètre, sont déjà couplées à un générateur de 250 tonnes, lui-même refroidi à l'hydrogène. "De ce côté, nous sommes prêts!", assure un contremaître de Siemens.

 Retards et surcoûts

 Les travaux sont aujourd'hui bien avancés, mais accusent près de quatre ans de retard par rapport aux promesses du consortium franco-allemand, qui voulait absolument remporter le marché. Commencés en 2005, ils ont été ralentis par des problèmes de livraison des composants (plus de 1700 contrats ont été signés avec des fournisseurs et sous-traitants de 27 pays), par un manque de savoir-faire industriel, s'agissant d'un prototype, mais aussi par des contrôles de sécurité supplémentaires imposés par l'autorité de sûreté finlandaise (STUK).

 Ces gros retards, s'ils ont été bénéfiques pour le peaufinement de la sûreté nucléaire, ont eu en revanche des conséquences fâcheuses sur le coût du projet. Le contrat à prix fixe passé entre le consortium et l'exploitant TVO se montait à 3 milliards d'euros. Mais la facture pourrait finalement dépasser allègrement les 5 milliards. Areva se refuse à tout commentaire. Mais selon "Le Monde", le groupe sous contrôle de l'Etat français aurait déjà provisionné 2,7 milliards d'euros.

 Jouni Silvennoinen, responsable du projet OL3 pour l'exploitant TVO, estime désormais que le réacteur pourrait être chargé en combustible vers la fin 2012 et être exploité dès 2013. Sa durée de fonctionnement sera de 60 ans.

 Coût réel inconnu

 Combien coûterait pareil projet de centrale de 3e génération en Suisse? "La question du prix est très complexe dans pareils projets", explique Christian Wilson, qui se garde d'articuler un chiffre. "Elle dépend de l'investissement propre de l'exploitant, du choix du site, du type de réacteur et finalement des négociations avec le fournisseur dans le contexte d'un marché compétitif."

 Les entreprises électriques suisses FMB, Axpo et Alpiq, qui attendent une autorisation générale de construction pour leurs nouvelles centrales, n'en sont pas encore là. D'abord, ce sera au peuple de parler. I

 Sûreté clairement renforcée

 Sûreté et efficience sont les maîtres mots des réacteurs de troisième génération, qu'ils soient à eau pressurisée, comme l'EPR, ou à eau bouillante. Plusieurs modèles sont actuellement en construction ou en projet dans le monde. Exemples: Westinghouse-Toshiba bâtit quatre réacteurs AP1000 en Chine. Rosatom a développé le VVER, avec plusieurs projets en cours en Chine, Russie, Bulgarie, Slovaquie, Iran, Kazakhstan et Inde. La Corée du Sud cherche aussi à se placer sur le marché international. D'autres grands groupes comme General Electric ou Mitsubishi sont dans la course, visant les Etats-Unis, le Japon ou la Grande-Bretagne.

 De tous ces systèmes, le plus puissant est pour l'instant l'EPR du français Areva, qui promet 1600 MW, fruit de la longue expérience française en matière d'énergie nucléaire. En plus du réacteur d'Olkiluoto, Areva construit trois autres EPR, l'un à Flamanville (F) depuis 2007, les deux autres à Taishan en Chine depuis l'an dernier. Le numéro un mondial du nucléaire planche sur une vingtaine d'autres projets, entre autres aux Etats-Unis, en Grande-Bretagne et en Inde. En Suisse, le groupe, qui a construit autrefois la centrale de Gösgen et livre du combustible, est évidemment très attentif aux projets de nouvelles centrales.

 Pour garantir la sûreté nucléaire, l'EPR franco-allemand s'est doté de systèmes de sécurité en redondance. Déjà, dans le processus de production de la vapeur qui sert à faire tourner les turbines et à entraîner le générateur, la partie du réacteur a été complètement séparée de celle des turbines: les deux circuits étant totalement isolés l'un de l'autre, les particules radioactives ne peuvent pas franchir le confinement.

 De plus, quatre systèmes indépendants permettent de contrôler tout emballement du réacteur. "Même dans le cas extrême d'une fusion du cœur, le combustible fondu restera contenu dans le bâtiment du réacteur", affirme Christian Wilson, porte-parole d'Areva. Selon lui, la double coque qui protège l'ensemble du circuit primaire est capable de résister tant à une explosion de la cuve qu'à la chute d'un avion.

 Malgré des investissements de construction élevés, le prix de l'électricité restera "très compétitif", assure Christian Wilson. Il rappelle que dans le nucléaire, le combustible (uranium) ne compte que pour une petite part dans le coût de production de l'électricité, et que les installations peuvent être amorties à long terme. PFY

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 Presqu'île d'Olkiluoto

 Paradis du nucléaire

 Située au bord du golfe de Botnie, la presqu'île d'Olkiluoto est le plus important centre nucléaire de Finlande. Elle abrite les centrales OL1 (1979) et OL2 (1982), le chantier du réacteur EPR (image de synthèse), mais aussi l'emplacement d'une 4e centrale, approuvée en juillet par le parlement. On y trouve aussi une halle avec piscine pour l'entreposage provisoire du combustible usé et, depuis 1992, un dépôt profond pour les déchets faiblement et moyennement radioactifs (-60 m). Un dépôt profond pour déchets hautement radioactifs (-420 m) devrait y être creusé d'ici à 2020. PFY/TVO

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 Repères

 La Finlande nucléaire

 > La Finlande compte actuellement 4 centrales nucléaires en service, contre 5 en Suisse. Sa part d'électricité nucléaire est de 28% (Suisse: 39,3%)> L'option nucléaire finnoise se poursuit avec la construction d'une centrale de 3e génération à Olkiluoto et l'acceptation de principe, en juillet par le parlement, de deux autres projets de centrales. En Suisse, trois projets attendent une autorisation générale. Le peuple devra se prononcer en 2013.> Question déchets, deux dépôts définitifs en profondeur sont déjà opérationnels en Finlande pour les déchets d'exploitation. Un dépôt pour déchets hautement radioactifs est prévu pour 2020 à Olkiluoto. La Suisse ne prévoit pas de dépôt définitif avant 2030, respectivement 2040 pour les déchets "lourds". PFY

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Newsnetz 9.9.10

Schweiz bezieht Brennstäbe aus stark verstrahlten Gebieten

sda / mrs

 Die Schweizer Atomkraftwerke beziehen ihr Uran aus stark verschmutzten Gebieten. Nun werden die Betreiber zur sofortigen Handlung aufgefordert.

 Greenpeace fordert die Betreiber von Schweizer Atomkraftwerken auf, aus zweifelhaften Uran-Geschäften mit Russland auszusteigen. Das Uran für ihre Brennstäbe stammt zum Teil aus der russischen Wiederaufbereitsungsanlage Majak - einer der verstrahltesten Orte der Welt.

 Die Betreiber der Atomkraftwerke Gösgen und Beznau bestätigten am Mittwoch gegenüber der Sendung "Rundschau" des Schweizer Fernsehens SF erstmals, dass ihre Brennstäbe zum Teil wiederaufbereitetes Uran aus Majak enthalten. Sie waren in der Sendung mit Recherchen von Greenpeace konfrontiert worden.

 "Saubere Atomenergie" trügt

 Mit dem Eingeständnis stehe die von der Atomindustrie gerühmte "saubere Atomenergie" in einem sehr dunklen Licht, schreibt die Umweltorganisation am Donnerstag in einer Mitteilung.

 Majak gilt neben dem ukrainischen Tschernobyl als verstrahltester Ort der Welt. In den Fünzigerjahren explodierte dort ein Tank mit hoch radioaktivem Plutonium. Heute werden laut Greenpeace radioaktive Abwasser der Anlage direkt in den Fluss Tetscha geleitet, weitere radioaktive Flüssigkeiten lagerten kaum gesichert unter freiem Himmel.

 Hohe Krebsrate

 Die Krebsrate der einheimischen Bevölkerung ist nach Angaben der Umweltorganisation überdurchschnittlich hoch, ebenso die Zahl der Fehlgeburten oder Geburten schwerstbehinderter Kinder.

 "Dass die verheerendsten Umweltverbrechen an entlegenen Orten wie Majak stattfinden, entbindet die Schweizer AKW-Betreiber nicht von ihrer Verantwortung", zitiert Greenpeace ihren Atomexperten Stefan Füglister in der Mitteilung. "Wer mit Partnern Handel treibt, denen schwere Umweltvergehen angelastet werden, macht sich mitschuldig."

 Manfred Thumann, Chef des Stromkonzerns und Beznau-Besitzers Axpo, kündigte in der "Rundschau" an, sein Konzern werde die Verträge mit seinen Lieferanten präzisieren und darin Herkunftsnachweise für das bezogene Uran einfordern. Danach gelte es zu beurteilen: "Ist die Lieferkette für uns akzeptabel oder nicht?"

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Pressetext 9.9.10

Greenpeace wettert gegen Russland-Uran-Importe

 Energieriese Axpo bestätigt Einfuhren "aus dreckigen Quellen"

 Zürich (pte/09.09.2010/11:35) - Die Umweltschutzorganisation Greenpeace http://www.greenpeace.org läuft gegen die Russland-Geschäfte der Atomindustrie Sturm. Grund dafür ist das erstmalige Geständnis des Schweizer Energiekonzerns Axpo, in den Atomkraftwerken (AKW) Gösgen und Beznau importiertes Uran aus der Wiederaufbereitungsanlage Majak einzusetzen. Axpo-CEO Manfred Thumann hat dies in der Rundschau des Schweizer Fernsehens bestätigt. Majak gilt neben Tschernobyl als verstrahltester Ort der Welt. Der vorgeblich saubere Atomstrom strotzt den Umweltschützern nach nur so vor Dreck.

 "Solange niemand nachfragt, gehen die Konzerne den ökonomisch günstigsten Weg", meint Greenpeace-Atomexperte Stefan Füglister im Gespräch mit pressetext. Im Beschaffungsprozess ihres Brennmaterials achtet die Industrie mehr auf Kosten als auf die Umwelt. "Auch Natururan ist nicht sauber", erklärt Füglister. Der Vorgang der Wiederaufbereitung ist jedoch der schmutzigste Aspekt in der Lieferkette. Neben den Schweizer AKW wird Uran aus Majak beispielsweise auch nach Deutschland exportiert. "Es kommt in fünf Reaktoren zum Einsatz, darunter etwa Neckarwestheim", sagt Füglister gegenüber pressetext.

 Handelspartner an Umweltvergehen mitschuldig

 In Majak wird verbrauchter nuklearer Brennstoff aus russischen U-Booten und Eisbrechern wiederaufbereitet. Dabei werden radioaktive Abwässer laut Greenpeace nach wie vor direkt in den Fluss Tetscha geleitet. "Radioaktive Flüssigkeiten lagern kaum gesichert unter freiem Himmel und gefährden Wasserläufe bis hin zur arktischen See", so die Umweltschützer. Mit überdurchschnittlich hohen Krebsraten und Fehlgeburten, genetischen Schäden bei Kindern und zum Teil schwersten Behinderungen sind die Folgen für die Bevölkerung entsprechend verheerend.

 "Wer mit Partnern Handel treibt, denen schwere Umweltvergehen angelastet werden, macht sich mitschuldig", so Füglister. Greenpeace fordert die AKW-Betreiber auf, die zweifelhaften Geschäfte mit Russland bzw. den dortigen Staatsbetrieben zu beenden. Darüber hinaus drängt die Organisation auf einen Stopp der "unlauteren Werbekampagne für so genannt 'sauberen Atomstrom'".

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greenpeace.org/switzerland 9.9.10

Raus aus dreckigen Uran-Geschäften mit Russland!

 Zürich, 9. September 2010 - In Schweizer Atomkraftwerken wird Uran aus der berüchtigten russischen Wiederaufarbeitungsanlage Majak eingesetzt. Dies haben in der gestrigen Ausgabe der "Rundschau" des Schweizer Fernsehens Vertreter der AKW Gösgen und Beznau zum ersten Mal öffentlich zugegeben. Das Geständnis bestätigt Recherchen von Greenpeace Schweiz, wonach der "saubere" Schweizer Atomstrom aus überaus dreckigen Quellen stammt. Greenpeace fordert die Schweizer Atomindustrie auf, aus ihren zweifelhaften Uran-Geschäften mit Russland auszusteigen und ihre unlautere Werbekampagne für Atomstrom abzubrechen.

Jahrelang haben die Betreiber der Schweizer AKW die Herkunft  ihres Brennmaterials verschleiert. In der gestrigen "Rundschau" nun gaben  AKW-Betreiber erstmals zu: Die Schweizer Atomindustrie setzt in den AKW Gösgen und Beznau Brennstoff ein, der in Majak aus verbrauchtem nuklearem Brennstoff von russischen U-Booten und Eisbrechern wiederaufgearbeitet wird. Damit steht die von der Atomindustrie so gerne gerühmte "saubere" Atomenergie" in  einem sehr dunklen Licht.

Majak ist eine tickende Zeitbombe

Majak gilt neben Tschernobyl, wo 1986 ein Reaktor explodierte, als verstrahltester Ort der Welt. Einerseits, weil in den Fünzigerjahren ein Tank mit hoch radioaktivem Plutonium explodierte, andererseits, weil auch heute noch im laufenden Betrieb radioaktive Abwässer direkt in den Fluss Tetscha geleitet werden. Radioaktive Flüssigkeiten lagern kaum gesichert unter freiem Himmel und gefährden Wasserläufe bis hin zur arktischen See.

Die Auswirkungen der Anlage für die ansässige Bevölkerung sind verheerend: Die Krebsrate ist überdurchschnittlich hoch, ebenso die Zahl der Fehlgeburten. Viele Kinder kommen mit genetischen Schäden und zum Teil schwersten Behinderungen zur Welt. Der Leiter den Anlage, Vitali Sadovnikov, wurde zwar 2006 wegen Einleitung von Millionen von Kubikmetern radioaktiver Flüssigabfälle in einen Fluss, der Trinkwasser für die Anrainer liefert, verhaftet, kam aber dank einer Generalamnestie wieder frei.

Mitschuld an Umweltzerstörung und menschlichem Leid

Die  Schweizer AKW-Betreiber reden nur höchst ungern darüber, dass ihre "sicheren und sauberen" Atomkraftwerke ohne ausländische Lieferanten und "Wiederverwerter" nicht betriebsfähig wären. Denn der "einheimische" Strom wird mit ausländischem Uran, französischer Technologie und russischen Helfern produziert. "Ohne die Einbindung in die internationale Atomindustrie könnten die hiesigen Atommeiler keine einzige Kilowattstunde Strom liefern", sagt Stefan Füglister, Atomexperte und Autor der Greenpeace-Studie "Recycling von Wiederaufbereitungsuran?". "Dass die verheerendsten Umweltverbrechen an entlegenen Orten wie Majak stattfinden, entbindet die Schweizer AKW-Betreiber nicht von ihrer Verantwortung. Wer mit Partnern Handel treibt, denen schwere Umweltvergehen angelastet werden, macht sich mitschuldig."

Nach dem jetzt vorliegenden Eingeständnis fordert Greenpeace die Schweizer AKW-Betreiber  auf, sämtliche Geschäftsbeziehungen mit den russischen Staatsbetrieben zu sistieren und ihre unlautere Werbekampagne für so genannt "sauberen Atomstrom" aufzugeben.

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Rundschau sf.tv 8.9.10

Dreckiger Atomstrom

Strom aus Atomkraftwerken ist sauber. Diesen Satz hört man von AKW-Betreibern oft. Doch stimmt das auch? Recherchen der Rundschau ergeben ein anderes Bild. Verfolgt man die Spur des Urans, das heute in den Schweizer AKWs Beznau und Gösgen zur Anwendung kommt, zurück zu seinem Ursprung, stösst man auf erstaunlich viel Dreck. mehr …
http://videoportal.sf.tv/video?id=545ce4ec-39ef-4171-9f09-f387b58d7020

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Stuhl: Manfred Thumann
Firmenchef Axpo AG
http://videoportal.sf.tv/video?id=e2a21771-af34-43ad-863e-a657e3bf2c3c

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Forum: Dreckiger Atomstrom

Sagen Sie Ihre Meinung. Das Forum zum jeweiligen Thema bleibt bis Freitag Nachmittag geöffnet.
http://www.sf.tv/sendungen/rundschau/forum/forum.php?forumid=2379

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sf.tv 8.9.10

Dreckiges Uran aus Russland für Schweizer AKW

sf/engf/mend

 Die Atomkraftwerke Gösgen und Beznau setzen rezykliertes Uran ein. Das soll besonders umweltfreundlich sein. Doch die Rundschau hat herausgefunden: Die Wiederaufbereitung in Russland geschieht an einem der am meisten radioaktiv verseuchten Orte Russlands, in Mayak. In der "Rundschau" bestätigt Axpo-CEO Manfred Thumann, dass in Gösgen und Beznau Uran aus Mayak verwendet wird.

 "Mayak ist wahrscheinlich der dreckigste Ort weltweit für die Vorstufen von Brennelementen." So das vernichtende Urteil von Stefan Füglister. Er hat im Auftrag von Greenpeace monatelang über die Uranbeschaffung der Schweizer AKW recherchiert und herausgefunden: An diesem radioaktiv verseuchten Ort wird auch Uran für die Schweiz aufbereitet.

 Das bestätigt Fabian E. Jatuff, Leiter Kernbrennstoff des Kernkraftwerks Gösgen erstmals im Interview mit der "Rundschau". Gösgen verwende rezykliertes Uran aus abgebrannten Brennstäben der Schweiz, das mit rezykliertem Uran aus Russland angereichert werde. Das russische Material werde in Mayak aufbereitet.

 Auch das AKW Beznau bezieht wieder aufbereitetes Uran aus Russland. Das bestätigt Axpo-Chef Manfred Thumann.

 Mayak ist für Besucher Sperrzone

 Mayak ist eine Stadt im Südural, samt Atomanlage. 1957 explodierten dort Tanks mit radioaktiven Abfällen. Gegen 300'000 Menschen wurden sehr hohen Dosen radioaktiver Strahlung ausgesetzt.

 Das ganze Gebiet ist für westliche Besucher immer noch Sperrzone. Heute wird hier Uran aus Antrieben stillgelegter Atom-U-Boote wieder aufbereitet. Die radioaktive Kontaminierung der Umgebung geht weiter. Das haben Recherchen von Greenpeace Russland ergeben.

 Viele Bewohner sterben an Krebs

 Insbesondere den Fluss Techa kontaminieren radioaktive Abwässer aus der Atomanlage. Der Fluss versorgt zahlreiche Dörfer in der Gegend. Messungen des französischen Forschungslabors Criirad bestätigen: Das Wasser ist stark durch Tritium, und die Ufererde durch Cäsium 137 kontaminiert.

 Damit kommt es auch zu einer Übertragung auf die Nahrungskette. "Das ist ein nuklearer Abfalleimer, mitten in der Natur", stellt Christian Courbon vom Criirad konsterniert fest.

 Auffallend viele Bewohner sterben an Krebs. Die lokalen Behörden verharmlosen das Problem.

 Red und Antwort steht der Axpo-Chef Manfred Thumann auf dem heissen Stuhl der "Rundschau"

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Uran-Handel findet im Dunkeln statt

sf/engf

 Weltweit wird rund die Hälfte des benötigten Urans gefördert. Aufgrund der grossen Nachfrage sind die Atomkraftwerke deshalb auf die Wiederaufbereitung von Uran-Brennstäben angewiesen. Wie die AKWs ihre Lager genau füllen, ist nicht nachvollziehbar. Auch in der Schweiz gibt es dafür keine Deklarationspflicht, weiss Atomexperte Stefan Füglister.

 Entweder läuft der Handel über Brennstofflieferanten oder über ein paar grosse Händler, erklärt Stefan Füglister gegenüber "tagesschau.sf.tv". Füglister ist seit Jahrzehnten unabhängiger Atom-Spezialist.

 Das Ursprungsland gäben die AKWs zwar an, allerdings ohne genaue Bezeichnungen der Mine. "Das Problem ist die fehlende Tansparenz", so Füglister. Es existiere keine Deklarationspflicht. Und etwa Länder wie Russland oder Kasachstan liessen sich keine Umweltstandards vorschreiben.

 Gemäss der Internationalen Atomenergie Behörde stammt das Uran in Schweizer Reaktoren aus folgenden Ländern (Stand 2005).

 Eine aktuellere Liste gibt es nicht. Sie wiederspiegle den heutigen Stand trotzdem einigermassen, so Füglister. Einzelne bekannte Wechsel habe es aber gegeben: "Heute kommt viel Uran aus Kasachstan. Und die Minen in Gabun sind unterdessen zu. Dafür ist Niger im Geschäft."

 10-Jahresvertrag mit Russland abgeschlossen

 Weil die Schweiz über keine eigenen Uranminen verfügt, ist sie vollständig von Lieferungen aus dem Ausland abhängig.

 Einzelne Werke deklarieren laut dem Atomexperten, wovon sie ihre Brennstoffe beschaffen. Die Atomkraftwerke Gösgen und Beznau etwa bezögen ihre Brennelemente von russischen Wiederaufbearbeitungs-Anlagen. Zudem beschafften sie platoniumhaltige Brennelemente aus Belgien und Frankreich.

 Leibstadt und Mühleberg bezögen Brennelemente aus den USA. Allerdings habe Leibstadt soeben einen 10-Jahresvertrag abgeschlossen mit einer russischen Exportfirma, so Füglister. Mühleberg etwa beziehe es auf dem "offenen Markt", sagt er weiter.

 Weltweit wird an folgenden Orten Uran gefördert.

 Die Weltproduktion hat sich bei etwa 40‘000 Tonnen Uran jährlich eingependelt. Gesamthaft verbrauchen die AKWs weltweit aber jedes Jahr 70‘000 Tonnen. Die übrigen 30‘000 werden alle aus Sekundärquellen bereitgestellt.

 Durch solche Prozesse entstehen Millionen Liter von radioaktiven Flüssig-Abfällen. Diese werden dann laut Füglister in die Gewässer geleitet. So wie bei der Uran-Aufbereitung im russischen Mayak.