MEDIENSPIEGEL 10.9.10
(Online-Archiv: http://www.reitschule.ch/reitschule/mediengruppe/index.html)

Heute im Medienspiegel:
- Reitschule-Kulturtipps (Tojo, GH, DS)
- Reitschule bietet mehr: Störmanöver der Kalten Krieger; DRS-Abstimmungsvorschau
- RaBe-Info 10.9.10
- Club-Leben: Only Members im Liquid; Ü40 im Touch
- Police BE: Arbeitsbedingungskampf
- Zivilstand Illegal: Frepo vs Illegale
- Ausschaffungshaft: Regionalknast BE gerügt
- Sans-Papiers: Städteverband für Lehren
- Schnüffelstaat: bald in Strassburg Thema
- Weggesperrt: Obrigkeit bedauert Schicksal von Administrativversorgten; mit 17 und 19 in Hindelbank
- Drogen: Neue SPK-Broschüre
- KapYBtalismus: der Rihs-Clan
- Homophobie im Fussball
- Klassenkampf 1918: Rosa Luxemburg an Demo in Olten
- Fröntler 1940: Audienz beim Bundespräsident
- JüdInnen BS 1930er bis 1950er: gespalten
- Alkverbot: Bsp. Genf
- Anti-Atom: Atomausstieg BE; Dreckiges Uran; Weinland; Benken; Finnland; Anti-Atomausstieg

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REITSCHULE
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Do 09.09.10
17.00 Uhr - Reitschule - Öffentliche Führung durch die Reitschule (Treffpunkt beim Tor)
19.00 Uhr - Frauenraum - "Frauenhandel in der Schweiz - wie sieht der Schutz der Opfer aus?" Veranstaltung des Bleiberechtskollektivs Bern
20.30 Uhr - Tojo - Dying for Oil, Gods and iPods, An Apocalyptic Comedy von Action Theatre
21.00 Uhr - Rössli - james reindeer, james p honey (London), babel fishh (USA), son kas und Das Fest (D)
20.30 Uhr - Grosse Halle - Praed trifft Norient: Audio-visuelle Performances

Fr 10.09.10
20.30 Uhr - Tojo - Dying for Oil, Gods and iPods, An Apocalyptic Comedy von Action Theatre
23.00 Uhr - Dachstock - Wild Wild East: SHANTEL DJ-Residency - Balkan, Gypsy

Sa 11.09.10
14.00 Uhr - Frauenraum - AMIE Frauenkleidertauschbörse abseits der Modeindustrie, women only
17.00 Uhr - Reitschule - Öffentliche Führung durch die Reitschule (Treffpunkt beim Tor)
20.00 Uhr - Kino - TATORT REITSCHULE: "Harry hol schon mal den Wagen" - 2x Derrick Specials!
20.30 Uhr - Tojo - Dying for Oil, Gods and iPods, An Apocalyptic Comedy von Action Theatre
20.30 Uhr - Grosse Halle - Grass: Dokumentarisch-Nomaden-Kino mit Live-Vertonung
22.00 Uhr - Dachstock - Gamebois Plattentaufe "Loops". Support: James Gruntz (BS), DJ?s Sassy J & Benfay - Soul, Hiphop

So 12.09.10
17.00 Uhr - Grosse Halle - Berner Symphonie Orchester: Biss zum Original - Nosferatu
21.00 Uhr - Tojo - Influx Controls von Boyzie Cekwana (Biennale Bern)

Mo 13.09.10
20.30 Uhr - Tojo - Influx Controls von Boyzie Cekwana (Biennale Bern)

Infos:
http://www.reitschule.ch
http://www.reitschulebietetmehr.ch

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Bund 10.9.10

Kurzbesprechungen "Dying for Oil, Gods and iPods"

 Geklaute Identitäten und magische iPods

 Mit Roger schlägt ein seltsames Gewächs in Judys Garten Triebe. Ob er tot ist oder nicht, ist eine Frage, die der Mann im gestreiften Pyjama nicht ganz zur Zufriedenheit der Krankenschwester beantworten kann. Dass da kein Tunnel mit gleissend weissem Licht war, ist eine der Enttäuschungen, die Judy mit dem grenzenlosen Grossmut wahrhaftiger Pflanzen- und Menschenfreundinnen meistert. Zudem ist dieser Roger ein ganz brauchbares Exemplar, denn sein Leben ist mindestens so kompliziert wie das von Judy, die von einem finsteren Soziologieprofessor gezwungen wird, einer anderen Frau die Identität zu klauen.

 Dummerweise ist es eine der Grösse 6, und sich in einer solchen zu bewegen, ist ähnlich schwierig wie ein Gang in zu engen und zu hohen High Heels. Dass den magischen iPod, den Judy mit ihrer transplantierten Identität beschaffen muss, ausgerechnet Rogers verdorbene Tochter einem Albino-Mönch geklaut hat, ist einer von vielen wunderbaren Zufällen in der haarsträubend abenteuerlichen Story des Action Theatre London (Bern), die auch mit einem Drehbuch für Indiana Jones und James Bond mithalten könnte. Ohne deren ausgeklügeltes Equipment kommen allerdings Arne Nannestad, der in Hollywood in Filmen mit Rod Steiger und Whoopi Goldberg aufgetreten ist, und seine Partnerin Doraine Green in der apokalyptischen Komödie "Dying for Oil, Gods and iPods" aus. Eine Schachtel Cornflakes und ein Barbie-Dress genügen, um Amerika samt seiner zunehmend verfetteten Bevölkerung auf die Tojo-Bühne in der Reitschule zu bringen. Und die Bodenlosigkeit der Abgründe in der heutigen Welt, über denen die beiden hangeln, spiegelt sich eastmancolormässig in ihren Augen.

 Auf der atemlosen Jagd nach dem magischen iPod, in dem unter anderem Filme gespeichert sind, die noch nicht gedreht wurden, switchen die beiden ebenso rasant zwischen den Identitäten, wie sie von einem Kontinent zum andern hüpfen. Dabei verlieren sich die beiden Unerschrockenen auch mal ein wenig im Dschungel der wuchernden Fantasien. In einem verkürzten Trip würden der tollkühne Minimalismus der Inszenierung und der bis zum Limit getunte Expressionismus der schauspielerischen Leistung noch stärker wirken.

 Brigitta Niederhauser

 Weitere Aufführungen: Tojo in der Reitschule Bern, heute und morgen, 20.30 Uhr. Am 6. Oktober wird im Schlachthaus-Theater Bern "The Permanent War (Twitters from Another Universe)", das neuste Stück des Action Theatre London, uraufgeführt.

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kulturstattbern.derbund.ch 10.9.10

Von Benedikt Sartorius am Freitag, den 10. September 2010, um 11:43 Uhr

Sonische Spuren

"Film und Musik" lautet derzeit das Motto in der wunderbaren grossen Halle der Reitschule. An acht Abenden werden klassische Stummfilme musikalisch begleitet, neue Produktionen gezeigt oder der interkulturelle Kontakt gepflegt. Gestern nun begann die Reihe mit der audiovisuellen Norient-Vorlesung "Sonic Traces from the Arab World", die vom Duo Praed, bestehend aus dem Bassisten und Klarinettisten Paed Conca sowie Raed Yassin am Laptop und Kontrabass, konzertant flankiert wurde.

Michael Spahr, Simon Grab und Thomas BurkhalterIn der collageartigen Bildspur sahen die Besucher MTV-Trailer aus dem Libanon, Videoclips, die Frauen auf den Mond spicken und den "schlechtesten Hochzeitsänger" alias den New-Wave-Dabke-König Omar Souleyman. Entsprechend fiel die geschickt mit Zitaten, Thesen und Erklärungen montierte und live gemischte Tonspur aus: Tradition und Avantgarde, Werbemusiken und Psychedelia beschrieben eine dezentrale "Globocity," in der Musiker wie der Beiruter Trompeter Mazen Kerbaj die Bomben und Gewehrschüsse des ewigen Bürgerkriegs in ein bestimmendes Element ihrer Klangsprache übersetzt haben und in der um die sogenannte Authentizität und allfällige Verwestlichung gestritten wird.

Collage aus "Sonic Traces from the Arab World"Ziemlich zum Schluss führten die sonischen Spuren in die Wüste: Kameltreiber waren auf der Leinwand zu sehen, ein Ufo flog collagiert über die Szenerie und ich fragte mich, ob die Musikerinnen und Musiker im nahen Osten - ähnlich wie die Afro-Futuristen - ihre Entfremdung mit der Space-Metapher sichtbar machen. Denn, man kann nach diesem Abend schon mutmassen: Diese nomadisierende Musik, die scheint überhaupt nicht und nirgends zu Hause.

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kulturstattderbund.ch 10.9.10

Von Grazia Pergoletti am Freitag, den 10. September 2010, um 06:09 Uhr

"Hey, what's wrong Baby!"

Unbestritten schon mal ein absolut Klassetitel für ein Album. Entnommen ist er dem Film "They Live" von John Carpenter, genauso wie einige der Songtitel auf diesem anmutigen Musikerzeugnis von Benfay, das im August bei Everest Records erschienen ist und letzten Samstag im Dachstock getauft wurde.

Benfay hat sich offenbar vergangenen Winter an einem abgelegenen Ort bei Wilen/Samen einquartiert, dort die Küchenschränke, das Plattenregal und den Umschwung durchstöbert, und ist dabei auf allerhand wundersame Objekte und Sounds gestossen, die er geloopt und in seine verwinkelten Soundräume eingebaut hat.

Dabei ist ein kaleidoskopisch funkelndes Album herausgekommen, im Winter gemacht und wunderbar in den Winter passend. Pathetisch und verspielt sind diese Tracks, eine Mischung, die ich ziemlich entzückend finde. Ein Album zum Durchhören. Was also soll falsch sein, Baby?

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20 Minuten 10.9.10

Gamebois: "Zum Star-Sein gehört die grosse Kohle"

 BERN. Morgen tauft das Soul-Duo Gamebois sein neues Album "Loops" im Dachstock. 20 Minuten sprach mit dem Sänger BJ Kasongo über Ruhm, Bussen und das Müslüm-Video.

 Seitdem "Loops" draussen ist, seid ihr kleine Stars. Vergleiche mit Seven machen die Runde.

 Kasongo: Na ja, ich weiss nicht. Zum Star-Sein gehört die grosse Kohle. Da hapert es noch gewaltig bei uns. Es ist aber nett, für unseren Sound so viel Aufmerksamkeit zu erhalten.

 Und der Vergleich mit Seven?

 Eine Ehre, aber er hinkt. Sevens Musik ist eher Pop-Funk, wir spielen eher Hip-Hop und Elektro.

 Um auf "Loops" aufmerksam zu machen, habt ihr auf Schweizer Plätzen illegal gespielt. Dazu gibt es eine lustige Geschichte.

 Die gibt es allerdings: Als wir in Biel spielen wollten, touchierten wir mit unserem LKW einen Pavillon. Dieser brach daraufhin zusammen und wir sind im Schrecken davongerast. Da hatte uns die Polizei aber längst gesehen. Wir fuhren freiwillig zurück und bekamen prompt eine Busse für mehrere Vergehen. Darunter Fahrerflucht und Sachbeschädigung.

 Ihr habt auch im Müslüm-Video mitgemacht.

 Ja, die Reitschule ist eine gute Sache und der Auftritt im Video ist unser Beitrag, damit die Jungen das Abstimmen nicht vergessen. Pedro Codes

 Sa, 11.9., 22 Uhr, Gamebois-Plattentaufe, Dachstock.

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Blick am Abend 9.9.10

Gamebois: "Zum Star-Sein gehört die grosse Kohle"

 BERN. Morgen tauft das Soul-Duo Gamebois sein neues Album "Loops" im Dachstock. 20 Minuten sprach mit dem Sänger BJ Kasongo über Ruhm, Bussen und das Müslüm-Video.

 Seitdem "Loops" draussen ist, seid ihr kleine Stars. Vergleiche mit Seven machen die Runde.

 Kasongo: Na ja, ich weiss nicht. Zum Star-Sein gehört die grosse Kohle. Da hapert es noch gewaltig bei uns. Es ist aber nett, für unseren Sound so viel Aufmerksamkeit zu erhalten.

 Und der Vergleich mit Seven?

 Eine Ehre, aber er hinkt. Sevens Musik ist eher Pop-Funk, wir spielen eher Hip-Hop und Elektro.

 Um auf "Loops" aufmerksam zu machen, habt ihr auf Schweizer Plätzen illegal gespielt. Dazu gibt es eine lustige Geschichte.

 Die gibt es allerdings: Als wir in Biel spielen wollten, touchierten wir mit unserem LKW einen Pavillon. Dieser brach daraufhin zusammen und wir sind im Schrecken davongerast. Da hatte uns die Polizei aber längst gesehen. Wir fuhren freiwillig zurück und bekamen prompt eine Busse für mehrere Vergehen. Darunter Fahrerflucht und Sachbeschädigung.

 Ihr habt auch im Müslüm-Video mitgemacht.

 Ja, die Reitschule ist eine gute Sache und der Auftritt im Video ist unser Beitrag, damit die Jungen das Abstimmen nicht vergessen. Pedro Codes

 Sa, 11.9., 22 Uhr, Gamebois-Plattentaufe, Dachstock.

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REITSCHULE BIETET MEHR
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bernerzeitung.ch 10.9.10

Beschwerde gegen Abstimmungsbotschaft der Reitschule eingereicht

sda / js

 Zwei Berner Bürger haben am Freitag beim Regierungsstatthalteramt Bern Gemeindebeschwerde gegen die Botschaft zur Abstimmung über die Zukunft der Reitschule eingereicht. Sie bezeichnen die Botschaft des Stadtrats als "irreführend".

 So werde darin den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern "suggeriert", der Verkauf der Reitschule bedeute das Ende des Kulturbetriebs in diesen Räumlichkeiten, heisst es in einer Mitteilung der zwei Bürger vom Freitag.

 Bei ihnen handelt es sich um den ehemaligen FDP-Grossrat und PR- Fachmann Erwin Bischof und den pensionierten Versicherungsberater Fred Moser. Er ist ebenfalls FDP-Mitglied, wie Bischof auf Anfrage sagte.

 Die beiden Bürger verlangen, die kommunale Abstimmung über die Zukunft der Reitschule vom 26. September sei abzusetzen und auf einen neuen Termin zu verschieben. Zudem müsse eine "neue, korrekte Abstimmungsbotschaft" her.

 Abstimmung ist Ende September

 Der Regierungsstatthalter von Bern bestätigte am Freitag auf Anfrage den Eingang der Gemeindebeschwerde. Christoph Lerch sagte weiter, er werde nun die Stadt Bern unverzüglich um eine Stellungnahme bitten. Ziel sei, diese in der nächsten Wochen zu erhalten und in der übernächsten den Entscheid zu fällen.

 Es sei klar, dass diese Beschwerde "beförderlich behandelt" werden müsse.

 Schon am 26. September soll nämlich die Volksinitiative der Jungen SVP Bern, welche den Verkauf der Reitschule im Baurecht auf den 31. März 2012 an den Meistbietenden verlangt, dem Volk vorgelegt werden.

 Der Entscheid enhalte in der Regel auch einen Beschluss über die aufschiebende Wirkung der Beschwerde, sagte Lerch weiter. Doch kann sein Entscheid an eine nächsthöhere Instanz weitergezogen werden.

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Echo der Zeit 9.9.10

Die alte Reitschule: Warum halten Berner dran fest?

Die alte Reitschule von Bern, seit mehr als zwanzig Jahren hat sie eine ganz andere Bestimmung, sie ist ein alternatives Kulturzentrum. Der bunte Gebäudekomplex, prominent an der Einfahrt zum Hauptbahnhof gelegen, gefällt aber nicht allen. Schon mehrfach wollten Volksinitiativen den Betrieb stoppen, bisher scheiterten sie alle. Jetzt, am 26. September, kommt ein neues Begehren vor das Volk. Die Berner SVP fordert den Verkauf des Reitschulareals "an den Meistbietenden".

* Hören
rtsp://a763.v23910e.c23910.g.vr.akamaistream.net/ondemand/7/763/23910/4c8907f3/audio.drs.ch/drs1/echoderzeit/2010/09/100909_7_koller.mp3

Verantwortlich für diesen Beitrag:
* Toni Koller

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Zukunftsperspektiven der alternativen Kulturzentren

Wie die Berner Reitschule gehen auch die Rote Fabrik in Zürich und die Kaserne in Basel auf die Jugendbewegung der achtziger Jahre zurück. Sie feiern dieses Jahr ihr 30-jähriges Bestehen. Die alternativen Kulturzentren sind also in die Jahre gekommen. Wo stehen sie heute in der Kulturlandschaft? Wie sehen ihre Zukunftsperspektiven aus?
Gespräch mit dem Zürcher Ethnologen Heinz Nigg. Er hat mehrere Bücher über die 68er und über die 80er-Bewegung geschrieben.

* Hören
rtsp://a867.v23910e.c23910.g.vr.akamaistream.net/ondemand/7/867/23910/4c89082a/audio.drs.ch/drs1/echoderzeit/2010/09/100909_8_zehnder.mp3

Verantwortlich für diesen Beitrag:

* Raphael Zehnder

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Regionaljournal Bern 9.9.10

Abstimmungsvorschau Reitschule Bern

Dem Meistbietenden verkaufen oder als alternatives Kulturzentrum erhalten? Am 26. September stimmen die StadtbernerInnen über eine Initiative zum Verkauf der Reitschule ab. Was denken Bürger und Bürgerinnen über den Schandfleck oder den Kulur-Ort. Ein Rundgang durch die Reitschule und die Meinungsbildung von Frauen und Männern bei ihrem ersten Besuch im umstrittenen Gebäude.
rtsp://a821.v23910e.c23910.g.vr.akamaistream.net/ondemand/7/821/23910/4c890d3b/audio.drs.ch/Regionaljournale/Bern/2010/09/100909_regibe_17.30_04_reitschule.mp3

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RABE-INFO
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Fr. 10. September 2010
http://www.rabe.ch/uploads/tx_mcpodcast/RaBe-_Info_10._September_2010.mp3
http://www.rabe.ch/nc/webplayer.html?song_url=uploads/tx_mcpodcast/RaBe-_Info_10._September_2010.mp3&song_title=RaBe-%20Info%2010.%20September%202010
- Ziviler Ungehorsam als Protest gegen die aktuelle Ausschaffungspraxis vor dem Berner Regionalgefängnis
- Hinsehen, Hingehen, Zuhören: Aufruf für mehr Kommunikation am Welt-Suizid-Präventionstag
- Was wäre Bern ohne Reitschule?

Links:
http://www.berner-buendnis-depression.ch
https://www.143.ch/web
http://www.verein-refugium.ch

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CLUB-LEBEN
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20 Minuten 10.9.10

Liquid-Club: Bald nur noch Zutritt mit Member Card

 BERN. Members only: In den Liquid-Club kommt man ab Januar nur noch mit Karte rein. Der Club will damit mehr Sicherheit garantieren.

 Wer im kommenden Jahr im Berner In-Club Liquid feiern will, braucht dafür eine Member Card - wer keine hat, bleibt draussen. Der Grund: Schlägereien, K.-o.-Tropfen-Anschläge und Diebstähle sollen so auf ein absolutes Minimum verringert werden. "Ganz ausmerzen können wir das nicht. Aber so garantieren wir, dass Problemkinder definitiv draussen bleiben", erklärt Clubbesitzer Stephan Zesiger die neue Politik.

 Anfang Woche lag die schwarze Liquid-Karte bereits bei 1500 Mitgliedern im Briefkasten. Interessierte können die Karte ab dem 20. September über die Club-Homepage, eine Liquid-App fürs iPhone oder im Club beantragen. "Wir vergeben sie aber nur an Leute, zu denen wir eine Beziehung haben."

 Andere Lokale kennen ebenfalls ein Member-System. Im Gegensatz zum Liquid bleiben diese aber auch Nicht-Mitgliedern zugänglich. Eine kleine Umfrage unter Berns Clubbetreibern zeigt: Die Idee halten viele für grundsätzlich machbar. Umsetzen will man sie aber nicht. Die Betreiber fürchten um den Nachtschwärmer-Nachwuchs. Stephan Zesiger dazu: "Das Münchner P1 ist seit Jahren ein Members-only-Club - und der Laden ist immer voll."  

Pedro Codes

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Bund 10.9.10

Berner Club Touch soll auch gesetztere Personen berühren

 Heute wird der Club Touch an der Genfergasse eröffnet - eine weitere Aufwertung der einstigen Problemzone.

 Markus Dütschler

 Die Bauarbeiter an der Genfergasse waren gestern im Endspurt - heute wird auf zwei Etagen der Club Touch eröffnet. Laut dem 41-jährigen Inhaber Stephan Zesiger, Inhaber eines Anwaltpatents, sollen sich im Club auch 40- oder 50-Jährige wohlfühlen, sei es wegen der gesitteten Umgangsformen, der Musikauswahl oder dem Essen, das von Spitzenkoch Werner Rothen stammt. Man sitzt auf Fellsesseln in nordisch-russischem Ambiente, beäugt von einem ausgestopften Wolf. Zesigers Ziel ist unbescheiden: "Wir wollen der beste Club der Schweiz werden." Dafür habe er seit sechs Jahren "geschuftet bis zum Umfallen". Seit kurzem gehört das Etablissement auch zur weltumspannenden Vereinigung The World's Finest Clubs.

 In der Liegenschaft befand sich einst das Striplokal Mocambo, dessen legendäre gläserne Dreh-Tanzfläche in den neuen Club integriert ist. 2004 baute Zesigers Vorgänger an der Genfergasse ein Wienercafé ein - und gleich wieder aus. Zesiger übernahm die Räume und setzte auf längerfristige Konzepte. Heute ist mit der Eröffnung des dritten Clubs (nach Liquid und Belvedere) der Höhepunkt erreicht. 3,5 Millionen Franken hat Zesiger in die Clubs investiert, unter anderem auch in die Brandverhütung und in breite Notausgänge.

 Keine Member-Card für Pöbler

 Er weiss, wie rasch ein Club die falschen Gäste bekommt. 2008, als der mächtige Konkurrent Wankdorf-Club Gäste und DJs abzog, habe er als Reaktion sein Einlassregime zu large gehandhabt. Prompt habe er Frauenbelästiger, Schläger und Pöbler im Haus gehabt. Vor Jahresfrist habe er die Schraube angezogen - und seither eine einzige Schlägerei verzeichnet. Seine Stammkunden hat er elektronisch erfasst und mit Badges ausgestattet, auf denen Name, Adresse, Alter und Foto abgespeichert sind. Wichtig seien gute Türsteher, so Zesiger. Zwei Boxer mit Köpfchen beschäftige er: Sie strahlten Autorität aus, seien aber keine Schläger und wirkten deeskalierend. Wegen des Badge weiss Zesiger, wer was wo getrunken hat, woraus sich Kundenprofile erstellen lassen. Zesiger sieht die Clubs als Mosaiksteine, die mithelfen, die einstige Alki- und Junkiemeile Genfergasse zu einer guten Adresse zu machen.

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POLICE BE
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Langenthaler Tagblatt 10.9.10

"Gut, ein Zeichen zu setzen"

 Kantonspolizei Grosser Rat wiederholt Forderung nach besseren Arbeitsbedingungen

Samuel Thomi

 Seltene Einigkeit im Grossen Rat, als gestern über die Arbeitsbedingungen der Polizei diskutiert wurde. Von rechts bis links war man sich einig: Besserung tut not.

 "Tragischerweise passt mein Anliegen zum Vorfall in Biel", kommentierte Sabina Geissbühler gestern im Grossen Rat die Aktualität (vgl. Seite 18): "Für das immer noch gültige 3-D-System - Dialog führen, deeskalativ wirken und erst dann durchgreifen - haben immer weniger Berner Kantonspolizisten an der Front Verständnis." Im Grossratswahlkampf im Frühling lancierte SVP-Frau Geissbühler - die Mutter von SVP-Nationalrätin und Polizistin Andrea Geissbühler - deshalb zusammen mit FDP-Regierungsratskandidat Sylvain Astier (Moutier) die Motion "Bessere Arbeitsbedingungen für unsere Polizei bedeuten grössere Sicherheit für die Bevölkerung."

 "Äusserst frustrierend"

 Spezialisten seien "äusserst frustriert", wenn beispielsweise die Gesetze nicht durchgesetzt würden. Als Beispiel diente Geissbühler das Vermummungsverbot: "Dieses muss kompromisslos durchgesetzt und geahndet werden." Oder: "Bei Sachbeschädigungen muss die Polizei unmittelbar einschreiten." Zudem sollten rechtsfreie Räume nicht toleriert, Drogenschnelltests eingeführt und die monatlichen Freitage auf den Arbeitsplänen dürften "nur in absoluten und begründeten Ausnahmefällen" kurzfristig angepasst werden. Astiers Kommentar: "Die Polizei macht gute Arbeit, daher müssen wir sie unterstützen." Das beginne mit einem guten Umfeld.

 "Das ist eine Stammtischmotion", antwortete Barbara Mühlheim (Grüne/ Bern). Die Einsätze der Polizei müssten von Profis beurteilt werden - "das kann der Grosse Rat nicht". Die Kapo beweise im Kanton, "dass sie es kann, und erfolgreich ist." Dass einzelne Polizisten unzufrieden seien, könne gut sein: "Dafür allerdings macht die Polizei nach jedem Einsatz Debriefings. Reklamationen gehören dorthin."

 "Die EVP will sich nicht in die Strategie der Kantonspolizei einmischen", sagte Patrick Gsteiger (Perrefitte). Und wenn, dann müsse die Kapo mehr Personal erhalten: "Aber das kostet."

 "Zuerst hatte ich natürlich Freude"

 "Die SVP schreibt Sicherheit gross - und ebenso Verhältnismässigkeit", sagte Christian Hadorn (Ochlenberg). Philippe Müller (FDP/Bern) ergänzte: "Es ist gut, wenn das Parlament Zeichen setzt." Im Berner Stadtrat, dem Müller bisher ebenfalls angehörte, sei Polizeiarbeit kaum gewürdigt worden. Allerdings, so der Initiant der eben abgelehnten städtischen "Initiative für eine sichere Stadt Bern", tue das Kantonsparlament gut daran, der Polizei zu Einsatzgrundsätzen oder Verhältnismässigkeit nicht dreinzureden.

 "Rückendeckung ist ganz wichtig"

 "Zuerst hatte ich natürlich Freude am Titel", so Markus Meyer (SP/Roggwil). "Es ist wirklich an der Zeit, dass die Arbeitsbedingungen für die Polizei besser werden", so der Präsident der Kantonspolizisten. Dazu freue er sich über die Zusage von Polizeidirektor Hans-Jürg Käser (FDP), sich für mehr Personal einzusetzen und die Gehaltssituation inklusive einer Reallohnerhöhung zu verbessern. Überdies seien Korrekturen am Arbeitszeitmodell angesagt wie auch eine fünfte Ferienwoche: "Die vorliegende Motion ist ein bisschen ein Etikettenschwindel", so Meyer. Tatsächlich wolle sie einseitig mehr Repression, was die Arbeitsbedingungen der Polizei nicht ändere.

 "Selbstverständlich hat die Polizei nicht Freude an Sachbeschädigungen", konterte Polizeidirektor Hans-Jürg Käser (FDP). Drogenschnelltests würden geprüft, seien aber noch zu wenig zuverlässig. Entscheidungen übers jeweilige Vorgehen lägen bei den Patrouillen oder bei Demos bei der Einsatzleitung. Bei Sportanlässen sei es zudem wenig sinnvoll, ein paar betrunkene Vermummte aus Tausenden herauszu- holen: "Solche Fragen diskutieren wir regelmässig mit der Polizei", so Käser. "Das Parlament muss sich nicht einmischen." Dieses überwies Geissbühlers Motion praktisch einstimmig in der unverbindlicheren Form des Postulats.

 Geissbühler konterte, es sei "ganz wichtig, dass wir der Polizei mit einem Ja Rückendeckung geben." Womit die gut stündige Debatte höchstens noch als wohl gemeintes Warmlaufen für die Aufstockungsdiskussion gesehen werden kann. Konkret gings gestern um nichts - gekostet hats auch nichts.

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 Käsers gute Wünsche

 Gestern Nachmittag informierte Polizei- und Militärdirektor Hans-Jürg Käser den Grossen Rat auch über den Vorfall in Biel. Sichtlich berührt drückte er dem angeschossenen Mitglied der Berner Sondereinheit "Enzian" in der Debatte über die Arbeitsbedingungen der Polizei "die besten Genesungswünsche" aus. Der Mann sei inzwischen operiert und ausser Lebensgefahr, so Käser: "Was aber aus seinem Leben in Zukunft wird, wissen wir jetzt noch nicht." (sat)

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ZIVILSTAND ILLEGAL
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Bund 10.9.10

Starke Zunahme der illegalen Aufenthalte von Ausländern in Bern

 Im ersten Halbjahr 2010 hat die Fremdenpolizei der Stadt Bern 520 Hinweise auf illegale Aufenthalte und Schwarzarbeit erhalten.

 Bernhard Ott

 Die Stadtberner Fremdenpolizei (Frepo) kommt an ihre Grenzen. Im ersten Halbjahr 2010 hat sie 520 Hinweise auf illegale Aufenthalte oder Schwarzarbeit von Ausländern aus Nicht-EU-Staaten erhalten. Im ganzen Jahr 2009 gab es bloss 336 Hinweise. Bei der Zunahme der illegalen Aufenthalte von Ausländern aus Drittstaaten spiele die Verschärfung des Ausländergesetzes eine Rolle, sagt Alexander Ott, Leiter der Fremdenpolizei. "Wer aus diesen Ländern in der Schweiz bleiben möchte, hat praktisch keine Chance mehr." Ein längerer Aufenthalt sei einzig als hoch qualifizierte Arbeitskraft oder zwecks Heirat mit einer Schweizerin möglich. So müsse die Frepo feststellen, dass Bürger aus südamerikanischen Staaten nach Ablauf ihres Touristen- oder Studentenvisums vermehrt im Land verbleiben und untertauchen. In der Folge würden auch die Hinweise auf Schwarzarbeit entsprechend ansteigen, hält Ott fest.

 Neue Aufgaben im Rotlichtmilieu

 Mehrarbeit hat die Frepo aber nicht nur wegen der Verschärfung des Ausländergesetzes, sondern auch wegen der Ausdehnung der Personenfreizügigkeit in die Schweiz im Jahr 2008. Aufgrund des bundesrätlichen Massnahmenpakets gegen die Missbräuche in der Personenfreizügigkeit müssen sich die Beamten auch mit neuen Phänomenen wie der sogenannten Scheinselbstständigkeit befassen. Bei den Scheinselbstständigen in der Stadt Bern handelt es sich meist um Sexarbeitende aus EU-Staaten. Seit Oktober 2009 können Prostituierte aus diesen Ländern nur dann im Kanton Bern arbeiten, wenn sie sich bei der Migrationsbehörde als Selbstständigerwerbende anmelden und einen Businessplan vorlegen. Viele von ihnen werden aber über kriminelle Netzwerke in die Schweiz geschleust und müssen einen Grossteil ihres Verdienstes an Zuhälter abliefern. "Im ersten Halbjahr 2010 haben wir 450 Hinweise auf Scheinselbstständigkeit erhalten", sagt Ott. Im gleichen Zeitraum hätten auch 62 vertiefte Abklärungen über mögliche Scheinehen vorgenommen werden müssen. Beim kantonalen Migrationsdienst werden die von Ott erwähnten Tendenzen bestätigt. Laut Florian Düblin, dem Leiter des Migrationsdienstes, gibt es vor allem in den Städten eine "kräftige Zunahme" von Personen illegalen Aufenthaltes.

 Nause kritisiert Bundesbehörden

 Für den Berner Gemeinderat ist eine erneute Aufstockung der Fremdenpolizei kein Thema (siehe Kasten). Eine vor Jahren beschlossene Aufstockung des Etats um 5 auf 16 Stellen musste aufgrund der angespannten Finanzlage gestaffelt erfolgen - die letzte zusätzliche Stelle ist für 2011 budgetiert. Laut Gemeinderat Reto Nause (CVP) wäre es eigentlich am Bund, den Kantonen und Städten finanzielle Unterstützung für den Vollzug der Ausländerpolitik zuzusichern. Die Verschärfung des Ausländerrechts und die Einführung der Personenfreizügigkeit stellten Kantone und Städte vor ein Vollzugsproblem. "Man kann nicht laufend Gesetze verschärfen, ohne Mittel für den Vollzug zur Verfügung zu stellen", sagt Nause.

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 Budget Stadt Bern SVP will Aufstockung der Fremdenpolizei

 Die Fraktion SVP plus im Berner Stadtrat ist sonst eher fürs Sparen bekannt. Bei der Fremdenpolizei macht sie jedoch eine Ausnahme. "Wir verlangen die Aufstockung des Etats um eine Stelle", sagt Fraktionschef Roland Jakob. Zur Umsetzung dieser Massnahme seien zusätzlich 120 000 Franken im Budget 2011 einzustellen. Angesichts der angespannten Finanzlage der Stadt stösst dieser Antrag aber einzig bei der FDP auf vorbehaltlose Zustimmung. "Bei der Polizei sind wir generell gegen das Sparen", sagt Vizefraktionschef Bernhard Eicher. In der Fraktion BDP/CVP kann man sich allenfalls eine zeitlich begrenzte Verstärkung der Frepo vorstellen. "Ich verstehe die Not", sagt Co-Fraktionschef Kurt Hirsbrunner. Trotzdem stelle sich die Frage, warum trotz der gestaffelten Aufstockung um fünf Stellen seit 2007 die Mittel immer noch nicht ausreichten. Auch Peter Künzler, Chef der Fraktion GFL/EVP, stellt Fragen zur Finanzierbarkeit. Kurzfristige Aufstockungen müssten an einem anderen Ort kompensiert werden. Dies sei aber kaum mehr möglich, sagt Künzler. (bob)

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AUSSCHAFFUNGSHAFT
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Bund 10.9.10

Ausschaffungshaft: Gericht rügt Haftbedingungen in Bern

 Nach Kritik des Verwaltungsgerichts an den Haftbedingungen im Regionalgefängnis Bern entliessen die Behörden eine Kamerunerin aus der Ausschaffungshaft.

 Stefan Wyler

 Die heute 44-jährige Frau aus Kamerun hatte sich anderthalb Jahre illegal in der Schweiz aufgehalten, sie wurde ausgewiesen, reiste aber wieder ein und wurde in Biel von der Polizei aufgegriffen. Am 6. April 2010 setzte sie ein Haftrichter in Ausschaffungshaft, und am 2. Juli verlängerte er die Haft bis zum 4. November, nachdem sich die Frau geweigert hatte, einen für sie gebuchten Linienflug in ihre Heimat anzutreten.

 Die Frau, die im Regionalgefängnis Bern inhaftiert war, forderte darauf beim Verwaltungsgericht des Kantons Bern ihre Freilassung. Das Gericht hat nun in seinem - gestern veröffentlichten - Urteil vom 6. August die Beschwerde abgewiesen. Es hielt zwar die Verlängerung der Ausschaffungshaft für grundsätzlich verhältnismässig, es übte aber detaillierte Kritik an den Haftbedingungen im Regionalgefängnis Bern und wies darum die Behörden an, die Frau in eine geeignete Einrichtung zu verlegen oder freizulassen. Die Frau wurde aus der Haft entlassen.

 Einziger Zweck der Ausschaffungshaft, so erinnerte das Gericht, sei die Sicherstellung einer Ausweisung. Das Vollzugsregime müsse sich von jenem für Untersuchungshäftlinge oder Strafgefangene "wesentlich unterscheiden". Die Beschränkung der Freiheitsrechte dürfe nicht über das hinausgehen, was zur Gewährleistung des Haftzwecks erforderlich sei.

 Spaziergang unter Stacheldraht

 Das Verwaltungsgericht anerkannte zwar in seinem Urteil, dass die Haftbedingungen für Ausschaffungshäftlinge im Regionalgefängnis Bern nach bundesgerichtlicher Kritik verbessert worden seien; für Frauen und Männer existierten mittlerweile Wohngruppen mit Aufenthaltsraum und freiem Zugang zum Telefon. Es fehlten aber, so kritisierte das Gericht, "geeignete Beschäftigungsmöglichkeiten", und Aufenthalte im Freien beschränkten sich auf einen einstündigen Spaziergang in einem kleinen, "von hohen Mauern umgebenen und mit Stacheldraht überdeckten Spazierhof auf dem Dach des Gebäudes".

 Der Vollzug der ausländerrechtlichen Administrativhaft in einer Wohngruppe des Regionalgefängnisses, folgerte das Gericht, sei zwar am Anfang der Haftzeit "nicht als optimal, aber doch als grundsätzlich gesetzes- und verfassungskonform" anzusehen, insbesondere dann, wenn eine Beschäftigungsmöglichkeit bestehe. Je länger die Haftzeit andauere, desto weniger einschneidend aber hätten die Freiheitsbeschränkungen auszufallen. Bei einer Haftdauer von vier Monaten jedenfalls, so fand das Gericht, entspreche die Unterbringung von Ausschaffungshäftlingen im Regionalgefängnis nicht mehr den gesetzlichen Mindestanforderungen - weshalb es den Behörden die Verlegung oder die Freilassung der Frau empfahl.

 Keine speziellen Plätze für Frauen

 Männer in Ausschaffungshaft durchlaufen laut den Berner Vollzugsbehörden in der Regel ein "dreistufiges Vollzugsregime": Sie verbringen zuerst "kurze Zeit" in einer Mehrfachzelle, später halten sie sich in einer Wohngruppe in einem Regionalgefängnis auf. Spätestens nach acht bis zehn Wochen dann werden sie in den Ausschaffungstrakt in der Strafanstalt Witzwil verlegt, wo sie mehr Freiheiten geniessen. Für Frauen gibt es im Kanton Bern keine vergleichbare Einrichtung. Sie verbrachten bisher die ganze Ausschaffungshaft in der Wohngruppe des Regionalgefängnisses Bern.

 Man werde für Frauen mit längerer Ausschaffungshaft aufgrund des Gerichtsurteils nun eine Lösung suchen müssen, sagte gestern auf Anfrage Georges Caccivio, Stabschef im kantonalen Amt für Freiheitsentzug für Betreuung. Eine solche liege aber nicht einfach auf der Hand. So seien auch die Möglichkeiten beschränkt, die Frauen in ausserkantonalen Anstalten unterzubringen. Der Kanton Bern verfügt über rund 80 Plätze für die Ausschaffungshaft, derzeit sind fünf Frauen inhaftiert - in der Wohngruppe des Regionalgefängnisses Bern.

 Gericht fordert explizite Regeln

 Das Verwaltungsgericht hat die Berner Behörden in seinem Urteil auch in einem zweiten Punkt hart kritisiert. Die ausländerrechtliche Administrativhaft, so erinnerte es, stelle einen "schwerwiegenden Eingriff in die Freiheitsrechte der betroffenen Person" dar. Laut dem Bundesgericht seien deshalb "die wichtigsten mit dem Haftvollzug verbundenen Freiheitsbeschränkungen auf Gesetzes- oder mindestens Verordnungsstufe" zu regeln. Im Kanton Bern bestünden aber, anders als in vielen anderen Kantonen, keine entsprechenden Regeln. Der Kanton habe deshalb "ohne Verzug" entsprechende Bestimmungen auszuarbeiten, forderte das Verwaltungsgericht. Die Sache werde "in Kürze an die Hand genommen und geregelt werden", sagte gestern Stabschef Caccivio.

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SANS-PAPIERS
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NZZ 10.9.10

Städteverband für Lehren von Sans-Papiers

 Unterstützung für parlamentarische Vorstösse - Ständeratskommission schwenkt auf Nein

 Der Schweizerische Städteverband spricht sich dafür aus, dass junge Ausländer ohne Aufenthaltsrecht eine Berufslehre absolvieren können.

 C. W. · Nächste Woche wird sich der Ständerat mit Vorstössen befassen, die für jugendliche Ausländer ohne Aufenthaltsrecht (Sans-Papiers) den Zugang zu Berufslehren verlangen. Der Nationalrat hatte im März insbesondere die Motion von Luc Barthassat (cvp., Genf) mit 93 gegen 85 Stimmen gutgeheissen. Die Kommission des Ständerats empfahl zuerst mit Stichentscheid des Präsidenten ebenfalls die Überweisung, prüfte die Sache aber nach Wunsch des Plenums noch einmal und spricht sich nun mit 6 zu 5 Stimmen dagegen aus.

 Schulbesuch möglich

 Der Schweizerische Städteverband unterstützt in einem Bericht das Anliegen des Motionärs. Das Engagement begründet er damit, dass die Sans-Papiers wahrscheinlich vor allem in der städtischen Anonymität lebten. Zu den Rechten, die unabhängig vom Aufenthaltsstatus sind, gehört der Anspruch auf Bildung. Während der Schulbesuch, auch auf höheren Stufen, möglich ist, besteht zur Berufslehre, die mit einer Erwerbstätigkeit verbunden ist, offiziell kein Zugang. Darin wird eine Ungleichbehandlung gesehen, unter der jährlich schätzungsweise 200 bis 400 Jugendliche zu leiden hätten. Es drohe ihnen soziale Isolation, oder sie würden in die Schwarzarbeit gedrängt. Für die Illegalität ihres Aufenthalts seien die meisten Jugendlichen nicht verantwortlich.

 Tag der Wahrheit verschoben

 Gegen die Zulassung zur Berufsbildung spricht - wie auch die Mehrheit der Ständeratskommission festhält -, dass das Grundproblem dadurch nicht gelöst, sondern verlängert würde. Nach der Lehre fehlt den Sans-Papiers ja weiterhin die Aufenthalts- und damit auch die Arbeitsbewilligung. Dazu wiederum geben Befürworter einer Lockerung zu bedenken, dass ein Lehrabschluss die Chancen auf eine selbständige Existenz auch im Herkunftsland oder in einem Drittstaat erheblich verbessere. (Erst) mit 18 Jahren könnten Sans-Papiers selber um eine Aufenthaltsbewilligung unter dem Titel des Härtefalls ersuchen; die Eltern scheuten oft davor zurück, weil eine Ablehnung die ganze Familie träfe. (Umgekehrt dürfte eine Lehre die Wegweisung der Eltern erschweren.)

 Gesetzesänderung gewünscht

 Der Bericht enthält auch Überlegungen zu den nötigen Rechtsänderungen. Ein blosses Tolerieren von Lehrverträgen, wie es heute vorkomme, sei "unbefriedigend". Auch kantonalen Ausnahmebewilligungen zieht der Städteverband eine ausdrückliche Regelung auf Bundesebene vor. In Frage käme eine Änderung des Berufsbildungsgesetzes oder eine Bestimmung im Ausländergesetz. Angeführt wird auch die Option, in der Ausländerverordnung Lehrlinge nicht mehr zu den Erwerbstätigen zu zählen - den Schutz der Sozialversicherungen und des Arbeitsrechts möchte man aber beibehalten.

 Die Motion Barthassat zielt auf keine Gesetzesänderung. Eine solche würde das Parlament indessen klar in die Pflicht nehmen. Zwar ist nur eine kleine Gruppe direkt betroffen, doch geht es um die grundsätzliche Frage, ob dem Entscheid zwischen Wegweisung und Legalisierung von Sans-Papiers durch Zwischenlösungen auszuweichen sei.

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SCHNÜFFELSTAAT
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Tagesanzeiger 10.9.10

Schweizer Fichen könnten bald die Richter in Strassburg beschäftigen

 Ein polnischer Journalist will ein Einsichtsrecht für fichierte Personen in der Schweiz erstreiten.

 Von Fabian Renz

 Um die Fichenaffäre, die diesen Sommer für Furore sorgte, ist wieder jener Zustand eingekehrt, den Geheimdienste am meisten schätzen: Ruhe. Eine Ruhe allerdings, die trügt. Denn vor Gericht wird zurzeit ein Fall verhandelt, der weitreichende Folgen nach sich ziehen könnte - für die Fichierten, für den Schweizer Nachrichtendienst und für die hiesige Gesetzgebung.

 Bei Anti-WEF-Demo verhaftet

 Die Vorgeschichte: Am 26. Januar 2008 wird in Basel eine unbewilligte Demonstration gegen das Weltwirtschaftsforum (WEF) durch die Polizei unterbunden. 66 Personen kommen vorübergehend in Haft. Unter ihnen ist der polnische Journalist Kamil Majchrzak, damals wohnhaft in der Schweiz. Der Redaktor der polnischen Ausgabe von "Le Monde diplomatique" war, wie er sagt, zu den Anti-WEF-Aktivitäten in beruflich-beobachtender Funktion angereist. Die politische Nachbearbeitung der Polizeiaktion ergibt später, dass Majchrzak zu Unrecht in Gewahrsam genommen worden ist - und dass beim Staat offenbar Einträge über den Journalisten existieren, die diesen als "international agierenden und gewaltbereiten Globalisierungsgegner" ausweisen.

 Majchrzaks Erklärung: Ausländische Nachrichtendienste - vermutlich aus Deutschland - haben den Schweizer Kollegen kompromittierende Angaben über ihn zukommen lassen. In Deutschland ist Majchrzak, welcher der globalisierungskritischen Bewegung durchaus nahesteht, nach eigenen Angaben bei seiner journalistischen Tätigkeit schon ins Visier der Polizei geraten. "Gegen meinen Mandanten ist aber nie eine Strafklage eröffnet worden - weder im In- noch im Ausland", betont Majchrzaks Basler Anwalt Guido Ehrler.

 Genaueres zum Inhalt oder zur Ursache der Fichierung in der Schweiz wissen weder Ehrler noch Majchrzak. Die einzige Instanz, die in seltenen Fällen über die Karteikarten der Staatsschützer Auskünfte erteilen darf, ist der eidgenössische Datenschützer Hans-Peter Thür. Von ihm war aber bloss die Antwort erhältlich, wonach über Majchrzak keine Daten in widerrechtlichem Sinn bearbeitet worden seien.

 Damit geben sich der Betroffene und sein Anwalt nicht zufrieden: Sie kämpfen jetzt auf juristischem Weg für ein Einsichtsrecht. Derzeit liegt ihr Fall beim Bundesgericht. Sollte Majchrzak hier verlieren, will er an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gelangen. Die Strassburger Richter würden damit wohl zwangsläufig auch ein Urteil über die Schweizer Fichierungspraxis fällen.

 Experten sind sich uneinig

 Wie gross aber wären Majchrzaks Erfolgschancen? Die Expertenmeinungen lassen keine eindeutige Prognose zu. Majchrzak und Ehrler schöpfen ihre Hoffnungen aus einem Urteil des Jahres 2006: Anlässlich einer Klage von fünf fichierten Personen rügte das Gericht damals den schwedischen Staat für eine Verletzung von Artikel 13 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Dieser spricht den Bürgern ein "Recht auf wirksame Beschwerde" zu. Mit Berufung auf dieses Urteil kritisierte die Rechtsprofessorin Helen Keller schon vor drei Jahren in der NZZ das Verfahrensvakuum für beschwerdewillige Fichierte in der Schweiz. Umgekehrt kommt Kellers Kollege Giovanni Biaggini in einem Gutachten von 2009 zum Schluss, der besagte Entscheid aus Strassburg stelle die restriktive "indirekte" Schweizer Auskunftspraxis nicht infrage.

 Hat Majchrzak Erfolg, würde dies wohl eine Kaskade gesetzgeberischer Anpassungen auslösen, wie der Basler Staatsrechtler Markus Schefer vermutet. Der Bundesrat scheint im Übrigen gar nicht ungewillt, hier voranzuschreiten: Unlängst äusserte er sich zustimmend zu einer Motion von SP-Nationalrätin Susanne Leutenegger Oberholzer, die das Auskunftsrecht zugunsten der Fragesteller ausbauen wollte. Der Nationalrat lehnte das Ansinnen jedoch ab.

 Möglich also, dass die Justiz die Politik in diesem Punkt korrigieren wird. "Nur für mich selbst", sagt Kläger Kamil Majchrzak, "würde ich den ganzen Aufwand sowieso nicht betreiben."

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WEGGESPERRT
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ejpd.ch 10.9.10

Moralische Wiedergutmachung für administrativ Versorgte

Vertreter von Bund und Kantonen bedauern das verursachte Leid

Medienmitteilungen, EJPD, 10.09.2010

Bern. Vertreter von Bund und Kantonen haben sich am Freitag an einem Gedenkanlass in Hindelbank gegenüber ehemaligen administrativ versorgten Personen für die über Jahrzehnte angeordneten Einweisungen entschuldigt und das dadurch verursachte Leid bedauert. Sie haben damit einen Beitrag zur Aufarbeitung der Vergangenheit und zur moralischen Wiedergutmachung geleistet.

Bis 1981 wurden in der Schweiz Jugendliche wegen "lasterhaften Lebenswandels", "Liederlichkeit", "Trunksucht" und ähnlichen Gründen ohne gerichtliches Verfahren von Vormundschaftsbehörden in verschiedenen Anstalten und Institutionen administrativ eingewiesen. Die betroffenen Jugendlichen konnten keine richterliche Überprüfung dieser Anordnungen verlangen. Oft wurden sie in Strafanstalten eingewiesen, wo sie nicht von den Straftätern getrennt waren. Der Bund und die zuständigen kantonalen Fachkonferenzen haben das Anliegen einer Gruppe von ehemaligen administrativ versorgten Frauen aufgenommen und im Schlosssaal der Anstalten Hindelbank einen Gedenkanlass zur moralischen Wiedergutmachung durchgeführt.

Ausgegrenzt und diskriminiert

Am Gedenkanlass schilderten betroffene Frauen, wie sie aufgrund der administrativen Einweisung ein Leben lang ausgegrenzt und diskriminiert worden sind. Sie trugen das Stigma, im Gefängnis gewesen zu sein, obwohl sie nie straffällig geworden waren. Sie zeigten sich erleichtert, dass ihnen mit dem Gedenkanlass endlich Gerechtigkeit widerfahre. Zugleich mahnten sie, dass sich willkürlicher Freiheitsentzug und Machtmissbrauch nie wieder ereignen dürften.

Fürsorgeauftrag auf Schlimmste missachtet

Die zuständigen Behörden hätten in moralischer Selbstherrlichkeit ihren Fürsorgeauftrag auf Schlimmste missachtet, führte Guido Marbet, Präsident der Konferenz der Kantone für Kindes- und Erwachsenenschutz (KOKES) aus. "Anstatt Verständnis, menschliche Wärme und Beistand erfuhren die damaligen Schutzbedürftigen Zurückweisung, Isolation und Bestrafung für nicht begangenes Unrecht." Den Betroffenen gebührten eine moralische Rehabilitation und der Respekt der Institutionen, die damals ihren Auftrag vernachlässigt hätten. Dieser Respekt sei auch als Entschuldigung für die erfahrene Persönlichkeitsverletzung zu verstehen.

Solche Schicksale dürfen sich nicht wiederholen

Der Zürcher Regierungspräsident Hans Hollenstein, Vizepräsident der Konferenz der Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK), sagte, die Unterbringung aus erzieherischen Gründen in Strafanstalten sei mit den heutigen Vorstellungen und Rechtsprechung nicht zu vereinbaren. Es sei die Aufgabe von Bund und Kantonen, von Justiz- und Sozial-Direktoren dafür zu sorgen, dass sich solche Schicksale nicht wiederholen dürfen. Er äusserte sein tiefstes Bedauern über das Schicksal der Betroffenen und deren Leid und bat, das Geschehene zu entschuldigen.

Als Hindelbank "in Frage kommen konnte"

In einem historischen Rückblick zeigte der Berner Regierungsrat Hans-Jürg Käser, Vertreter der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD), das Ausmass der administrativen Einweisungen in Hindelbank auf. Es erreichte in den Nachkriegsjahren, als fast die Hälfte aller Frauen administrativ eingewiesen war, seinen Höhepunkt. In den grösseren Städten, teilweise aber auch in ländlichen Regionen hatte es sich "herumgesprochen", dass "die Anstalt Hindelbank in Frage kommen könnte, wenn die Behörden keine weiteren Möglichkeiten mehr sahen - oder sehen wollten". Regierungsrat Käser sprach gegenüber den betroffenen Frauen namens der KKJPD seine Entschuldigung aus, dass sie in ihrer Jugend längere Zeit in der Anstalt Hindelbank verbringen mussten.

Engagement und Mitgefühl

Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf, Vorsteherin des Eidg. Justiz- und Polizeidepartements (EJPD), bat die Betroffenen im Namen des Bundes um Entschuldigung, "dass sie ohne Gerichtsurteil zur Erziehung administrativ versorgt wurden". Der Gesetzgeber habe die Pflicht dafür zu sorgen, dass solche Vorkommnisse nicht mehr geschehen können. Aber auch die beste Gesetzgebung könne nicht alles richten. Wichtiger als Gesetze seien das Engagement und das Mitgefühl jener, die Kinder und Jugendliche im Alltag begleiten und unterstützen.

Weitere Auskünfte
Brigitte Hauser-Süess, Informationsdienst EJPD, T +41 31 322 40 90, Kontakt

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Bund 10.9.10

Mit 17 Jahren zur "Erziehung" nach Hindelbank

 Madeleine Ischer wurde als Jugendliche "administrativ versorgt".

 Matthias Raaflaub

 "Erst jetzt, mit 61 Jahren, kann ich leben. In den ersten 20 Jahren habe ich das Leben verflucht. Die nächsten 40 Jahre lebte ich nur für meinen zweiten Sohn, meine Familie. Jetzt, mit 61, will ich leben. Ist das nicht unglaublich?"

 Erzählt Madeleine Ischer aus ihrem Leben, ist sie stets den Tränen nah. In ihrer kleinen Wohnung in Zürich tönt volkstümlicher Schlager aus dem CD-Spieler - Lieder über eine Welt, in der die Sonne immer scheint. Madeleine Ischer hat davon bis heute nicht viel gesehen.

 Ischer war eine "administrativ Versorgte". Weil sie den Behörden nicht passte, wurde sie in ihrer Jugend von Heim zu Heim geschoben. "In 20 Jahren meines Lebens habe ich 17 Stationen durchlebt, sagt sie. Die letzte dieser Stationen hat besonders tiefe Wunden hinterlassen: Hindelbank. 1967 sass das Mädchen dort während eineinhalb Jahren ein. Neben Mörderinnen, neben Verurteilten. Madeleine Ischer ist nichts von beidem. Das Wegsperren von jugendlichen "Problemfällen" war in der Schweiz gängige Praxis. Es blieb bis ins Jahr 1981 so (siehe Kasten).

 Den Sohn "geraubt"

 Ins erste Heim wurde das Mädchen gesteckt, als es gerade einmal zwei Jahre alt war. Weil Madeleine im Frauenspital Bern als Kind einer Italienerin und eines Berners zur Welt kam und ihre Eltern nicht verheiratet waren, war sofort die Vormundschaftsbehörde da. "Ich bin bevormundet worden ab dem Moment, wo mein Kopf rausgeschaut hat", sagt Ischer mit Wortwitz. Sie lacht aber nicht. Im Gegenteil. Schnell werden die Worte roher, wenn sie erzählt. Hart, wie die Dinge, die sie erlebt hat. "In den Augen der Vormundschaftsbehörde hätte ich nicht existieren dürfen", sagt sie. "Ich war ein Bastard."

 So wurde Madeleine Ischer als Mädchen von Heim zu Heim verfrachtet, quer durch die Schweiz. Wurde immer wieder geschlagen und misshandelt, wie sie erzählt. "Eine Jugend, das kannst du vergessen." Eines sagt sie immer wieder. Immer, wenn sie eine Bezugsperson hatte, habe man ihr diese weggenommen. Auch das Kind. Es kam, als sie erst 17 Jahre alt war. In der psychiatrischen Klinik Münsingen wollte man es abtreiben oder weggeben. Nun aber zog die junge Frau nicht mehr den Kopf ein. Sie rebellierte. Ihr Sohn kam Ende Juli 1966 zur Welt, als sie im Appenzeller Heim Lutzenberg war. Doch wenige Wochen später nahm man ihr das Baby weg. "Man hat es mir gestohlen, geraubt", sagt Ischer heute. Und ihre Augen füllen sich wieder mit Tränen.

 Keine gebrochenen Augen

 In all dieser Zeit hatte die Amtsvormundschaftsbehörde VI in Bern das Sagen darüber, was mit Madeleine geschah. Jedes Sträuben der Pubertierenden gegen die Fremdbestimmung las man dort wohl im Lichte des Urteils, das die psychiatrische Klinik in Münsingen früher gefällt hatte: Als "triebhafte, leicht verstimmbare Psychopathin mit schwerster Störung der Verhaltensweise im Sinne einer Oppositionshaltung" wurde Ischer da beschrieben.

 Die Vormundschaftsbehörde war es auch, die die 17-Jährige nach Hindelbank einwies. Ohne Gerichtsbeschluss, ohne Anhörung. Gegenüber den Eltern gab sich Hindelbank damals als "Erziehungsanstalt" aus. Ihr Vater musste für die "Ausbildung" der Tochter im Gefängnis noch viel Geld bezahlen. "Ich wusste nicht, was ich da sollte. Ich habe ja gesehen, dass es ein Gefängnis ist", erinnert sich Ischer an die Einlieferung. Wütend ging sie dem Direktor Fritz Meyer an die Gurgel. "Jetzt kann ich Sie umbringen. Ich bin ja eh schon in der Kiste", habe sie gesagt.

 Erzählt sie das heute, so zeigt sich ein stolzes Lächeln auf den Lippen der Frau, der das Gespräch alles andere als leicht fällt. Ischer scheint sich bewusst zu sein, dass sie mit dem Aufbegehren gegen die Versorgung, trotzt allem Erlittenen, ihren Stolz bewahrt hat: Obwohl sie, wie andere junge Frauen auch, damals nicht wusste, ob sie je aus den Mühlen der Bürokratie in die Freiheit kommen würde, obwohl sie das Gefängnis so traumatisiert hat, dass sie sich später das Leben nehmen wollte: Nachgegeben habe sie nie. Eine Leidensgenossin sagt über sie, sie sei in Hindelbank das einzige Mädchen gewesen, das keine gebrochenen Augen gehabt habe.

 Erst im November 1968, nach ihrer Freilassung, hält der damalige Polizeidirektor des Kantons fest, dass Ischer zu Unrecht eingewiesen worden sei. Gesetzlich möglich blieb es weiterhin. Überlebt habe sie die Tortur - das "Guantánamo der Schweiz", wie Ischer sagt - nur, weil sie unempfindlich gegenüber allem Schmerz geworden sei. Als ihr geliebter Vater, der für die Freilassung seiner Tochter kämpfte, bei einem Autounfall starb, sei sie innerlich versteinert. Zur Beerdigung wurde sie in Handschellen geführt. Wieder hatte man ihr das Wichtigste genommen. Ischer glaubt heute, dass ihr Vater ermordet worden ist.

 Das Misstrauen bleibt

 Erst als die frühere Leidensgenossin vor wenigen Jahren an die Öffentlichkeit geht und ihre Geschichte erzählen kann, erst als man sie in Medien anhört, redet auch Ischer. Damit so etwas nie mehr geschehe. "Mein zweiter Sohn ist erschrocken", sagt sie nur knapp.

 Auch heute noch richtet Ischer schwere Vorwürfe an die Berner Behörden. Als sie sich vor wenigen Jahren nach dem Wohl ihres Sohns erkundigte, erhielt sie einen Brief von der Vormundschaftsbehörde. Es gehe ihm gut, schrieb diese formal. Er danke der Mutter, dass sie ihm dieses Leben ermöglicht habe. Damit rissen alte Wunden wieder auf. "Ich habe meinen Sohn nie zur Adoption freigegeben. Warum muss man mich weiter anlügen", fragt Ischer flehend. Warum sage man ihrem Sohn, den sie nie wiedergesehen hat, nicht die Wahrheit? Nein, Bernerin wolle sie keine sein, sagt sie. "In einem anderen Kanton hätte ich vielleicht eine Chance gehabt."

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 "Administrativ versorgt"

 Heute Abend empfangen Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf und der Berner Polizeidirektor Hans-Jörg Käser "administrativ Versorgte" an einem Gedenkanlass in den Anstalten Hindelbank. Deren Schicksal beleuchtet das neu erschienene Buch "Weggesperrt" von Beobachter-Journalist Dominique Strebel (ISBN 978 385569 4396).

 Madeleine Ischer hat zusammen mit Leidensgenossinnen eine Interessengruppe gegründet (www.administrativ-versorgte.ch). Ihr Schicksal steht für jenes Tausender junger Männer und Frauen, die bis 1981 mit gesetzlicher Beglaubigung, aber ohne Gehör, in Anstalten untergebracht wurden. Die Entscheide über die Verwahrungen trafen oft zivile Beamte. Als Begründung reichten oft schon "uneheliches Kind" oder "liederlicher Lebenswandel" aus. Wie viele wegen des widerfahrenen Unrechts ihr Leben aufgaben, ist nicht bekannt . (mra)

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BZ 10.9.10

"Administrativ Versorgte" Christina Jäggi
 Sie hofft auf eine Entschuldigung

 Als 19-Jährige wurde Christina Jäggi "administrativ versorgt" und in Hindelbank ins Gefängnis gesteckt. Heute ist sie wieder in Hindelbank - und hofft auf eine Entschuldigung von Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf.

 Zu behaupten, Christina Jäggi sei 1976 mit ihrem Leben problemlos zurechtgekommen, wäre übertrieben. Mit 18 Jahren verliebte sich die Recherswilerin (SO) in einen 15 Jahre älteren Mann. Dass er "nicht den besten Leumund" hatte, ignorierte sie. Bald wurde sie schwanger und gebar Ende 1975 einen Sohn. Das Kind kam zu Pflegeeltern, was Christina Jäggi schwerlich verkraftete. Hinzu kam, dass sie von ihrem Freund immer wieder geschlagen wurde.

 Nach drei Selbstmordversuchen landete sie 1976 in einer psychiatrischen Klinik. Dort fuhr eines Tages die Polizei vor, führte die inzwischen 19-Jährige ab und brachte sie in die "Arbeitserziehungsanstalt" Hindelbank. So wollte es - mit dem Einverständnis des Vaters - die Vormundschaftsbehörde der Bürgergemeinde Recherswil, die das "leibliche und geistige Wohl" der jungen Frau "stark gefährdet" sah. Doch dass die "administrativ Versorgte" im Frauengefängnis wie eine Verbrecherin behandelt wurde, verbesserte ihr geistiges Wohl nicht. Denn was sie nötig gehabt hätte, war psychiatrische Hilfe. Nie hatte man ihr geholfen, den Schreck zu verwinden, den sie als 11-Jährige erlebt hatte: Nicht ahnend, dass ihre Mutter über Nacht verstorben war, fand sie diese am Morgen in der guten Stube im Sarg liegend.

 Niemand begriff

 "Bei meinem Freund suchte ich die Liebe, die ich zu Hause nicht fand", sagt Christina Jäggi heute. 34 Jahre sind seit ihrer Einlieferung ins Frauengefängnis vergangen. 28 Jahre ist es her, dass sie ihr gesamtes früheres Umfeld verliess, um in Hägendorf ein neues Leben anzufangen. Hier wohnt und arbeitet die gelernte Köchin, hier hat sie sich einen neuen Freundeskreis aufgebaut. Doch ihr Leben blieb ein Kampf. In Psychotherapien habe sie zwar ihre Kindheit aufarbeiten können, "aber irgendwie ging es nicht weiter", erzählt die heute 53-Jährige. Auch die Therapeuten hätten nicht begriffen, "wo sie das einordnen sollten, dass ich in Hindelbank war".

 Endlich ein Ventil

 Das erlebte Unrecht nagte an Christina Jäggi. Sie suchte Trost im Alkohol, bis sie im Februar 2008 wieder in einer Klinik landete. Per Zufall stiess sie dort auf einen "Beobachter", in dem Ursula Biondi erzählte, wie sie als "administrativ Versorgte" weggesperrt wurde. Endlich hatte Christina Jäggi das Ventil gefunden, nachdem sie ihr halbes Leben gesucht hatte. Sie vertraute dem "Beobachter" ihre Geschichte ebenfalls an. Dann schloss sie sich dem von Ursula Biondi gegründeten Verein an, der eine Anlaufstelle für "administrativ Versorgte" unterhält. So kam ein Stein ins Rollen, der dazu führte, dass Christina Jäggi Einsicht verlangte in ihre Akten. Sie wollte begreifen, was die Vormundschaftsbehörde damals angetrieben hatte. Doch in ihrer Heimatgemeinde stiess sie auf Widerstand. Aber sie gab nicht auf. Sie kontaktierte sogar den damals verantwortlichen Vormundschaftspräsidenten. "Heute tönt das vielleicht brutal, aber Hindelbank war sicher nicht so schlimm", soll er gesagt haben. Christina Jäggi kann es kaum fassen, "dass die Behörden nicht hinstehen und sagen können: ‹Das war nicht in Ordnung.›".

 Die grosse Genugtuung

 Doch heute wird Justizdirektorin Eveline Widmer-Schlumpf an einem Gedenkanlass in Hindelbank zu einst "administrativ Versorgten" sprechen. Christina Jäggi wird dabei sein. Sie erwartet, von der Bundesrätin rehabilitiert zu werden.

 Je mehr die Öffentlichkeit über "administrativ Versorgte" erfährt, desto besser kann Christine Jäggi mit dem erlebten Unrecht umgehen. "Ich habe immer geglaubt, dass es eine Gerechtigkeit gibt. Jetzt kommt sie im Eiltempo", sagt sie mit Blick auf die Veränderungen, die sie erfährt, seit sie über ihre Vergangenheit spricht. Für sie geht heute in Hindelbank "ein Traum in Erfüllung".

 Susanne Graf

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DROGEN
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pressetext 10.9.10

Neue Broschüre der Schweizerischen Kriminalprävention: "Drogen - Nein Danke!"

Bern (ots) -

Die Schweizerische Kriminalprävention (SKP) hat in Zusammenarbeit mit Vertretern und Vertreterinnen der kantonalen Polizeikorps und Drogenfachstellen eine Broschüre zum Thema Alkohol und andere Drogen erarbeitet. Sie liefert anhand von Fallbeispielen Informationen zur Drogenproblematik und den damit zusammenhängenden Deliktsfeldern, informiert über die Rechtsgrundlagen, die polizeilichen Aufgaben und enthält weiterführende Informationen zu Substanzen und Beratungsstellen. Sie ist ab heute bei allen Polizeiposten in der Schweiz erhältlich.

Drogenkonsum und dessen Konsequenzen beschäftigen die Polizei nach wie vor täglich. Es ist eine wichtige Aufgabe der Ordnungskräfte, gemäss Betäubungsmittelgesetz den Umgang mit illegalen Substanzen zu unterbinden. Ebenso stark sind die Polizeikorps aber auch mit anderen Deliktsformen beschäftigt, die als direkte oder indirekte Folge von Drogen- und Alkoholmissbrauch auftreten: Seien dies Strassenverkehrsdelikte, Sachbeschädigungen, Gewalt oder auch Sexualdelikte, letzteres oft auch im Umgang mit Opfern. Nicht zuletzt sind die Ordnungshüter auch für die Einhaltung der Jugendschutzbestimmungen verantwortlich.

Eltern und Erziehungsberechtigte sind verständlicherweise besorgt, wenn ihre Kinder Alkohol oder andere Drogen konsumieren und oft ist der Informationsstand gering oder diffus. Was ist überhaupt erlaubt und was passiert, wenn mein Kind unter Drogeneinfluss von der Polizei erwischt wird? Wer ist zuständig und was für Strafen, Bussen oder Massnahmen drohen? Diese und weitere Fragen sollten mittels vorliegender Broschüre beantwortet werden. Anhand von konkreten Fallbeispielen (was geschieht, wenn...?) werden typische Deliktsformen im Zusammenhang mit Alkohol und anderen Drogen beschrieben und es werden in allgemeiner Form Tipps gegeben, wie Eltern mit Problemen umgehen und das Gespräch mit Ihren Kindern angehen können (was kann ich tun?). Die Substanzen, ihre Wirkungsweisen und spezifischen Gefahren sind in einer Übersichtstabelle dargestellt und für Interessierte finden sich zudem Angaben zu spezialisierten Fachstellen.

Die Polizei will mit dieser Broschüre Eltern und Erziehungsberechtigten einerseits die polizeilichen Aufgaben und deren rechtliche Grundlagen näher bringen, andererseits aber auch die Bandbreite und die teils schwerwiegenden Folgen unbedachten Drogenkonsums aufzeigen und damit einen Beitrag zur Präventionsarbeit leisten.

Die Broschüre "Drogen - Nein danke!" kann unter www.skppsc.ch als PDF heruntergeladen oder kostenlos bei jedem Polizeiposten bezogen werden.

ots Originaltext: Schweizerische Kriminalprävention
Internet: www.presseportal.ch

Kontakt:
Martin Boess, Geschäftsleiter der SKP
Tel.:      +41/31/320'29'50
Mobile:  +41/78/608'20'29
E-Mail:  mb@skppsc.ch  

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Drogen - Nein danke!
Polizeiliche Informationen über Risiken und rechtliche Grundlagen zu Alkohol und anderen Drogen
für Eltern und Erziehungsberechtigte
http://www.presseportal.ch/de/showbin.htx?id=100013720&type=document&action=download&attname=SKP_Drogen-NeinDanke_dt.pdf

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KAPYBTALISMUS
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Bilanz 10.9.10
http://www.bilanz.ch/edition/artikel.asp?Session=42E32CF7-5F80-472A-A6F0-5633B02DE32B&AssetID=7493

Unternehmen

 UNTERNEHMEN DER RIHS-CLAN UNTERNEHMEN

DER RIHS-CLAN

 ICH YB DICH NICHT

 Mit ihrem Engagement bei den Young Boys und dem Stade de Suisse haben sich Andy und Hans-Ueli Rihs vertan. Sie wollen aussteigen - aber nicht um jeden Preis.
 
Stefan Barmettler

 Als sich Andy Rihs (67) vor wenigen Tagen aufs Karbon-Rad schwang, um mit seinem Bruder Hans-Ueli (66) und ein paar Kollegen zu seinem Weingut in der Provence zu radeln, war die Welt wieder in Ordnung. Halbwegs.

 Im Sattel, da lässt sich der Ärger der letzten Tage schnell vergessen. Rihs, Besitzer des Stade de Suisse und des Fussballclubs BSC Young Boys, hatte in Bern für Aufruhr gesorgt. Der Anlass: seine unzimperliche Absetzung von Stefan Niedermaier, CEO des Stade de Suisse, sowie die Einsetzung von Ilja Kaenzig, ehemals Fussballmanager und "Blick"-Sportchef, der nun in Bern für neuen Schwung sorgen soll.

 Rihs Personalentscheid löste ein Erdbeben in der Berner Fussballwelt aus. "Eine Art Verbrechen am Verein" sei die Absetzung von Niedermaier, musste der Patron vor der Abfahrt in die Provence in der Lokalzeitung lesen. Aus Protest gegen die Absetzung trat Kuno Lauener, Sänger von Züri West und Berner Kulturikone, per sofort aus dem Beirat der Young Boys zurück. In Blogs und Leserbriefen wurde über Rihs gelästert.

 Rückzugs-Gelüste

Dieser verstand die Berner Welt nicht mehr und plädierte im Freundeskreis für die Abschaffung der Sportberichterstattung in den Zeitungen. Vom Young-Boys-Slogan "Ich YB dich" bekam Club-Besitzer Rihs jedenfalls wenig bis nichts zu spüren.

 Dabei würde der temperamentvolle Unternehmer lieber heute als morgen zum finanziellen Rückzug aus dem Fussballgeschäft der Hauptstadt blasen. Rihs Herz schlägt für den Radsport, er bezeichnet sich selber als "Velo-Maniac". Bereits zweimal habe er den YB-Exit ins Auge gefasst, erzählen Insider. Zuerst verhandelte er mit dem Energieunternehmen BKW und der Versicherungsgesellschaft Mobiliar; diese waren aber nur am Stadion interessiert, nicht am Fussballclub. Rihs jedoch wollte nur im Doppelpack verkaufen - und zu einem viel höheren Preis, als die Due Diligence von BKW/Mobiliar ergab. Die Folge: Verhandlungsabbruch.

 Vor zwei Jahren bot Rihs in einer turbulenten Verwaltungsratssitzung der Sport und Event Holding - sie ist Besitzerin von Stadion und Fussballclub - sein 20-Prozent-Paket zum Verkauf an. Der Unternehmer, der bei all seinen Investments stets grösste Ellbogenfreiheit gewohnt ist, nervte sich zunehmend über das Geplapper im überdimensionierten Gremium. Sein Vorschlag an die verdutzten Mitinvestoren: "Liebe Kollegen, entweder kauft ihr jetzt mein 20-Prozent-Paket ab, oder ich kaufe eure Aktien."

Alleinherrscher

Weil keiner der Aktionäre seinen Anteil aufstocken konnte oder wollte, zahlte Rihs mit seinem Bruder die andern Aktionäre aus. Nun war Andy Rihs mit seinem jüngeren Bruder plötzlich der Alleinherrscher in Bern. Für den Zukauf des 60-Prozent-Pakets soll er rund 30 Millionen auf den Tisch gelegt haben, wie mehrere Quellen berichten. Minderheitsaktionär blieb nur Benno Oertig, VR-Präsident der Sport und Event Holding.

 Weder Oertig noch die Rihs-Brüder wollten sich zu ihrem finanziellen Engagement in Bern äussern. Man solle sich Anfang 2011 wieder melden, falls dann noch Interesse an YB und am Stade de Suisse bestehe, liessen sie über ihren Sprecher Sacha Wigdorovits ausrichten.

 Auch heute sind die dominierenden Rihs-Brüder am Ausstieg interessiert. Mehrmals bekräftigten sie, dass "Bern" bloss ein Finanzinvestment sei und man insgeheim hoffe, die Young Boys und das Nationalstadion in lokalen Besitz überzuführen. Nur sind weit und breit keine Berner Investoren auszumachen, die einsteigen wollen. Schon gar nicht zum geforderten Preis.

 Das Risikoprofil des Investments ist ohnehin nichts für schwache Nerven: Ein schlechtes Spiel wie gegen Tottenham Hotspur in London, und schon lösten sich erhoffte Champions-League-Einnahmen von über 25 Millionen Franken in Luft auf. Ein Blick in die Bücher zeigt die Tücken des Geschäfts: 2009 habe die Sport und Event Holding eigentlich einen operativen Verlust von gegen fünf Millionen Franken eingefahren, heisst es. Nur dank Spielerverkäufen blieb der Jahresabschluss im Lot. Dieses Jahr wird ein Rekord angepeilt: 50 Millionen Umsatz und ein Gewinn von sechs bis sieben Millionen Franken sind budgetiert. Doch von einem nachhaltigen Geschäftsmodell kann keine Rede sein. Einen Grossteil des Profits - rund fünf Millionen - hat man dem Verkauf von Stürmerstar Seydou Doumbia an ZSKA Moskau zu verdanken. Das brachte zwar Geld in die Kasse, dafür verliert der Club jetzt gegen die AC Bellinzona.

 Bern ist speziell. Sentimentalität prägt den Geist des Publikums, ein zweiter Schlussrang das Abschneiden auf dem Platz. Nur zum Gewinnen reichte es nicht. Besonders sind auch die Besitzverhältnisse. In der Regel sind Stadion und Fussballclub getrennt, wobei der Club eine Stadionmiete von drei bis fünf Millionen Franken abliefert. Zudem stützt nicht selten die öffentliche Hand mit Millionen die Sportvereine.

 Anders in Bern. Hier tragen Andy und Hans-Ueli Rihs das volle Risiko. Als Besitzer des Stadions und der Young Boys sind sie einem permanenten Klumpenrisiko ausgesetzt, weil der Fussball für 70 bis 80 Prozent des Umsatzes verantwortlich ist. Ihr Cashflow und der Wert ihres Investments hängen also unmittelbar vom Gekicke ihrer Angestellten auf dem Kunstrasen ab.

 Ohnehin mussten die Investoren vom Zürichsee mittlerweile einsehen, dass mit Schweizer Fussball nicht der grosse Reibach zu machen ist. Letztes Jahr liess Andy Rihs seine Berner Assets auf ihren Wert hin überprüfen. Die Immobilienexperten von Livit und die Corporate-Finance-Leute von Sal. Oppenheim lieferten ihm ernüchternde Zahlen. Den Ertragswert von Stadion und Club taxierten die Spezialisten auf 55 Millionen Franken, heisst es.

 55 Millionen? Eine beträchtliche Differenz zu den 100 Millionen, die in den Gängen des Stade de Suisse als angestrebter Verkaufspreis gerne genannt werden. Mit anderen Worte: Das Investment ist längst nicht dort, wo es in den Augen der ambitionierten Aktionäre sein sollte. Neue Ertragsquellen erschliessen und optimieren ist also angesagt.

Grabenkämpfe statt Siege

Vor diesem Hintergrund ist der Rauswurf von CEO Stefan Niedermaier nachvollziehbar: Er und VR-Präsident Oertig lieferten sich monatelang einen beherzten Infight, statt die gelb-schwarze Elf endlich auf Siegerkurs zu trimmen. Bis Andy Rihs ein Machtwort sprach und Niedermaier vors Stadiontor stellte.

 Intrige, Profilierungssucht - ein Graus für den erfolgsverwöhnten Rihs, der seine bunten Investments (siehe "Family Office" auf Seite 53) am liebsten an der langen Leine führt. Schliesslich wünscht sich der 67-Jährige Firmen, die von ihren Chefs möglichst autonom geführt werden, damit ihm mehr Zeit für das geliebte Velofahren bleibt.

 Nach Niedermaiers Abgang soll Kaenzig die Meisterpokale von Basel nach Bern umdirigieren und so Fantasie, sprich: Mehrwert, in Rihs Investment fächeln. Die Ambitionen sind hoch: Rihs Statthalter Oertig träumt bereits von einer Young-Boys-Blütezeit von 20 bis 30 Jahren, "wie bei Bayern München". Ein gewagter Vergleich. Bayerns Budget ist 25-mal grösser als jenes von YB.

 Bis die Träumereien des VR-Präsidenten Realität sind, können sich die kapitalkräftigen Rihs-Brüder durchaus noch gedulden. Ihr Aktienpaket beim Hörgerätehersteller Sonova ist aktuell 1,5 Milliarden Franken wert.

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Andy Rihs

 Family Office

 Hörgeräte, Gastgewerbe, Wein, Velos - ein bunter Strauss von Aktivitäten.

 Die privaten Geschäfte von Andy Rihs sind in der ARfinanz Holding gebündelt. Über die privaten Finanzen wacht Ernst Vogelsang, ehemals Finanzchef von Sonova. Um seine weltweiten Aktivitäten besser zu koordinieren, hat sich Rihs eine achtplätzige Cessna Citation zugelegt.

 Sonova: Andy Rihs hält 10,7 Prozent am Hörmittelproduzenten Sonova (früher Phonak). Aktueller Wert seiner Beteiligung: 900 Millionen. Bruder Hans-Ueli (genannt "Jöggi") hält 6,8 Prozent. Weiter gehört ihm die Swiss Casinos Holding.

 BMC/Bergamont: Andy Rihs spult jährlich 7000 Kilometer auf dem Fahrrad ab. Ihm gehören mit BMC und Bergamont zwei High-End-Velohersteller mit Sportteam. Bruder Hans-Ueli ist Vizepräsident beim Eishockeyclub Rapperswil-Jona Lakers.

 Weinhandel: Rihs ist im Ausland an zwei Weingütern beteiligt: in der Provence an der 38 Hektar grossen La Coquillade (bei Avignon), in Neuseeland an der Framingham Winery (westlich von Wellington). Neben dem Weinanbau ist er auch in der Rinderzucht in Colorado aktiv.

 Gastronomie: Andy Rihs besitzt den Gastrobetrieb Al Porto in Lachen SZ. Zum Weingut La Coquillade gehört ein erstklassiges Hotel. Bruder Hans-Ueli hält das Restaurant Luegeten in Pfäffikon SZ.

 Immobilien: Andy Rihs liess den Seidenpark in Stäfa bauen, der knapp 100 Miet- und Eigentumswohnungen umfasst und 80 Millionen kostete. Weitere Grossprojekte befinden sich in Zug (Eden Park) und in Uerikon (Inselblick). Die Immobilienprojekte werden über die Rihs-Firma R-Estate abgewickelt.

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HOMO FUSSBALL
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Blick am Abend 9.9.10

Aus für schwulen Fussballer

 TABU

 Französischer Verein verbannt ihn - nach 14 Jahren.

 Yoann Lemaire darf nicht mehr Fussball spielen - weil er schwul ist. Sein Amateurklub FC Chooz hat den 28-Jährigen vom Spielbetrieb ausgeschlossen. Und das, obwohl der Verteidiger 14 Jahre lang für den Verein kickte. Lemaire wurde als erster bekennender homosexueller Fussballer Frankreichs bekannt und veröffentlichte ein Buch zum Tabu-Thema. Sein Rausschmiss schlägt in Frankreich hohe Wellen. Lemaire sagte, er sei "tief getroffen" und "wollte doch nur mit Freunden Fussball spielen". Am Mittwoch verlangte die Schwulen-Organisation "Paris Foot Gay" (PFG) beim nationalen Fussballverband die Bestrafung des FC Chooz. Die Ethik-Kommission des Verbands müsse der Fussballwelt zeigen, dass Homophobie "genauso schlimm ist wie Rassismus oder Antisemitismus".

 Der FC Chooz behauptet, er habe Lemaire verbannt, um ihn vor Teamkameraden zu schützen. Einige dieser Kameraden hatten 2009 negativ über Schwule gesprochen. nce

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KLASSENKAMPF
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NZZ 10.9.10

Historisches Stadtgeflüster

 Rosa Luxemburg vor den Toren der "Berna"?

 Peter Heim*

 Zu den umstrittenen historischen Gestalten, deren Lebensspuren nach Olten geführt haben sollen, gehört neben Lenin auch eine andere Kultfigur der politischen Linken: Rosa Luxemburg. In den Tagen des Landes-Generalstreiks im November 1918 soll sie mit ein paar hundert Demonstranten vor den Fabriktoren der "Berna" aufmarschiert sein. Die 1904 gegründete Motorwagenfabrik "Berna" zählte bis in die 1980er-Jahre zu den führenden Nutzfahrzeug-Herstellern des Landes. Mit ihren rund 700 Mitarbeitenden produzierten die Oltner Autokonstrukteure während des Ersten Weltkrieges Militärlastwagen sowohl für die Schweizer Armee als auch für die Alliierten, im Zweiten Weltkrieg wurden sogar Panzerfahrzeuge gebaut. Wichtigste Produkte aber waren die zivilen Lastwagen und Autobusse mit dem markanten Schriftzug am Kühlergitter, an den sich viele von uns noch gut erinnern. Unter den zahlreichen Ingenieuren, Konstrukteuren und Mechanikern ragt die Person von Direktor Ernst Marti hervor, welcher die Geschicke der "Berna" fast ein halbes Jahrhundert lang geprägt hat. Im Unterschied zu den meisten anderen Patrons auf dem Platz Olten verfolgte er gegenüber der Belegschaft einen harten Kurs. So lange es ihm möglich war, weigerte er sich, gewerkschaftlich organisierte Arbeiter einzustellen, konnte aber nicht verhindern, dass gegen Ende des Ersten Weltkrieges zwei Drittel der Belegschaft dem Metallarbeiterverband angehörten. Erst viele Jahre nach seiner Pensionierung setzte sich der inzwischen über Achtzigjährige hinter die Schreibmaschine, um seine Erinnerungen zu Papier zu bringen. Darin kommt er, eher beiläufig, auch auf die Zeit des Generalstreiks zu sprechen: "Dann kam der Generalstreik 1918 mit seiner Grippeepidemie. Ein neuer Gedanke, der Kommunismus, war das Schlagwort. Harte Auseinandersetzungen über den sozialen Gedanken, den man zu wenig in Erwägung zog. Er war uns fremd und man bekämpfte ihn. Aber man musste miteinander reden und einen Modus finden. Als aber Rosa von Luxemburg, eine bekannte Hetzerin, mit einigen 100 Mann vor dem Gitter stand, war es doch ungemütlich. Sie verlangten Mitspracherecht, Beteiligung am Ergebnis u. a. m. Nun, das ging auch vorüber. Man gründete eine Arbeiterkommission, wo man zusammenkam, um verschiedene Probleme zu besprechen." Dass die aus Polen stammende Revolutionärin Rosa Luxemburg (1871-1919), bedeutende sozialistische Theoretikerin und Mitbegründerin der Kommunistischen Partei Deutschlands, sich in Olten aufgehalten habe, war bisher völlig unbekannt. In keiner der zahlreichen Luxemburg-Biografien findet sich auch nur der leiseste Hinweis darauf. Man weiss zwar, dass sie 1889 bis 1897 in Zürich studierte und sich gelegentlich auch in Genf und Basel aufhielt. Die Jahre des Krieges aber verbrachte sie wegen ihrer politischen Tätigkeit grösstenteils in Haft, am 9. November 1918, als in vielen deutschen Städten die sogenannte "Novemberrevolution" ausbrach und in der Schweiz der Generalstreik begann, wurde sie aus dem Breslauer Gefängnis entlassen und begab sich nach Berlin, wo sie Ende Dezember am Gründungsparteitag der KPD teilnahm. Am 15. Januar 1919 wurde sie in Berlin-Wilmersdorf erneut verhaftet und kurz darauf - zusammen mit ihrem Kampfgenossen Karl Liebknecht - von einem militärischen Kommando ermordet. "Von der Menge getötet", hiess es zynisch in einem Rapport. Wie soll diese Frau es geschafft haben, in Olten eine Hundertschaft von Demonstranten vor die Fabriktore der "Berna" zu führen und gleichzeitig in Berlin verhaftet und erschossen zu werden? Die vage Formulierung, mit welcher Marti die erstaunliche Legende in die Welt setzt, lässt Zweifel am Wahrheitsgehalt seiner Aussage aufkommen. Viel wahrscheinlicher ist, dass im Gedächtnis des betagten Managers Realität und politische Fantasien etwas durcheinander geraten waren. Mag sein, dass auch der Name eines anderen, ihm unheimlich erscheinenden Weibsbildes mit hineinspielte: Rosa Bloch-Bollag, auch sie revolutionäre Marxistin und Jüdin. Im Unterschied zu Rosa Luxemburg hatte sie insofern mit Olten zu tun, als sie vor dem Generalstreik eine Zeitlang dem "Oltener Aktionskomitee" angehörte, das allerdings mit unserer Stadt - ausser seinem Namen - rein gar nichts zu tun hatte. Auch nach ihrem Tode geisterte die ermordete Revolutionärin noch in Oltner Gazetten herum. In den gehässigen Debatten nach dem Generalstreik wurde ihr Name instrumentalisiert, um den politischen Gegner - hier in der Person des SP-Parteiführers Jacques Schmid - zu diffamieren: "Der Sozialstaat nach bolschewistischem Vorbild, nach dem halbnärrischen Paare Liebknecht und Rosa Luxemburg in Deutschland - das ist das Ideal und Ziel des Genossen J. Schmid."

 * In der OT-Serie "Historisches Stadtgeflüster" geht Stadtarchivar Peter Heim Geschichtsmythen aus der Dreitannenstadt auf den Grund.

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FRÖNTLER
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Aargauer Zeitung 10.9.10

Audienz mit Schweizer Nazis

 Heute vor 70 Jahren - am 10. September 1940 - empfing Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz Vertreter der "Nationalen Bewegung der Schweiz" im Bundeshaus.

Peter Kamber*

 Marcel Pilet-Golaz war 1940 Bundespräsident - der Stilist unter den Bundesräten der Kriegszeit. Als Schweizer Aussenminister stark nach Paris ausgerichtet, traf ihn der Zusammenbruch Frankreichs im Juni 1940 tief. Im selben Monat Juni 1940 bildete sich am äussersten rechten Rand der Parteienlandschaft die Nationale Bewegung der Schweiz (NBS). Viele liessen sich verblenden und landeten im Karteikasten der Organisation.

 Pilet-Golaz empfing am 10. September 1940 drei der führende Vertreter dieser NBS, unter ihnen, als prominentesten, den Schweizer Nazi-Schriftsteller Jakob Schaffner. Einst die gefeierte Hoffnung der Schweizer Literatur, schrieb der 1936 im Vorwort zu "Volk zu Schiff": "Man wird es offen nationalsozialistisch finden. Ich (...) erkläre heute offen und verantwortlich, dass ich die Grundzüge des Nationalsozialismus als massgebend betrachte für den Neuaufbau Europas."

 Die Audienz dauerte von 16.30 bis 18 Uhr. Doch statt sich zu mässigen, wie der Magistrat zu hoffen schien, schlachtete die Nationale Bewegung der Schweiz den Empfang sofort propagandistisch aus - mit einer Pressemeldung, die im Deutschen Reich und in der Schweiz den Eindruck erweckte, der Bundesrat richte seine Politik neu aus. Es folgte eine heftige Gegenbewegung in der Bevölkerung. Ohne dass es die Öffentlichkeit erfuhr, empfing Pilet-Golaz am Sonntag, 15. September 1940, einen der drei NBS-Besucher, den Ingenieur Max Leo Keller, bei sich zu Hause erneut. Der stand vor einer Reise nach Deutschland und weckte einmal mehr falsche Hoffnungen. Im "Reich" wurde Keller danach vom Führer-Stellvertreter Hess empfangen und erwirkte für die NBS die deutsche Anerkennung als "repräsentative" nationalsozialistische Organisation der Schweiz.

 Die Schweizer Nazis erwarteten ungeduldig noch für 1940 eine deutsche Besetzung der Schweiz. So randalierte der dritte der Teilnehmer der Pilet-Golaz-Audienz, der Elektromonteur Ernst Hofmann, am 11. November 1940 offen bei Bundesanwalt Franz Stämpfli, um diesen zur Zulassung einer Wochenzeitung mit klar nationalsozialistischer Ausrichtung zu zwingen: Stämpfli tue gut daran, "diese Zeitungsangelegenheit in Ordnung zu bringen und alsdann zu verschwinden", in vierzehn Tagen wäre er nicht mehr auf seinem Posten, er habe offenbar keine Ahnung vom "Ernst der Lage". Der Bundesanwalt warf Hofmann hinaus.

 Wichtigstes Hindernis für ein Verbot der NBS war bis dahin ihr "Anspruch" gewesen, "aufgrund der Audienz beim Herrn Bundespräsidenten als legale Bewegung zu gelten" (Bundesanwalt Stämpfli). Vergeblich kämpfte bis zu dem Zeitpunkt innerhalb der Armee auch der Spezialdienst im Sicherheitsdienst des Schweizerischen Nachrichtendienstes für Massnahmen gegen die NBS.

 Zwar erging nach dem Skandalauftritt Hofmanns am 19. November ein Verbot. Doch der Führerkreis der Ex-NBS operierte einfach weiter - ohne zu ahnen, dass der Spezialdienst in Zusammenarbeit mit der Politischen Polizei der Kantone nunmehr jeden ihrer Schritte überwachte: Gepflanzte Mikrofone brachten zutage, dass diese Schweizer "Führer" im Untergrund enge Beziehungen zum SS-Geheimdienst knüpften und den Aufbau SS-ähnlicher Strukturen vorantrieben - u.a. in Form einer so genannten "Sportschule" in einer Villa in Kilchberg oberhalb des Zürichsees. Auch wurden zellenartig organisierte "Kampfstaffel-Kommandos" gebildet, die am Tag X Sabotageaufträge ausführen sollten - eindeutige Beweise für die Vorbereitung eines Umsturzes.

 Darauf erfolgte am 10. Juni 1941 eine zweite Razzia. Die meisten Schweizer Nazis flohen ins "Reich". Der Schriftsteller Jakob Schaffner kam am 25. September 1944 während eines alliierten Luftangriffs auf Strassburg ums Leben. Die anderen wurden nach dem Krieg in die Schweiz ausgeliefert und vor Gericht gestellt.

 *Der Historiker und Sachbuchautor Peter Kamber verfasste den Roman "Geheime Agentin" (Basisdruck-Verlag, Berlin 2010, 1385 S., Fr. 49.20). Darin beschreibt er den Geheimdienstkrieg zwischen 1939 und 1945 und die Schweiz als Spionagedrehscheibe.

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JÜDINNEN BS
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NZZ 10.9.10

Ein jüdischer Generationenkonflikt

 Die Israelitische Gemeinde Basel im Schatten des Zweiten Weltkriegs

 Wenn eine Minderheit unter Druck gerät, gibt sie diesen an Schwächere weiter, etwa an die Jugendlichen. Dies zeigt Noëmi Sibold in ihrer Dissertation zur Geschichte der Juden Basels.

 Urs Hafner

"Ein Grossteil der jüdischen Jugend treibt in einem national-faszistischen Fahrwasser, das der Hitlerjugend in nichts nachsteht." Diesen Satz äusserte Mitte der 1930er Jahre ein Mitglied der Israelitischen Gemeinde Basel (IGB). Die Äusserung rief innerhalb des tonangebenden Basler Judentums nicht etwa Irritation und Widerspruch hervor, sondern stiess auf breite Zustimmung. Wie kam das?

 Nachdem die Nationalsozialisten in Deutschland 1933 die Macht übernommen hatten, verstärkte sich der Druck auf die Schweizer Juden und die hier lebenden jüdischen Flüchtlinge: Der rassistische Antisemitismus, der den religiösen Antijudaismus in sich aufgenommen hatte, fasste in breiten Bevölkerungsschichten Fuss. Die jüdischen Gemeinden versuchten zunächst, der zunehmenden Bedrohung mit juristischen und publizistischen Mitteln sowie mit der Stärkung der eigenen Identität entgegenzutreten.

 Aber das Zusammenrücken gestaltete sich nicht einfach. Zum einen mussten die Gemeinden befürchten, mit einem offensiven Auftreten die judenfeindliche Stimmung in der Öffentlichkeit anzuheizen und die Behörden zu verärgern, die sich gegenüber den neuen deutschen Machthabern vorsichtig zeigten und zu den jüdischen Mitbürgern auf Distanz gingen. Und zum anderen verhielt sich ein Teil der jüdischen Jugend gerade nicht so, wie es die ältere Generation erwartete. Die Jugendlichen konfrontierten das in ihren Augen kleinmütige Auftreten mit der zionistischen Vision, in das neue Palästina auszuwandern - oder zumindest in Basel ein eigenes Jugendheim einzurichten.

 Diesen Generationenkonflikt, der beunruhigte Gemeindevertreter - und wohl auch erboste Väter - zur Aussage vom "national-faszistischen Fahrwasser" hinriss, in dem die jüdische Jugend treibe, schildert Noëmi Sibold in ihrer Dissertation "Bewegte Zeiten - zur Geschichte der Juden in Basel". Im Ungefähren des Titels klingt das einzige Manko des Buches an: Es fehlt ihm ein Zentrum, eine These. Aus der Sicht der damals Involvierten schildert es - zum Teil mit Wiederholungen - die Entwicklung der IGB und deren Flüchtlingspolitik, die widersprüchliche Haltung der Universität zu den Juden sowie die verbreitete Judenfeindschaft und das innerjüdische Generationenverhältnis.

 Die Analyse dieser Spannungen ist der originellste Teil des Bandes. Gerade aus der Sicht einer politisch oft indifferenten Gegenwart beeindrucken die engagierten Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und Erwachsenen und unter den Jugendlichen selbst. Da stritten religiös orthodoxe, kulturzionistische, links- und rechtszionistische, säkular und liberal gesinnte Gruppen um die richtige und bessere Gestaltung der Welt. Die Debatten wurden von der ohnehin schwierigen Grundfrage durchzogen, die der Krieg und die feindliche Umwelt noch verschärften: Sollte man die Loyalität vornehmlich der Nation schenken, der man als Bürger angehörte, - also der Schweiz - oder dem Projekt des israelischen Staats, dem man sich ebenfalls verbunden fühlte?

 Die Erkenntnisse der Autorin sind nicht nur für die jüdische Geschichte relevant. Will sie nicht noch mehr geschwächt werden, sieht sich eine unter Druck geratene Minderheit gezwungen, sich auf eine bestimmte Identität festzulegen, auch wenn ihre Mitglieder mehrere - politische, kulturelle, religiöse - Identitäten besitzen. Die Elterngeneration reagierte auf das Aufbegehren der Jugendlichen nicht sonderlich souverän, sondern gab den Druck weiter. Weil die IGB befürchtete, die angeblich kommunistisch unterwanderte Jugend falle negativ auf und verstärke so den Antisemitismus, forderte sie Stillhalten und "berufliche Umschichtung": Statt dem Grosshandel und Staatsstellen "nachzujagen", sollten die Jungen sich in Gewerbe und Landwirtschaft bewähren, nicht in Palästina freilich, sondern in der Schweiz. Offenkundig hatte die IGB virulente antisemitische Stereotype der Mehrheitsgesellschaft verinnerlicht.
 
 Noëmi Sibold: Bewegte Zeiten. Zur Geschichte der Juden in Basel, 1930er bis 1950er Jahre.

 Chronos-Verlag, Zürich 2010. 393 S., Fr. 48.-.

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ALKVERBOT
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Landbote 10.9.10

Gute Noten für das Genfer Alkoholverbot

 Denise Lachat

 Seit fünf Jahren darf in Genfer Tankstellenshops kein Alkohol mehr verkauft werden, in der Nacht ist der Alkoholverkauf in allen Läden untersagt. Die Einschränkung wirkt sich positiv auf das Trinkverhalten von Jugendlichen aus.

 LAUSANNE - "Prohibition!", schimpften die einen, als das Genfer Kantonsparlament 2004 beschloss, zwischen neun Uhr abends und sieben Uhr morgens den Verkauf von Alkohol "über die Gasse" zu verbieten und Alkoholika aus dem Sortiment der Tankstellenshops und Videotheken zu kippen. "Gut für den Jugendschutz!", applaudierten die anderen, die sich von den Massnahmen erhofften, den steigenden Alkoholkonsum unter Jugendlichen einzudämmen.

 In der Volksabstimmung setzte sich das Verbot durch, und nun zeigt eine Untersuchung von Suchtinfo Schweiz*, dass es die Hoffnungen der Befürworter tendenziell erfüllt. Denn in der Schweiz stiegen die Spitaleinlieferungen wegen Alkoholvergiftungen zwischen 2002 und 2007 insgesamt an, im Kanton Genf aber gehen sie seit dem Jahr 2005 bei den 10- bis 15-Jährigen zurück, und zwar um etwa 4 bis 5,5 pro tausend im Spital behandelter Fälle. Bei den 16- bis 29-Jährigen fällt die Zunahme geringer aus als in der übrigen Schweiz, bei den über 29-Jährigen wurde keine Veränderung festgestellt. Die Notaufnahmen wegen Alkoholvergiftungen sind laut den Autoren der Studie ein Indikator für das Rauschtrinken von Jugendlichen, die alkoholische Getränke häufig spontan einkauften und punktuell in unkontrollierten Mengen konsumierten. "Die Ergebnisse stehen im Einklang mit internationaler Literatur, die zeigt, dass gerade bei Jugendlichen ein Zusammenhang zwischen der Erhältlichkeit von Alkohol und dem Konsum besteht", folgern die Autoren, und die Behörden sehen sich in ihren Präventionsbemühungen bestätigt.

 Spitaleinlieferung ist selten

 Allerdings räumen die Verfasser der Studie ein, dass nebst der Statistik der Spitäler weitere Indikatoren notwendig wären, um die möglichen Folgen der Intervention auf den Alkoholkonsum zu untersuchen. Denn Hospitalisierungen in Folge von Alkoholvergiftungen seien generell und insbesondere bei 10- bis 15-Jährigen, die im Grunde gar keinen Alkohol kaufen dürften, sehr selten. "Sie sind somit nicht der beste Indikator für ein verändertes Konsumverhalten."

 Immerhin lasse sich mit grosser Sicherheit sagen, dass die eingeschränkten Verkaufszeiten und das Verkaufsverbot für alkoholische Getränke in Tankstellen und Videoläden keinen negativen Effekt auf Alkoholvergiftungen bei Jugendlichen gehabt hätten. Denn Jugendliche seien stärker als Erwachsene davon betroffen, dass sie Alkohol nicht günstig und einfach einkaufen könnten. Denn in Restaurants und Diskotheken überstiegen die Preise für alkoholische Getränke häufig ihre finanziellen Möglichkeiten. Dass Jugendliche zu Hause Vorräte von Alkoholika anlegten, sei zudem eher selten.lDENISE LACHAT

 *Effekt der Einschränkung der Erhältlichkeit von Alkohol auf Alkohol-Intoxikationen im Kanton Genf. Suchtinfo Schweiz, Lausanne, September 2010.

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ANTI-ATOM
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Bund 10.9.10

Das Volk wird über den Atomausstieg der Stadt Bern entscheiden

 Der Stadtrat spricht sich mit grosser Mehrheit für eine Abkehr von der Atomenergie aus.

 Simon Thönen

 Die Stadtratsdebatte über den Atomausstieg der Stadt Bern fand gestern fast auf den Tag genau drei Monate nach der Grossratsdebatte über ein neues AKW in Mühleberg statt - im gleichen Plenumssaal des Rathauses Bern, doch mit umgekehrten Vorzeichen. Im Kantonsparlament hatte die bürgerliche Mehrheit nahezu geschlossen für ein neues AKW gestimmt. Im Stadtparlament sprach sich gestern eine ebenso klare Mehrheit von rot-grünen und Mitte-Parteien für den Atomausstieg aus.

 Im Stadtrat stand zwar nicht ein neues AKW in Mühleberg zur Debatte, aber doch ein Grundsatzentscheid zur Atomenergie: Das stadteigene Werk Energie Wasser Bern (EWB) soll Beteiligungen an AKW aufgeben und diese durch Investitionen in umweltfreundliche Energien ersetzen. Konkret geht es um Beteiligungen an den AKW Fessenheim (Frankreich) und Gösgen.

 Ausstiegsfahrplan umstritten

 Angesichts der klaren Mehrheitsverhältnisse ging es gestern im Stadtrat bloss um das Tempo des Ausstiegs:

 Die Volksinitiative "Energiewende Bern" fordert, dass EWB bis 2030 aus den AKW-Beteiligungen aussteigt. Ab diesem Zeitpunkt dürfte EWB nur noch Strom aus erneuerbaren Energien produzieren, kaufen und verkaufen.

 Der Gemeinderat will mit einem Gegenvorschlag dasselbe erreichen, verlangt aber eine Verlängerung der Frist um neun Jahre bis 2039.

 "Der Gemeinderat sieht die Zukunft bei den erneuerbaren Energien, bei sauberem Strom", betonte Energiedirektor Reto Nause (CVP). EWB habe eine entsprechende Strategie für den Atomausstieg entwickelt, "die realistisch ist". Doch sie brauche Zeit. Die kürzere Frist der Initiative bezeichnete er als "verantwortungslos". Konkret will der Gemeinderat, dass EWB Gewinne aus der Beteiligung an Gösgen so lange wie möglich nutzen kann, um Investitionen in erneuerbare Energien zu finanzieren (siehe nebenstehender Artikel).

 "Ich bin beeindruckt, wie die Ziele der Volksinitiative in der Eignerstrategie von EWB umgesetzt wurden", sagte der Sprecher der Grünen Freien Liste (GFL), Peter Künzler. Der Zeitpunkt des Ausstiegs sei allerdings nicht so entscheidend. EWB könne die Beteiligungsrechte an Gösgen ja auch früher verkaufen und mit dem Erlös Investitionen in erneuerbare Energien finanzieren.

 Die meisten Sprecher und Sprecherinnen der rot-grünen, aber auch der Mitte-Parteien sprachen sich für die Volksinitiative und den Gegenvorschlag aus. Einzig die BDP/CVP-Fraktion unterstützte nur den Gegenvorschlag des Gemeinderats. Keine Chance hatte ein von der SVP unterstützter jungfreisinniger Gegenvorschlag, der den AKW-Ausstieg streichen wollte ("Bund" vom 19. 8.).

 Volksabstimmung angestrebt

 Mit 20 zu 21 Stimmen bei 28 Enthaltungen wurde auch die Initiative "Energiewende Bern" abgelehnt. Der Gegenvorschlag des Gemeinderates wurde mit 47 zu 18 Stimmen bei 4 Enthaltungen angenommen.

 Viele Anhänger der Initiative hatten allerdings aus rein taktischen Gründen nicht für diese gestimmt. Sie wollten vermeiden, dass die Volksinitiative am 28. November alleine vors Volk kommt. Denn dann hätten sie den Gemeinderat als Gegner. Nun kommt neben der Initiative auch ein Gegenvorschlag vors Volk, was taktisch günstiger ist. Das Volk kann so das Tempo des Ausstiegs bestimmen. Angst vor einem doppelten Nein haben die Initianten nicht - im Gegenteil: "Ein Volksentscheid wird den Atomausstieg verbindlich verankern", sagte Stéphanie Penher (Grünes Bündnis) voller Zuversicht.

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AKW-Laufzeiten

 In Deutschland wäre Initiative zahm

 Die grüne Initiative "Energiewende Bern" ist gemässigter als die Atompolitik der deutschen Regierung.

 Wäre Angela Merkel nicht deutsche Bundeskanzlerin, sondern eine Berner Lokalpolitikerin, dann müsste sie die links-grüne Volksinitiative "Energiewende Bern" unterstützen. Zwar hat die deutsche Regierung eben die Laufzeiten der Kernkraftwerke verlängert. Doch sie hält an einem Atomausstieg fest, dessen Fahrplan immer noch ehrgeiziger ist als jener von "Energiewende Bern".

 In Bern geht es um die Frage, wann Energie Wasser Bern (EWB) die Beteiligung am AKW Gösgen aufgeben soll. Bis 2030, fordert "Energiewende Bern". Für das 1979 in Betrieb genommene AKW Gösgen ergibt dies eine theoretische Laufzeit von 51 Jahren. In Deutschland haben nun aber jene AKW, die vor 1980 ans Netz gingen, eine Betriebsverlängerung um durchschnittlich 8 auf total nur 40 Jahre erhalten.

 Gemeinderat: 60 Jahre Laufzeit

 Sicher, der Vergleich ist theoretischer Natur. Dennoch: Sogar im bürgerlich regierten Deutschland wäre die grüne Berner Initiative zahm - und der Gegenvorschlag des Gemeinderates wäre eine nukleare Extremlösung: Denn dieser rechnet mit einem Atomausstieg bis 2039, was einer Gösgen-Laufzeit von 60 Jahren entspricht. In den USA geht man allerdings auch von solchen Laufzeiten aus.

 Vergleichbar sind die Motive für längere Laufzeiten: Alte, abgeschriebene AKW rentieren - bei Neubauten ist dies fraglich. So rechnet der Gemeinderat mit total 351 Millionen Franken Mehreinnahmen, wenn EWB neun Jahre länger an Gösgen beteiligt bleibt. Ob Reaktoren tatsächlich so lange sicher betrieben werden können, wird allerdings erst die Zukunft zeigen. (st)

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BZ 10.9.10

Atomausstieg erst auf das Jahr 2039

 Das Parlament schlägt dem Volk beim Atomausstieg eine gemächlichere Gangart vor und lehnt die Energiewende-Initiative ab.

 Wann soll die Stadt Bern definitiv vom Atomstrom wegkommen? Am 28. November können die Stimmberechtigten aus zwei Szenarien auswählen: Die von rot-grünen Kreisen lancierte Initiative "Energiewende Bern" verlangt den Atomausstieg bis 2030. Der Gegenvorschlag des Gemeinderats gibt dem städtischen Energieversorger EWB zehn Jahre mehr Zeit.

 Der Stadtrat hat gestern die Initiative knapp zur Ablehnung empfohlen: mit 21 zu 20 Stimmen bei 28 Enthaltungen. Der Gegenvorschlag fand mit 47 zu 18 Stimmen bei 4 Enthaltungen eine Mehrheit.

 Der Stadtrat folgte damit dem Appell von Energiedirektor Reto Nause, der auf die Stadt Zürich verwies, die erst auf 2044 aus dem Atomstrom aussteigt. Die Initiative bezeichnete Nause als "verantwortungslos": "Bei Annahme tut sich eine Schere auf, die grosse finanzielle Risiken birgt." Tatsächlich beziffert EWB den drohenden Wertverlust mit 351 Millionen Franken. Dies weil das Unternehmen früher auf den günstigen Strom des Atomkraftwerks Gösgen verzichten und darum während Jahren teuren Strom auf dem Markt einkaufen müsste.

 Ausstieg kaum bestritten

 Dieses "Schreckensgespenst Stromlücke" habe die Atomstromlobby in die Welt gesetzt, konterte Tanja Walliser (SP) und schwärmte davon, dass Bern eine Pionierstadt sein könne. Auch Peter Künzler (GFL) zweifelte den von EWB genannten Wertverlust an. Doch das Datum des Ausstiegs sei "nicht matchentscheidend". Künzler kritisierte schliesslich die Initianten des Grünen Bündnisses: "Sie hätten Grösse zeigen und die Initiative zugunsten des Gegenvorschlags zurückziehen sollen." Dann wäre es zu keiner Volksabstimmung gekommen, und die rot-grüne Mehrheit im Stadtrat hätte den Atomausstieg beschliessen können. Das meinte auch Tanja Sollberger (GLP): "Bei einem Rückzug hätten wir bereits heute Abend den Atomausstieg per 2039 im EWB-Reglement festschreiben können."

 Grundsätzlich gegen einen Atomausstieg waren bloss FDP und SVP. "Initiative und Gegenvorschlag unterscheiden sich nur in den Fristen. Damit wird die zentrale Frage - Atomausstieg ja oder nein - verwedelt", sagte Bernhard Eicher (FDP).

 Strom wird teurer

 Eicher wies darauf hin, dass der Atomausstieg höhere Stromtarife brächte. "Strom wird so oder so teurer", konterte Judith Gasser (GB) mit Verweis darauf, dass die Atomkraftwerke am Ende ihrer Lebensdauer stehen und darum auch dort grosse Investitionen anstehen. Gasser zerzupfte schliesslich das bürgerliche Argument, Atomstrom sei grüner Strom: "Der Abbau von Uran geschieht unter haarsträubenden ökologischen und sozialen Bedingungen."
 azu

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NZZ 10.9.10

Peinliche Uran-Herkunft

 Greenpeace wusste mehr als Axpo

 In Schweizer AKW wird zum Teil Uran aus problembehafteten russischen Anlagen genutzt. Die Firmen selbst, aber auch Politiker wollen nun die Herkunft besser kontrollieren.

 dsc. · Was lange vermutet wurde, ist nun bestätigt. Ein Teil des Urans in den Brennstäben für Schweizer Atomkraftwerke stammt aus den russischen Wiederaufbereitungsanlagen in Majak, wo es insbesondere vor einigen Jahrzehnten zu Unfällen gekommen war. Manfred Thumann, CEO der Axpo AG, hat dies in einem Interview in der "Rundschau" des Schweizer Fernsehens am Mittwoch erstmals zugegeben. Am Donnerstag erklärte die Axpo, dass Majak "heute internationale Umweltstandards erfüllt", während Medienberichte auch in jüngster Vergangenheit auf gewisse Verschmutzungen hinweisen. Neben dem Axpo-Werk Beznau ist auch das AKW Gösgen betroffen. Hingegen bezieht etwa das Werk Mühleberg den Brennstoff aus den USA, Frankreich und Deutschland.

 In Mitteilungen und auf Anfragen hin hatte Axpo seit einem Jahr stets erklärt, Nachforschungen zur Herkunft des Urans anzustellen. Die Firma hat die Kontroverse durch die Publikation einer Umweltbilanz für Beznau selbst angestossen. Darin war berechnet worden, dass eine Kilowattstunde AKW-Strom - "alles" mitgerechnet - nur etwas mehr als 3 Gramm Kohlendioxid-Emissionen verursacht, weil bereits genutztes Uran gebraucht wird. Solche Werte sind bei Atomstrom prinzipiell sehr tief. Die Umweltorganisation Greenpeace kritisierte aber am Axpo-Bericht, dass für die Brennstabherstellung in Russland nicht Uran aus der Atomwaffenabrüstung verwendet werde, sondern vermutlich in Majak angereichertes Material.

 Die Axpo hatte sich auf Angaben des russischen Brennstabherstellers in Elektrostal verlassen. Dass Umweltschützer besser über die Herkunft Bescheid wussten als die Axpo-Spezialisten, wirkt peinlich. Wie gegenüber der NZZ schon wiederholt erklärt, will das Stromunternehmen nun die Brennstofflieferungen besser überprüfen. Einen sofortigen Ausstieg aus den Lieferverträgen fordert Greenpeace. Wer mit Partnern Handel treibe, denen schwere Umweltvergehen angelastet würden, mache sich mitschuldig, schreibt die Organisation.

 Der grüne Aargauer Nationalrat Geri Müller fordert mit einer parlamentarischen Initiative eine bessere internationale Aufsicht des Bundes. Bei der Brennstabherstellung in Russland spielt nämlich als Basisstoff das Uran von abgebrannten Brennstäben aus der Schweiz eine Rolle. Diese wurden in Frankreich wiederaufbereitet. Heute sind diese Vorgänge durch ein Moratorium unterbrochen. Auch die Bedingungen beim eigentlichen Uranbergbau werden, vor allem wenn dieser in Entwicklungsländern erfolgt, oft kritisiert.

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Zürichsee-Zeitung 10.9.10

Atomenergie

 Zweifelhaftes Uran-Geschäft

 Greenpeace fordert die Betreiber von Schweizer Atomkraftwerken auf, aus zweifelhaften Uran-Geschäften mit Russland auszusteigen.

 Das Uran für ihre Brennstäbe stammt zum Teil aus der russischen Wiederaufbereitsungsanlage Majak - einem der verstrahltesten Orte der Welt. Die Betreiber der Atomkraftwerke Gösgen und Beznau bestätigten am Mittwoch gegenüber der Sendung "Rundschau" von Schweizer Fernsehen erstmals, dass ihre Brennstäbe zum Teil wiederaufbereitetes Uran aus Majak enthalten. Sie waren in der Sendung mit Recherchen von Greenpeace konfrontiert worden.

 Mit dem Eingeständnis stehe die von der Atomindustrie gerühmte "saubere Atomenergie" in einem schiefen Licht, schreibt die Umweltorganisation. Majak gilt neben dem ukrainischen Tschernobyl als verstrahltester Ort der Welt. In den 50er Jahren explodierte dort ein Tank mit hoch radioaktivem Plutonium. Heute werden laut Greenpeace radioaktive Abwasser der Anlage direkt in den Fluss Tetscha geleitet; weitere radioaktive Flüssigkeiten lagerten kaum gesichert unter freiem Himmel. Die Krebsrate der einheimischen Bevölkerung ist nach Angaben der Umweltorganisation überdurchschnittlich hoch, ebenso die Zahl der Fehlgeburten oder Geburten schwerstbehinderter Kinder.

 Manfred Thumann, Chef des Stromkonzerns und Beznau-Besitzers Axpo, kündigte in der "Rundschau" an, sein Konzern werde die Verträge mit seinen Lieferanten präzisieren und darin Herkunftsnachweise für das bezogene Uran einfordern. (sda)

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Landbote 10.9.10

Protest gegen Atomendlager im Weinland

 fim

 TRÜLLIKON - Etwa vierzig Personen demonstrierten am Mittwochabend in Trüllikon gegen das geplante Tiefenlager für Atommüll im Weinland. Demonstrant Peter Weiller von der Organisation Klar sagte: "Wir wollen kein Endlager im Weinland, sondern den Ausstieg aus der Atomenergie." Die Demonstration fand anlässlich einer Informationsveranstaltung des Bundesamtes für Energie über das weitere Auswahlverfahren für mögliche Endlager statt.

 Diese Veranstaltung wurde dann auch mehrmals gestört. Im Saal machten sich Atomkraftgegner bemerkbar, ein Protestredner, der die Diskussionsrunde störte, wurde von verärgerten Zuhörern unterbrochen.

 Das Weinland ist eines von sechs möglichen Tiefenlagern in der Schweiz für radioaktive Abfälle. Die Region eignet sich gemäss Experten des Bundes sehr gut als Endlager. (fim) lSeite 25

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Vom Versuch, ein Endlager zu verkaufen

 Florian Imbach

 2018 wird der Bundesrat entscheiden, ob im Weinland ein Lager für atomare Abfälle gebaut wird. Am Mittwoch informierte das zuständige Bundesamt und wurde lautstark empfangen.

 Trüllikon - Gelbe Leibchen und Mützen beherrschten das Bild. Etwa 40 Demonstranten warteten mit Trommeln und Protestschildern vor der Mehrzweckhalle. Das Bundesamt für Energie hatte die Bevölkerung eingeladen und holte sich damit auch viel Protest ins Haus. Das Amt selbst hielt sich an diesem Abend dezent zurück. Die Referate überliess man den Regierungsvertretern vor Ort, Markus Kägi (SVP) für Zürich und Kaspar Schläpfer (FDP) für den Thurgau. Mit der Benkemer Gemeindepräsidentin Verena Strasser kam auch eine Vertreterin der betroffenen Gemeinden zu Wort.

 Bekenntnisse der Vertreter

 Die Referenten gaben sich betont einig und erklärten den etwa 130 Zuhörerinnen und Zuhörern, wieso sie das vom Bund skizzierte Verfahren (siehe Kasten unten rechts) unterstützten. Kägi wiederholte zwar die offizielle Haltung der Zürcher Regierung: "Wir sagen Nein zu einem Tiefenlager im Kanton Zürich." Auffallend häufig sprach Kägi aber davon, dass die Sicherheit oberste Priorität habe: "Wenn ein Standort gefunden wird, sollte dies der sicherste sein."

 Festlegen auf ein "Ja" oder "Nein" zu einem Tiefenlager wollte sich der Thurgauer Kollege Schläpfer nicht: "Wir stehen in der Verantwortung. Aber alle Standorte sollen mit gleichen Massstäben bewertet werden." Sowohl Kägi, als auch Schläpfer baten die Zuhörer, Eingaben zu machen und sich am Verfahren zu beteiligen.

 Wie viel diese Beteiligung, die vom Bund vorgesehen ist, wirklich bringt, konnte an diesem Abend aber nicht geklärt werden. Verena Strasser, Gemeindepräsidentin von Benken, sagte: "Wirksam mitreden können wir bei diesem Verfahren nur bedingt." Dieser Feststellung wollte auch Werner Bühlmann vom Bundesamt für Energie nicht widersprechen. Er sagte: "Am Schluss braucht es einen Entscheid und die Entscheidungskompetenz liegt beim Bund." Aber: "Wir brauchen die Unterstützung des Kantons und der Gemeinden." Dass es ohne die Unterstützung des Kantons nicht geht, stellte auch Kägi fest. In der Diskussionsrunde sagte er: "Wir reden mit, das kann ich Ihnen versichern. Der Kanton hat eigene Experten und wir schauen dem Bund genau auf die Finger."

 Gegner verlassen den Saal

 Protest gegen das Verfahren kam von der Vereinigung "Klar", die den Ausstieg aus der Atomenergie fordert. Die organisierten Gegner marschierten vor Beginn der Podiumsdiskussion an den Teilnehmern vorbei, hielten kurz ihre Schilder hoch, verliessen danach den Saal und markierten so ihren stummen Protest. Vorstandsmitglied Peter Weiller blieb im Saal und meldete sich in der Diskussion zu Wort: "Wir reden hier über Verfahrensfragen, dabei können Sie nirgends auf der Welt irgendeinen Ort finden, der als Endlager sicher ist."

 Weitere emotionale Momente blieben nicht aus. Ein Atomkraftgegner aus Deutschland startete einen minutenlangen Dialog. Die Behörden- und Regierungsvertreter standen hilflos am Podium und wussten nicht, wie ihnen geschah. Erst durch das Eingreifen mehrerer Gäste im Saal gab der Votant das Mikrofon zurück. Eine Frau meldete sich zu Wort und fragte: "Was hier veranstaltet wird, ist reine Verwässerung. Ein Atomlager bedeutet doch Gefahr, wieso hören wir hier nichts von Gefahren?" Worauf Markus Fritschi, Geschäftsleiter der Nagra, antwortete: "Sie haben recht, wir reden hier nicht von kompostierbaren Abfällen." Die atomaren Abfälle seien da, sie an der Oberfläche zu halten, berge die grösste Gefahr.

 Diverse weitere Votanten aus dem Publikum wollten mehr über die Sicherheit wissen, selten wurde die Frage konkret beantwortet. So fragte eine Zuhörerin, was denn passiere, wenn verseuchtes Material in den Rhein austrete. Bühlmann vom Bundesamt für Energie antwortete, dass es keine absolute Sicherheit gäbe: "Die grösste Sicherheit erreichen wir mit einem Tiefenlager."

 Eine Frau fragte sinngemäss, ob die Bevölkerung denn durch die anwesenden Podiumsteilnehmer vertreten sei. Schleierhaft schien ihr und anderen Votanten, wieso die Vertreter aus ihrer Region ihnen das Atommülllager schmackhaft machen wollen.

 FLORIAN IMBACH

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 Zürich Nord-Ost: Endlager im Weinland

 fim

 Das geplante Tiefenlager im Weinland ist für hochaktive und mittelaktive Abfälle ausgelegt. Direkt betroffen sind die sogenannten Standortgemeinden. Unter ihrem Gemeindegebiet wird das eigentliche unterirdische Lager gebaut. Weiter betroffen sind die Gemeinden im sogenannten Planungsperimeter. Auf ihrem Gebiet werden auf der Oberfläche Zugangsstollen und Bauten für den Transport und die Verpackung von radioaktivem Abfall gebaut. Zum Dritten gibt es laut Bundesamt für Energie weitere betroffene Gemeinden. Diese grenzen direkt an Gemeinden im Planungsperimeter an und sind beispielsweise wirtschaftlich eng verbunden. Mit Transporten von radioaktiven Elementen per Zug ist laut Bundesamt für Energie bei hochaktiven Abfällen monatlich und bei mittelaktiven Abfällen wöchentlich zu rechnen. (fim)

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 Zum Schluss entscheidet das Volk über den Standort

 fim

 In zehn Jahren, im Jahr 2020, wird das Volk voraussichtlich über die vom Bundesrat bestimmten Standorte abstimmen. Zurzeit läuft Etappe 1, in der sechs mögliche Regionen evaluiert werden. In dieser Phase soll in jeder Region eine eigene Bürgerplattform entstehen, die zusammen mit Bund und Kanton die zukünftige Gestaltung des Standortes plant.

 Zum Schluss dieser Phase, voraussichtlich Mitte 2011, entscheidet der Bundesrat definitiv, mit welchen der sechs Regionen weitergeplant wird. Wahrscheinlich scheint, dass danach vier bis sechs Regionen weiter im Rennen bleiben. In Etappe 2 werden zusammen mit den Bürgerplattformen in jeder Region ein oder mehrere mögliche Standorte geplant.

 Etwa 2015 entscheidet sich der Bundesrat für je mindestens zwei Standorte für hochaktiven Abfall und zwei Standorte für mittelaktiven Abfall. Diese können auch kombiniert werden. Die Region Weinland ist nebst Lägeren und Bözberg für eine solche Kombination vorgesehen. In Etappe 3 werden die letzten Modalitäten mit den betroffenen Regionen ausgehandelt und per 2018 wird das Verfahren mit dem Gesuch der Nationalen Genossenschaft für die Entsorgung radioaktiver Abfälle Nagra für ein Lager für hochaktiven und eines für mittelaktiven Abfall (oder ein Kombi-Lager) abgeschlossen.

 Das Parlament muss die Standortwahl gutheissen und höchstwahrscheinlich wird das Referendum ergriffen. Wodurch am Schluss das Volk das letzte Wort haben wird. (fim)

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Bund 10.9.10

Ein Endlager gibt es weltweit noch nicht

 Und wohin mit dem strahlenden Abfall?

 Abgebrannte Brennstäbe müssen für 250 000 Jahre sicher gelagert werden.

 Erika Burri und Walter Jäggi

 Es gibt kein Endlager für hoch radioaktiven Abfall. Nirgendwo auf der Welt. Es müsste eine Höhle sein, die so sicher ist, dass auch dann nichts passiert, wenn sich die Menschheit längst nicht mehr erinnert, dass da etwas ist. Dass es so etwas wie Atomkraftwerke überhaupt einmal gegeben hat. 250 000 Jahre müssen abgebrannte Brennelemente mit dem tödlichen Uran und den durch die Spaltung entstandenen Transuranen gelagert werden, bis sie für die Menschheit keine Bedrohung mehr sind. 250 000 Jahre - niemand weiss, was in dieser Zeit alles geschieht. Ein Endlager muss Erdbeben trotzen, sicher sein vor Meteoriteneinschlägen. Hätten die Babylonier vor 4000 Jahren auf dem Gebiet des heutigen Irak ein Endlager errichtet, es wäre bereits zweimal von Kriegen und schwerer Artillerie erschüttert worden.

 320 000 Tonnen Brennelemente haben die Atomkraftwerke dieser Welt bereits abgebrannt. 225 000 Tonnen warten in Zwischenlagern auf eine endgültige Lösung. In Holland gibt es ein Lager, in dem die Abfälle für die nächsten 100 Jahre sicher aufbewahrt sein sollen, anderswo wird mit kürzeren Fristen gerechnet - in der Hoffnung, dass bald bessere Aufbereitungstechniken oder definitive Lagerstätten gefunden werden.

 Je länger die Kraftwerke in Betrieb sind, desto mehr Müll sammelt sich. Zu den hoch radioaktiven Abfällen kommen grosse Mengen von mittel und schwach radioaktiven hinzu. Früher verschwanden die Fässer mit radioaktivem Material hauptsächlich in den Tiefen der Ozeane. Auch die Schweiz entledigte sich so des Übels. Dies hat die UNO jedoch 1993 weltweit verboten.

 Seither wird intensiver über Endlager nachgedacht. Probebohrungen finden in den meisten Ländern statt. Aber nur wenige Staaten haben bereits definitive Standorte festgelegt. Am weitesten sind Schweden und Finnland. Im Boden von Olkiluoto, einer Insel an der finnischen Westküste, werden demnächst im kristallinen Gestein Tunnel ausgehöhlt. Hier soll das weltweit erste Endlager ab 2018 abgebrannte Brennstäbe für Jahrtausende aufnehmen.

 Auch die USA hätten einen 2001 vom Kongress bewilligten Standort in Yucca Mountain, Nevada. Präsident Barack Obama aber will diese Option nicht weiterverfolgen und hat dem anhaltenden Widerstand der Paiute-Indianer und den Experten, die den Standort für nicht sicher halten, nachgegeben. Nun werden Alternativen gesucht.

 Hoffen auf neue Technik

 Viele offene Fragen gibt es auch zur Aufbereitung der radioaktiven Abfälle, insbesondere in Russland und anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Wo letztlich das gefährliche Material landet, ist in vielen Fällen unklar. Auch was in der Nuklearbranche etwa in China, Indien, Pakistan oder Israel geschieht, ist höchst undurchsichtig. Terrorexperten befürchten denn auch, dass radioaktives Material in falsche Hände gelangen könnte.

 Die immer grösser werdende Müllhalde an hoch radioaktivem Material stellt die Atomtechnologie infrage. Förderer in Wissenschaft, Industrie und Stromwirtschaft unternehmen grosse Anstrengungen, mit technischen Mitteln das Problem in den Griff zu bekommen. Viele Hoffnungen ruhen auf der sogenannten Transmutation. Dabei werden radioaktive Atome aus den abgebrannten Brennelementen mit Strahlen beschossen, sodass sie in kleinere Teilchen zerfallen. Diese würden dann weniger lang strahlen, und es dauerte nur etwa 1000 statt 250 000 Jahre, bis sie nicht mehr von natürlichem Gestein unterschieden werden könnten. Eine Zeitspanne, die sich im historischen Massstab einigermassen überblicken lässt.

 Ob die Transmutation funktioniert und bezahlbar sein wird, kann heute noch niemand sagen. Die neue Technik wird erst bei der vierten Generation der Atomreaktoren in frühestens 20 Jahren zum Einsatz kommen.

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reformiert/Kirchenbote ZH 10.9.10

Ethische Bedenken gegenüber Benken

 Endlager/ Eine ethische Standortbestimmung zu dem Atomlager-Projekt im Zürcher Weinland.

 Die Schöpfung bewahren - das ist das Thema, für das sich Ruedi Waldvogel, Pfarrer in Osterfingen SH, schon lange engagiert. Auch beim Bauerngottesdienst im Juni auf dem Rossberg. Hier will die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) in den Opanlinuston-Schichten nach einem geeigneten Standort für ein Lager für schwach und mittel radioaktive Abfälle suchen. Nach den Worten des atomkritischen Pfarrers Waldvogel soll hier "das Giftigste gelagert werden, was wir der Schöpfung mit unserem Hunger nach Energie zumuten: Atommüll."

 Undemokratisch. Acht Kilometer Luftlinie vom Rossberg entfernt, in Benken, findet Pfarrerin Tünde Basler-Zsebesi ebenfalls harsche Worte, dass ausgerechnet in der "kleinräumigen und dicht besiedelten Gegend" um Benken die Nagra nach einem Standort für hoch radioaktiven Abfall sucht. Von der Kanzel aus, wie ihr Kollege Waldvogel, will sie hingegen die Nagra nicht angreifen. Vielleicht ist dies für Benken typisch: Massiver Widerstand gegenüber einem möglichen Tiefenlager für den hoch radioaktiven Abfall erwächst dort nicht. "Die meisten hier in Benken sind nach so vielen Jahren das Thema leid und haben resigniert", sagt die Pfarrerin.

 Für Heini Glauser, Mitinitiator der politischen Abendgottesdienste in Zürich und früherer Greenpeace-Präsident, hat die Resignation auch einen Grund. "Das Verfahren der Nagra lässt keine echte Bürgerbeteiligung zu", sagt er. Denn 2005 entzog das neue Atomgesetz den Kantonen alle Entscheidungsrechte. Seither liegt bei der Standortfrage für ein geologisches Endlager der Ball ausschliesslich auf Bundesebene. Für Glauser ist klar: Ergebnisoffen werde erst nach einer Lösung gesucht, wenn die Schweiz aus der Atomenergie aussteige. "Gegenwärtig dient der Entsorgungsnachweis nur als Alibi, um neue Atommeiler zu ermöglichen."

 Dilemma. Ganz anders argumentiert die Erlenbacher Pfarrerin Gina Schibler in der Zeitschrift "Aufbruch". Im Zeichen des drohenden Klimawandels sieht sie in der CO2-armen Kernenergie das kleinere Übel. Den geringen Ausstoss von CO2-Emissionen lässt auch Otto Schäfer als einen Vorteil der Kernenergie gelten; er ist Ethiker beim Institut für Theologie und Ethik des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds. Trotzdem macht er sich für einen raschen Ausstieg aus der Kernenergie stark - auch wegen der problematischen Endlagerung des radioaktiven Abfalls. Die Spanne von einer Million Jahren - so lange dauert es, bis hoch aktiver Atommüll nicht mehr strahlt - sei ein ethisch nicht lösbares Dilemma. Weder könnte die gesellschaftliche Weiterentwicklung der Menschheit prognostiziert noch die geologischen Veränderungen der Erde in den Felsenlabors mit einer gewissen Präzision simuliert werden. Aus ethischer Sicht hält Schäfer es für bedenklich, die ungewissen Folgen der Endlagerung an künftige Generationen weiterzureichen, "ohne, dass diesen ein Nutzen daraus entsteht". Phobie. Hier hakt Stefan Burkhard, Pfarrer aus Wettingen und Präsident der Arbeitsgruppe Christen und Energie, ein. Er schliesst nicht aus, dass "spätere Generationen auf den radioaktiven Abfall als wertvollen Rohstoff" zurückgreifen würden. Zudem sei die Debatte von Emotionen geprägt, die teilweise an "eine Phobie grenzen": "Die Strahlenbelastung eines Tiefenlagers oder eines Kernkraftwerks wie Leibstadt liegt 1000 Mal tiefer als die natürliche Strahlung in vielen Gebieten Europas."  

Delf Bucher

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Kommentar

 Der atomare Sündenfall

 Delf Bucher  ist "reformiert."-Redaktor in Zürich

 Erlöst von Hiroshima? Die Schöpfung hat es klug eingerichtet. Der grösste Atomreaktor unseres Planetensystems, die Sonne, ist weit von uns entfernt. Der Atommüll bleibt oben, nur die Energie für das Leben kommt zu uns hinunter. Aber schon die Geschichte von Adam und Eva zeigt: Seit jeher wollten die Menschen die Ordnung der Schöpfung nicht auf sich beruhen lassen. Der Griff nach der verbotenen Frucht vom Baum der Erkenntnis ist ein Bild dafür, wie der Mensch schrankenlos und mit immer neuen Erkenntnissen Kräfte entfesselt. Am vorläufigen Endpunkt der Entwicklung steht die zivile Nutzung der Atomkraft. Vielleicht war hier in den 1950er-Jahren sogar noch das Streben spürbar, den grossen Sündenfall des Atombombenabwurfes von Hiroshima und Nagasaki wiedergutzumachen. Der Inbegriff des Zerstörerischen sollte zum Segen der Menschheit genutzt werden.

 Lösungswort. Aber die Berge von Atommüll wuchsen. "Opalinuston" heisst das aktuelle Lösungswort der Nagra-Geologen. In Skandinavien lautet es "Granit" und in Deutschland "Salzstöcke". Doch das schein-bar sichere Salzstock-Endlager-konzept wurde rasch entzaubert. Vor zwei Jahren kam ans Licht, dass Wasser in das Atomlager in Asse ein-gebrochen ist.

 Unlösbar. Gestehen wir es uns de-mütig ein: Die Frucht vom Baum der Erkenntnis hat uns Menschen - zum Glück - nicht gottgleich gemacht. Kein Mensch wird garantieren können, dass der Atommüll über eine Million Jahre sicher im Endlager ruhen wird. Was tun? Selbst ein Aus-stieg aus der Atomkraft ermög-licht keine Lösung des Unlösbaren. Immerhin würde so der strahlende Müll nicht mehr zunehmen.

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NZZ 10.9.10

Von finnischen AKW-Querelen lernen

 Eidgenössisches Nuklearsicherheitsinspektorat diskutiert Übernahme ausländischer Lizenzen für neue Reaktoren

 In Finnland zahlt die AKW-Branche derzeit Milliarden an Lehrgeld, um einen neuen Reaktor zu erstellen. Die Schweizer Sicherheitsbehörde klärt nun ab, inwieweit dabei angewandte Sicherheitstests auch hierzulande gelten können.

 Davide Scruzzi, Rauma

 Das Mekka der AKW-Branche liegt an der finnischen Westküste, auf einer kleinen Halbinsel namens Olkiluoto, mitten in einer wunderschönen Landschaft. Hier, unweit der Kleinstadt Rauma, stehen zwei Atomkraftwerke, ein Zwischenlager für abgebrannte Brennstäbe und ein Endlager für schwach- und mittelaktive Abfälle. Zudem ist ein Lager für hochaktive Abfälle geplant. Seit 2005 wird auf der Halbinsel auch an einem neuen Reaktor vom Typ EPR gebaut. Ein weiterer Neubau ist bereits beschlossen - im Gegensatz zur Schweiz ist dazu kein Volksentscheid nötig. Die Dimensionen der neuen Kraftwerks-Generation sind eindrücklich: Allein das gegen Flugzeugabstürze gesicherte Reaktorgebäude hat eine Höhe von 70 Metern. In einer Halle daneben steht der grösste Turbinen-Generator-Block, der je gebaut worden ist. Das Werk soll ungefähr ab 2013 eine Nettoleistung von 1600 Megawatt einspeisen, etwa 50 Prozent mehr als das grösste Schweizer AKW in Leibstadt. Bis zu 3500 Personen arbeiten auf der Baustelle. Doch dieser Tempel der Ingenieurskunst löst nicht bloss Staunen aus. Das neue Kernkraftwerk von Olkiluoto sorgt aufgrund von Kosten- und Terminüberschreitungen auch für Negativschlagzeilen. Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) verfolgt die Arbeiten in Finnland aufmerksam und bereitet sich schon jetzt auf die entsprechenden Baugesuche für neue Schweizer AKW vor. Gerade auch Kostenabwägungen zwischen der Atomkraft und allfälligen Alternativen dürften in der Schweizer AKW-Debatte im Übrigen eine wichtige Rolle spielen, sagt Roland Bilang. Er ist Geschäftsführer des Nuklearforums Schweiz (früher: Schweizerische Vereinigung für Atomenergie).

 Streit um Kosten

 Das Nuklearforum lud vor einigen Tagen eine Gruppe Journalisten nach Finnland ein. Die Probleme rund um das neue AKW kamen dabei natürlich zur Sprache. Weder vom finnischen Stromunternehmen TVO noch vom französischen Lieferunternehmen Areva NP werden genaue Zahlen über die Kostenstruktur gemacht. Gemeinhin wird von einem Fixpreis von drei Milliarden Euro ausgegangen, während mittlerweile Zusatzkosten von zwei und mehr Milliarden genannt werden - welche, laut TVO, Areva zu tragen hat. Der gemeinsame Auftritt von Vertretern der beiden Unternehmen vor der Journalistengruppe mutete am letzten Montag jedenfalls so kalt an wie ein finnischer Winter, und die knappen Formulierungen liessen die juristischen Konflikte erahnen: Areva klagt gegen seinen Kunden TVO, unter anderem weil dieser bei der Genehmigung der Dokumentationen getrödelt habe. Umgekehrt hat TVO ebenfalls eine Klage in Milliardenhöhe gegen den französischen Konzern wegen Bauverspätungen eingereicht.

 Während AKW-Gegner die Probleme rund um Olkiluoto als Argumente gegen neue Anlagen ins Spiel bringen, führen Areva und auch viele Schweizer Kernenergie-Fachleute aus, dass es sich bei den jahrelangen Verzögerungen letztlich um das Resultat einer Phase handle, in welcher in Europa keine neuen Werke erstellt worden seien, und nun wieder Erfahrungen gesammelt werden müssten.

 Auf Herstellerseite heisst es, dass ein grosser Teil der Verspätungen auch auf anfängliche Probleme mit Zulieferern zurückzuführen seien. Zum Teil seien diese nicht vollständig mit allen formalen Prozeduren des nuklearen Regelwerks in Finnland vertraut gewesen. So habe man etwa die Betonmischung aus baupraktischen Gründen punktuell leicht verändert, was eine neue Genehmigung erforderlich machte. Auch etwa beim Schweissen gelten für AKW Dokumentationsvorschriften, welche über den gängigen Industrienormen liegen und die Zulieferer für Olkiluoto bisweilen nicht auf Anhieb erreichten. Die Anlage erfüllt aber gemäss Areva "alle Anforderungen an Qualität und Sicherheit".

 Ein wichtiges Argument in der Schweizer AKW-Debatte ist freilich gerade für Wirtschaftskreise die Beteiligung inländischer Firmen. Das Nuklearforum will im Hinblick auf einen AKW-Neubau Unternehmen schon bald im Rahmen von Tagungen auf die speziellen Branchennormen hinweisen. Das Ensi bereitet sich als Sicherheitsbehörde ebenfalls auf die Baugesuche vor, die nach einem Ja bei der AKW-Abstimmung nach 2013 eingereicht würden. Umgerechnet sieben "Mannjahre" werden bei der Behörde 2010 dafür eingesetzt. Es geht um die Ausgestaltung des Genehmigungsverfahrens und um das Sammeln von Informationen - eine eigentliche Prüfung findet erst statt, wenn sich die Stromfirmen für einen Reaktortyp entscheiden. Auf Wunsch von AKW-Lieferanten sind beim Ensi in Brugg auch schon Seminare durchgeführt worden, um Ensi-Mitarbeiter weiterzubilden. Auch die Kontakte zu den finnischen und den französischen Sicherheitsbehörden sind intensiv.

 Wichtiger Hochwasserschutz

 Noch abgeklärt wird die Frage, inwieweit Erkenntnisse ausländischer Sicherheitsbehörden, ja allenfalls ganze Lizenzierungen, übernommen werden, sagt Ensi-Mediensprecher Anton Treier. Andernfalls wären die Prüfarbeiten umfangreicher. Vermutlich werden die neuen Schweizer Anlagen, wie die drei im Oktober erscheinenden Ensi-Berichte zu den drei Rahmenbewilligungsgesuchen aufzeigen dürften, spezielle Anforderungen im Bereich Hochwasserschutz aufweisen müssen. Dies würde dann spezifische Analysen zur Folge haben. Nachrüstungen aufgrund technischer Fortschritte oder neuer Erkenntnisse kann das Ensi auch nach der Fertigstellung in den 2020er Jahren im Rahmen der Betriebsbewilligung verlangen oder auch später einfordern. Bereits beim Bau des AKW Leibstadt ergaben sich in den 1980er Jahren durch solche Nachrüstungen Mehrkosten. - Obwohl die hiesigen Stromfirmen von Erfahrungen im Ausland profitieren, stellt also jedes Projekt eine neue Herausforderung dar.

 Mehrere Typen

 Der derzeit in Olkiluoto im französischen Flamanville und im chinesischen Taishan in Bau befindliche EPR-Reaktor ist keineswegs der einzige mögliche Typ für den Ersatz von Schweizer AKW. Der EPR ist ein Druckwasserreaktor - der Reaktor-Kühlkreislauf ist dabei vom Kreislauf für den Turbinen-Betrieb getrennt. Nach diesem Prinzip funktionieren auch der APWR von Mitsubishi, der APR 1400 von Korea Hydro & Nuclear Power sowie der AP 1000 von Westinghouse. Weiterhin im Gespräch sind Siedewasserreaktoren, die einen einzigen Wasserkreislauf aufweisen. Dazu gehören der ESBWR von General Electric und Hitachi sowie der ABWR von Toshiba-Westinghouse. Grundsätzlich entsprächen alle diese Typen den höheren Sicherheitsanforderungen der dritten Reaktor-Generation, sagt Jörg Starflinger vom Karlsruher Institut für Technologie. Bei der Auswahl ständen neben Preis und elektrischer Leistung auch die künftigen Unterhaltsarbeiten im Vordergrund. So seien bei Druckwasserreaktoren die Arbeiten an Turbinen einfacher, weil diese nicht im Strahlen-Bereich ständen. Hingegen seien Siedewasserreaktoren technisch simpler und ihre Leistung könne leichter mit den internen Pumpen reguliert werden. Besondere Sicherheitselemente des EPR wie die Auffangvorrichtung für den bei einem schweren Störfall schmelzenden Reaktorkern gebe es auch bei anderen Typen.

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Bund 10.9.10

Die starke Rückkehr der Atomenergie

 "Atomkraft? Nein danke": Der Slogan war gestern. Heute brummt die Atomenergie weltweit. Selbst Länder wie Schweden fordern den Ausstieg vom Ausstieg.

 Alain Zucker

 An der ETH beginnt der Aufschwung langsam. Den ersten Masterstudiengang für Nuklearingenieure haben 11 Kandidaten abgeschlossen, den zweiten 13, und im dritten, der jetzt dann beginnt, könnten es 16 werden. Doch ihre Aussichten, dereinst einen guten Job zu finden, sind ausgezeichnet. Die totgesagte Kernenergie erlebt weltweit eine Renaissance, und weil die Ausbildung von Atomingenieuren in Westeuropa wegen unsicherer Aussichten lange vernachlässigt wurde, sind sie gesuchte Leute.

 Dass Deutschland diese Woche beschlossen hat, die Laufzeiten seiner Atomkraftwerke zu verlängern, ist nur eine Randerscheinung des globalen Atombooms. 59 Atommeiler sind weltweit im Bau, darunter die ersten, die zur dritten Generation gehören, und das Uran effizienter, also mit weniger Abfall, in Strom umwandeln sollen. 500 weitere sind gemäss dem Branchenverband World Nuclear Association in Planung oder vorgesehen und sollen bis 2030 betriebsbereit sein. Die Unternehmensberatung Arthur D. Little erwartet bis 2030 ein jährliches Wachstum von durchschnittlich zehn Prozent bei der Inbetriebnahme neuer Reaktoren - die meisten davon in Schwellenländern wie China, Indien und Russland.

 Aber auch in Westeuropa, wo der Widerstand gegen die Atomkraft eine ganze Generation politisierte, zeichnet sich ein Umdenken ab. Einige der heutigen Kernkraftwerke nähern sich dem Ende ihrer Lebenszeit, und bisher können die erneuerbaren Energien die drohende Stromlücke nicht füllen. Grossbritannien hat deshalb den Bau acht neuer Atommeiler beschlossen, Polen will überhaupt erst einsteigen, und in Schweden und in Italien propagieren die Regierungen den Ausstieg vom Ausstieg.

 "Heute werden mehr Atommeiler gebaut als je zuvor in den vergangenen 20 Jahren", sagt Hans-Holger Rogner von der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA). Die erste Generation wurde vor 40 bis 60 Jahren gebaut, doch seit die zweite Generation in Betrieb ist, blieb die Zahl der Kernkraftwerke stabil - 441 Reaktoren sind es heute. Ihr Anteil an der globalen Stromproduktion liegt bei 15 Prozent. Am höchsten ist er in Westeuropa. Da liegt die Schweiz mit 40 Prozent im vorderen Mittelfeld. Auf Platz eins liegt Frankreich (75%). Schlusslicht ist China, das erst 2 Prozent seiner Elektrizität nuklear gewinnt.

 Womit klar ist, wo das grosse Wachstumspotenzial liegt. Von den 48 neuen Anlagen der vergangenen Dekade stehen 36 in Asien. China allein baut derzeit 24 neue und will den Atomstrom in zehn Jahren verachtfachen. Konkurrenz machen den Asiaten die Russen, die zehn Meiler bauen und den Nuklearanteil beim Strom auf 30 Prozent verdoppeln wollen. "Zu Öl und Gas gibt es nur eine starke Alternative - das ist die Atomenergie", sagt der russische Regierungschef Wladimir Putin.

 Atomenergie als Energieträger der Zukunft? Die World Nuclear Association geht in ihrem Szenario für das laufende Jahrhundert mindestens von einer Verfünffachung der heutigen nuklearen Produktion aus. Doch die Voraussagen der Industrie sind insofern mit Vorsicht zu geniessen, als unklar ist, ob all die Reaktoren, die in Westeuropa in den nächsten Dekaden vom Netz gehen, wirklich ersetzt werden. Das hängt vor allem von den politischen Rahmenbedingungen ab, die zum wichtigsten Risikofaktor geworden sind für die vier grossen Baukonsortien der Branche: Toshiba-Westinghouse, die französische Areva, GE-Hitachi und die russische Rosatom, die mit Siemens kooperiert. Immerhin kosten Planung und Bau eines neuen Reaktors mehrere Milliarden Franken und dauern über zehn Jahre.

 Doch während Atomkraftgegner für Westeuropa und die USA noch immer darauf hoffen können, dass sich der Anteil der Kernkraft verringern wird, lässt die explodierende Energienachfrage Ländern in anderen Weltgegenden keine Wahl. Der globale Elektrizitätsbedarf wird gemäss IAEA bis 2030 um 50 bis 75 Prozent steigen, vornehmlich wegen des Wachstums in den Schwellenländern. Die Kernkraft ist dabei nur einer der Energieträger, die dazu beitragen sollen, dieses Wachstum zu bewältigen - bis heute übrigens in einem viel geringeren Ausmass als die Kohle. Sofern die Schwellenländer überhaupt gewillt sind, etwas gegen den Klimawandel zu tun, setzen sie auf Atomkraft, um ihre Abhängigkeit von der Kohle und damit die C02-Emissionen zu reduzieren.

 Atomkraft als grüne Technologie: Dies muss allen, die sich einst während der Anti-AKW-Proteste an Eisenbahnschienen anketten liessen, als Ironie der Geschichte erscheinen. Doch heute gilt Atomstrom auch bei vielen Finanzanlagen als umweltfreundliche Investition. Und Horst-Michael Prasser, Professor für Kernenergiesysteme an der ETH Zürich, erklärt den Erfolg der Kernenergie unter anderem mit der "Ökobilanz, die unter dem Strich gut ist".

 Vergessen ist heute die Katastrophe von Tschernobyl, als nach einer Kernschmelze weite Teile der heutigen Ukraine, aber auch Weissrusslands und Russlands radioaktiv verseucht wurden. Weil es in etwa 14 000 Erfahrungsjahren nur zu zwei Unfällen mit Zerstörung des Reaktorkerns kam, spricht die Atombranche heute von einem "Restrisiko" - und das ist positiv gemeint. So liefern Sicherheitsanalysen der Hersteller bei Kraftwerken, die heute gebaut werden, Wahrscheinlichkeiten einer Kernschmelze pro Anlage von weniger als ein Mal in einer Million Jahre. Das heisst, dass ein solcher Reaktor mit 99,99-prozentiger Sicherheit keinen Störfall haben sollte. Und wenn, müssten die neuen Technologien die Radioaktivität im Reaktorgebäude einschliessen.

 Reicht das Uran?

 Gleichzeitig tüfteln die Atomforscher an einer neuen Generation von Reaktoren, die frühestens ab 2030 ihren Betrieb aufnehmen können. Sie sollen den Brennstoff effizienter nutzen und vor allem die Mengen der langlebigen Bestandteile im hochaktiven Abfall reduzieren, der in geologischen Tieflagern entsorgt wird (vgl. Beitrag links).

 "Atomkraft? Nein danke!": Der Slogan war gestern. Heute brummt die Atomindustrie - trotz jahrzehntelangen Kampfs westeuropäischer Atomkraftgegner. Ihnen bleibt die Hoffnung, dass sie nochmals gegen ihre Regierungen mobilisieren können, die neuen Gefallen am Atomstrom gefunden haben. Immerhin prophezeien Experten wie der Naturwissenschaftler Daniel B. Botkin, dass dem Boom der Treibstoff ausgehen könnte. Nimmt man nur die geschätzten Uranvorkommen, die man zu den jetzigen Preisen für abbaubar hält, reicht der Vorrat beim heutigen Verbrauch und der heutigen Technologie (die jedoch immer effizienter wird) nur noch 250 Jahre.