MEDIENSPIEGEL 10.9.10
(Online-Archiv: http://www.reitschule.ch/reitschule/mediengruppe/index.html)
Heute im Medienspiegel:
- Reitschule-Kulturtipps (Tojo, GH, DS)
- Reitschule bietet mehr: Störmanöver der Kalten
Krieger;
DRS-Abstimmungsvorschau
- RaBe-Info 10.9.10
- Club-Leben: Only Members im Liquid; Ü40 im Touch
- Police BE: Arbeitsbedingungskampf
- Zivilstand Illegal: Frepo vs Illegale
- Ausschaffungshaft: Regionalknast BE gerügt
- Sans-Papiers: Städteverband für Lehren
- Schnüffelstaat: bald in Strassburg Thema
- Weggesperrt: Obrigkeit bedauert Schicksal von
Administrativversorgten; mit 17 und 19 in Hindelbank
- Drogen: Neue SPK-Broschüre
- KapYBtalismus: der Rihs-Clan
- Homophobie im Fussball
- Klassenkampf 1918: Rosa Luxemburg an Demo in Olten
- Fröntler 1940: Audienz beim Bundespräsident
- JüdInnen BS 1930er bis 1950er: gespalten
- Alkverbot: Bsp. Genf
- Anti-Atom: Atomausstieg BE; Dreckiges Uran; Weinland; Benken;
Finnland; Anti-Atomausstieg
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REITSCHULE
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Do 09.09.10
17.00 Uhr - Reitschule - Öffentliche Führung
durch die
Reitschule (Treffpunkt beim Tor)
19.00 Uhr - Frauenraum - "Frauenhandel in der Schweiz -
wie sieht der
Schutz der Opfer aus?" Veranstaltung des Bleiberechtskollektivs Bern
20.30 Uhr - Tojo - Dying for Oil, Gods and iPods, An
Apocalyptic Comedy
von Action Theatre
21.00 Uhr - Rössli - james reindeer, james p honey
(London), babel
fishh (USA), son kas und Das Fest (D)
20.30 Uhr - Grosse Halle - Praed trifft Norient:
Audio-visuelle
Performances
Fr 10.09.10
20.30 Uhr - Tojo - Dying for Oil, Gods and iPods, An
Apocalyptic Comedy
von Action Theatre
23.00 Uhr - Dachstock - Wild Wild East: SHANTEL
DJ-Residency - Balkan,
Gypsy
Sa 11.09.10
14.00 Uhr - Frauenraum - AMIE
Frauenkleidertauschbörse abseits der
Modeindustrie, women only
17.00 Uhr - Reitschule - Öffentliche Führung
durch die
Reitschule (Treffpunkt beim Tor)
20.00 Uhr - Kino - TATORT REITSCHULE: "Harry hol schon
mal den Wagen" -
2x Derrick Specials!
20.30 Uhr - Tojo - Dying for Oil, Gods and iPods, An
Apocalyptic Comedy
von Action Theatre
20.30 Uhr - Grosse Halle - Grass:
Dokumentarisch-Nomaden-Kino mit
Live-Vertonung
22.00 Uhr - Dachstock - Gamebois Plattentaufe "Loops".
Support: James
Gruntz (BS), DJ?s Sassy J & Benfay - Soul, Hiphop
So 12.09.10
17.00 Uhr - Grosse Halle - Berner Symphonie Orchester:
Biss zum
Original - Nosferatu
21.00 Uhr - Tojo - Influx Controls von Boyzie Cekwana
(Biennale Bern)
Mo 13.09.10
20.30 Uhr - Tojo - Influx Controls von Boyzie Cekwana
(Biennale Bern)
Infos:
http://www.reitschule.ch
http://www.reitschulebietetmehr.ch
---
Bund 10.9.10
Kurzbesprechungen "Dying for Oil, Gods and iPods"
Geklaute Identitäten und magische iPods
Mit Roger schlägt ein seltsames Gewächs in Judys
Garten
Triebe. Ob er tot ist oder nicht, ist eine Frage, die der Mann im
gestreiften Pyjama nicht ganz zur Zufriedenheit der Krankenschwester
beantworten kann. Dass da kein Tunnel mit gleissend weissem Licht war,
ist eine der Enttäuschungen, die Judy mit dem grenzenlosen
Grossmut wahrhaftiger Pflanzen- und Menschenfreundinnen meistert. Zudem
ist dieser Roger ein ganz brauchbares Exemplar, denn sein Leben ist
mindestens so kompliziert wie das von Judy, die von einem finsteren
Soziologieprofessor gezwungen wird, einer anderen Frau die
Identität zu klauen.
Dummerweise ist es eine der Grösse 6, und sich in
einer
solchen zu bewegen, ist ähnlich schwierig wie ein Gang in zu engen
und zu hohen High Heels. Dass den magischen iPod, den Judy mit ihrer
transplantierten Identität beschaffen muss, ausgerechnet Rogers
verdorbene Tochter einem Albino-Mönch geklaut hat, ist einer von
vielen wunderbaren Zufällen in der haarsträubend
abenteuerlichen Story des Action Theatre London (Bern), die auch mit
einem Drehbuch für Indiana Jones und James Bond mithalten
könnte. Ohne deren ausgeklügeltes Equipment kommen allerdings
Arne Nannestad, der in Hollywood in Filmen mit Rod Steiger und Whoopi
Goldberg aufgetreten ist, und seine Partnerin Doraine Green in der
apokalyptischen Komödie "Dying for Oil, Gods and iPods" aus. Eine
Schachtel Cornflakes und ein Barbie-Dress genügen, um Amerika samt
seiner zunehmend verfetteten Bevölkerung auf die Tojo-Bühne
in der Reitschule zu bringen. Und die Bodenlosigkeit der Abgründe
in der heutigen Welt, über denen die beiden hangeln, spiegelt sich
eastmancolormässig in ihren Augen.
Auf der atemlosen Jagd nach dem magischen iPod, in dem
unter
anderem Filme gespeichert sind, die noch nicht gedreht wurden, switchen
die beiden ebenso rasant zwischen den Identitäten, wie sie von
einem Kontinent zum andern hüpfen. Dabei verlieren sich die beiden
Unerschrockenen auch mal ein wenig im Dschungel der wuchernden
Fantasien. In einem verkürzten Trip würden der tollkühne
Minimalismus der Inszenierung und der bis zum Limit getunte
Expressionismus der schauspielerischen Leistung noch stärker
wirken.
Brigitta Niederhauser
Weitere Aufführungen: Tojo in der Reitschule Bern,
heute und
morgen, 20.30 Uhr. Am 6. Oktober wird im Schlachthaus-Theater Bern "The
Permanent War (Twitters from Another Universe)", das neuste Stück
des Action Theatre London, uraufgeführt.
---
kulturstattbern.derbund.ch 10.9.10
Von Benedikt Sartorius am Freitag, den 10. September 2010, um
11:43 Uhr
Sonische Spuren
"Film und Musik" lautet derzeit das Motto in der wunderbaren
grossen
Halle der Reitschule. An acht Abenden werden klassische Stummfilme
musikalisch begleitet, neue Produktionen gezeigt oder der
interkulturelle Kontakt gepflegt. Gestern nun begann die Reihe mit der
audiovisuellen Norient-Vorlesung "Sonic Traces from the Arab World",
die vom Duo Praed, bestehend aus dem Bassisten und Klarinettisten Paed
Conca sowie Raed Yassin am Laptop und Kontrabass, konzertant flankiert
wurde.
Michael Spahr, Simon Grab und Thomas BurkhalterIn der
collageartigen
Bildspur sahen die Besucher MTV-Trailer aus dem Libanon, Videoclips,
die Frauen auf den Mond spicken und den "schlechtesten
Hochzeitsänger" alias den New-Wave-Dabke-König Omar
Souleyman. Entsprechend fiel die geschickt mit Zitaten, Thesen und
Erklärungen montierte und live gemischte Tonspur aus: Tradition
und Avantgarde, Werbemusiken und Psychedelia beschrieben eine
dezentrale "Globocity," in der Musiker wie der Beiruter Trompeter Mazen
Kerbaj die Bomben und Gewehrschüsse des ewigen Bürgerkriegs
in ein bestimmendes Element ihrer Klangsprache übersetzt haben und
in der um die sogenannte Authentizität und allfällige
Verwestlichung gestritten wird.
Collage aus "Sonic Traces from the Arab World"Ziemlich zum
Schluss
führten die sonischen Spuren in die Wüste: Kameltreiber waren
auf der Leinwand zu sehen, ein Ufo flog collagiert über die
Szenerie und ich fragte mich, ob die Musikerinnen und Musiker im nahen
Osten - ähnlich wie die Afro-Futuristen - ihre Entfremdung mit der
Space-Metapher sichtbar machen. Denn, man kann nach diesem Abend schon
mutmassen: Diese nomadisierende Musik, die scheint überhaupt nicht
und nirgends zu Hause.
---
kulturstattderbund.ch 10.9.10
Von Grazia Pergoletti am Freitag, den 10. September 2010, um
06:09 Uhr
"Hey, what's wrong Baby!"
Unbestritten schon mal ein absolut Klassetitel für ein
Album.
Entnommen ist er dem Film "They Live" von John Carpenter, genauso wie
einige der Songtitel auf diesem anmutigen Musikerzeugnis von Benfay,
das im August bei Everest Records erschienen ist und letzten Samstag im
Dachstock getauft wurde.
Benfay hat sich offenbar vergangenen Winter an einem abgelegenen
Ort
bei Wilen/Samen einquartiert, dort die Küchenschränke, das
Plattenregal und den Umschwung durchstöbert, und ist dabei auf
allerhand wundersame Objekte und Sounds gestossen, die er geloopt und
in seine verwinkelten Soundräume eingebaut hat.
Dabei ist ein kaleidoskopisch funkelndes Album herausgekommen,
im
Winter gemacht und wunderbar in den Winter passend. Pathetisch und
verspielt sind diese Tracks, eine Mischung, die ich ziemlich
entzückend finde. Ein Album zum Durchhören. Was also soll
falsch sein, Baby?
---
20 Minuten 10.9.10
Gamebois: "Zum Star-Sein gehört die grosse Kohle"
BERN. Morgen tauft das Soul-Duo Gamebois sein neues Album
"Loops"
im Dachstock. 20 Minuten sprach mit dem Sänger BJ Kasongo
über Ruhm, Bussen und das Müslüm-Video.
Seitdem "Loops" draussen ist, seid ihr kleine Stars.
Vergleiche
mit Seven machen die Runde.
Kasongo: Na ja, ich weiss nicht. Zum Star-Sein gehört
die
grosse Kohle. Da hapert es noch gewaltig bei uns. Es ist aber nett,
für unseren Sound so viel Aufmerksamkeit zu erhalten.
Und der Vergleich mit Seven?
Eine Ehre, aber er hinkt. Sevens Musik ist eher Pop-Funk,
wir
spielen eher Hip-Hop und Elektro.
Um auf "Loops" aufmerksam zu machen, habt ihr auf
Schweizer
Plätzen illegal gespielt. Dazu gibt es eine lustige Geschichte.
Die gibt es allerdings: Als wir in Biel spielen wollten,
touchierten wir mit unserem LKW einen Pavillon. Dieser brach daraufhin
zusammen und wir sind im Schrecken davongerast. Da hatte uns die
Polizei aber längst gesehen. Wir fuhren freiwillig zurück und
bekamen prompt eine Busse für mehrere Vergehen. Darunter
Fahrerflucht und Sachbeschädigung.
Ihr habt auch im Müslüm-Video mitgemacht.
Ja, die Reitschule ist eine gute Sache und der Auftritt im
Video
ist unser Beitrag, damit die Jungen das Abstimmen nicht vergessen.
Pedro Codes
Sa, 11.9., 22 Uhr, Gamebois-Plattentaufe, Dachstock.
---
Blick am Abend 9.9.10
Gamebois: "Zum Star-Sein gehört die grosse Kohle"
BERN. Morgen tauft das Soul-Duo Gamebois sein neues Album
"Loops"
im Dachstock. 20 Minuten sprach mit dem Sänger BJ Kasongo
über Ruhm, Bussen und das Müslüm-Video.
Seitdem "Loops" draussen ist, seid ihr kleine Stars.
Vergleiche
mit Seven machen die Runde.
Kasongo: Na ja, ich weiss nicht. Zum Star-Sein gehört
die
grosse Kohle. Da hapert es noch gewaltig bei uns. Es ist aber nett,
für unseren Sound so viel Aufmerksamkeit zu erhalten.
Und der Vergleich mit Seven?
Eine Ehre, aber er hinkt. Sevens Musik ist eher Pop-Funk,
wir
spielen eher Hip-Hop und Elektro.
Um auf "Loops" aufmerksam zu machen, habt ihr auf
Schweizer
Plätzen illegal gespielt. Dazu gibt es eine lustige Geschichte.
Die gibt es allerdings: Als wir in Biel spielen wollten,
touchierten wir mit unserem LKW einen Pavillon. Dieser brach daraufhin
zusammen und wir sind im Schrecken davongerast. Da hatte uns die
Polizei aber längst gesehen. Wir fuhren freiwillig zurück und
bekamen prompt eine Busse für mehrere Vergehen. Darunter
Fahrerflucht und Sachbeschädigung.
Ihr habt auch im Müslüm-Video mitgemacht.
Ja, die Reitschule ist eine gute Sache und der Auftritt im
Video
ist unser Beitrag, damit die Jungen das Abstimmen nicht vergessen.
Pedro Codes
Sa, 11.9., 22 Uhr, Gamebois-Plattentaufe, Dachstock.
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REITSCHULE BIETET MEHR
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bernerzeitung.ch 10.9.10
Beschwerde gegen Abstimmungsbotschaft der Reitschule eingereicht
sda / js
Zwei Berner Bürger haben am Freitag beim
Regierungsstatthalteramt Bern Gemeindebeschwerde gegen die Botschaft
zur Abstimmung über die Zukunft der Reitschule eingereicht. Sie
bezeichnen die Botschaft des Stadtrats als "irreführend".
So werde darin den Stimmbürgerinnen und
Stimmbürgern
"suggeriert", der Verkauf der Reitschule bedeute das Ende des
Kulturbetriebs in diesen Räumlichkeiten, heisst es in einer
Mitteilung der zwei Bürger vom Freitag.
Bei ihnen handelt es sich um den ehemaligen FDP-Grossrat
und PR-
Fachmann Erwin Bischof und den pensionierten Versicherungsberater Fred
Moser. Er ist ebenfalls FDP-Mitglied, wie Bischof auf Anfrage sagte.
Die beiden Bürger verlangen, die kommunale Abstimmung
über die Zukunft der Reitschule vom 26. September sei abzusetzen
und auf einen neuen Termin zu verschieben. Zudem müsse eine "neue,
korrekte Abstimmungsbotschaft" her.
Abstimmung ist Ende September
Der Regierungsstatthalter von Bern bestätigte am
Freitag auf
Anfrage den Eingang der Gemeindebeschwerde. Christoph Lerch sagte
weiter, er werde nun die Stadt Bern unverzüglich um eine
Stellungnahme bitten. Ziel sei, diese in der nächsten Wochen zu
erhalten und in der übernächsten den Entscheid zu fällen.
Es sei klar, dass diese Beschwerde "beförderlich
behandelt"
werden müsse.
Schon am 26. September soll nämlich die
Volksinitiative der
Jungen SVP Bern, welche den Verkauf der Reitschule im Baurecht auf den
31. März 2012 an den Meistbietenden verlangt, dem Volk vorgelegt
werden.
Der Entscheid enhalte in der Regel auch einen Beschluss
über
die aufschiebende Wirkung der Beschwerde, sagte Lerch weiter. Doch kann
sein Entscheid an eine nächsthöhere Instanz weitergezogen
werden.
---
Echo der Zeit 9.9.10
Die alte Reitschule: Warum halten Berner dran fest?
Die alte Reitschule von Bern, seit mehr als zwanzig Jahren hat
sie eine
ganz andere Bestimmung, sie ist ein alternatives Kulturzentrum. Der
bunte Gebäudekomplex, prominent an der Einfahrt zum Hauptbahnhof
gelegen, gefällt aber nicht allen. Schon mehrfach wollten
Volksinitiativen den Betrieb stoppen, bisher scheiterten sie alle.
Jetzt, am 26. September, kommt ein neues Begehren vor das Volk. Die
Berner SVP fordert den Verkauf des Reitschulareals "an den
Meistbietenden".
* Hören
rtsp://a763.v23910e.c23910.g.vr.akamaistream.net/ondemand/7/763/23910/4c8907f3/audio.drs.ch/drs1/echoderzeit/2010/09/100909_7_koller.mp3
Verantwortlich für diesen Beitrag:
* Toni Koller
--
Zukunftsperspektiven der alternativen Kulturzentren
Wie die Berner Reitschule gehen auch die Rote Fabrik in
Zürich und
die Kaserne in Basel auf die Jugendbewegung der achtziger Jahre
zurück. Sie feiern dieses Jahr ihr 30-jähriges Bestehen. Die
alternativen Kulturzentren sind also in die Jahre gekommen. Wo stehen
sie heute in der Kulturlandschaft? Wie sehen ihre Zukunftsperspektiven
aus?
Gespräch mit dem Zürcher Ethnologen Heinz Nigg. Er hat
mehrere Bücher über die 68er und über die 80er-Bewegung
geschrieben.
* Hören
rtsp://a867.v23910e.c23910.g.vr.akamaistream.net/ondemand/7/867/23910/4c89082a/audio.drs.ch/drs1/echoderzeit/2010/09/100909_8_zehnder.mp3
Verantwortlich für diesen Beitrag:
* Raphael Zehnder
---
Regionaljournal Bern 9.9.10
Abstimmungsvorschau Reitschule Bern
Dem Meistbietenden verkaufen oder als alternatives Kulturzentrum
erhalten? Am 26. September stimmen die StadtbernerInnen über eine
Initiative zum Verkauf der Reitschule ab. Was denken Bürger und
Bürgerinnen über den Schandfleck oder den Kulur-Ort. Ein
Rundgang durch die Reitschule und die Meinungsbildung von Frauen und
Männern bei ihrem ersten Besuch im umstrittenen Gebäude.
rtsp://a821.v23910e.c23910.g.vr.akamaistream.net/ondemand/7/821/23910/4c890d3b/audio.drs.ch/Regionaljournale/Bern/2010/09/100909_regibe_17.30_04_reitschule.mp3
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RABE-INFO
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Fr. 10. September 2010
http://www.rabe.ch/uploads/tx_mcpodcast/RaBe-_Info_10._September_2010.mp3
http://www.rabe.ch/nc/webplayer.html?song_url=uploads/tx_mcpodcast/RaBe-_Info_10._September_2010.mp3&song_title=RaBe-%20Info%2010.%20September%202010
- Ziviler Ungehorsam als Protest gegen die aktuelle
Ausschaffungspraxis
vor dem Berner Regionalgefängnis
- Hinsehen, Hingehen, Zuhören: Aufruf für mehr
Kommunikation
am Welt-Suizid-Präventionstag
- Was wäre Bern ohne Reitschule?
Links:
http://www.berner-buendnis-depression.ch
https://www.143.ch/web
http://www.verein-refugium.ch
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CLUB-LEBEN
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20 Minuten 10.9.10
Liquid-Club: Bald nur noch Zutritt mit Member Card
BERN. Members only: In den Liquid-Club kommt man ab Januar
nur
noch mit Karte rein. Der Club will damit mehr Sicherheit garantieren.
Wer im kommenden Jahr im Berner In-Club Liquid feiern
will,
braucht dafür eine Member Card - wer keine hat, bleibt draussen.
Der Grund: Schlägereien, K.-o.-Tropfen-Anschläge und
Diebstähle sollen so auf ein absolutes Minimum verringert werden.
"Ganz ausmerzen können wir das nicht. Aber so garantieren wir,
dass Problemkinder definitiv draussen bleiben", erklärt
Clubbesitzer Stephan Zesiger die neue Politik.
Anfang Woche lag die schwarze Liquid-Karte bereits bei
1500
Mitgliedern im Briefkasten. Interessierte können die Karte ab dem
20. September über die Club-Homepage, eine Liquid-App fürs
iPhone oder im Club beantragen. "Wir vergeben sie aber nur an Leute, zu
denen wir eine Beziehung haben."
Andere Lokale kennen ebenfalls ein Member-System. Im
Gegensatz
zum Liquid bleiben diese aber auch Nicht-Mitgliedern zugänglich.
Eine kleine Umfrage unter Berns Clubbetreibern zeigt: Die Idee halten
viele für grundsätzlich machbar. Umsetzen will man sie aber
nicht. Die Betreiber fürchten um den
Nachtschwärmer-Nachwuchs. Stephan Zesiger dazu: "Das Münchner
P1 ist seit Jahren ein Members-only-Club - und der Laden ist immer
voll."
Pedro Codes
---
Bund 10.9.10
Berner Club Touch soll auch gesetztere Personen berühren
Heute wird der Club Touch an der Genfergasse eröffnet
- eine
weitere Aufwertung der einstigen Problemzone.
Markus Dütschler
Die Bauarbeiter an der Genfergasse waren gestern im
Endspurt -
heute wird auf zwei Etagen der Club Touch eröffnet. Laut dem
41-jährigen Inhaber Stephan Zesiger, Inhaber eines Anwaltpatents,
sollen sich im Club auch 40- oder 50-Jährige wohlfühlen, sei
es wegen der gesitteten Umgangsformen, der Musikauswahl oder dem Essen,
das von Spitzenkoch Werner Rothen stammt. Man sitzt auf Fellsesseln in
nordisch-russischem Ambiente, beäugt von einem ausgestopften Wolf.
Zesigers Ziel ist unbescheiden: "Wir wollen der beste Club der Schweiz
werden." Dafür habe er seit sechs Jahren "geschuftet bis zum
Umfallen". Seit kurzem gehört das Etablissement auch zur
weltumspannenden Vereinigung The World's Finest Clubs.
In der Liegenschaft befand sich einst das Striplokal
Mocambo,
dessen legendäre gläserne Dreh-Tanzfläche in den neuen
Club integriert ist. 2004 baute Zesigers Vorgänger an der
Genfergasse ein Wienercafé ein - und gleich wieder aus. Zesiger
übernahm die Räume und setzte auf längerfristige
Konzepte. Heute ist mit der Eröffnung des dritten Clubs (nach
Liquid und Belvedere) der Höhepunkt erreicht. 3,5 Millionen
Franken hat Zesiger in die Clubs investiert, unter anderem auch in die
Brandverhütung und in breite Notausgänge.
Keine Member-Card für Pöbler
Er weiss, wie rasch ein Club die falschen Gäste
bekommt.
2008, als der mächtige Konkurrent Wankdorf-Club Gäste und DJs
abzog, habe er als Reaktion sein Einlassregime zu large gehandhabt.
Prompt habe er Frauenbelästiger, Schläger und Pöbler im
Haus gehabt. Vor Jahresfrist habe er die Schraube angezogen - und
seither eine einzige Schlägerei verzeichnet. Seine Stammkunden hat
er elektronisch erfasst und mit Badges ausgestattet, auf denen Name,
Adresse, Alter und Foto abgespeichert sind. Wichtig seien gute
Türsteher, so Zesiger. Zwei Boxer mit Köpfchen
beschäftige er: Sie strahlten Autorität aus, seien aber keine
Schläger und wirkten deeskalierend. Wegen des Badge weiss Zesiger,
wer was wo getrunken hat, woraus sich Kundenprofile erstellen lassen.
Zesiger sieht die Clubs als Mosaiksteine, die mithelfen, die einstige
Alki- und Junkiemeile Genfergasse zu einer guten Adresse zu machen.
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POLICE BE
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Langenthaler Tagblatt 10.9.10
"Gut, ein Zeichen zu setzen"
Kantonspolizei Grosser Rat wiederholt Forderung nach
besseren
Arbeitsbedingungen
Samuel Thomi
Seltene Einigkeit im Grossen Rat, als gestern über
die
Arbeitsbedingungen der Polizei diskutiert wurde. Von rechts bis links
war man sich einig: Besserung tut not.
"Tragischerweise passt mein Anliegen zum Vorfall in Biel",
kommentierte Sabina Geissbühler gestern im Grossen Rat die
Aktualität (vgl. Seite 18): "Für das immer noch gültige
3-D-System - Dialog führen, deeskalativ wirken und erst dann
durchgreifen - haben immer weniger Berner Kantonspolizisten an der
Front Verständnis." Im Grossratswahlkampf im Frühling
lancierte SVP-Frau Geissbühler - die Mutter von
SVP-Nationalrätin und Polizistin Andrea Geissbühler - deshalb
zusammen mit FDP-Regierungsratskandidat Sylvain Astier (Moutier) die
Motion "Bessere Arbeitsbedingungen für unsere Polizei bedeuten
grössere Sicherheit für die Bevölkerung."
"Äusserst frustrierend"
Spezialisten seien "äusserst frustriert", wenn
beispielsweise die Gesetze nicht durchgesetzt würden. Als Beispiel
diente Geissbühler das Vermummungsverbot: "Dieses muss
kompromisslos durchgesetzt und geahndet werden." Oder: "Bei
Sachbeschädigungen muss die Polizei unmittelbar einschreiten."
Zudem sollten rechtsfreie Räume nicht toleriert,
Drogenschnelltests eingeführt und die monatlichen Freitage auf den
Arbeitsplänen dürften "nur in absoluten und begründeten
Ausnahmefällen" kurzfristig angepasst werden. Astiers Kommentar:
"Die Polizei macht gute Arbeit, daher müssen wir sie
unterstützen." Das beginne mit einem guten Umfeld.
"Das ist eine Stammtischmotion", antwortete Barbara
Mühlheim
(Grüne/ Bern). Die Einsätze der Polizei müssten von
Profis beurteilt werden - "das kann der Grosse Rat nicht". Die Kapo
beweise im Kanton, "dass sie es kann, und erfolgreich ist." Dass
einzelne Polizisten unzufrieden seien, könne gut sein: "Dafür
allerdings macht die Polizei nach jedem Einsatz Debriefings.
Reklamationen gehören dorthin."
"Die EVP will sich nicht in die Strategie der
Kantonspolizei
einmischen", sagte Patrick Gsteiger (Perrefitte). Und wenn, dann
müsse die Kapo mehr Personal erhalten: "Aber das kostet."
"Zuerst hatte ich natürlich Freude"
"Die SVP schreibt Sicherheit gross - und ebenso
Verhältnismässigkeit", sagte Christian Hadorn (Ochlenberg).
Philippe Müller (FDP/Bern) ergänzte: "Es ist gut, wenn das
Parlament Zeichen setzt." Im Berner Stadtrat, dem Müller bisher
ebenfalls angehörte, sei Polizeiarbeit kaum gewürdigt worden.
Allerdings, so der Initiant der eben abgelehnten städtischen
"Initiative für eine sichere Stadt Bern", tue das Kantonsparlament
gut daran, der Polizei zu Einsatzgrundsätzen oder
Verhältnismässigkeit nicht dreinzureden.
"Rückendeckung ist ganz wichtig"
"Zuerst hatte ich natürlich Freude am Titel", so
Markus
Meyer (SP/Roggwil). "Es ist wirklich an der Zeit, dass die
Arbeitsbedingungen für die Polizei besser werden", so der
Präsident der Kantonspolizisten. Dazu freue er sich über die
Zusage von Polizeidirektor Hans-Jürg Käser (FDP), sich
für mehr Personal einzusetzen und die Gehaltssituation inklusive
einer Reallohnerhöhung zu verbessern. Überdies seien
Korrekturen am Arbeitszeitmodell angesagt wie auch eine fünfte
Ferienwoche: "Die vorliegende Motion ist ein bisschen ein
Etikettenschwindel", so Meyer. Tatsächlich wolle sie einseitig
mehr Repression, was die Arbeitsbedingungen der Polizei nicht
ändere.
"Selbstverständlich hat die Polizei nicht Freude an
Sachbeschädigungen", konterte Polizeidirektor Hans-Jürg
Käser (FDP). Drogenschnelltests würden geprüft, seien
aber noch zu wenig zuverlässig. Entscheidungen übers
jeweilige Vorgehen lägen bei den Patrouillen oder bei Demos bei
der Einsatzleitung. Bei Sportanlässen sei es zudem wenig sinnvoll,
ein paar betrunkene Vermummte aus Tausenden herauszu- holen: "Solche
Fragen diskutieren wir regelmässig mit der Polizei", so
Käser. "Das Parlament muss sich nicht einmischen." Dieses
überwies Geissbühlers Motion praktisch einstimmig in der
unverbindlicheren Form des Postulats.
Geissbühler konterte, es sei "ganz wichtig, dass wir
der
Polizei mit einem Ja Rückendeckung geben." Womit die gut
stündige Debatte höchstens noch als wohl gemeintes Warmlaufen
für die Aufstockungsdiskussion gesehen werden kann. Konkret gings
gestern um nichts - gekostet hats auch nichts.
--
Käsers gute Wünsche
Gestern Nachmittag informierte Polizei- und
Militärdirektor
Hans-Jürg Käser den Grossen Rat auch über den Vorfall in
Biel. Sichtlich berührt drückte er dem angeschossenen
Mitglied der Berner Sondereinheit "Enzian" in der Debatte über die
Arbeitsbedingungen der Polizei "die besten Genesungswünsche" aus.
Der Mann sei inzwischen operiert und ausser Lebensgefahr, so
Käser: "Was aber aus seinem Leben in Zukunft wird, wissen wir
jetzt noch nicht." (sat)
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ZIVILSTAND ILLEGAL
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Bund 10.9.10
Starke Zunahme der illegalen Aufenthalte von Ausländern in
Bern
Im ersten Halbjahr 2010 hat die Fremdenpolizei der Stadt
Bern 520
Hinweise auf illegale Aufenthalte und Schwarzarbeit erhalten.
Bernhard Ott
Die Stadtberner Fremdenpolizei (Frepo) kommt an ihre
Grenzen. Im
ersten Halbjahr 2010 hat sie 520 Hinweise auf illegale Aufenthalte oder
Schwarzarbeit von Ausländern aus Nicht-EU-Staaten erhalten. Im
ganzen Jahr 2009 gab es bloss 336 Hinweise. Bei der Zunahme der
illegalen Aufenthalte von Ausländern aus Drittstaaten spiele die
Verschärfung des Ausländergesetzes eine Rolle, sagt Alexander
Ott, Leiter der Fremdenpolizei. "Wer aus diesen Ländern in der
Schweiz bleiben möchte, hat praktisch keine Chance mehr." Ein
längerer Aufenthalt sei einzig als hoch qualifizierte Arbeitskraft
oder zwecks Heirat mit einer Schweizerin möglich. So müsse
die Frepo feststellen, dass Bürger aus südamerikanischen
Staaten nach Ablauf ihres Touristen- oder Studentenvisums vermehrt im
Land verbleiben und untertauchen. In der Folge würden auch die
Hinweise auf Schwarzarbeit entsprechend ansteigen, hält Ott fest.
Neue Aufgaben im Rotlichtmilieu
Mehrarbeit hat die Frepo aber nicht nur wegen der
Verschärfung des Ausländergesetzes, sondern auch wegen der
Ausdehnung der Personenfreizügigkeit in die Schweiz im Jahr 2008.
Aufgrund des bundesrätlichen Massnahmenpakets gegen die
Missbräuche in der Personenfreizügigkeit müssen sich die
Beamten auch mit neuen Phänomenen wie der sogenannten
Scheinselbstständigkeit befassen. Bei den
Scheinselbstständigen in der Stadt Bern handelt es sich meist um
Sexarbeitende aus EU-Staaten. Seit Oktober 2009 können
Prostituierte aus diesen Ländern nur dann im Kanton Bern arbeiten,
wenn sie sich bei der Migrationsbehörde als
Selbstständigerwerbende anmelden und einen Businessplan vorlegen.
Viele von ihnen werden aber über kriminelle Netzwerke in die
Schweiz geschleust und müssen einen Grossteil ihres Verdienstes an
Zuhälter abliefern. "Im ersten Halbjahr 2010 haben wir 450
Hinweise auf Scheinselbstständigkeit erhalten", sagt Ott. Im
gleichen Zeitraum hätten auch 62 vertiefte Abklärungen
über mögliche Scheinehen vorgenommen werden müssen. Beim
kantonalen Migrationsdienst werden die von Ott erwähnten Tendenzen
bestätigt. Laut Florian Düblin, dem Leiter des
Migrationsdienstes, gibt es vor allem in den Städten eine
"kräftige Zunahme" von Personen illegalen Aufenthaltes.
Nause kritisiert Bundesbehörden
Für den Berner Gemeinderat ist eine erneute
Aufstockung der
Fremdenpolizei kein Thema (siehe Kasten). Eine vor Jahren beschlossene
Aufstockung des Etats um 5 auf 16 Stellen musste aufgrund der
angespannten Finanzlage gestaffelt erfolgen - die letzte
zusätzliche Stelle ist für 2011 budgetiert. Laut Gemeinderat
Reto Nause (CVP) wäre es eigentlich am Bund, den Kantonen und
Städten finanzielle Unterstützung für den Vollzug der
Ausländerpolitik zuzusichern. Die Verschärfung des
Ausländerrechts und die Einführung der
Personenfreizügigkeit stellten Kantone und Städte vor ein
Vollzugsproblem. "Man kann nicht laufend Gesetze verschärfen, ohne
Mittel für den Vollzug zur Verfügung zu stellen", sagt Nause.
--
Budget Stadt Bern SVP will Aufstockung der Fremdenpolizei
Die Fraktion SVP plus im Berner Stadtrat ist sonst eher
fürs
Sparen bekannt. Bei der Fremdenpolizei macht sie jedoch eine Ausnahme.
"Wir verlangen die Aufstockung des Etats um eine Stelle", sagt
Fraktionschef Roland Jakob. Zur Umsetzung dieser Massnahme seien
zusätzlich 120 000 Franken im Budget 2011 einzustellen. Angesichts
der angespannten Finanzlage der Stadt stösst dieser Antrag aber
einzig bei der FDP auf vorbehaltlose Zustimmung. "Bei der Polizei sind
wir generell gegen das Sparen", sagt Vizefraktionschef Bernhard Eicher.
In der Fraktion BDP/CVP kann man sich allenfalls eine zeitlich
begrenzte Verstärkung der Frepo vorstellen. "Ich verstehe die
Not", sagt Co-Fraktionschef Kurt Hirsbrunner. Trotzdem stelle sich die
Frage, warum trotz der gestaffelten Aufstockung um fünf Stellen
seit 2007 die Mittel immer noch nicht ausreichten. Auch Peter
Künzler, Chef der Fraktion GFL/EVP, stellt Fragen zur
Finanzierbarkeit. Kurzfristige Aufstockungen müssten an einem
anderen Ort kompensiert werden. Dies sei aber kaum mehr möglich,
sagt Künzler. (bob)
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AUSSCHAFFUNGSHAFT
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Bund 10.9.10
Ausschaffungshaft: Gericht rügt Haftbedingungen in Bern
Nach Kritik des Verwaltungsgerichts an den Haftbedingungen
im
Regionalgefängnis Bern entliessen die Behörden eine
Kamerunerin aus der Ausschaffungshaft.
Stefan Wyler
Die heute 44-jährige Frau aus Kamerun hatte sich
anderthalb
Jahre illegal in der Schweiz aufgehalten, sie wurde ausgewiesen, reiste
aber wieder ein und wurde in Biel von der Polizei aufgegriffen. Am 6.
April 2010 setzte sie ein Haftrichter in Ausschaffungshaft, und am 2.
Juli verlängerte er die Haft bis zum 4. November, nachdem sich die
Frau geweigert hatte, einen für sie gebuchten Linienflug in ihre
Heimat anzutreten.
Die Frau, die im Regionalgefängnis Bern inhaftiert
war,
forderte darauf beim Verwaltungsgericht des Kantons Bern ihre
Freilassung. Das Gericht hat nun in seinem - gestern
veröffentlichten - Urteil vom 6. August die Beschwerde abgewiesen.
Es hielt zwar die Verlängerung der Ausschaffungshaft für
grundsätzlich verhältnismässig, es übte aber
detaillierte Kritik an den Haftbedingungen im Regionalgefängnis
Bern und wies darum die Behörden an, die Frau in eine geeignete
Einrichtung zu verlegen oder freizulassen. Die Frau wurde aus der Haft
entlassen.
Einziger Zweck der Ausschaffungshaft, so erinnerte das
Gericht,
sei die Sicherstellung einer Ausweisung. Das Vollzugsregime müsse
sich von jenem für Untersuchungshäftlinge oder Strafgefangene
"wesentlich unterscheiden". Die Beschränkung der Freiheitsrechte
dürfe nicht über das hinausgehen, was zur Gewährleistung
des Haftzwecks erforderlich sei.
Spaziergang unter Stacheldraht
Das Verwaltungsgericht anerkannte zwar in seinem Urteil,
dass die
Haftbedingungen für Ausschaffungshäftlinge im
Regionalgefängnis Bern nach bundesgerichtlicher Kritik verbessert
worden seien; für Frauen und Männer existierten mittlerweile
Wohngruppen mit Aufenthaltsraum und freiem Zugang zum Telefon. Es
fehlten aber, so kritisierte das Gericht, "geeignete
Beschäftigungsmöglichkeiten", und Aufenthalte im Freien
beschränkten sich auf einen einstündigen Spaziergang in einem
kleinen, "von hohen Mauern umgebenen und mit Stacheldraht
überdeckten Spazierhof auf dem Dach des Gebäudes".
Der Vollzug der ausländerrechtlichen
Administrativhaft in
einer Wohngruppe des Regionalgefängnisses, folgerte das Gericht,
sei zwar am Anfang der Haftzeit "nicht als optimal, aber doch als
grundsätzlich gesetzes- und verfassungskonform" anzusehen,
insbesondere dann, wenn eine Beschäftigungsmöglichkeit
bestehe. Je länger die Haftzeit andauere, desto weniger
einschneidend aber hätten die Freiheitsbeschränkungen
auszufallen. Bei einer Haftdauer von vier Monaten jedenfalls, so fand
das Gericht, entspreche die Unterbringung von
Ausschaffungshäftlingen im Regionalgefängnis nicht mehr den
gesetzlichen Mindestanforderungen - weshalb es den Behörden die
Verlegung oder die Freilassung der Frau empfahl.
Keine speziellen Plätze für Frauen
Männer in Ausschaffungshaft durchlaufen laut den
Berner
Vollzugsbehörden in der Regel ein "dreistufiges Vollzugsregime":
Sie verbringen zuerst "kurze Zeit" in einer Mehrfachzelle, später
halten sie sich in einer Wohngruppe in einem Regionalgefängnis
auf. Spätestens nach acht bis zehn Wochen dann werden sie in den
Ausschaffungstrakt in der Strafanstalt Witzwil verlegt, wo sie mehr
Freiheiten geniessen. Für Frauen gibt es im Kanton Bern keine
vergleichbare Einrichtung. Sie verbrachten bisher die ganze
Ausschaffungshaft in der Wohngruppe des Regionalgefängnisses Bern.
Man werde für Frauen mit längerer
Ausschaffungshaft
aufgrund des Gerichtsurteils nun eine Lösung suchen müssen,
sagte gestern auf Anfrage Georges Caccivio, Stabschef im kantonalen Amt
für Freiheitsentzug für Betreuung. Eine solche liege aber
nicht einfach auf der Hand. So seien auch die Möglichkeiten
beschränkt, die Frauen in ausserkantonalen Anstalten
unterzubringen. Der Kanton Bern verfügt über rund 80
Plätze für die Ausschaffungshaft, derzeit sind fünf
Frauen inhaftiert - in der Wohngruppe des Regionalgefängnisses
Bern.
Gericht fordert explizite Regeln
Das Verwaltungsgericht hat die Berner Behörden in
seinem
Urteil auch in einem zweiten Punkt hart kritisiert. Die
ausländerrechtliche Administrativhaft, so erinnerte es, stelle
einen "schwerwiegenden Eingriff in die Freiheitsrechte der betroffenen
Person" dar. Laut dem Bundesgericht seien deshalb "die wichtigsten mit
dem Haftvollzug verbundenen Freiheitsbeschränkungen auf Gesetzes-
oder mindestens Verordnungsstufe" zu regeln. Im Kanton Bern
bestünden aber, anders als in vielen anderen Kantonen, keine
entsprechenden Regeln. Der Kanton habe deshalb "ohne Verzug"
entsprechende Bestimmungen auszuarbeiten, forderte das
Verwaltungsgericht. Die Sache werde "in Kürze an die Hand genommen
und geregelt werden", sagte gestern Stabschef Caccivio.
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SANS-PAPIERS
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NZZ 10.9.10
Städteverband für Lehren von Sans-Papiers
Unterstützung für parlamentarische
Vorstösse -
Ständeratskommission schwenkt auf Nein
Der Schweizerische Städteverband spricht sich
dafür
aus, dass junge Ausländer ohne Aufenthaltsrecht eine Berufslehre
absolvieren können.
C. W. · Nächste Woche wird sich der
Ständerat
mit Vorstössen befassen, die für jugendliche Ausländer
ohne Aufenthaltsrecht (Sans-Papiers) den Zugang zu Berufslehren
verlangen. Der Nationalrat hatte im März insbesondere die Motion
von Luc Barthassat (cvp., Genf) mit 93 gegen 85 Stimmen gutgeheissen.
Die Kommission des Ständerats empfahl zuerst mit Stichentscheid
des Präsidenten ebenfalls die Überweisung, prüfte die
Sache aber nach Wunsch des Plenums noch einmal und spricht sich nun mit
6 zu 5 Stimmen dagegen aus.
Schulbesuch möglich
Der Schweizerische Städteverband unterstützt in
einem
Bericht das Anliegen des Motionärs. Das Engagement begründet
er damit, dass die Sans-Papiers wahrscheinlich vor allem in der
städtischen Anonymität lebten. Zu den Rechten, die
unabhängig vom Aufenthaltsstatus sind, gehört der Anspruch
auf Bildung. Während der Schulbesuch, auch auf höheren
Stufen, möglich ist, besteht zur Berufslehre, die mit einer
Erwerbstätigkeit verbunden ist, offiziell kein Zugang. Darin wird
eine Ungleichbehandlung gesehen, unter der jährlich
schätzungsweise 200 bis 400 Jugendliche zu leiden hätten. Es
drohe ihnen soziale Isolation, oder sie würden in die
Schwarzarbeit gedrängt. Für die Illegalität ihres
Aufenthalts seien die meisten Jugendlichen nicht verantwortlich.
Tag der Wahrheit verschoben
Gegen die Zulassung zur Berufsbildung spricht - wie auch
die
Mehrheit der Ständeratskommission festhält -, dass das
Grundproblem dadurch nicht gelöst, sondern verlängert
würde. Nach der Lehre fehlt den Sans-Papiers ja weiterhin die
Aufenthalts- und damit auch die Arbeitsbewilligung. Dazu wiederum geben
Befürworter einer Lockerung zu bedenken, dass ein Lehrabschluss
die Chancen auf eine selbständige Existenz auch im Herkunftsland
oder in einem Drittstaat erheblich verbessere. (Erst) mit 18 Jahren
könnten Sans-Papiers selber um eine Aufenthaltsbewilligung unter
dem Titel des Härtefalls ersuchen; die Eltern scheuten oft davor
zurück, weil eine Ablehnung die ganze Familie träfe.
(Umgekehrt dürfte eine Lehre die Wegweisung der Eltern erschweren.)
Gesetzesänderung gewünscht
Der Bericht enthält auch Überlegungen zu den
nötigen Rechtsänderungen. Ein blosses Tolerieren von
Lehrverträgen, wie es heute vorkomme, sei "unbefriedigend". Auch
kantonalen Ausnahmebewilligungen zieht der Städteverband eine
ausdrückliche Regelung auf Bundesebene vor. In Frage käme
eine Änderung des Berufsbildungsgesetzes oder eine Bestimmung im
Ausländergesetz. Angeführt wird auch die Option, in der
Ausländerverordnung Lehrlinge nicht mehr zu den
Erwerbstätigen zu zählen - den Schutz der
Sozialversicherungen und des Arbeitsrechts möchte man aber
beibehalten.
Die Motion Barthassat zielt auf keine
Gesetzesänderung. Eine
solche würde das Parlament indessen klar in die Pflicht nehmen.
Zwar ist nur eine kleine Gruppe direkt betroffen, doch geht es um die
grundsätzliche Frage, ob dem Entscheid zwischen Wegweisung und
Legalisierung von Sans-Papiers durch Zwischenlösungen auszuweichen
sei.
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SCHNÜFFELSTAAT
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Tagesanzeiger 10.9.10
Schweizer Fichen könnten bald die Richter in Strassburg
beschäftigen
Ein polnischer Journalist will ein Einsichtsrecht für
fichierte Personen in der Schweiz erstreiten.
Von Fabian Renz
Um die Fichenaffäre, die diesen Sommer für
Furore
sorgte, ist wieder jener Zustand eingekehrt, den Geheimdienste am
meisten schätzen: Ruhe. Eine Ruhe allerdings, die trügt. Denn
vor Gericht wird zurzeit ein Fall verhandelt, der weitreichende Folgen
nach sich ziehen könnte - für die Fichierten, für den
Schweizer Nachrichtendienst und für die hiesige Gesetzgebung.
Bei Anti-WEF-Demo verhaftet
Die Vorgeschichte: Am 26. Januar 2008 wird in Basel eine
unbewilligte Demonstration gegen das Weltwirtschaftsforum (WEF) durch
die Polizei unterbunden. 66 Personen kommen vorübergehend in Haft.
Unter ihnen ist der polnische Journalist Kamil Majchrzak, damals
wohnhaft in der Schweiz. Der Redaktor der polnischen Ausgabe von "Le
Monde diplomatique" war, wie er sagt, zu den Anti-WEF-Aktivitäten
in beruflich-beobachtender Funktion angereist. Die politische
Nachbearbeitung der Polizeiaktion ergibt später, dass Majchrzak zu
Unrecht in Gewahrsam genommen worden ist - und dass beim Staat offenbar
Einträge über den Journalisten existieren, die diesen als
"international agierenden und gewaltbereiten Globalisierungsgegner"
ausweisen.
Majchrzaks Erklärung: Ausländische
Nachrichtendienste -
vermutlich aus Deutschland - haben den Schweizer Kollegen
kompromittierende Angaben über ihn zukommen lassen. In Deutschland
ist Majchrzak, welcher der globalisierungskritischen Bewegung durchaus
nahesteht, nach eigenen Angaben bei seiner journalistischen
Tätigkeit schon ins Visier der Polizei geraten. "Gegen meinen
Mandanten ist aber nie eine Strafklage eröffnet worden - weder im
In- noch im Ausland", betont Majchrzaks Basler Anwalt Guido Ehrler.
Genaueres zum Inhalt oder zur Ursache der Fichierung in
der
Schweiz wissen weder Ehrler noch Majchrzak. Die einzige Instanz, die in
seltenen Fällen über die Karteikarten der Staatsschützer
Auskünfte erteilen darf, ist der eidgenössische
Datenschützer Hans-Peter Thür. Von ihm war aber bloss die
Antwort erhältlich, wonach über Majchrzak keine Daten in
widerrechtlichem Sinn bearbeitet worden seien.
Damit geben sich der Betroffene und sein Anwalt nicht
zufrieden:
Sie kämpfen jetzt auf juristischem Weg für ein
Einsichtsrecht. Derzeit liegt ihr Fall beim Bundesgericht. Sollte
Majchrzak hier verlieren, will er an den Europäischen Gerichtshof
für Menschenrechte gelangen. Die Strassburger Richter würden
damit wohl zwangsläufig auch ein Urteil über die Schweizer
Fichierungspraxis fällen.
Experten sind sich uneinig
Wie gross aber wären Majchrzaks Erfolgschancen? Die
Expertenmeinungen lassen keine eindeutige Prognose zu. Majchrzak und
Ehrler schöpfen ihre Hoffnungen aus einem Urteil des Jahres 2006:
Anlässlich einer Klage von fünf fichierten Personen
rügte das Gericht damals den schwedischen Staat für eine
Verletzung von Artikel 13 der Europäischen
Menschenrechtskonvention. Dieser spricht den Bürgern ein "Recht
auf wirksame Beschwerde" zu. Mit Berufung auf dieses Urteil kritisierte
die Rechtsprofessorin Helen Keller schon vor drei Jahren in der NZZ das
Verfahrensvakuum für beschwerdewillige Fichierte in der Schweiz.
Umgekehrt kommt Kellers Kollege Giovanni Biaggini in einem Gutachten
von 2009 zum Schluss, der besagte Entscheid aus Strassburg stelle die
restriktive "indirekte" Schweizer Auskunftspraxis nicht infrage.
Hat Majchrzak Erfolg, würde dies wohl eine Kaskade
gesetzgeberischer Anpassungen auslösen, wie der Basler
Staatsrechtler Markus Schefer vermutet. Der Bundesrat scheint im
Übrigen gar nicht ungewillt, hier voranzuschreiten: Unlängst
äusserte er sich zustimmend zu einer Motion von
SP-Nationalrätin Susanne Leutenegger Oberholzer, die das
Auskunftsrecht zugunsten der Fragesteller ausbauen wollte. Der
Nationalrat lehnte das Ansinnen jedoch ab.
Möglich also, dass die Justiz die Politik in diesem
Punkt
korrigieren wird. "Nur für mich selbst", sagt Kläger Kamil
Majchrzak, "würde ich den ganzen Aufwand sowieso nicht betreiben."
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WEGGESPERRT
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ejpd.ch 10.9.10
Moralische Wiedergutmachung für administrativ Versorgte
Vertreter von Bund und Kantonen bedauern das verursachte Leid
Medienmitteilungen, EJPD, 10.09.2010
Bern. Vertreter von Bund und Kantonen haben sich am Freitag an
einem
Gedenkanlass in Hindelbank gegenüber ehemaligen administrativ
versorgten Personen für die über Jahrzehnte angeordneten
Einweisungen entschuldigt und das dadurch verursachte Leid bedauert.
Sie haben damit einen Beitrag zur Aufarbeitung der Vergangenheit und
zur moralischen Wiedergutmachung geleistet.
Bis 1981 wurden in der Schweiz Jugendliche wegen "lasterhaften
Lebenswandels", "Liederlichkeit", "Trunksucht" und ähnlichen
Gründen ohne gerichtliches Verfahren von
Vormundschaftsbehörden in verschiedenen Anstalten und
Institutionen administrativ eingewiesen. Die betroffenen Jugendlichen
konnten keine richterliche Überprüfung dieser Anordnungen
verlangen. Oft wurden sie in Strafanstalten eingewiesen, wo sie nicht
von den Straftätern getrennt waren. Der Bund und die
zuständigen kantonalen Fachkonferenzen haben das Anliegen einer
Gruppe von ehemaligen administrativ versorgten Frauen aufgenommen und
im Schlosssaal der Anstalten Hindelbank einen Gedenkanlass zur
moralischen Wiedergutmachung durchgeführt.
Ausgegrenzt und diskriminiert
Am Gedenkanlass schilderten betroffene Frauen, wie sie aufgrund
der
administrativen Einweisung ein Leben lang ausgegrenzt und diskriminiert
worden sind. Sie trugen das Stigma, im Gefängnis gewesen zu sein,
obwohl sie nie straffällig geworden waren. Sie zeigten sich
erleichtert, dass ihnen mit dem Gedenkanlass endlich Gerechtigkeit
widerfahre. Zugleich mahnten sie, dass sich willkürlicher
Freiheitsentzug und Machtmissbrauch nie wieder ereignen dürften.
Fürsorgeauftrag auf Schlimmste missachtet
Die zuständigen Behörden hätten in moralischer
Selbstherrlichkeit ihren Fürsorgeauftrag auf Schlimmste
missachtet, führte Guido Marbet, Präsident der Konferenz der
Kantone für Kindes- und Erwachsenenschutz (KOKES) aus. "Anstatt
Verständnis, menschliche Wärme und Beistand erfuhren die
damaligen Schutzbedürftigen Zurückweisung, Isolation und
Bestrafung für nicht begangenes Unrecht." Den Betroffenen
gebührten eine moralische Rehabilitation und der Respekt der
Institutionen, die damals ihren Auftrag vernachlässigt
hätten. Dieser Respekt sei auch als Entschuldigung für die
erfahrene Persönlichkeitsverletzung zu verstehen.
Solche Schicksale dürfen sich nicht wiederholen
Der Zürcher Regierungspräsident Hans Hollenstein,
Vizepräsident der Konferenz der Sozialdirektorinnen und
Sozialdirektoren (SODK), sagte, die Unterbringung aus erzieherischen
Gründen in Strafanstalten sei mit den heutigen Vorstellungen und
Rechtsprechung nicht zu vereinbaren. Es sei die Aufgabe von Bund und
Kantonen, von Justiz- und Sozial-Direktoren dafür zu sorgen, dass
sich solche Schicksale nicht wiederholen dürfen. Er äusserte
sein tiefstes Bedauern über das Schicksal der Betroffenen und
deren Leid und bat, das Geschehene zu entschuldigen.
Als Hindelbank "in Frage kommen konnte"
In einem historischen Rückblick zeigte der Berner
Regierungsrat
Hans-Jürg Käser, Vertreter der Konferenz der Kantonalen
Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD), das Ausmass
der administrativen Einweisungen in Hindelbank auf. Es erreichte in den
Nachkriegsjahren, als fast die Hälfte aller Frauen administrativ
eingewiesen war, seinen Höhepunkt. In den grösseren
Städten, teilweise aber auch in ländlichen Regionen hatte es
sich "herumgesprochen", dass "die Anstalt Hindelbank in Frage kommen
könnte, wenn die Behörden keine weiteren Möglichkeiten
mehr sahen - oder sehen wollten". Regierungsrat Käser sprach
gegenüber den betroffenen Frauen namens der KKJPD seine
Entschuldigung aus, dass sie in ihrer Jugend längere Zeit in der
Anstalt Hindelbank verbringen mussten.
Engagement und Mitgefühl
Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf, Vorsteherin des Eidg.
Justiz-
und Polizeidepartements (EJPD), bat die Betroffenen im Namen des Bundes
um Entschuldigung, "dass sie ohne Gerichtsurteil zur Erziehung
administrativ versorgt wurden". Der Gesetzgeber habe die Pflicht
dafür zu sorgen, dass solche Vorkommnisse nicht mehr geschehen
können. Aber auch die beste Gesetzgebung könne nicht alles
richten. Wichtiger als Gesetze seien das Engagement und das
Mitgefühl jener, die Kinder und Jugendliche im Alltag begleiten
und unterstützen.
Weitere Auskünfte
Brigitte Hauser-Süess, Informationsdienst EJPD, T +41 31
322 40
90, Kontakt
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Bund 10.9.10
Mit 17 Jahren zur "Erziehung" nach Hindelbank
Madeleine Ischer wurde als Jugendliche "administrativ
versorgt".
Matthias Raaflaub
"Erst jetzt, mit 61 Jahren, kann ich leben. In den ersten
20
Jahren habe ich das Leben verflucht. Die nächsten 40 Jahre lebte
ich nur für meinen zweiten Sohn, meine Familie. Jetzt, mit 61,
will ich leben. Ist das nicht unglaublich?"
Erzählt Madeleine Ischer aus ihrem Leben, ist sie
stets den
Tränen nah. In ihrer kleinen Wohnung in Zürich tönt
volkstümlicher Schlager aus dem CD-Spieler - Lieder über eine
Welt, in der die Sonne immer scheint. Madeleine Ischer hat davon bis
heute nicht viel gesehen.
Ischer war eine "administrativ Versorgte". Weil sie den
Behörden nicht passte, wurde sie in ihrer Jugend von Heim zu Heim
geschoben. "In 20 Jahren meines Lebens habe ich 17 Stationen durchlebt,
sagt sie. Die letzte dieser Stationen hat besonders tiefe Wunden
hinterlassen: Hindelbank. 1967 sass das Mädchen dort während
eineinhalb Jahren ein. Neben Mörderinnen, neben Verurteilten.
Madeleine Ischer ist nichts von beidem. Das Wegsperren von jugendlichen
"Problemfällen" war in der Schweiz gängige Praxis. Es blieb
bis ins Jahr 1981 so (siehe Kasten).
Den Sohn "geraubt"
Ins erste Heim wurde das Mädchen gesteckt, als es
gerade
einmal zwei Jahre alt war. Weil Madeleine im Frauenspital Bern als Kind
einer Italienerin und eines Berners zur Welt kam und ihre Eltern nicht
verheiratet waren, war sofort die Vormundschaftsbehörde da. "Ich
bin bevormundet worden ab dem Moment, wo mein Kopf rausgeschaut hat",
sagt Ischer mit Wortwitz. Sie lacht aber nicht. Im Gegenteil. Schnell
werden die Worte roher, wenn sie erzählt. Hart, wie die Dinge, die
sie erlebt hat. "In den Augen der Vormundschaftsbehörde hätte
ich nicht existieren dürfen", sagt sie. "Ich war ein Bastard."
So wurde Madeleine Ischer als Mädchen von Heim zu
Heim
verfrachtet, quer durch die Schweiz. Wurde immer wieder geschlagen und
misshandelt, wie sie erzählt. "Eine Jugend, das kannst du
vergessen." Eines sagt sie immer wieder. Immer, wenn sie eine
Bezugsperson hatte, habe man ihr diese weggenommen. Auch das Kind. Es
kam, als sie erst 17 Jahre alt war. In der psychiatrischen Klinik
Münsingen wollte man es abtreiben oder weggeben. Nun aber zog die
junge Frau nicht mehr den Kopf ein. Sie rebellierte. Ihr Sohn kam Ende
Juli 1966 zur Welt, als sie im Appenzeller Heim Lutzenberg war. Doch
wenige Wochen später nahm man ihr das Baby weg. "Man hat es mir
gestohlen, geraubt", sagt Ischer heute. Und ihre Augen füllen sich
wieder mit Tränen.
Keine gebrochenen Augen
In all dieser Zeit hatte die
Amtsvormundschaftsbehörde VI in
Bern das Sagen darüber, was mit Madeleine geschah. Jedes
Sträuben der Pubertierenden gegen die Fremdbestimmung las man dort
wohl im Lichte des Urteils, das die psychiatrische Klinik in
Münsingen früher gefällt hatte: Als "triebhafte, leicht
verstimmbare Psychopathin mit schwerster Störung der
Verhaltensweise im Sinne einer Oppositionshaltung" wurde Ischer da
beschrieben.
Die Vormundschaftsbehörde war es auch, die die
17-Jährige nach Hindelbank einwies. Ohne Gerichtsbeschluss, ohne
Anhörung. Gegenüber den Eltern gab sich Hindelbank damals als
"Erziehungsanstalt" aus. Ihr Vater musste für die "Ausbildung" der
Tochter im Gefängnis noch viel Geld bezahlen. "Ich wusste nicht,
was ich da sollte. Ich habe ja gesehen, dass es ein Gefängnis
ist", erinnert sich Ischer an die Einlieferung. Wütend ging sie
dem Direktor Fritz Meyer an die Gurgel. "Jetzt kann ich Sie umbringen.
Ich bin ja eh schon in der Kiste", habe sie gesagt.
Erzählt sie das heute, so zeigt sich ein stolzes
Lächeln auf den Lippen der Frau, der das Gespräch alles
andere als leicht fällt. Ischer scheint sich bewusst zu sein, dass
sie mit dem Aufbegehren gegen die Versorgung, trotzt allem Erlittenen,
ihren Stolz bewahrt hat: Obwohl sie, wie andere junge Frauen auch,
damals nicht wusste, ob sie je aus den Mühlen der Bürokratie
in die Freiheit kommen würde, obwohl sie das Gefängnis so
traumatisiert hat, dass sie sich später das Leben nehmen wollte:
Nachgegeben habe sie nie. Eine Leidensgenossin sagt über sie, sie
sei in Hindelbank das einzige Mädchen gewesen, das keine
gebrochenen Augen gehabt habe.
Erst im November 1968, nach ihrer Freilassung, hält
der
damalige Polizeidirektor des Kantons fest, dass Ischer zu Unrecht
eingewiesen worden sei. Gesetzlich möglich blieb es weiterhin.
Überlebt habe sie die Tortur - das "Guantánamo der
Schweiz", wie Ischer sagt - nur, weil sie unempfindlich gegenüber
allem Schmerz geworden sei. Als ihr geliebter Vater, der für die
Freilassung seiner Tochter kämpfte, bei einem Autounfall starb,
sei sie innerlich versteinert. Zur Beerdigung wurde sie in Handschellen
geführt. Wieder hatte man ihr das Wichtigste genommen. Ischer
glaubt heute, dass ihr Vater ermordet worden ist.
Das Misstrauen bleibt
Erst als die frühere Leidensgenossin vor wenigen
Jahren an
die Öffentlichkeit geht und ihre Geschichte erzählen kann,
erst als man sie in Medien anhört, redet auch Ischer. Damit so
etwas nie mehr geschehe. "Mein zweiter Sohn ist erschrocken", sagt sie
nur knapp.
Auch heute noch richtet Ischer schwere Vorwürfe an
die
Berner Behörden. Als sie sich vor wenigen Jahren nach dem Wohl
ihres Sohns erkundigte, erhielt sie einen Brief von der
Vormundschaftsbehörde. Es gehe ihm gut, schrieb diese formal. Er
danke der Mutter, dass sie ihm dieses Leben ermöglicht habe. Damit
rissen alte Wunden wieder auf. "Ich habe meinen Sohn nie zur Adoption
freigegeben. Warum muss man mich weiter anlügen", fragt Ischer
flehend. Warum sage man ihrem Sohn, den sie nie wiedergesehen hat,
nicht die Wahrheit? Nein, Bernerin wolle sie keine sein, sagt sie. "In
einem anderen Kanton hätte ich vielleicht eine Chance gehabt."
--
"Administrativ versorgt"
Heute Abend empfangen Justizministerin Eveline
Widmer-Schlumpf
und der Berner Polizeidirektor Hans-Jörg Käser "administrativ
Versorgte" an einem Gedenkanlass in den Anstalten Hindelbank. Deren
Schicksal beleuchtet das neu erschienene Buch "Weggesperrt" von
Beobachter-Journalist Dominique Strebel (ISBN 978 385569 4396).
Madeleine Ischer hat zusammen mit Leidensgenossinnen eine
Interessengruppe gegründet (www.administrativ-versorgte.ch). Ihr
Schicksal steht für jenes Tausender junger Männer und Frauen,
die bis 1981 mit gesetzlicher Beglaubigung, aber ohne Gehör, in
Anstalten untergebracht wurden. Die Entscheide über die
Verwahrungen trafen oft zivile Beamte. Als Begründung reichten oft
schon "uneheliches Kind" oder "liederlicher Lebenswandel" aus. Wie
viele wegen des widerfahrenen Unrechts ihr Leben aufgaben, ist nicht
bekannt . (mra)
---
BZ 10.9.10
"Administrativ Versorgte" Christina Jäggi
Sie hofft auf eine Entschuldigung
Als 19-Jährige wurde Christina Jäggi
"administrativ
versorgt" und in Hindelbank ins Gefängnis gesteckt. Heute ist sie
wieder in Hindelbank - und hofft auf eine Entschuldigung von
Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf.
Zu behaupten, Christina Jäggi sei 1976 mit ihrem
Leben
problemlos zurechtgekommen, wäre übertrieben. Mit 18 Jahren
verliebte sich die Recherswilerin (SO) in einen 15 Jahre älteren
Mann. Dass er "nicht den besten Leumund" hatte, ignorierte sie. Bald
wurde sie schwanger und gebar Ende 1975 einen Sohn. Das Kind kam zu
Pflegeeltern, was Christina Jäggi schwerlich verkraftete. Hinzu
kam, dass sie von ihrem Freund immer wieder geschlagen wurde.
Nach drei Selbstmordversuchen landete sie 1976 in einer
psychiatrischen Klinik. Dort fuhr eines Tages die Polizei vor,
führte die inzwischen 19-Jährige ab und brachte sie in die
"Arbeitserziehungsanstalt" Hindelbank. So wollte es - mit dem
Einverständnis des Vaters - die Vormundschaftsbehörde der
Bürgergemeinde Recherswil, die das "leibliche und geistige Wohl"
der jungen Frau "stark gefährdet" sah. Doch dass die
"administrativ Versorgte" im Frauengefängnis wie eine Verbrecherin
behandelt wurde, verbesserte ihr geistiges Wohl nicht. Denn was sie
nötig gehabt hätte, war psychiatrische Hilfe. Nie hatte man
ihr geholfen, den Schreck zu verwinden, den sie als 11-Jährige
erlebt hatte: Nicht ahnend, dass ihre Mutter über Nacht verstorben
war, fand sie diese am Morgen in der guten Stube im Sarg liegend.
Niemand begriff
"Bei meinem Freund suchte ich die Liebe, die ich zu Hause
nicht
fand", sagt Christina Jäggi heute. 34 Jahre sind seit ihrer
Einlieferung ins Frauengefängnis vergangen. 28 Jahre ist es her,
dass sie ihr gesamtes früheres Umfeld verliess, um in
Hägendorf ein neues Leben anzufangen. Hier wohnt und arbeitet die
gelernte Köchin, hier hat sie sich einen neuen Freundeskreis
aufgebaut. Doch ihr Leben blieb ein Kampf. In Psychotherapien habe sie
zwar ihre Kindheit aufarbeiten können, "aber irgendwie ging es
nicht weiter", erzählt die heute 53-Jährige. Auch die
Therapeuten hätten nicht begriffen, "wo sie das einordnen sollten,
dass ich in Hindelbank war".
Endlich ein Ventil
Das erlebte Unrecht nagte an Christina Jäggi. Sie
suchte
Trost im Alkohol, bis sie im Februar 2008 wieder in einer Klinik
landete. Per Zufall stiess sie dort auf einen "Beobachter", in dem
Ursula Biondi erzählte, wie sie als "administrativ Versorgte"
weggesperrt wurde. Endlich hatte Christina Jäggi das Ventil
gefunden, nachdem sie ihr halbes Leben gesucht hatte. Sie vertraute dem
"Beobachter" ihre Geschichte ebenfalls an. Dann schloss sie sich dem
von Ursula Biondi gegründeten Verein an, der eine Anlaufstelle
für "administrativ Versorgte" unterhält. So kam ein Stein ins
Rollen, der dazu führte, dass Christina Jäggi Einsicht
verlangte in ihre Akten. Sie wollte begreifen, was die
Vormundschaftsbehörde damals angetrieben hatte. Doch in ihrer
Heimatgemeinde stiess sie auf Widerstand. Aber sie gab nicht auf. Sie
kontaktierte sogar den damals verantwortlichen
Vormundschaftspräsidenten. "Heute tönt das vielleicht brutal,
aber Hindelbank war sicher nicht so schlimm", soll er gesagt haben.
Christina Jäggi kann es kaum fassen, "dass die Behörden nicht
hinstehen und sagen können: ‹Das war nicht in Ordnung.›".
Die grosse Genugtuung
Doch heute wird Justizdirektorin Eveline Widmer-Schlumpf
an einem
Gedenkanlass in Hindelbank zu einst "administrativ Versorgten"
sprechen. Christina Jäggi wird dabei sein. Sie erwartet, von der
Bundesrätin rehabilitiert zu werden.
Je mehr die Öffentlichkeit über "administrativ
Versorgte" erfährt, desto besser kann Christine Jäggi mit dem
erlebten Unrecht umgehen. "Ich habe immer geglaubt, dass es eine
Gerechtigkeit gibt. Jetzt kommt sie im Eiltempo", sagt sie mit Blick
auf die Veränderungen, die sie erfährt, seit sie über
ihre Vergangenheit spricht. Für sie geht heute in Hindelbank "ein
Traum in Erfüllung".
Susanne Graf
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DROGEN
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pressetext 10.9.10
Neue Broschüre der Schweizerischen Kriminalprävention:
"Drogen - Nein Danke!"
Bern (ots) -
Die Schweizerische Kriminalprävention (SKP) hat in
Zusammenarbeit
mit Vertretern und Vertreterinnen der kantonalen Polizeikorps und
Drogenfachstellen eine Broschüre zum Thema Alkohol und andere
Drogen erarbeitet. Sie liefert anhand von Fallbeispielen Informationen
zur Drogenproblematik und den damit zusammenhängenden
Deliktsfeldern, informiert über die Rechtsgrundlagen, die
polizeilichen Aufgaben und enthält weiterführende
Informationen zu Substanzen und Beratungsstellen. Sie ist ab heute bei
allen Polizeiposten in der Schweiz erhältlich.
Drogenkonsum und dessen Konsequenzen beschäftigen die
Polizei nach
wie vor täglich. Es ist eine wichtige Aufgabe der
Ordnungskräfte, gemäss Betäubungsmittelgesetz den Umgang
mit illegalen Substanzen zu unterbinden. Ebenso stark sind die
Polizeikorps aber auch mit anderen Deliktsformen beschäftigt, die
als direkte oder indirekte Folge von Drogen- und Alkoholmissbrauch
auftreten: Seien dies Strassenverkehrsdelikte, Sachbeschädigungen,
Gewalt oder auch Sexualdelikte, letzteres oft auch im Umgang mit
Opfern. Nicht zuletzt sind die Ordnungshüter auch für die
Einhaltung der Jugendschutzbestimmungen verantwortlich.
Eltern und Erziehungsberechtigte sind verständlicherweise
besorgt,
wenn ihre Kinder Alkohol oder andere Drogen konsumieren und oft ist der
Informationsstand gering oder diffus. Was ist überhaupt erlaubt
und was passiert, wenn mein Kind unter Drogeneinfluss von der Polizei
erwischt wird? Wer ist zuständig und was für Strafen, Bussen
oder Massnahmen drohen? Diese und weitere Fragen sollten mittels
vorliegender Broschüre beantwortet werden. Anhand von konkreten
Fallbeispielen (was geschieht, wenn...?) werden typische Deliktsformen
im Zusammenhang mit Alkohol und anderen Drogen beschrieben und es
werden in allgemeiner Form Tipps gegeben, wie Eltern mit Problemen
umgehen und das Gespräch mit Ihren Kindern angehen können
(was kann ich tun?). Die Substanzen, ihre Wirkungsweisen und
spezifischen Gefahren sind in einer Übersichtstabelle dargestellt
und für Interessierte finden sich zudem Angaben zu spezialisierten
Fachstellen.
Die Polizei will mit dieser Broschüre Eltern und
Erziehungsberechtigten einerseits die polizeilichen Aufgaben und deren
rechtliche Grundlagen näher bringen, andererseits aber auch die
Bandbreite und die teils schwerwiegenden Folgen unbedachten
Drogenkonsums aufzeigen und damit einen Beitrag zur
Präventionsarbeit leisten.
Die Broschüre "Drogen - Nein danke!" kann unter
www.skppsc.ch als
PDF heruntergeladen oder kostenlos bei jedem Polizeiposten bezogen
werden.
ots Originaltext: Schweizerische Kriminalprävention
Internet: www.presseportal.ch
Kontakt:
Martin Boess, Geschäftsleiter der SKP
Tel.: +41/31/320'29'50
Mobile: +41/78/608'20'29
E-Mail: mb@skppsc.ch
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Drogen - Nein danke!
Polizeiliche Informationen über Risiken und rechtliche
Grundlagen
zu Alkohol und anderen Drogen
für Eltern und Erziehungsberechtigte
http://www.presseportal.ch/de/showbin.htx?id=100013720&type=document&action=download&attname=SKP_Drogen-NeinDanke_dt.pdf
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KAPYBTALISMUS
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Bilanz 10.9.10
http://www.bilanz.ch/edition/artikel.asp?Session=42E32CF7-5F80-472A-A6F0-5633B02DE32B&AssetID=7493
Unternehmen
UNTERNEHMEN DER RIHS-CLAN UNTERNEHMEN
DER RIHS-CLAN
ICH YB DICH NICHT
Mit ihrem Engagement bei den Young Boys und dem Stade de
Suisse
haben sich Andy und Hans-Ueli Rihs vertan. Sie wollen aussteigen - aber
nicht um jeden Preis.
Stefan Barmettler
Als sich Andy Rihs (67) vor wenigen Tagen aufs Karbon-Rad
schwang, um mit seinem Bruder Hans-Ueli (66) und ein paar Kollegen zu
seinem Weingut in der Provence zu radeln, war die Welt wieder in
Ordnung. Halbwegs.
Im Sattel, da lässt sich der Ärger der letzten
Tage
schnell vergessen. Rihs, Besitzer des Stade de Suisse und des
Fussballclubs BSC Young Boys, hatte in Bern für Aufruhr gesorgt.
Der Anlass: seine unzimperliche Absetzung von Stefan Niedermaier, CEO
des Stade de Suisse, sowie die Einsetzung von Ilja Kaenzig, ehemals
Fussballmanager und "Blick"-Sportchef, der nun in Bern für neuen
Schwung sorgen soll.
Rihs Personalentscheid löste ein Erdbeben in der
Berner
Fussballwelt aus. "Eine Art Verbrechen am Verein" sei die Absetzung von
Niedermaier, musste der Patron vor der Abfahrt in die Provence in der
Lokalzeitung lesen. Aus Protest gegen die Absetzung trat Kuno Lauener,
Sänger von Züri West und Berner Kulturikone, per sofort aus
dem Beirat der Young Boys zurück. In Blogs und Leserbriefen wurde
über Rihs gelästert.
Rückzugs-Gelüste
Dieser verstand die Berner Welt nicht mehr und plädierte im
Freundeskreis für die Abschaffung der Sportberichterstattung in
den Zeitungen. Vom Young-Boys-Slogan "Ich YB dich" bekam Club-Besitzer
Rihs jedenfalls wenig bis nichts zu spüren.
Dabei würde der temperamentvolle Unternehmer lieber
heute
als morgen zum finanziellen Rückzug aus dem Fussballgeschäft
der Hauptstadt blasen. Rihs Herz schlägt für den Radsport, er
bezeichnet sich selber als "Velo-Maniac". Bereits zweimal habe er den
YB-Exit ins Auge gefasst, erzählen Insider. Zuerst verhandelte er
mit dem Energieunternehmen BKW und der Versicherungsgesellschaft
Mobiliar; diese waren aber nur am Stadion interessiert, nicht am
Fussballclub. Rihs jedoch wollte nur im Doppelpack verkaufen - und zu
einem viel höheren Preis, als die Due Diligence von BKW/Mobiliar
ergab. Die Folge: Verhandlungsabbruch.
Vor zwei Jahren bot Rihs in einer turbulenten
Verwaltungsratssitzung der Sport und Event Holding - sie ist Besitzerin
von Stadion und Fussballclub - sein 20-Prozent-Paket zum Verkauf an.
Der Unternehmer, der bei all seinen Investments stets grösste
Ellbogenfreiheit gewohnt ist, nervte sich zunehmend über das
Geplapper im überdimensionierten Gremium. Sein Vorschlag an die
verdutzten Mitinvestoren: "Liebe Kollegen, entweder kauft ihr jetzt
mein 20-Prozent-Paket ab, oder ich kaufe eure Aktien."
Alleinherrscher
Weil keiner der Aktionäre seinen Anteil aufstocken konnte
oder
wollte, zahlte Rihs mit seinem Bruder die andern Aktionäre aus.
Nun war Andy Rihs mit seinem jüngeren Bruder plötzlich der
Alleinherrscher in Bern. Für den Zukauf des 60-Prozent-Pakets soll
er rund 30 Millionen auf den Tisch gelegt haben, wie mehrere Quellen
berichten. Minderheitsaktionär blieb nur Benno Oertig,
VR-Präsident der Sport und Event Holding.
Weder Oertig noch die Rihs-Brüder wollten sich zu
ihrem
finanziellen Engagement in Bern äussern. Man solle sich Anfang
2011 wieder melden, falls dann noch Interesse an YB und am Stade de
Suisse bestehe, liessen sie über ihren Sprecher Sacha Wigdorovits
ausrichten.
Auch heute sind die dominierenden Rihs-Brüder am
Ausstieg
interessiert. Mehrmals bekräftigten sie, dass "Bern" bloss ein
Finanzinvestment sei und man insgeheim hoffe, die Young Boys und das
Nationalstadion in lokalen Besitz überzuführen. Nur sind weit
und breit keine Berner Investoren auszumachen, die einsteigen wollen.
Schon gar nicht zum geforderten Preis.
Das Risikoprofil des Investments ist ohnehin nichts
für
schwache Nerven: Ein schlechtes Spiel wie gegen Tottenham Hotspur in
London, und schon lösten sich erhoffte Champions-League-Einnahmen
von über 25 Millionen Franken in Luft auf. Ein Blick in die
Bücher zeigt die Tücken des Geschäfts: 2009 habe die
Sport und Event Holding eigentlich einen operativen Verlust von gegen
fünf Millionen Franken eingefahren, heisst es. Nur dank
Spielerverkäufen blieb der Jahresabschluss im Lot. Dieses Jahr
wird ein Rekord angepeilt: 50 Millionen Umsatz und ein Gewinn von sechs
bis sieben Millionen Franken sind budgetiert. Doch von einem
nachhaltigen Geschäftsmodell kann keine Rede sein. Einen Grossteil
des Profits - rund fünf Millionen - hat man dem Verkauf von
Stürmerstar Seydou Doumbia an ZSKA Moskau zu verdanken. Das
brachte zwar Geld in die Kasse, dafür verliert der Club jetzt
gegen die AC Bellinzona.
Bern ist speziell. Sentimentalität prägt den
Geist des
Publikums, ein zweiter Schlussrang das Abschneiden auf dem Platz. Nur
zum Gewinnen reichte es nicht. Besonders sind auch die
Besitzverhältnisse. In der Regel sind Stadion und Fussballclub
getrennt, wobei der Club eine Stadionmiete von drei bis fünf
Millionen Franken abliefert. Zudem stützt nicht selten die
öffentliche Hand mit Millionen die Sportvereine.
Anders in Bern. Hier tragen Andy und Hans-Ueli Rihs das
volle
Risiko. Als Besitzer des Stadions und der Young Boys sind sie einem
permanenten Klumpenrisiko ausgesetzt, weil der Fussball für 70 bis
80 Prozent des Umsatzes verantwortlich ist. Ihr Cashflow und der Wert
ihres Investments hängen also unmittelbar vom Gekicke ihrer
Angestellten auf dem Kunstrasen ab.
Ohnehin mussten die Investoren vom Zürichsee
mittlerweile
einsehen, dass mit Schweizer Fussball nicht der grosse Reibach zu
machen ist. Letztes Jahr liess Andy Rihs seine Berner Assets auf ihren
Wert hin überprüfen. Die Immobilienexperten von Livit und die
Corporate-Finance-Leute von Sal. Oppenheim lieferten ihm
ernüchternde Zahlen. Den Ertragswert von Stadion und Club
taxierten die Spezialisten auf 55 Millionen Franken, heisst es.
55 Millionen? Eine beträchtliche Differenz zu den 100
Millionen, die in den Gängen des Stade de Suisse als angestrebter
Verkaufspreis gerne genannt werden. Mit anderen Worte: Das Investment
ist längst nicht dort, wo es in den Augen der ambitionierten
Aktionäre sein sollte. Neue Ertragsquellen erschliessen und
optimieren ist also angesagt.
Grabenkämpfe statt Siege
Vor diesem Hintergrund ist der Rauswurf von CEO Stefan
Niedermaier
nachvollziehbar: Er und VR-Präsident Oertig lieferten sich
monatelang einen beherzten Infight, statt die gelb-schwarze Elf endlich
auf Siegerkurs zu trimmen. Bis Andy Rihs ein Machtwort sprach und
Niedermaier vors Stadiontor stellte.
Intrige, Profilierungssucht - ein Graus für den
erfolgsverwöhnten Rihs, der seine bunten Investments (siehe
"Family Office" auf Seite 53) am liebsten an der langen Leine
führt. Schliesslich wünscht sich der 67-Jährige Firmen,
die von ihren Chefs möglichst autonom geführt werden, damit
ihm mehr Zeit für das geliebte Velofahren bleibt.
Nach Niedermaiers Abgang soll Kaenzig die Meisterpokale
von Basel
nach Bern umdirigieren und so Fantasie, sprich: Mehrwert, in Rihs
Investment fächeln. Die Ambitionen sind hoch: Rihs Statthalter
Oertig träumt bereits von einer Young-Boys-Blütezeit von 20
bis 30 Jahren, "wie bei Bayern München". Ein gewagter Vergleich.
Bayerns Budget ist 25-mal grösser als jenes von YB.
Bis die Träumereien des VR-Präsidenten
Realität
sind, können sich die kapitalkräftigen Rihs-Brüder
durchaus noch gedulden. Ihr Aktienpaket beim
Hörgerätehersteller Sonova ist aktuell 1,5 Milliarden Franken
wert.
--
Andy Rihs
Family Office
Hörgeräte, Gastgewerbe, Wein, Velos - ein bunter
Strauss von Aktivitäten.
Die privaten Geschäfte von Andy Rihs sind in der
ARfinanz
Holding gebündelt. Über die privaten Finanzen wacht Ernst
Vogelsang, ehemals Finanzchef von Sonova. Um seine weltweiten
Aktivitäten besser zu koordinieren, hat sich Rihs eine
achtplätzige Cessna Citation zugelegt.
Sonova: Andy Rihs hält 10,7 Prozent am
Hörmittelproduzenten Sonova (früher Phonak). Aktueller Wert
seiner Beteiligung: 900 Millionen. Bruder Hans-Ueli (genannt
"Jöggi") hält 6,8 Prozent. Weiter gehört ihm die Swiss
Casinos Holding.
BMC/Bergamont: Andy Rihs spult jährlich 7000
Kilometer auf
dem Fahrrad ab. Ihm gehören mit BMC und Bergamont zwei
High-End-Velohersteller mit Sportteam. Bruder Hans-Ueli ist
Vizepräsident beim Eishockeyclub Rapperswil-Jona Lakers.
Weinhandel: Rihs ist im Ausland an zwei Weingütern
beteiligt: in der Provence an der 38 Hektar grossen La Coquillade (bei
Avignon), in Neuseeland an der Framingham Winery (westlich von
Wellington). Neben dem Weinanbau ist er auch in der Rinderzucht in
Colorado aktiv.
Gastronomie: Andy Rihs besitzt den Gastrobetrieb Al Porto
in
Lachen SZ. Zum Weingut La Coquillade gehört ein erstklassiges
Hotel. Bruder Hans-Ueli hält das Restaurant Luegeten in
Pfäffikon SZ.
Immobilien: Andy Rihs liess den Seidenpark in Stäfa
bauen,
der knapp 100 Miet- und Eigentumswohnungen umfasst und 80 Millionen
kostete. Weitere Grossprojekte befinden sich in Zug (Eden Park) und in
Uerikon (Inselblick). Die Immobilienprojekte werden über die
Rihs-Firma R-Estate abgewickelt.
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HOMO FUSSBALL
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Blick am Abend 9.9.10
Aus für schwulen Fussballer
TABU
Französischer Verein verbannt ihn - nach 14 Jahren.
Yoann Lemaire darf nicht mehr Fussball spielen - weil er
schwul
ist. Sein Amateurklub FC Chooz hat den 28-Jährigen vom
Spielbetrieb ausgeschlossen. Und das, obwohl der Verteidiger 14 Jahre
lang für den Verein kickte. Lemaire wurde als erster bekennender
homosexueller Fussballer Frankreichs bekannt und veröffentlichte
ein Buch zum Tabu-Thema. Sein Rausschmiss schlägt in Frankreich
hohe Wellen. Lemaire sagte, er sei "tief getroffen" und "wollte doch
nur mit Freunden Fussball spielen". Am Mittwoch verlangte die
Schwulen-Organisation "Paris Foot Gay" (PFG) beim nationalen
Fussballverband die Bestrafung des FC Chooz. Die Ethik-Kommission des
Verbands müsse der Fussballwelt zeigen, dass Homophobie "genauso
schlimm ist wie Rassismus oder Antisemitismus".
Der FC Chooz behauptet, er habe Lemaire verbannt, um ihn
vor
Teamkameraden zu schützen. Einige dieser Kameraden hatten 2009
negativ über Schwule gesprochen. nce
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KLASSENKAMPF
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NZZ 10.9.10
Historisches Stadtgeflüster
Rosa Luxemburg vor den Toren der "Berna"?
Peter Heim*
Zu den umstrittenen historischen Gestalten, deren
Lebensspuren
nach Olten geführt haben sollen, gehört neben Lenin auch eine
andere Kultfigur der politischen Linken: Rosa Luxemburg. In den Tagen
des Landes-Generalstreiks im November 1918 soll sie mit ein paar
hundert Demonstranten vor den Fabriktoren der "Berna" aufmarschiert
sein. Die 1904 gegründete Motorwagenfabrik "Berna" zählte bis
in die 1980er-Jahre zu den führenden Nutzfahrzeug-Herstellern des
Landes. Mit ihren rund 700 Mitarbeitenden produzierten die Oltner
Autokonstrukteure während des Ersten Weltkrieges
Militärlastwagen sowohl für die Schweizer Armee als auch
für die Alliierten, im Zweiten Weltkrieg wurden sogar
Panzerfahrzeuge gebaut. Wichtigste Produkte aber waren die zivilen
Lastwagen und Autobusse mit dem markanten Schriftzug am
Kühlergitter, an den sich viele von uns noch gut erinnern. Unter
den zahlreichen Ingenieuren, Konstrukteuren und Mechanikern ragt die
Person von Direktor Ernst Marti hervor, welcher die Geschicke der
"Berna" fast ein halbes Jahrhundert lang geprägt hat. Im
Unterschied zu den meisten anderen Patrons auf dem Platz Olten
verfolgte er gegenüber der Belegschaft einen harten Kurs. So lange
es ihm möglich war, weigerte er sich, gewerkschaftlich
organisierte Arbeiter einzustellen, konnte aber nicht verhindern, dass
gegen Ende des Ersten Weltkrieges zwei Drittel der Belegschaft dem
Metallarbeiterverband angehörten. Erst viele Jahre nach seiner
Pensionierung setzte sich der inzwischen über Achtzigjährige
hinter die Schreibmaschine, um seine Erinnerungen zu Papier zu bringen.
Darin kommt er, eher beiläufig, auch auf die Zeit des
Generalstreiks zu sprechen: "Dann kam der Generalstreik 1918 mit seiner
Grippeepidemie. Ein neuer Gedanke, der Kommunismus, war das Schlagwort.
Harte Auseinandersetzungen über den sozialen Gedanken, den man zu
wenig in Erwägung zog. Er war uns fremd und man bekämpfte
ihn. Aber man musste miteinander reden und einen Modus finden. Als aber
Rosa von Luxemburg, eine bekannte Hetzerin, mit einigen 100 Mann vor
dem Gitter stand, war es doch ungemütlich. Sie verlangten
Mitspracherecht, Beteiligung am Ergebnis u. a. m. Nun, das ging auch
vorüber. Man gründete eine Arbeiterkommission, wo man
zusammenkam, um verschiedene Probleme zu besprechen." Dass die aus
Polen stammende Revolutionärin Rosa Luxemburg (1871-1919),
bedeutende sozialistische Theoretikerin und Mitbegründerin der
Kommunistischen Partei Deutschlands, sich in Olten aufgehalten habe,
war bisher völlig unbekannt. In keiner der zahlreichen
Luxemburg-Biografien findet sich auch nur der leiseste Hinweis darauf.
Man weiss zwar, dass sie 1889 bis 1897 in Zürich studierte und
sich gelegentlich auch in Genf und Basel aufhielt. Die Jahre des
Krieges aber verbrachte sie wegen ihrer politischen Tätigkeit
grösstenteils in Haft, am 9. November 1918, als in vielen
deutschen Städten die sogenannte "Novemberrevolution" ausbrach und
in der Schweiz der Generalstreik begann, wurde sie aus dem Breslauer
Gefängnis entlassen und begab sich nach Berlin, wo sie Ende
Dezember am Gründungsparteitag der KPD teilnahm. Am 15. Januar
1919 wurde sie in Berlin-Wilmersdorf erneut verhaftet und kurz darauf -
zusammen mit ihrem Kampfgenossen Karl Liebknecht - von einem
militärischen Kommando ermordet. "Von der Menge getötet",
hiess es zynisch in einem Rapport. Wie soll diese Frau es geschafft
haben, in Olten eine Hundertschaft von Demonstranten vor die Fabriktore
der "Berna" zu führen und gleichzeitig in Berlin verhaftet und
erschossen zu werden? Die vage Formulierung, mit welcher Marti die
erstaunliche Legende in die Welt setzt, lässt Zweifel am
Wahrheitsgehalt seiner Aussage aufkommen. Viel wahrscheinlicher ist,
dass im Gedächtnis des betagten Managers Realität und
politische Fantasien etwas durcheinander geraten waren. Mag sein, dass
auch der Name eines anderen, ihm unheimlich erscheinenden Weibsbildes
mit hineinspielte: Rosa Bloch-Bollag, auch sie revolutionäre
Marxistin und Jüdin. Im Unterschied zu Rosa Luxemburg hatte sie
insofern mit Olten zu tun, als sie vor dem Generalstreik eine Zeitlang
dem "Oltener Aktionskomitee" angehörte, das allerdings mit unserer
Stadt - ausser seinem Namen - rein gar nichts zu tun hatte. Auch nach
ihrem Tode geisterte die ermordete Revolutionärin noch in Oltner
Gazetten herum. In den gehässigen Debatten nach dem Generalstreik
wurde ihr Name instrumentalisiert, um den politischen Gegner - hier in
der Person des SP-Parteiführers Jacques Schmid - zu diffamieren:
"Der Sozialstaat nach bolschewistischem Vorbild, nach dem
halbnärrischen Paare Liebknecht und Rosa Luxemburg in Deutschland
- das ist das Ideal und Ziel des Genossen J. Schmid."
* In der OT-Serie "Historisches Stadtgeflüster" geht
Stadtarchivar Peter Heim Geschichtsmythen aus der Dreitannenstadt auf
den Grund.
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FRÖNTLER
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Aargauer Zeitung 10.9.10
Audienz mit Schweizer Nazis
Heute vor 70 Jahren - am 10. September 1940 - empfing
Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz Vertreter der "Nationalen
Bewegung der Schweiz" im Bundeshaus.
Peter Kamber*
Marcel Pilet-Golaz war 1940 Bundespräsident - der
Stilist
unter den Bundesräten der Kriegszeit. Als Schweizer Aussenminister
stark nach Paris ausgerichtet, traf ihn der Zusammenbruch Frankreichs
im Juni 1940 tief. Im selben Monat Juni 1940 bildete sich am
äussersten rechten Rand der Parteienlandschaft die Nationale
Bewegung der Schweiz (NBS). Viele liessen sich verblenden und landeten
im Karteikasten der Organisation.
Pilet-Golaz empfing am 10. September 1940 drei der
führende
Vertreter dieser NBS, unter ihnen, als prominentesten, den Schweizer
Nazi-Schriftsteller Jakob Schaffner. Einst die gefeierte Hoffnung der
Schweizer Literatur, schrieb der 1936 im Vorwort zu "Volk zu Schiff":
"Man wird es offen nationalsozialistisch finden. Ich (...) erkläre
heute offen und verantwortlich, dass ich die Grundzüge des
Nationalsozialismus als massgebend betrachte für den Neuaufbau
Europas."
Die Audienz dauerte von 16.30 bis 18 Uhr. Doch statt sich
zu
mässigen, wie der Magistrat zu hoffen schien, schlachtete die
Nationale Bewegung der Schweiz den Empfang sofort propagandistisch aus
- mit einer Pressemeldung, die im Deutschen Reich und in der Schweiz
den Eindruck erweckte, der Bundesrat richte seine Politik neu aus. Es
folgte eine heftige Gegenbewegung in der Bevölkerung. Ohne dass es
die Öffentlichkeit erfuhr, empfing Pilet-Golaz am Sonntag, 15.
September 1940, einen der drei NBS-Besucher, den Ingenieur Max Leo
Keller, bei sich zu Hause erneut. Der stand vor einer Reise nach
Deutschland und weckte einmal mehr falsche Hoffnungen. Im "Reich" wurde
Keller danach vom Führer-Stellvertreter Hess empfangen und
erwirkte für die NBS die deutsche Anerkennung als
"repräsentative" nationalsozialistische Organisation der Schweiz.
Die Schweizer Nazis erwarteten ungeduldig noch für
1940 eine
deutsche Besetzung der Schweiz. So randalierte der dritte der
Teilnehmer der Pilet-Golaz-Audienz, der Elektromonteur Ernst Hofmann,
am 11. November 1940 offen bei Bundesanwalt Franz Stämpfli, um
diesen zur Zulassung einer Wochenzeitung mit klar
nationalsozialistischer Ausrichtung zu zwingen: Stämpfli tue gut
daran, "diese Zeitungsangelegenheit in Ordnung zu bringen und alsdann
zu verschwinden", in vierzehn Tagen wäre er nicht mehr auf seinem
Posten, er habe offenbar keine Ahnung vom "Ernst der Lage". Der
Bundesanwalt warf Hofmann hinaus.
Wichtigstes Hindernis für ein Verbot der NBS war bis
dahin
ihr "Anspruch" gewesen, "aufgrund der Audienz beim Herrn
Bundespräsidenten als legale Bewegung zu gelten" (Bundesanwalt
Stämpfli). Vergeblich kämpfte bis zu dem Zeitpunkt innerhalb
der Armee auch der Spezialdienst im Sicherheitsdienst des
Schweizerischen Nachrichtendienstes für Massnahmen gegen die NBS.
Zwar erging nach dem Skandalauftritt Hofmanns am 19.
November ein
Verbot. Doch der Führerkreis der Ex-NBS operierte einfach weiter -
ohne zu ahnen, dass der Spezialdienst in Zusammenarbeit mit der
Politischen Polizei der Kantone nunmehr jeden ihrer Schritte
überwachte: Gepflanzte Mikrofone brachten zutage, dass diese
Schweizer "Führer" im Untergrund enge Beziehungen zum
SS-Geheimdienst knüpften und den Aufbau SS-ähnlicher
Strukturen vorantrieben - u.a. in Form einer so genannten "Sportschule"
in einer Villa in Kilchberg oberhalb des Zürichsees. Auch wurden
zellenartig organisierte "Kampfstaffel-Kommandos" gebildet, die am Tag
X Sabotageaufträge ausführen sollten - eindeutige Beweise
für die Vorbereitung eines Umsturzes.
Darauf erfolgte am 10. Juni 1941 eine zweite Razzia. Die
meisten
Schweizer Nazis flohen ins "Reich". Der Schriftsteller Jakob Schaffner
kam am 25. September 1944 während eines alliierten Luftangriffs
auf Strassburg ums Leben. Die anderen wurden nach dem Krieg in die
Schweiz ausgeliefert und vor Gericht gestellt.
*Der Historiker und Sachbuchautor Peter Kamber verfasste
den
Roman "Geheime Agentin" (Basisdruck-Verlag, Berlin 2010, 1385 S., Fr.
49.20). Darin beschreibt er den Geheimdienstkrieg zwischen 1939 und
1945 und die Schweiz als Spionagedrehscheibe.
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JÜDINNEN BS
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NZZ 10.9.10
Ein jüdischer Generationenkonflikt
Die Israelitische Gemeinde Basel im Schatten des Zweiten
Weltkriegs
Wenn eine Minderheit unter Druck gerät, gibt sie
diesen an
Schwächere weiter, etwa an die Jugendlichen. Dies zeigt Noëmi
Sibold in ihrer Dissertation zur Geschichte der Juden Basels.
Urs Hafner
"Ein Grossteil der jüdischen Jugend treibt in einem
national-faszistischen Fahrwasser, das der Hitlerjugend in nichts
nachsteht." Diesen Satz äusserte Mitte der 1930er Jahre ein
Mitglied der Israelitischen Gemeinde Basel (IGB). Die Äusserung
rief innerhalb des tonangebenden Basler Judentums nicht etwa Irritation
und Widerspruch hervor, sondern stiess auf breite Zustimmung. Wie kam
das?
Nachdem die Nationalsozialisten in Deutschland 1933 die
Macht
übernommen hatten, verstärkte sich der Druck auf die
Schweizer Juden und die hier lebenden jüdischen Flüchtlinge:
Der rassistische Antisemitismus, der den religiösen Antijudaismus
in sich aufgenommen hatte, fasste in breiten Bevölkerungsschichten
Fuss. Die jüdischen Gemeinden versuchten zunächst, der
zunehmenden Bedrohung mit juristischen und publizistischen Mitteln
sowie mit der Stärkung der eigenen Identität entgegenzutreten.
Aber das Zusammenrücken gestaltete sich nicht
einfach. Zum
einen mussten die Gemeinden befürchten, mit einem offensiven
Auftreten die judenfeindliche Stimmung in der Öffentlichkeit
anzuheizen und die Behörden zu verärgern, die sich
gegenüber den neuen deutschen Machthabern vorsichtig zeigten und
zu den jüdischen Mitbürgern auf Distanz gingen. Und zum
anderen verhielt sich ein Teil der jüdischen Jugend gerade nicht
so, wie es die ältere Generation erwartete. Die Jugendlichen
konfrontierten das in ihren Augen kleinmütige Auftreten mit der
zionistischen Vision, in das neue Palästina auszuwandern - oder
zumindest in Basel ein eigenes Jugendheim einzurichten.
Diesen Generationenkonflikt, der beunruhigte
Gemeindevertreter -
und wohl auch erboste Väter - zur Aussage vom
"national-faszistischen Fahrwasser" hinriss, in dem die jüdische
Jugend treibe, schildert Noëmi Sibold in ihrer Dissertation
"Bewegte Zeiten - zur Geschichte der Juden in Basel". Im
Ungefähren des Titels klingt das einzige Manko des Buches an: Es
fehlt ihm ein Zentrum, eine These. Aus der Sicht der damals
Involvierten schildert es - zum Teil mit Wiederholungen - die
Entwicklung der IGB und deren Flüchtlingspolitik, die
widersprüchliche Haltung der Universität zu den Juden sowie
die verbreitete Judenfeindschaft und das innerjüdische
Generationenverhältnis.
Die Analyse dieser Spannungen ist der originellste Teil
des
Bandes. Gerade aus der Sicht einer politisch oft indifferenten
Gegenwart beeindrucken die engagierten Auseinandersetzungen zwischen
Jugendlichen und Erwachsenen und unter den Jugendlichen selbst. Da
stritten religiös orthodoxe, kulturzionistische, links- und
rechtszionistische, säkular und liberal gesinnte Gruppen um die
richtige und bessere Gestaltung der Welt. Die Debatten wurden von der
ohnehin schwierigen Grundfrage durchzogen, die der Krieg und die
feindliche Umwelt noch verschärften: Sollte man die Loyalität
vornehmlich der Nation schenken, der man als Bürger
angehörte, - also der Schweiz - oder dem Projekt des israelischen
Staats, dem man sich ebenfalls verbunden fühlte?
Die Erkenntnisse der Autorin sind nicht nur für die
jüdische Geschichte relevant. Will sie nicht noch mehr
geschwächt werden, sieht sich eine unter Druck geratene Minderheit
gezwungen, sich auf eine bestimmte Identität festzulegen, auch
wenn ihre Mitglieder mehrere - politische, kulturelle, religiöse -
Identitäten besitzen. Die Elterngeneration reagierte auf das
Aufbegehren der Jugendlichen nicht sonderlich souverän, sondern
gab den Druck weiter. Weil die IGB befürchtete, die angeblich
kommunistisch unterwanderte Jugend falle negativ auf und verstärke
so den Antisemitismus, forderte sie Stillhalten und "berufliche
Umschichtung": Statt dem Grosshandel und Staatsstellen "nachzujagen",
sollten die Jungen sich in Gewerbe und Landwirtschaft bewähren,
nicht in Palästina freilich, sondern in der Schweiz. Offenkundig
hatte die IGB virulente antisemitische Stereotype der
Mehrheitsgesellschaft verinnerlicht.
Noëmi Sibold: Bewegte Zeiten. Zur Geschichte der
Juden in
Basel, 1930er bis 1950er Jahre.
Chronos-Verlag, Zürich 2010. 393 S., Fr. 48.-.
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ALKVERBOT
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Landbote 10.9.10
Gute Noten für das Genfer Alkoholverbot
Denise Lachat
Seit fünf Jahren darf in Genfer Tankstellenshops kein
Alkohol mehr verkauft werden, in der Nacht ist der Alkoholverkauf in
allen Läden untersagt. Die Einschränkung wirkt sich positiv
auf das Trinkverhalten von Jugendlichen aus.
LAUSANNE - "Prohibition!", schimpften die einen, als das
Genfer
Kantonsparlament 2004 beschloss, zwischen neun Uhr abends und sieben
Uhr morgens den Verkauf von Alkohol "über die Gasse" zu verbieten
und Alkoholika aus dem Sortiment der Tankstellenshops und Videotheken
zu kippen. "Gut für den Jugendschutz!", applaudierten die anderen,
die sich von den Massnahmen erhofften, den steigenden Alkoholkonsum
unter Jugendlichen einzudämmen.
In der Volksabstimmung setzte sich das Verbot durch, und
nun
zeigt eine Untersuchung von Suchtinfo Schweiz*, dass es die Hoffnungen
der Befürworter tendenziell erfüllt. Denn in der Schweiz
stiegen die Spitaleinlieferungen wegen Alkoholvergiftungen zwischen
2002 und 2007 insgesamt an, im Kanton Genf aber gehen sie seit dem Jahr
2005 bei den 10- bis 15-Jährigen zurück, und zwar um etwa 4
bis 5,5 pro tausend im Spital behandelter Fälle. Bei den 16- bis
29-Jährigen fällt die Zunahme geringer aus als in der
übrigen Schweiz, bei den über 29-Jährigen wurde keine
Veränderung festgestellt. Die Notaufnahmen wegen
Alkoholvergiftungen sind laut den Autoren der Studie ein Indikator
für das Rauschtrinken von Jugendlichen, die alkoholische
Getränke häufig spontan einkauften und punktuell in
unkontrollierten Mengen konsumierten. "Die Ergebnisse stehen im
Einklang mit internationaler Literatur, die zeigt, dass gerade bei
Jugendlichen ein Zusammenhang zwischen der Erhältlichkeit von
Alkohol und dem Konsum besteht", folgern die Autoren, und die
Behörden sehen sich in ihren Präventionsbemühungen
bestätigt.
Spitaleinlieferung ist selten
Allerdings räumen die Verfasser der Studie ein, dass
nebst
der Statistik der Spitäler weitere Indikatoren notwendig
wären, um die möglichen Folgen der Intervention auf den
Alkoholkonsum zu untersuchen. Denn Hospitalisierungen in Folge von
Alkoholvergiftungen seien generell und insbesondere bei 10- bis
15-Jährigen, die im Grunde gar keinen Alkohol kaufen dürften,
sehr selten. "Sie sind somit nicht der beste Indikator für ein
verändertes Konsumverhalten."
Immerhin lasse sich mit grosser Sicherheit sagen, dass die
eingeschränkten Verkaufszeiten und das Verkaufsverbot für
alkoholische Getränke in Tankstellen und Videoläden keinen
negativen Effekt auf Alkoholvergiftungen bei Jugendlichen gehabt
hätten. Denn Jugendliche seien stärker als Erwachsene davon
betroffen, dass sie Alkohol nicht günstig und einfach einkaufen
könnten. Denn in Restaurants und Diskotheken überstiegen die
Preise für alkoholische Getränke häufig ihre
finanziellen Möglichkeiten. Dass Jugendliche zu Hause Vorräte
von Alkoholika anlegten, sei zudem eher selten.lDENISE LACHAT
*Effekt der Einschränkung der Erhältlichkeit von
Alkohol auf Alkohol-Intoxikationen im Kanton Genf. Suchtinfo Schweiz,
Lausanne, September 2010.
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ANTI-ATOM
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Bund 10.9.10
Das Volk wird über den Atomausstieg der Stadt Bern
entscheiden
Der Stadtrat spricht sich mit grosser Mehrheit für
eine
Abkehr von der Atomenergie aus.
Simon Thönen
Die Stadtratsdebatte über den Atomausstieg der Stadt
Bern
fand gestern fast auf den Tag genau drei Monate nach der
Grossratsdebatte über ein neues AKW in Mühleberg statt - im
gleichen Plenumssaal des Rathauses Bern, doch mit umgekehrten
Vorzeichen. Im Kantonsparlament hatte die bürgerliche Mehrheit
nahezu geschlossen für ein neues AKW gestimmt. Im Stadtparlament
sprach sich gestern eine ebenso klare Mehrheit von rot-grünen und
Mitte-Parteien für den Atomausstieg aus.
Im Stadtrat stand zwar nicht ein neues AKW in
Mühleberg zur
Debatte, aber doch ein Grundsatzentscheid zur Atomenergie: Das
stadteigene Werk Energie Wasser Bern (EWB) soll Beteiligungen an AKW
aufgeben und diese durch Investitionen in umweltfreundliche Energien
ersetzen. Konkret geht es um Beteiligungen an den AKW Fessenheim
(Frankreich) und Gösgen.
Ausstiegsfahrplan umstritten
Angesichts der klaren Mehrheitsverhältnisse ging es
gestern
im Stadtrat bloss um das Tempo des Ausstiegs:
Die Volksinitiative "Energiewende Bern" fordert, dass EWB
bis
2030 aus den AKW-Beteiligungen aussteigt. Ab diesem Zeitpunkt
dürfte EWB nur noch Strom aus erneuerbaren Energien produzieren,
kaufen und verkaufen.
Der Gemeinderat will mit einem Gegenvorschlag dasselbe
erreichen,
verlangt aber eine Verlängerung der Frist um neun Jahre bis 2039.
"Der Gemeinderat sieht die Zukunft bei den erneuerbaren
Energien,
bei sauberem Strom", betonte Energiedirektor Reto Nause (CVP). EWB habe
eine entsprechende Strategie für den Atomausstieg entwickelt, "die
realistisch ist". Doch sie brauche Zeit. Die kürzere Frist der
Initiative bezeichnete er als "verantwortungslos". Konkret will der
Gemeinderat, dass EWB Gewinne aus der Beteiligung an Gösgen so
lange wie möglich nutzen kann, um Investitionen in erneuerbare
Energien zu finanzieren (siehe nebenstehender Artikel).
"Ich bin beeindruckt, wie die Ziele der Volksinitiative in
der
Eignerstrategie von EWB umgesetzt wurden", sagte der Sprecher der
Grünen Freien Liste (GFL), Peter Künzler. Der Zeitpunkt des
Ausstiegs sei allerdings nicht so entscheidend. EWB könne die
Beteiligungsrechte an Gösgen ja auch früher verkaufen und mit
dem Erlös Investitionen in erneuerbare Energien finanzieren.
Die meisten Sprecher und Sprecherinnen der
rot-grünen, aber
auch der Mitte-Parteien sprachen sich für die Volksinitiative und
den Gegenvorschlag aus. Einzig die BDP/CVP-Fraktion unterstützte
nur den Gegenvorschlag des Gemeinderats. Keine Chance hatte ein von der
SVP unterstützter jungfreisinniger Gegenvorschlag, der den
AKW-Ausstieg streichen wollte ("Bund" vom 19. 8.).
Volksabstimmung angestrebt
Mit 20 zu 21 Stimmen bei 28 Enthaltungen wurde auch die
Initiative "Energiewende Bern" abgelehnt. Der Gegenvorschlag des
Gemeinderates wurde mit 47 zu 18 Stimmen bei 4 Enthaltungen angenommen.
Viele Anhänger der Initiative hatten allerdings aus
rein
taktischen Gründen nicht für diese gestimmt. Sie wollten
vermeiden, dass die Volksinitiative am 28. November alleine vors Volk
kommt. Denn dann hätten sie den Gemeinderat als Gegner. Nun kommt
neben der Initiative auch ein Gegenvorschlag vors Volk, was taktisch
günstiger ist. Das Volk kann so das Tempo des Ausstiegs bestimmen.
Angst vor einem doppelten Nein haben die Initianten nicht - im
Gegenteil: "Ein Volksentscheid wird den Atomausstieg verbindlich
verankern", sagte Stéphanie Penher (Grünes Bündnis)
voller Zuversicht.
--
AKW-Laufzeiten
In Deutschland wäre Initiative zahm
Die grüne Initiative "Energiewende Bern" ist
gemässigter als die Atompolitik der deutschen Regierung.
Wäre Angela Merkel nicht deutsche Bundeskanzlerin,
sondern
eine Berner Lokalpolitikerin, dann müsste sie die links-grüne
Volksinitiative "Energiewende Bern" unterstützen. Zwar hat die
deutsche Regierung eben die Laufzeiten der Kernkraftwerke
verlängert. Doch sie hält an einem Atomausstieg fest, dessen
Fahrplan immer noch ehrgeiziger ist als jener von "Energiewende Bern".
In Bern geht es um die Frage, wann Energie Wasser Bern
(EWB) die
Beteiligung am AKW Gösgen aufgeben soll. Bis 2030, fordert
"Energiewende Bern". Für das 1979 in Betrieb genommene AKW
Gösgen ergibt dies eine theoretische Laufzeit von 51 Jahren. In
Deutschland haben nun aber jene AKW, die vor 1980 ans Netz gingen, eine
Betriebsverlängerung um durchschnittlich 8 auf total nur 40 Jahre
erhalten.
Gemeinderat: 60 Jahre Laufzeit
Sicher, der Vergleich ist theoretischer Natur. Dennoch:
Sogar im
bürgerlich regierten Deutschland wäre die grüne Berner
Initiative zahm - und der Gegenvorschlag des Gemeinderates wäre
eine nukleare Extremlösung: Denn dieser rechnet mit einem
Atomausstieg bis 2039, was einer Gösgen-Laufzeit von 60 Jahren
entspricht. In den USA geht man allerdings auch von solchen Laufzeiten
aus.
Vergleichbar sind die Motive für längere
Laufzeiten:
Alte, abgeschriebene AKW rentieren - bei Neubauten ist dies fraglich.
So rechnet der Gemeinderat mit total 351 Millionen Franken
Mehreinnahmen, wenn EWB neun Jahre länger an Gösgen beteiligt
bleibt. Ob Reaktoren tatsächlich so lange sicher betrieben werden
können, wird allerdings erst die Zukunft zeigen. (st)
---
BZ 10.9.10
Atomausstieg erst auf das Jahr 2039
Das Parlament schlägt dem Volk beim Atomausstieg eine
gemächlichere Gangart vor und lehnt die Energiewende-Initiative ab.
Wann soll die Stadt Bern definitiv vom Atomstrom
wegkommen? Am
28. November können die Stimmberechtigten aus zwei Szenarien
auswählen: Die von rot-grünen Kreisen lancierte Initiative
"Energiewende Bern" verlangt den Atomausstieg bis 2030. Der
Gegenvorschlag des Gemeinderats gibt dem städtischen
Energieversorger EWB zehn Jahre mehr Zeit.
Der Stadtrat hat gestern die Initiative knapp zur
Ablehnung
empfohlen: mit 21 zu 20 Stimmen bei 28 Enthaltungen. Der Gegenvorschlag
fand mit 47 zu 18 Stimmen bei 4 Enthaltungen eine Mehrheit.
Der Stadtrat folgte damit dem Appell von Energiedirektor
Reto
Nause, der auf die Stadt Zürich verwies, die erst auf 2044 aus dem
Atomstrom aussteigt. Die Initiative bezeichnete Nause als
"verantwortungslos": "Bei Annahme tut sich eine Schere auf, die grosse
finanzielle Risiken birgt." Tatsächlich beziffert EWB den
drohenden Wertverlust mit 351 Millionen Franken. Dies weil das
Unternehmen früher auf den günstigen Strom des Atomkraftwerks
Gösgen verzichten und darum während Jahren teuren Strom auf
dem Markt einkaufen müsste.
Ausstieg kaum bestritten
Dieses "Schreckensgespenst Stromlücke" habe die
Atomstromlobby in die Welt gesetzt, konterte Tanja Walliser (SP) und
schwärmte davon, dass Bern eine Pionierstadt sein könne. Auch
Peter Künzler (GFL) zweifelte den von EWB genannten Wertverlust
an. Doch das Datum des Ausstiegs sei "nicht matchentscheidend".
Künzler kritisierte schliesslich die Initianten des Grünen
Bündnisses: "Sie hätten Grösse zeigen und die Initiative
zugunsten des Gegenvorschlags zurückziehen sollen." Dann wäre
es zu keiner Volksabstimmung gekommen, und die rot-grüne Mehrheit
im Stadtrat hätte den Atomausstieg beschliessen können. Das
meinte auch Tanja Sollberger (GLP): "Bei einem Rückzug hätten
wir bereits heute Abend den Atomausstieg per 2039 im EWB-Reglement
festschreiben können."
Grundsätzlich gegen einen Atomausstieg waren bloss
FDP und
SVP. "Initiative und Gegenvorschlag unterscheiden sich nur in den
Fristen. Damit wird die zentrale Frage - Atomausstieg ja oder nein -
verwedelt", sagte Bernhard Eicher (FDP).
Strom wird teurer
Eicher wies darauf hin, dass der Atomausstieg höhere
Stromtarife brächte. "Strom wird so oder so teurer", konterte
Judith Gasser (GB) mit Verweis darauf, dass die Atomkraftwerke am Ende
ihrer Lebensdauer stehen und darum auch dort grosse Investitionen
anstehen. Gasser zerzupfte schliesslich das bürgerliche Argument,
Atomstrom sei grüner Strom: "Der Abbau von Uran geschieht unter
haarsträubenden ökologischen und sozialen Bedingungen."
azu
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NZZ 10.9.10
Peinliche Uran-Herkunft
Greenpeace wusste mehr als Axpo
In Schweizer AKW wird zum Teil Uran aus problembehafteten
russischen Anlagen genutzt. Die Firmen selbst, aber auch Politiker
wollen nun die Herkunft besser kontrollieren.
dsc. · Was lange vermutet wurde, ist nun
bestätigt.
Ein Teil des Urans in den Brennstäben für Schweizer
Atomkraftwerke stammt aus den russischen Wiederaufbereitungsanlagen in
Majak, wo es insbesondere vor einigen Jahrzehnten zu Unfällen
gekommen war. Manfred Thumann, CEO der Axpo AG, hat dies in einem
Interview in der "Rundschau" des Schweizer Fernsehens am Mittwoch
erstmals zugegeben. Am Donnerstag erklärte die Axpo, dass Majak
"heute internationale Umweltstandards erfüllt", während
Medienberichte auch in jüngster Vergangenheit auf gewisse
Verschmutzungen hinweisen. Neben dem Axpo-Werk Beznau ist auch das AKW
Gösgen betroffen. Hingegen bezieht etwa das Werk Mühleberg
den Brennstoff aus den USA, Frankreich und Deutschland.
In Mitteilungen und auf Anfragen hin hatte Axpo seit einem
Jahr
stets erklärt, Nachforschungen zur Herkunft des Urans anzustellen.
Die Firma hat die Kontroverse durch die Publikation einer Umweltbilanz
für Beznau selbst angestossen. Darin war berechnet worden, dass
eine Kilowattstunde AKW-Strom - "alles" mitgerechnet - nur etwas mehr
als 3 Gramm Kohlendioxid-Emissionen verursacht, weil bereits genutztes
Uran gebraucht wird. Solche Werte sind bei Atomstrom prinzipiell sehr
tief. Die Umweltorganisation Greenpeace kritisierte aber am
Axpo-Bericht, dass für die Brennstabherstellung in Russland nicht
Uran aus der Atomwaffenabrüstung verwendet werde, sondern
vermutlich in Majak angereichertes Material.
Die Axpo hatte sich auf Angaben des russischen
Brennstabherstellers in Elektrostal verlassen. Dass Umweltschützer
besser über die Herkunft Bescheid wussten als die
Axpo-Spezialisten, wirkt peinlich. Wie gegenüber der NZZ schon
wiederholt erklärt, will das Stromunternehmen nun die
Brennstofflieferungen besser überprüfen. Einen sofortigen
Ausstieg aus den Lieferverträgen fordert Greenpeace. Wer mit
Partnern Handel treibe, denen schwere Umweltvergehen angelastet
würden, mache sich mitschuldig, schreibt die Organisation.
Der grüne Aargauer Nationalrat Geri Müller
fordert mit
einer parlamentarischen Initiative eine bessere internationale Aufsicht
des Bundes. Bei der Brennstabherstellung in Russland spielt
nämlich als Basisstoff das Uran von abgebrannten Brennstäben
aus der Schweiz eine Rolle. Diese wurden in Frankreich
wiederaufbereitet. Heute sind diese Vorgänge durch ein Moratorium
unterbrochen. Auch die Bedingungen beim eigentlichen Uranbergbau
werden, vor allem wenn dieser in Entwicklungsländern erfolgt, oft
kritisiert.
---
Zürichsee-Zeitung 10.9.10
Atomenergie
Zweifelhaftes Uran-Geschäft
Greenpeace fordert die Betreiber von Schweizer
Atomkraftwerken
auf, aus zweifelhaften Uran-Geschäften mit Russland auszusteigen.
Das Uran für ihre Brennstäbe stammt zum Teil aus
der
russischen Wiederaufbereitsungsanlage Majak - einem der verstrahltesten
Orte der Welt. Die Betreiber der Atomkraftwerke Gösgen und Beznau
bestätigten am Mittwoch gegenüber der Sendung "Rundschau" von
Schweizer Fernsehen erstmals, dass ihre Brennstäbe zum Teil
wiederaufbereitetes Uran aus Majak enthalten. Sie waren in der Sendung
mit Recherchen von Greenpeace konfrontiert worden.
Mit dem Eingeständnis stehe die von der Atomindustrie
gerühmte "saubere Atomenergie" in einem schiefen Licht, schreibt
die Umweltorganisation. Majak gilt neben dem ukrainischen Tschernobyl
als verstrahltester Ort der Welt. In den 50er Jahren explodierte dort
ein Tank mit hoch radioaktivem Plutonium. Heute werden laut Greenpeace
radioaktive Abwasser der Anlage direkt in den Fluss Tetscha geleitet;
weitere radioaktive Flüssigkeiten lagerten kaum gesichert unter
freiem Himmel. Die Krebsrate der einheimischen Bevölkerung ist
nach Angaben der Umweltorganisation überdurchschnittlich hoch,
ebenso die Zahl der Fehlgeburten oder Geburten schwerstbehinderter
Kinder.
Manfred Thumann, Chef des Stromkonzerns und
Beznau-Besitzers
Axpo, kündigte in der "Rundschau" an, sein Konzern werde die
Verträge mit seinen Lieferanten präzisieren und darin
Herkunftsnachweise für das bezogene Uran einfordern. (sda)
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Landbote 10.9.10
Protest gegen Atomendlager im Weinland
fim
TRÜLLIKON - Etwa vierzig Personen demonstrierten am
Mittwochabend in Trüllikon gegen das geplante Tiefenlager für
Atommüll im Weinland. Demonstrant Peter Weiller von der
Organisation Klar sagte: "Wir wollen kein Endlager im Weinland, sondern
den Ausstieg aus der Atomenergie." Die Demonstration fand
anlässlich einer Informationsveranstaltung des Bundesamtes
für Energie über das weitere Auswahlverfahren für
mögliche Endlager statt.
Diese Veranstaltung wurde dann auch mehrmals gestört.
Im
Saal machten sich Atomkraftgegner bemerkbar, ein Protestredner, der die
Diskussionsrunde störte, wurde von verärgerten Zuhörern
unterbrochen.
Das Weinland ist eines von sechs möglichen
Tiefenlagern in
der Schweiz für radioaktive Abfälle. Die Region eignet sich
gemäss Experten des Bundes sehr gut als Endlager. (fim) lSeite 25
--
Vom Versuch, ein Endlager zu verkaufen
Florian Imbach
2018 wird der Bundesrat entscheiden, ob im Weinland ein
Lager
für atomare Abfälle gebaut wird. Am Mittwoch informierte das
zuständige Bundesamt und wurde lautstark empfangen.
Trüllikon - Gelbe Leibchen und Mützen
beherrschten das
Bild. Etwa 40 Demonstranten warteten mit Trommeln und Protestschildern
vor der Mehrzweckhalle. Das Bundesamt für Energie hatte die
Bevölkerung eingeladen und holte sich damit auch viel Protest ins
Haus. Das Amt selbst hielt sich an diesem Abend dezent zurück. Die
Referate überliess man den Regierungsvertretern vor Ort, Markus
Kägi (SVP) für Zürich und Kaspar Schläpfer (FDP)
für den Thurgau. Mit der Benkemer Gemeindepräsidentin Verena
Strasser kam auch eine Vertreterin der betroffenen Gemeinden zu Wort.
Bekenntnisse der Vertreter
Die Referenten gaben sich betont einig und erklärten
den
etwa 130 Zuhörerinnen und Zuhörern, wieso sie das vom Bund
skizzierte Verfahren (siehe Kasten unten rechts) unterstützten.
Kägi wiederholte zwar die offizielle Haltung der Zürcher
Regierung: "Wir sagen Nein zu einem Tiefenlager im Kanton Zürich."
Auffallend häufig sprach Kägi aber davon, dass die Sicherheit
oberste Priorität habe: "Wenn ein Standort gefunden wird, sollte
dies der sicherste sein."
Festlegen auf ein "Ja" oder "Nein" zu einem Tiefenlager
wollte
sich der Thurgauer Kollege Schläpfer nicht: "Wir stehen in der
Verantwortung. Aber alle Standorte sollen mit gleichen Massstäben
bewertet werden." Sowohl Kägi, als auch Schläpfer baten die
Zuhörer, Eingaben zu machen und sich am Verfahren zu beteiligen.
Wie viel diese Beteiligung, die vom Bund vorgesehen ist,
wirklich
bringt, konnte an diesem Abend aber nicht geklärt werden. Verena
Strasser, Gemeindepräsidentin von Benken, sagte: "Wirksam mitreden
können wir bei diesem Verfahren nur bedingt." Dieser Feststellung
wollte auch Werner Bühlmann vom Bundesamt für Energie nicht
widersprechen. Er sagte: "Am Schluss braucht es einen Entscheid und die
Entscheidungskompetenz liegt beim Bund." Aber: "Wir brauchen die
Unterstützung des Kantons und der Gemeinden." Dass es ohne die
Unterstützung des Kantons nicht geht, stellte auch Kägi fest.
In der Diskussionsrunde sagte er: "Wir reden mit, das kann ich Ihnen
versichern. Der Kanton hat eigene Experten und wir schauen dem Bund
genau auf die Finger."
Gegner verlassen den Saal
Protest gegen das Verfahren kam von der Vereinigung
"Klar", die
den Ausstieg aus der Atomenergie fordert. Die organisierten Gegner
marschierten vor Beginn der Podiumsdiskussion an den Teilnehmern
vorbei, hielten kurz ihre Schilder hoch, verliessen danach den Saal und
markierten so ihren stummen Protest. Vorstandsmitglied Peter Weiller
blieb im Saal und meldete sich in der Diskussion zu Wort: "Wir reden
hier über Verfahrensfragen, dabei können Sie nirgends auf der
Welt irgendeinen Ort finden, der als Endlager sicher ist."
Weitere emotionale Momente blieben nicht aus. Ein
Atomkraftgegner
aus Deutschland startete einen minutenlangen Dialog. Die Behörden-
und Regierungsvertreter standen hilflos am Podium und wussten nicht,
wie ihnen geschah. Erst durch das Eingreifen mehrerer Gäste im
Saal gab der Votant das Mikrofon zurück. Eine Frau meldete sich zu
Wort und fragte: "Was hier veranstaltet wird, ist reine
Verwässerung. Ein Atomlager bedeutet doch Gefahr, wieso hören
wir hier nichts von Gefahren?" Worauf Markus Fritschi,
Geschäftsleiter der Nagra, antwortete: "Sie haben recht, wir reden
hier nicht von kompostierbaren Abfällen." Die atomaren
Abfälle seien da, sie an der Oberfläche zu halten, berge die
grösste Gefahr.
Diverse weitere Votanten aus dem Publikum wollten mehr
über
die Sicherheit wissen, selten wurde die Frage konkret beantwortet. So
fragte eine Zuhörerin, was denn passiere, wenn verseuchtes
Material in den Rhein austrete. Bühlmann vom Bundesamt für
Energie antwortete, dass es keine absolute Sicherheit gäbe: "Die
grösste Sicherheit erreichen wir mit einem Tiefenlager."
Eine Frau fragte sinngemäss, ob die Bevölkerung
denn
durch die anwesenden Podiumsteilnehmer vertreten sei. Schleierhaft
schien ihr und anderen Votanten, wieso die Vertreter aus ihrer Region
ihnen das Atommülllager schmackhaft machen wollen.
FLORIAN IMBACH
--
Zürich Nord-Ost: Endlager im Weinland
fim
Das geplante Tiefenlager im Weinland ist für
hochaktive und
mittelaktive Abfälle ausgelegt. Direkt betroffen sind die
sogenannten Standortgemeinden. Unter ihrem Gemeindegebiet wird das
eigentliche unterirdische Lager gebaut. Weiter betroffen sind die
Gemeinden im sogenannten Planungsperimeter. Auf ihrem Gebiet werden auf
der Oberfläche Zugangsstollen und Bauten für den Transport
und die Verpackung von radioaktivem Abfall gebaut. Zum Dritten gibt es
laut Bundesamt für Energie weitere betroffene Gemeinden. Diese
grenzen direkt an Gemeinden im Planungsperimeter an und sind
beispielsweise wirtschaftlich eng verbunden. Mit Transporten von
radioaktiven Elementen per Zug ist laut Bundesamt für Energie bei
hochaktiven Abfällen monatlich und bei mittelaktiven Abfällen
wöchentlich zu rechnen. (fim)
--
Zum Schluss entscheidet das Volk über den Standort
fim
In zehn Jahren, im Jahr 2020, wird das Volk
voraussichtlich
über die vom Bundesrat bestimmten Standorte abstimmen. Zurzeit
läuft Etappe 1, in der sechs mögliche Regionen evaluiert
werden. In dieser Phase soll in jeder Region eine eigene
Bürgerplattform entstehen, die zusammen mit Bund und Kanton die
zukünftige Gestaltung des Standortes plant.
Zum Schluss dieser Phase, voraussichtlich Mitte 2011,
entscheidet
der Bundesrat definitiv, mit welchen der sechs Regionen weitergeplant
wird. Wahrscheinlich scheint, dass danach vier bis sechs Regionen
weiter im Rennen bleiben. In Etappe 2 werden zusammen mit den
Bürgerplattformen in jeder Region ein oder mehrere mögliche
Standorte geplant.
Etwa 2015 entscheidet sich der Bundesrat für je
mindestens
zwei Standorte für hochaktiven Abfall und zwei Standorte für
mittelaktiven Abfall. Diese können auch kombiniert werden. Die
Region Weinland ist nebst Lägeren und Bözberg für eine
solche Kombination vorgesehen. In Etappe 3 werden die letzten
Modalitäten mit den betroffenen Regionen ausgehandelt und per 2018
wird das Verfahren mit dem Gesuch der Nationalen Genossenschaft
für die Entsorgung radioaktiver Abfälle Nagra für ein
Lager für hochaktiven und eines für mittelaktiven Abfall
(oder ein Kombi-Lager) abgeschlossen.
Das Parlament muss die Standortwahl gutheissen und
höchstwahrscheinlich wird das Referendum ergriffen. Wodurch am
Schluss das Volk das letzte Wort haben wird. (fim)
---
Bund 10.9.10
Ein Endlager gibt es weltweit noch nicht
Und wohin mit dem strahlenden Abfall?
Abgebrannte Brennstäbe müssen für 250 000
Jahre
sicher gelagert werden.
Erika Burri und Walter Jäggi
Es gibt kein Endlager für hoch radioaktiven Abfall.
Nirgendwo auf der Welt. Es müsste eine Höhle sein, die so
sicher ist, dass auch dann nichts passiert, wenn sich die Menschheit
längst nicht mehr erinnert, dass da etwas ist. Dass es so etwas
wie Atomkraftwerke überhaupt einmal gegeben hat. 250 000 Jahre
müssen abgebrannte Brennelemente mit dem tödlichen Uran und
den durch die Spaltung entstandenen Transuranen gelagert werden, bis
sie für die Menschheit keine Bedrohung mehr sind. 250 000 Jahre -
niemand weiss, was in dieser Zeit alles geschieht. Ein Endlager muss
Erdbeben trotzen, sicher sein vor Meteoriteneinschlägen.
Hätten die Babylonier vor 4000 Jahren auf dem Gebiet des heutigen
Irak ein Endlager errichtet, es wäre bereits zweimal von Kriegen
und schwerer Artillerie erschüttert worden.
320 000 Tonnen Brennelemente haben die Atomkraftwerke
dieser Welt
bereits abgebrannt. 225 000 Tonnen warten in Zwischenlagern auf eine
endgültige Lösung. In Holland gibt es ein Lager, in dem die
Abfälle für die nächsten 100 Jahre sicher aufbewahrt
sein sollen, anderswo wird mit kürzeren Fristen gerechnet - in der
Hoffnung, dass bald bessere Aufbereitungstechniken oder definitive
Lagerstätten gefunden werden.
Je länger die Kraftwerke in Betrieb sind, desto mehr
Müll sammelt sich. Zu den hoch radioaktiven Abfällen kommen
grosse Mengen von mittel und schwach radioaktiven hinzu. Früher
verschwanden die Fässer mit radioaktivem Material
hauptsächlich in den Tiefen der Ozeane. Auch die Schweiz
entledigte sich so des Übels. Dies hat die UNO jedoch 1993
weltweit verboten.
Seither wird intensiver über Endlager nachgedacht.
Probebohrungen finden in den meisten Ländern statt. Aber nur
wenige Staaten haben bereits definitive Standorte festgelegt. Am
weitesten sind Schweden und Finnland. Im Boden von Olkiluoto, einer
Insel an der finnischen Westküste, werden demnächst im
kristallinen Gestein Tunnel ausgehöhlt. Hier soll das weltweit
erste Endlager ab 2018 abgebrannte Brennstäbe für
Jahrtausende aufnehmen.
Auch die USA hätten einen 2001 vom Kongress
bewilligten
Standort in Yucca Mountain, Nevada. Präsident Barack Obama aber
will diese Option nicht weiterverfolgen und hat dem anhaltenden
Widerstand der Paiute-Indianer und den Experten, die den Standort
für nicht sicher halten, nachgegeben. Nun werden Alternativen
gesucht.
Hoffen auf neue Technik
Viele offene Fragen gibt es auch zur Aufbereitung der
radioaktiven Abfälle, insbesondere in Russland und anderen Staaten
der ehemaligen Sowjetunion. Wo letztlich das gefährliche Material
landet, ist in vielen Fällen unklar. Auch was in der
Nuklearbranche etwa in China, Indien, Pakistan oder Israel geschieht,
ist höchst undurchsichtig. Terrorexperten befürchten denn
auch, dass radioaktives Material in falsche Hände gelangen
könnte.
Die immer grösser werdende Müllhalde an hoch
radioaktivem Material stellt die Atomtechnologie infrage. Förderer
in Wissenschaft, Industrie und Stromwirtschaft unternehmen grosse
Anstrengungen, mit technischen Mitteln das Problem in den Griff zu
bekommen. Viele Hoffnungen ruhen auf der sogenannten Transmutation.
Dabei werden radioaktive Atome aus den abgebrannten Brennelementen mit
Strahlen beschossen, sodass sie in kleinere Teilchen zerfallen. Diese
würden dann weniger lang strahlen, und es dauerte nur etwa 1000
statt 250 000 Jahre, bis sie nicht mehr von natürlichem Gestein
unterschieden werden könnten. Eine Zeitspanne, die sich im
historischen Massstab einigermassen überblicken lässt.
Ob die Transmutation funktioniert und bezahlbar sein wird,
kann
heute noch niemand sagen. Die neue Technik wird erst bei der vierten
Generation der Atomreaktoren in frühestens 20 Jahren zum Einsatz
kommen.
---
reformiert/Kirchenbote ZH 10.9.10
Ethische Bedenken gegenüber Benken
Endlager/ Eine ethische Standortbestimmung zu dem
Atomlager-Projekt im Zürcher Weinland.
Die Schöpfung bewahren - das ist das Thema, für
das
sich Ruedi Waldvogel, Pfarrer in Osterfingen SH, schon lange engagiert.
Auch beim Bauerngottesdienst im Juni auf dem Rossberg. Hier will die
Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver
Abfälle (Nagra) in den Opanlinuston-Schichten nach einem
geeigneten Standort für ein Lager für schwach und mittel
radioaktive Abfälle suchen. Nach den Worten des atomkritischen
Pfarrers Waldvogel soll hier "das Giftigste gelagert werden, was wir
der Schöpfung mit unserem Hunger nach Energie zumuten:
Atommüll."
Undemokratisch. Acht Kilometer Luftlinie vom Rossberg
entfernt,
in Benken, findet Pfarrerin Tünde Basler-Zsebesi ebenfalls harsche
Worte, dass ausgerechnet in der "kleinräumigen und dicht
besiedelten Gegend" um Benken die Nagra nach einem Standort für
hoch radioaktiven Abfall sucht. Von der Kanzel aus, wie ihr Kollege
Waldvogel, will sie hingegen die Nagra nicht angreifen. Vielleicht ist
dies für Benken typisch: Massiver Widerstand gegenüber einem
möglichen Tiefenlager für den hoch radioaktiven Abfall
erwächst dort nicht. "Die meisten hier in Benken sind nach so
vielen Jahren das Thema leid und haben resigniert", sagt die Pfarrerin.
Für Heini Glauser, Mitinitiator der politischen
Abendgottesdienste in Zürich und früherer
Greenpeace-Präsident, hat die Resignation auch einen Grund. "Das
Verfahren der Nagra lässt keine echte Bürgerbeteiligung zu",
sagt er. Denn 2005 entzog das neue Atomgesetz den Kantonen alle
Entscheidungsrechte. Seither liegt bei der Standortfrage für ein
geologisches Endlager der Ball ausschliesslich auf Bundesebene.
Für Glauser ist klar: Ergebnisoffen werde erst nach einer
Lösung gesucht, wenn die Schweiz aus der Atomenergie aussteige.
"Gegenwärtig dient der Entsorgungsnachweis nur als Alibi, um neue
Atommeiler zu ermöglichen."
Dilemma. Ganz anders argumentiert die Erlenbacher
Pfarrerin Gina
Schibler in der Zeitschrift "Aufbruch". Im Zeichen des drohenden
Klimawandels sieht sie in der CO2-armen Kernenergie das kleinere
Übel. Den geringen Ausstoss von CO2-Emissionen lässt auch
Otto Schäfer als einen Vorteil der Kernenergie gelten; er ist
Ethiker beim Institut für Theologie und Ethik des Schweizerischen
Evangelischen Kirchenbunds. Trotzdem macht er sich für einen
raschen Ausstieg aus der Kernenergie stark - auch wegen der
problematischen Endlagerung des radioaktiven Abfalls. Die Spanne von
einer Million Jahren - so lange dauert es, bis hoch aktiver
Atommüll nicht mehr strahlt - sei ein ethisch nicht lösbares
Dilemma. Weder könnte die gesellschaftliche Weiterentwicklung der
Menschheit prognostiziert noch die geologischen Veränderungen der
Erde in den Felsenlabors mit einer gewissen Präzision simuliert
werden. Aus ethischer Sicht hält Schäfer es für
bedenklich, die ungewissen Folgen der Endlagerung an künftige
Generationen weiterzureichen, "ohne, dass diesen ein Nutzen daraus
entsteht". Phobie. Hier hakt Stefan Burkhard, Pfarrer aus Wettingen und
Präsident der Arbeitsgruppe Christen und Energie, ein. Er
schliesst nicht aus, dass "spätere Generationen auf den
radioaktiven Abfall als wertvollen Rohstoff" zurückgreifen
würden. Zudem sei die Debatte von Emotionen geprägt, die
teilweise an "eine Phobie grenzen": "Die Strahlenbelastung eines
Tiefenlagers oder eines Kernkraftwerks wie Leibstadt liegt 1000 Mal
tiefer als die natürliche Strahlung in vielen Gebieten Europas."
Delf Bucher
--
Kommentar
Der atomare Sündenfall
Delf Bucher ist "reformiert."-Redaktor in Zürich
Erlöst von Hiroshima? Die Schöpfung hat es klug
eingerichtet. Der grösste Atomreaktor unseres Planetensystems, die
Sonne, ist weit von uns entfernt. Der Atommüll bleibt oben, nur
die Energie für das Leben kommt zu uns hinunter. Aber schon die
Geschichte von Adam und Eva zeigt: Seit jeher wollten die Menschen die
Ordnung der Schöpfung nicht auf sich beruhen lassen. Der Griff
nach der verbotenen Frucht vom Baum der Erkenntnis ist ein Bild
dafür, wie der Mensch schrankenlos und mit immer neuen
Erkenntnissen Kräfte entfesselt. Am vorläufigen Endpunkt der
Entwicklung steht die zivile Nutzung der Atomkraft. Vielleicht war hier
in den 1950er-Jahren sogar noch das Streben spürbar, den grossen
Sündenfall des Atombombenabwurfes von Hiroshima und Nagasaki
wiedergutzumachen. Der Inbegriff des Zerstörerischen sollte zum
Segen der Menschheit genutzt werden.
Lösungswort. Aber die Berge von Atommüll
wuchsen.
"Opalinuston" heisst das aktuelle Lösungswort der Nagra-Geologen.
In Skandinavien lautet es "Granit" und in Deutschland
"Salzstöcke". Doch das schein-bar sichere
Salzstock-Endlager-konzept wurde rasch entzaubert. Vor zwei Jahren kam
ans Licht, dass Wasser in das Atomlager in Asse ein-gebrochen ist.
Unlösbar. Gestehen wir es uns de-mütig ein: Die
Frucht
vom Baum der Erkenntnis hat uns Menschen - zum Glück - nicht
gottgleich gemacht. Kein Mensch wird garantieren können, dass der
Atommüll über eine Million Jahre sicher im Endlager ruhen
wird. Was tun? Selbst ein Aus-stieg aus der Atomkraft ermög-licht
keine Lösung des Unlösbaren. Immerhin würde so der
strahlende Müll nicht mehr zunehmen.
---
NZZ 10.9.10
Von finnischen AKW-Querelen lernen
Eidgenössisches Nuklearsicherheitsinspektorat
diskutiert
Übernahme ausländischer Lizenzen für neue Reaktoren
In Finnland zahlt die AKW-Branche derzeit Milliarden an
Lehrgeld,
um einen neuen Reaktor zu erstellen. Die Schweizer
Sicherheitsbehörde klärt nun ab, inwieweit dabei angewandte
Sicherheitstests auch hierzulande gelten können.
Davide Scruzzi, Rauma
Das Mekka der AKW-Branche liegt an der finnischen
Westküste,
auf einer kleinen Halbinsel namens Olkiluoto, mitten in einer
wunderschönen Landschaft. Hier, unweit der Kleinstadt Rauma,
stehen zwei Atomkraftwerke, ein Zwischenlager für abgebrannte
Brennstäbe und ein Endlager für schwach- und mittelaktive
Abfälle. Zudem ist ein Lager für hochaktive Abfälle
geplant. Seit 2005 wird auf der Halbinsel auch an einem neuen Reaktor
vom Typ EPR gebaut. Ein weiterer Neubau ist bereits beschlossen - im
Gegensatz zur Schweiz ist dazu kein Volksentscheid nötig. Die
Dimensionen der neuen Kraftwerks-Generation sind eindrücklich:
Allein das gegen Flugzeugabstürze gesicherte Reaktorgebäude
hat eine Höhe von 70 Metern. In einer Halle daneben steht der
grösste Turbinen-Generator-Block, der je gebaut worden ist. Das
Werk soll ungefähr ab 2013 eine Nettoleistung von 1600 Megawatt
einspeisen, etwa 50 Prozent mehr als das grösste Schweizer AKW in
Leibstadt. Bis zu 3500 Personen arbeiten auf der Baustelle. Doch dieser
Tempel der Ingenieurskunst löst nicht bloss Staunen aus. Das neue
Kernkraftwerk von Olkiluoto sorgt aufgrund von Kosten- und
Terminüberschreitungen auch für Negativschlagzeilen. Das
Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) verfolgt die
Arbeiten in Finnland aufmerksam und bereitet sich schon jetzt auf die
entsprechenden Baugesuche für neue Schweizer AKW vor. Gerade auch
Kostenabwägungen zwischen der Atomkraft und allfälligen
Alternativen dürften in der Schweizer AKW-Debatte im Übrigen
eine wichtige Rolle spielen, sagt Roland Bilang. Er ist
Geschäftsführer des Nuklearforums Schweiz (früher:
Schweizerische Vereinigung für Atomenergie).
Streit um Kosten
Das Nuklearforum lud vor einigen Tagen eine Gruppe
Journalisten
nach Finnland ein. Die Probleme rund um das neue AKW kamen dabei
natürlich zur Sprache. Weder vom finnischen Stromunternehmen TVO
noch vom französischen Lieferunternehmen Areva NP werden genaue
Zahlen über die Kostenstruktur gemacht. Gemeinhin wird von einem
Fixpreis von drei Milliarden Euro ausgegangen, während
mittlerweile Zusatzkosten von zwei und mehr Milliarden genannt werden -
welche, laut TVO, Areva zu tragen hat. Der gemeinsame Auftritt von
Vertretern der beiden Unternehmen vor der Journalistengruppe mutete am
letzten Montag jedenfalls so kalt an wie ein finnischer Winter, und die
knappen Formulierungen liessen die juristischen Konflikte erahnen:
Areva klagt gegen seinen Kunden TVO, unter anderem weil dieser bei der
Genehmigung der Dokumentationen getrödelt habe. Umgekehrt hat TVO
ebenfalls eine Klage in Milliardenhöhe gegen den
französischen Konzern wegen Bauverspätungen eingereicht.
Während AKW-Gegner die Probleme rund um Olkiluoto als
Argumente gegen neue Anlagen ins Spiel bringen, führen Areva und
auch viele Schweizer Kernenergie-Fachleute aus, dass es sich bei den
jahrelangen Verzögerungen letztlich um das Resultat einer Phase
handle, in welcher in Europa keine neuen Werke erstellt worden seien,
und nun wieder Erfahrungen gesammelt werden müssten.
Auf Herstellerseite heisst es, dass ein grosser Teil der
Verspätungen auch auf anfängliche Probleme mit Zulieferern
zurückzuführen seien. Zum Teil seien diese nicht
vollständig mit allen formalen Prozeduren des nuklearen Regelwerks
in Finnland vertraut gewesen. So habe man etwa die Betonmischung aus
baupraktischen Gründen punktuell leicht verändert, was eine
neue Genehmigung erforderlich machte. Auch etwa beim Schweissen gelten
für AKW Dokumentationsvorschriften, welche über den
gängigen Industrienormen liegen und die Zulieferer für
Olkiluoto bisweilen nicht auf Anhieb erreichten. Die Anlage
erfüllt aber gemäss Areva "alle Anforderungen an
Qualität und Sicherheit".
Ein wichtiges Argument in der Schweizer AKW-Debatte ist
freilich
gerade für Wirtschaftskreise die Beteiligung inländischer
Firmen. Das Nuklearforum will im Hinblick auf einen AKW-Neubau
Unternehmen schon bald im Rahmen von Tagungen auf die speziellen
Branchennormen hinweisen. Das Ensi bereitet sich als
Sicherheitsbehörde ebenfalls auf die Baugesuche vor, die nach
einem Ja bei der AKW-Abstimmung nach 2013 eingereicht würden.
Umgerechnet sieben "Mannjahre" werden bei der Behörde 2010
dafür eingesetzt. Es geht um die Ausgestaltung des
Genehmigungsverfahrens und um das Sammeln von Informationen - eine
eigentliche Prüfung findet erst statt, wenn sich die Stromfirmen
für einen Reaktortyp entscheiden. Auf Wunsch von AKW-Lieferanten
sind beim Ensi in Brugg auch schon Seminare durchgeführt worden,
um Ensi-Mitarbeiter weiterzubilden. Auch die Kontakte zu den finnischen
und den französischen Sicherheitsbehörden sind intensiv.
Wichtiger Hochwasserschutz
Noch abgeklärt wird die Frage, inwieweit Erkenntnisse
ausländischer Sicherheitsbehörden, ja allenfalls ganze
Lizenzierungen, übernommen werden, sagt Ensi-Mediensprecher Anton
Treier. Andernfalls wären die Prüfarbeiten umfangreicher.
Vermutlich werden die neuen Schweizer Anlagen, wie die drei im Oktober
erscheinenden Ensi-Berichte zu den drei Rahmenbewilligungsgesuchen
aufzeigen dürften, spezielle Anforderungen im Bereich
Hochwasserschutz aufweisen müssen. Dies würde dann
spezifische Analysen zur Folge haben. Nachrüstungen aufgrund
technischer Fortschritte oder neuer Erkenntnisse kann das Ensi auch
nach der Fertigstellung in den 2020er Jahren im Rahmen der
Betriebsbewilligung verlangen oder auch später einfordern. Bereits
beim Bau des AKW Leibstadt ergaben sich in den 1980er Jahren durch
solche Nachrüstungen Mehrkosten. - Obwohl die hiesigen Stromfirmen
von Erfahrungen im Ausland profitieren, stellt also jedes Projekt eine
neue Herausforderung dar.
Mehrere Typen
Der derzeit in Olkiluoto im französischen Flamanville
und im
chinesischen Taishan in Bau befindliche EPR-Reaktor ist keineswegs der
einzige mögliche Typ für den Ersatz von Schweizer AKW. Der
EPR ist ein Druckwasserreaktor - der Reaktor-Kühlkreislauf ist
dabei vom Kreislauf für den Turbinen-Betrieb getrennt. Nach diesem
Prinzip funktionieren auch der APWR von Mitsubishi, der APR 1400 von
Korea Hydro & Nuclear Power sowie der AP 1000 von Westinghouse.
Weiterhin im Gespräch sind Siedewasserreaktoren, die einen
einzigen Wasserkreislauf aufweisen. Dazu gehören der ESBWR von
General Electric und Hitachi sowie der ABWR von Toshiba-Westinghouse.
Grundsätzlich entsprächen alle diese Typen den höheren
Sicherheitsanforderungen der dritten Reaktor-Generation, sagt Jörg
Starflinger vom Karlsruher Institut für Technologie. Bei der
Auswahl ständen neben Preis und elektrischer Leistung auch die
künftigen Unterhaltsarbeiten im Vordergrund. So seien bei
Druckwasserreaktoren die Arbeiten an Turbinen einfacher, weil diese
nicht im Strahlen-Bereich ständen. Hingegen seien
Siedewasserreaktoren technisch simpler und ihre Leistung könne
leichter mit den internen Pumpen reguliert werden. Besondere
Sicherheitselemente des EPR wie die Auffangvorrichtung für den bei
einem schweren Störfall schmelzenden Reaktorkern gebe es auch bei
anderen Typen.
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Bund 10.9.10
Die starke Rückkehr der Atomenergie
"Atomkraft? Nein danke": Der Slogan war gestern. Heute
brummt die
Atomenergie weltweit. Selbst Länder wie Schweden fordern den
Ausstieg vom Ausstieg.
Alain Zucker
An der ETH beginnt der Aufschwung langsam. Den ersten
Masterstudiengang für Nuklearingenieure haben 11 Kandidaten
abgeschlossen, den zweiten 13, und im dritten, der jetzt dann beginnt,
könnten es 16 werden. Doch ihre Aussichten, dereinst einen guten
Job zu finden, sind ausgezeichnet. Die totgesagte Kernenergie erlebt
weltweit eine Renaissance, und weil die Ausbildung von Atomingenieuren
in Westeuropa wegen unsicherer Aussichten lange vernachlässigt
wurde, sind sie gesuchte Leute.
Dass Deutschland diese Woche beschlossen hat, die
Laufzeiten
seiner Atomkraftwerke zu verlängern, ist nur eine Randerscheinung
des globalen Atombooms. 59 Atommeiler sind weltweit im Bau, darunter
die ersten, die zur dritten Generation gehören, und das Uran
effizienter, also mit weniger Abfall, in Strom umwandeln sollen. 500
weitere sind gemäss dem Branchenverband World Nuclear Association
in Planung oder vorgesehen und sollen bis 2030 betriebsbereit sein. Die
Unternehmensberatung Arthur D. Little erwartet bis 2030 ein
jährliches Wachstum von durchschnittlich zehn Prozent bei der
Inbetriebnahme neuer Reaktoren - die meisten davon in
Schwellenländern wie China, Indien und Russland.
Aber auch in Westeuropa, wo der Widerstand gegen die
Atomkraft
eine ganze Generation politisierte, zeichnet sich ein Umdenken ab.
Einige der heutigen Kernkraftwerke nähern sich dem Ende ihrer
Lebenszeit, und bisher können die erneuerbaren Energien die
drohende Stromlücke nicht füllen. Grossbritannien hat deshalb
den Bau acht neuer Atommeiler beschlossen, Polen will überhaupt
erst einsteigen, und in Schweden und in Italien propagieren die
Regierungen den Ausstieg vom Ausstieg.
"Heute werden mehr Atommeiler gebaut als je zuvor in den
vergangenen 20 Jahren", sagt Hans-Holger Rogner von der Internationalen
Atomenergiebehörde (IAEA). Die erste Generation wurde vor 40 bis
60 Jahren gebaut, doch seit die zweite Generation in Betrieb ist, blieb
die Zahl der Kernkraftwerke stabil - 441 Reaktoren sind es heute. Ihr
Anteil an der globalen Stromproduktion liegt bei 15 Prozent. Am
höchsten ist er in Westeuropa. Da liegt die Schweiz mit 40 Prozent
im vorderen Mittelfeld. Auf Platz eins liegt Frankreich (75%).
Schlusslicht ist China, das erst 2 Prozent seiner Elektrizität
nuklear gewinnt.
Womit klar ist, wo das grosse Wachstumspotenzial liegt.
Von den
48 neuen Anlagen der vergangenen Dekade stehen 36 in Asien. China
allein baut derzeit 24 neue und will den Atomstrom in zehn Jahren
verachtfachen. Konkurrenz machen den Asiaten die Russen, die zehn
Meiler bauen und den Nuklearanteil beim Strom auf 30 Prozent verdoppeln
wollen. "Zu Öl und Gas gibt es nur eine starke Alternative - das
ist die Atomenergie", sagt der russische Regierungschef Wladimir Putin.
Atomenergie als Energieträger der Zukunft? Die World
Nuclear
Association geht in ihrem Szenario für das laufende Jahrhundert
mindestens von einer Verfünffachung der heutigen nuklearen
Produktion aus. Doch die Voraussagen der Industrie sind insofern mit
Vorsicht zu geniessen, als unklar ist, ob all die Reaktoren, die in
Westeuropa in den nächsten Dekaden vom Netz gehen, wirklich
ersetzt werden. Das hängt vor allem von den politischen
Rahmenbedingungen ab, die zum wichtigsten Risikofaktor geworden sind
für die vier grossen Baukonsortien der Branche:
Toshiba-Westinghouse, die französische Areva, GE-Hitachi und die
russische Rosatom, die mit Siemens kooperiert. Immerhin kosten Planung
und Bau eines neuen Reaktors mehrere Milliarden Franken und dauern
über zehn Jahre.
Doch während Atomkraftgegner für Westeuropa und
die USA
noch immer darauf hoffen können, dass sich der Anteil der
Kernkraft verringern wird, lässt die explodierende
Energienachfrage Ländern in anderen Weltgegenden keine Wahl. Der
globale Elektrizitätsbedarf wird gemäss IAEA bis 2030 um 50
bis 75 Prozent steigen, vornehmlich wegen des Wachstums in den
Schwellenländern. Die Kernkraft ist dabei nur einer der
Energieträger, die dazu beitragen sollen, dieses Wachstum zu
bewältigen - bis heute übrigens in einem viel geringeren
Ausmass als die Kohle. Sofern die Schwellenländer überhaupt
gewillt sind, etwas gegen den Klimawandel zu tun, setzen sie auf
Atomkraft, um ihre Abhängigkeit von der Kohle und damit die
C02-Emissionen zu reduzieren.
Atomkraft als grüne Technologie: Dies muss allen, die
sich
einst während der Anti-AKW-Proteste an Eisenbahnschienen anketten
liessen, als Ironie der Geschichte erscheinen. Doch heute gilt
Atomstrom auch bei vielen Finanzanlagen als umweltfreundliche
Investition. Und Horst-Michael Prasser, Professor für
Kernenergiesysteme an der ETH Zürich, erklärt den Erfolg der
Kernenergie unter anderem mit der "Ökobilanz, die unter dem Strich
gut ist".
Vergessen ist heute die Katastrophe von Tschernobyl, als
nach
einer Kernschmelze weite Teile der heutigen Ukraine, aber auch
Weissrusslands und Russlands radioaktiv verseucht wurden. Weil es in
etwa 14 000 Erfahrungsjahren nur zu zwei Unfällen mit
Zerstörung des Reaktorkerns kam, spricht die Atombranche heute von
einem "Restrisiko" - und das ist positiv gemeint. So liefern
Sicherheitsanalysen der Hersteller bei Kraftwerken, die heute gebaut
werden, Wahrscheinlichkeiten einer Kernschmelze pro Anlage von weniger
als ein Mal in einer Million Jahre. Das heisst, dass ein solcher
Reaktor mit 99,99-prozentiger Sicherheit keinen Störfall haben
sollte. Und wenn, müssten die neuen Technologien die
Radioaktivität im Reaktorgebäude einschliessen.
Reicht das Uran?
Gleichzeitig tüfteln die Atomforscher an einer neuen
Generation von Reaktoren, die frühestens ab 2030 ihren Betrieb
aufnehmen können. Sie sollen den Brennstoff effizienter nutzen und
vor allem die Mengen der langlebigen Bestandteile im hochaktiven Abfall
reduzieren, der in geologischen Tieflagern entsorgt wird (vgl. Beitrag
links).
"Atomkraft? Nein danke!": Der Slogan war gestern. Heute
brummt
die Atomindustrie - trotz jahrzehntelangen Kampfs westeuropäischer
Atomkraftgegner. Ihnen bleibt die Hoffnung, dass sie nochmals gegen
ihre Regierungen mobilisieren können, die neuen Gefallen am
Atomstrom gefunden haben. Immerhin prophezeien Experten wie der
Naturwissenschaftler Daniel B. Botkin, dass dem Boom der Treibstoff
ausgehen könnte. Nimmt man nur die geschätzten Uranvorkommen,
die man zu den jetzigen Preisen für abbaubar hält, reicht der
Vorrat beim heutigen Verbrauch und der heutigen Technologie (die jedoch
immer effizienter wird) nur noch 250 Jahre.