MEDIENSPIEGEL 13.9.10
(Online-Archiv: http://www.reitschule.ch/reitschule/mediengruppe/index.html)
Heute im Medienspiegel:
- Reitschule-Kulturtipps (Rössli, DS, GH)
- Reitschule bietet mehr: Erich + Müslüm;
Abstimmungsbeschwerdemüll; Partei-Parolen
- Bewegungsmelder bietet mehr: BZ vs Splitternackte
- Rabe-Info 13.9.10
- Stadtrat 16.9.10: Wildwest-Kapitalismus vor Reitschule
- Migration Control: Alleine in Griechenland
- Sans-Papiers: Berufslehren im Ständerat
- Statistik-Krimi: Kriminalstatistik 2009 - "Rasse" statt "Klasse"?
- Ausschaffungen: Blockade
- Weggesperrt: Entschuldigung an administrativ Versorgte
- Hungerstreikerklärung von 4 ÖkoanarchistInnen
- Burgdorf: RAT-Bar bleibt geschlossen
- Police BE: bessere Arbeitsbedingungen vonnöten
- Police CH: Öffentlicher Raum als Konfliktpunkt
- Alkverbot: unpopulär; kleinkarikiert; GE-tauglich
- Drogen: Scheinkauf-Verbot-Drama
- "Gasse"-Rundgang Solothurn
- Big Brother Sport: Hooligangesetz in Kraft
- Anti-Atom: Kosten Neubau; Tiefen-/Endlager; Aktion Graben;
Konsultativabstimmung LU
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REITSCHULE
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Mo 13.09.10
20.30 Uhr - Tojo - Influx Controls von Boyzie Cekwana
(Biennale Bern)
Di 14.09.10
20.30 Uhr - Kino - Uncut - Warme Filme am
Dienstag, siehe
Tagespresse
Mi 15.09.10
17.00 Uhr - Reitschule - Öffentliche Führung
durch die
Reitschule (Treffpunkt beim Tor)
19.00 Uhr - SousLePont - Madagaskar Spezialitäten
20.00 Uhr - Grosse Halle - Sextett Travesias &
Jugendorchester mit
Jugendchor Escuela Paulita Concepción (Havanna, Cuba)
20.30 Uhr - Tojo - .random . . von/mit Jonas Althaus,
Jonglage, Tanz
& elektronische live Musik
Do 16.09.10
19.30 Uhr - Kino - TATORT REITSCHULE: Mörder auf
Amrun, Markus
Imboden, D 2009, 90 Min., in Anwesenheit von Markus Imboden
20.00 Uhr - Frauenraum - Play Yourself - offene
Bühne und
Improvisation, von Frauen für Frauen
20.30 Uhr - Tojo - .random . . von/mit Jonas Althaus,
Jonglage, Tanz
& elektronische live Musik
21.00 Uhr - Rössli - Labrador City (CH), Venetus
Flos (CH); DJ
Jane Vayne (CH, Broadband Spectrum) -
Folk/Disco-Elektro-Rock/Synth-Pop...
Fr 17.09.10
20.30 Uhr - Grosse Halle - Harakiri, Fritz Lang, D 1919,
Live-Musik:
Marco Dalpano, Bologna, Piano
20.30 Uhr - Tojo - .random . . von/mit Jonas Althaus,
Jonglage, Tanz
& elektronische live Musik
22.00 Uhr - Dachstock - Bonaparte (CH/GER) "My Horse
likes you"
Support: King Pepe (BE), DJ?s Ereccan & Dactylola (Raum) -
Electroclash, Pop, Trash
Sa 18.09.10
0-24 Uhr - ganze Reitschule - Abstimmungsfest
"Reitschule bietet mehr"
- siehe Tagespresse und www.reitschulebietetmehr.ch
16.00 Uhr - Grosse Halle - Tastentheater Schweiz: Die
kleinen Strolche
- Kino für die Ohren und Musik für die Augen, (The Little
Rascals, Hal Roach, USA 1923-1927) Vier Stummfilmepisoden mit Musik von
Leo Dick - Uraufführung
19.00 Uhr - SousLePont - Fein Essen!!!
20.30 Uhr - Tojo - .random . . von/mit Jonas Althaus,
Jonglage, Tanz
& elektronische live Musik
20.30 Uhr - Grosse Halle - The General, Buster Keaton,
USA 1926, mit
Musica nel buio, Bologna
22.00 Uhr - Dachstock - Abstimmungs-CD Taufe "Reitschule
beatet mehr"
mit: Tomazobi, The Monsters, Müslüm & The Funky Boys,
Mani Porno, Baze, Kutti MC, Steff la Cheffe, Churchhill, Copy &
Paste feat. Bubi Rufener (Allschwil Posse), DJ Dannyramone
22.00 Uhr - Frauenraum - Electronic Floor mit
missBehaviour (Crash
Helmet Crew), Mastra, Berybeat live (Midilux), Brian Python
(Festmacher), Xylophee
22.00 Uhr - SousLePont - Lounge mit DJ Tomzoff
(70er/80er/90er/Mambo!)
So 19.09.10
20.00 Uhr - Grosse Halle - Glück - Reise nach
Bhutan Film und
Live-Musik, SMS from Shangri-La, Dieter Fahrer, CH 2009, Konzert und
Film: Susanna Dill, Regula Gerber, Mark Oberholzer, Gilbert Paeffgen,
Werner Wege Wüthrich
Infos:
http://www.reitschule.ch
http://www.reitschulebietetmehr.ch
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kulturstattbern.derbund.ch 13.9.10
Von Gisela Feuz am Montag, den 13. September 2010, um 07:00 Uhr
Kulturbeutel 37/10
Frau Feuz empfiehlt:
Besuchen Sie am Donnerstag das Rössli. Dort kann man das Tanzbein
zu Labrador City schwingen, einer musikalischen Wundertüte aus
Bern, die eine Mischung aus Indie-Rock, Surf-Pop, Elektro, Wave und
Folk bietet. Mit von der Partie ebenfalls Venetus Flos und im Anschluss
gibts Disko mit der ehrenwerte Madame Jane Vayne.
(...)
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20 Minuten 13.9.10
Am Samstag im Berner Dachstock
Gamebois: CD-Taufe mit Sekt und 15 Hits
BERN. Die Gamebois tauften am Samstag ihr Album "Loops" im
Dachstock. Sekt-Dusche, göttlicher Segen und gute Songs waren die
Highlights des Abends.
So viele Frauen stehen selten vor der Bühne im Dachstock.
Der Grund: Das Berner Duo Gamebois taufte dort seine Platte "Loops". 15
Soul-Nummern lang begeisterten Sänger Benjamin Kasongo und
Produzent Fabio "Pablo" Friedli das nicht ganz gefüllte
Konzertlokal.
Die Platte wurde dabei ganz traditionell mit einem
Prosecco-Schauer begossen. Für den Lacher des Abends sorgte
hierbei Band-Manager und Chlyklass-Guru Baldy Minder. Angeheitert und
als Pfarrer verkleidet sprach er "Loops" vor der Sekt-Dusche seinen
göttlichen Segen.
Neben dieser Show-Einlage stand aber ganz klar die Musik im
Vordergrund. Die Gamebois spielten sowohl alte als auch neue
Stücke. Und die Fans freuten sich. Besonders gut kamen der
Band-Hit "If I Ever" und die Insel-Nummer "Life Is" an. War die Band am
Anfang noch etwas nervös, gewann sie mit der Zeit zusehends an
Lockerheit, so dass die Zugabe mit den Songs "SMS" und "All on You"
ebenfalls zu den Höhepunkten des Abends zählten.
Pedro Codes
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Bund 13.9.10
Genossen zum Geniessen
Sie waren noch nie im Ausland - und ihr Spiel ist eine
Offenbarung: 34 kubanische Kinder weilen derzeit in Köniz und
treten mit bekannten Schweizer Musikern auf.
Timo Kollbrunner
Wenn Lorenz Hasler seinen Dirigentenstock hebt, herrscht
augenblicklich Stille im Zingghaus in Köniz. Kein Mucks ist zu
vernehmen, bis der Dirigent mit einer ausladenden Geste den Einsatz
fürs erste Stück gibt - 34 Kinder zwischen neun und
fünfzehn Jahren singen los, blasen in die Trompete oder schlagen
auf Timbales, kubanische Trommeln. Kein falscher Ton ist zu vernehmen,
für den Laien zumindest, exakt gespielte, harmonische Klänge
dringen ans Ohr.
"Que buena musica", ruft Hasler nach dem Stück euphorisiert,
und seine Begeisterung ebbt auch im darauf folgenden Gespräch
nicht ab. Selbst bei fünfstündigen Proben seien die jungen
Kubaner bis zur letzten Minute konzentriert, schwärmt er. Dass
junge Menschen mit solch einer Professionalität und Begeisterung
zu Werke gehen, erlebe er bei hiesigen Jugendlichen nicht.
Der Violinist und Geigenlehrer, der den weltberühmten I
Salonisti angehört, sieht die Ursachen im sozialistischen System:
"In Havanna hängt kein Plakat, es gibt kein Privatfernsehen",
erzählt Hasler, der vor fünf Jahren erstmals in Kuba war.
Junge Kubaner müssten sich nicht konstant gegen Reize wehren,
ihnen bleibe "mehr Raum, um aktiv aufmerksam zu sein". Hinzu käme
das kubanische Bildungssystem: Nach zwei Schuljahren wird entschieden,
welche Richtung sich für die Kinder als Schwerpunkt empfiehlt.
Sport, Musik, bildnerisches Gestalten - jedes Kind kommt an den Ort, an
dem seine Talente am ehesten prosperieren könnten. Zum Wohle des
Landes. Halbtags Schule, halbtags Musikunterricht bedeutet das für
die Kubaner, die derzeit in Köniz sind.
"Die Strassen hier sind so leer"
Das Kammermusik-Sextett Travesías ("Überquerungen")
ist der Grund, weshalb die Kubaner in der Schweiz weilen. Die sechs
befreundeten Berufsmusiker - drei Schweizer, ein Argentinier, eine
Kubanerin und eine Schwedin - spielen seit drei Jahren zusammen
Stücke zu ausgewählten Gedichten, die sich mit Heimat und
Ferne beschäftigen. Für die Musik zeichnet ebenfalls ein
bekannter Name verantwortlich: der Berner Musiker Simon Ho. Eine Musik,
die "zwischen verschiedenen Musikrichtungen Brücken baut", wie
Hasler schwärmt. Im Bestreben, nicht nur zwischen Nah und Fern,
sondern auch zwischen Jung und Alt "Travesías" zu
ermöglichen, trat das Ensemble 2008 mit Könizer Jugendlichen
auf. Diesen Sommer dann spielte das Sextett in Havanna - mit den
Schülern der Escuela Paulita Concepión aus El Cerro, einem
ärmlichen Stadtteil der kubanischen Kapitale. Nun findet das
"Rückspiel" in der Schweiz statt.
Zum ersten Mal raus aus Kuba, erstmals in einem Flugzeug und nun
in Köniz: Geradezu erschlagend müssen all diese
Eindrücke auf die jungen Kubaner wirken. "Die Strassen hier sind
so leer", staunt die 14-jährige Sängerin Katharina Rodrigez
Perez nach der Probe. Der 15-jährige Bläser Roberto Sanchez
zeigt sich beeindruckt von den modernen Autos und den kunstvoll
gebauten Häusern. Und Jean-Pierre Chicoy Duque erzählt vom
mulmigen Gefühl bei Start und Landung des Flugzeugs. Der
14-Jährige Jean-Pierre übrigens wäre laut Hasler
hierzulande ein gefragter Musiker. Mit welchem Gefühl und welcher
Technik dieser junge Mann die Timbales spiele, da könnten "90
Prozent der Perkussionisten hierzulande einpacken", weiss der Geiger.
Danach gefragt, ob sie später Berufsmusiker werden möchten,
schauen die Mädchen und Knaben einander schweigend an.
Individuelle Lebensentwürfe sind wohl auch im heutigen Kuba kein
populäres Gesprächsthema. Zumindest nicht mit Fremden. "Als
Journalist sind Sie für die Schüler eine
Autoritätsperson", erklärt Lorenz Hasler. Und sie wissen, was
man gegenüber Autoritäten sagen sollte und was nicht. "Aber
klar", sagen sie, sie hätten immer Lust, zu üben. Doch gefeit
gegen die kapitalistischen Versuchungen sind sie nicht, die jungen
Genossen. Kleider und Handys wollen sie vor der Abreise erstehen.
Am nächsten Morgen dann, bei der Premiere von
"Travesías" im Münster, geben die jungen Musiker ein
stolzes Bild ab. Die Damen ganz in Schwarz, die Herren in weissen
Hemden und glänzenden Schuhen, stehen sie da und warten auf ihren
Einsatz. Bis auf einige kurze, scheue Blicke in die Wölbungen des
Münsters ist nicht die kleinste Undiszipliniertheit auszumachen.
Dann hebt Hasler den Stock - und es wird einem schier mulmig ob all der
Leidenschaft und Konzentration, mit der sich diese Horde
Heranwachsender ins Zeug legt. Eineinhalb Stunden später stehen
Hunderte Zuhörer zwischen den Münster-Bänken, und der
Applaus scheint nicht mehr enden zu wollen.
--
Auftritte in und um Bern
Am kommenden Mittwoch treten die Schüler der Escuela Paulita
Concepción um 20 Uhr in der Grossen Halle der Reitschule auf.
Sie spielen erst ihr eigenes Programm "Sones y Danzones" mit
traditionellen Stücken aus Kuba, danach zusammen mit dem
Travesías-Sextett das Programm "Travesías 2010". Am
Montag, dem 20. September, um 18:30 Uhr, wird "Travesías 2010"
im Gemeindehaus Köniz aufgeführt. Die sechs Profimusiker
spielen am kommenden Donnerstag um 20 Uhr ohne Orchester ein
Kammermusik-Konzert in der Mühle Hunziken in Rubigen. (tik)
http://www.travesias.ch
---
kulturstattbern.derbund.ch 12.9.10
Von Benedikt Sartorius am Sonntag, den 12. September 2010, um 06:43 Uhr
Der Vampir im Casino
Die Berner Biennale eignet sich sehr gut, länger nicht mehr
besuchte Kulturorte dieser Stadt zu besuchen. So führte der Weg
gestern Abend ins Kultur-Casino, wo das Berner Symphonieorchester F.W.
Murnaus klassischen Vampir "Nosferatu" vertont hat.
Graf Orlok alias NosferatuDie von Timothy Brock dirigierte Partitur
basierte gemäss dem Programmheft auf der romantischen Oper "Der
Vampyr", die passend auf den wesentlich jüngeren Stummfilm
adaptiert wurde. Und so standen die Leinwand-Bilder mitsamt dem
ratternden Filmprojektor bald einmal im Zentrum des Schauer-Geschehens:
Die Reise des Jünglings Hutter - der dem späteren furchtlosen
Vampirjäger Polanski überraschend gleicht - zum Anwesen des
"erschröcklichen" Grafen Orlok, die See-Überfahrt im Sarg,
die Pestratten, die ohnmächtigen Frauen und, vor allem, die
unerreichten Schattenbilder im Finale.
Heute Sonntagnachmittag um fünf findet eine weitere
Aufführung der "Symphonie des Grauens" statt. Für einmal ohne
gedimmtes Kronleuchterlicht, zieht doch das BSO mit dem Gastspiel in
der grossen Halle an einen "Ort der Wut."
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REITSCHULE BIETET MEHR
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Basler Zeitung 13.9.10
Neuer Anlauf zur Schliessung
Bern stimmt zum fünften Mal über Reithalle ab
Barbara Spycher, Bern
Das Berner Kulturzentrum Reithalle soll geschlossen und verkauft
werden, findet die SVP. Kulturschaffende wehren sich dagegen.
Am 26. September stimmt die Stadt Bern über die
SVP-Initiative "Schliessung und Verkauf der Reitschule" ab. Das
alternative Kulturzentrum soll an den Meistbietenden versteigert
werden, weil es "ein Hort von Gewalttätern und Drogendealern" sei.
Ob daraus ein Badetempel, ein Einkaufszentrum oder ein
Bürogebäude entstehen soll, lassen die Initianten offen.
Ausser SVP und FDP lehnen sämtliche Berner Parteien,
inklusive CVP, BDP und EVP, das Anliegen ab: Die kulturellen
Freiräume jenseits von Konsum und Kommerz seien wichtig für
Bern. Die bürgerlichen Parteien sehen aber durchaus
Verbesserungspotenzial bei den basisdemokratischen Strukturen der
Reithalle: Die Stadt brauche klare Ansprechpartner.
Es gilt als höchst unwahrscheinlich, dass die Initiative
angenommen werden könnte. In den vier bisherigen Umnutzungs- und
Kreditabstimmungen hat sich das rot-grüne Bern stets hinter das
23-jährige Kulturzentrum gestellt. Im Sommer haben rund 20
Kulturschaffende von Züri West bis Stiller Has eine CD zur
Unterstützung der Reithalle herausgegeben. Kultstatus erreichte
daraus Müslüms Song "Erich, warum bisch du nid ehrlich?", der
sich an den Jung-SVP-Politiker Erich Hess richtet, einen der
Hauptexponenten der Initianten.
--
"Müslüm, warum wosch du nid gseh?"
Erich Hess will die Berner Reithalle an den Meistbietenden
versteigern
SVP-Jungspund Erich Hess teilt gerne mit dem verbalen
Zweihänder aus - nun wird er selber Zielscheibe eines Songs. Er
nimmts gelassen und kämpft weiter gegen den "Schandfleck"
Reithalle.
Erich Hess hat etwas geschafft, was nur wenigen gelingt: Ihm ist
ein Song gewidmet worden. Fast 300 000 haben auf Youtube bereits
geschaut, wie Müslüm tanzt und singt: "Erich, warum bisch du
nid ehrlich? Erich, warum bisch du immer so aggressiv? Erich, hesch du
keini Liebi becho?" Das Lied spielt auf die Aussagen des
Jung-SVP-Politikers Hess an, wonach die Berner Reitschule ein Hort von
Terroristen, Krawallbrüdern und Dealern sei. Deshalb will Hess das
alternative Kulturzentrum an den Meistbietenden versteigern.
Erich Hess nimmt es gelassen, dass er von Müslüm
verhöhnt wird. Es gelte freie Meinungsäusserung. Jedoch sei
die Frage falsch gestellt: "Mir wird privat oft vorgeworfen, ich sei zu
direkt und zu ehrlich." Die Frage müsse lauten: "Erich, warum
bisch du so ehrlich?"
Provokationen
Hess fällt oft mit verbalen Grenzüberschreitungen auf. Das
Berner Kulturzentrum Progr bezeichnete er als "Haus voller Taugenichtse
und Tagediebe", Asylbewerber hat er schon mit Ameisen verglichen. Hess
provoziert auch mit Aktionen wie jener von letztem Sommer, als er eine
SVP-Hotline gegen Sozialhilfemissbrauch installierte. Er rief die
Bevölkerung auf, dort Bekannte oder Nachbarn zu denunzieren.
Im persönlichen Gespräch ist Hess höflich und
bleibt selbst im schicken Nadelstreifenanzug sich selber: Ein
29-jähriger Lastwagenfahrer und Politiker, im Emmental
aufgewachsen, der Alphorn, Schwyzerörgeli, Hackbrett und
Fahnenschwingen anderen kulturellen Darbietungen vorzieht. In der
Politik geht es rasch aufwärts mit Hess: Die letzten sieben Jahre
hat er im Berner Stadtparlament politisiert, jetzt wurde er ins
Kantonsparlament gewählt. Seit zweieinhalb Jahren ist er
Präsident der Jungen SVP Schweiz. Als solcher hat er auch schon
die Mutterpartei in die Knie gezwungen. Die SVP-Spitze hatte sich gegen
das Referendum gegen die EU-Personenfreizügigkeit ausgesprochen,
also sammelte Hess mit der Jungen SVP die nötigen Unterschriften.
Im Abstimmungskampf schwenkte die Mutterpartei dann auf seine Linie ein.
Mit der Abstimmung über die Reithalle dürfte er keinen
Erfolg haben. "Ist diese Initiative Zwängerei oder
Selbstprofilierung, Herr Hess?" - "Weder noch", meint der Initiant.
Aber die Zustände in der Reithalle seien unhaltbar, alle
gewalttätigen Demos etwa würden von der Reithalle aus
organisiert. Würde sie geschlossen, "wird Bern nicht zu einer
kulturellen Wüste", findet Hess. Und fragt Müslüm
zurück: "Warum wosch du d Missständ nid gseh?" spy
--
"Erich, warum bisch du nid ehrlich?"
Kult-Türke Müslüm setzt sich mit seinem ganzen
"Herzeli" für die Reithalle ein
Sein Solidaritätssong für die Reithalle hat
Müslüm zum nationalen Durchbruch verholfen. Sein Erfinder
Semih Yavsaner ist überrumpelt.
Nur die Augen erinnern an Müslüm. Der struppige Schnauz
ist weg, das rosa Jacket ist einem schwarzen gewichen, und wenn er
spricht, ist sein Berndeutsch akzentfrei. Semih Yavsaner (30) ist der
Erfinder und Interpret von Müslüm, der es in wenigen Wochen
zu Kultstatus brachte. Dabei war Müslüms erstes Lied "Erich,
warum bisch du nid ehrlich?" als Testlauf gedacht. Es erschien auf der
CD gegen die Reithalle-Schliessungs-Initiative und zielt auf deren
Initianten, SVP-Mann Erich Hess. Müslüms musikalischer
Durchbruch war erst für Weihnachten vorgesehen.
Doch dann kam alles anders: Müslüm, der linkische
Türke mit starkem Akzent, farbigen Klamotten und grossem
"Herzeli", singt sich in die Herzen der Schweizer. Knapp 300 000-mal
wurde der Song auf Youtube bereits angeklickt. Yavsaner wurde vom Hype
überrumpelt, von den Anfragen von Journalisten und linken
Parteien, die Müslüm für politische Anliegen gewinnen
möchten. Doch Yavsaner will nicht, dass Müslüm eine
"Marionette für SVP-unfreundliche Kampagnen" wird.
Müslüm soll die Leute stattdessen zu Weihnachten mit einer
musikalischen Liebesbotschaft beglücken. Denn das ist
Müslüms Hauptsorge: "Wo isch de Liebe gebliebe?"
Grosses Anliegen
Bis zur Abstimmung am 26. September aber engagiert sich
Müslüm noch mit Leib und Seele für die Reithalle. Bis
dann hat Yavsaner andere kommerzielle Angebote abgelehnt, um die
Glaubwürdigkeit von Müslüm nicht zu gefährden. Das
alternative Kulturzentrum ist Yavsaner ein echtes Anliegen. "In unserer
Gesellschaft ist vieles so gleichförmig - die Reithalle ist ein
wichtiger Gegenpol."
Und was antwortet Yavsaner auf Erich Hess' Frage, warum er die
Missstände in der Reithalle nicht sehen wolle? Yavsaner reagiert
genervt: "Welche Missstände?" Müslüm hingegen antwortet
gelassen: "Zersch studiere, denn schubladisiere." Wieder übernimmt
Yavsaner: Wenn man Hess von "Terroristen" sprechen höre und die
Reithalle nur von aussen sehe, passe sie in diese Schublade. Aber:
"Schaut zweimal hin, macht euch ein eigenes Bild." Er stört sich
an diesem "Schubladendenken" der SVP. Bei der Reithalle, aber auch bei
Kampagnen gegen Ausländer. Das verletze die Gefühle vieler
Ausländer, weiss Yavsaner. Er ist auf dem Papier selber einer, hat
keinen Schweizer Pass, obwohl er in Bern aufgewachsen ist. Seine Eltern
kamen als türkische Gastarbeiter in die Schweiz. "Aber hey, wir
lieben dieses Land genau gleich und geben uns Mühe, etwas
beizutragen." spy
Müslüms Song ist auf Youtube, iTunes oder exlibris.ch
zu finden.
---
Zürichsee-Zeitung 13.9.10
Reithalle Warum Müslüm dafür kämpft
"Erich, warum bisch du nid ehrlich?"
Sein Solidaritäts-Song für die Berner Reithalle hat
Müslüm zum nationalen Durchbruch verholfen. Nun stürmt
er die Schweizer Hitparade. Sein Erfinder Semih Yavsaner ist
überrumpelt.
Barbara Spycher, Bern
Nur die Augen erinnern an Müslüm. Der struppige Schnauz
ist weg, das rosa Jacket ist einem schwarzen gewichen, und wenn er
spricht, ist sein Berndeutsch akzentfrei. Semih Yavsaner, 30, ist der
Erfinder und Interpret von Müslüm, der es in wenigen Wochen
zu Kultstatus brachte. Dabei war Müslüms erstes Lied "Erich,
warum bisch du nid ehrlich?" als Testlauf gedacht. Es erschien auf der
CD gegen die Reithalle-Schliessungs-Initiative und zielt auf deren
Initanten, SVP-Mann Erich Hess. Müslüms musikalischer
Durchbruch war erst für Weihnachten vorgesehen.
Doch dann kam alles anders: Müslüm, der linkische
Türke mit starkem Akzent, farbigen Klamotten und grossem
"Herzeli", singt sich in die Herzen der Schweizer. Über 260 000
Mal wurde der Song auf Youtube bereits angeklickt, seit kurzem setzt er
zum Sturm in der Hitparade an. Yavsaner selber wurde vom Hype
überrumpelt, von den Anfragen von Journalisten und linken
Parteien, die Müslüm für weitere politische Anliegen
gewinnen möchten. Doch Yavsaner will nicht, dass Müslüm
eine "Marionette für SVP-unfreundliche Kampagnen" wird.
Müslüm soll die Leute stattdessen zu Weihnachten mit einer
musikalischen Liebesbotschaft beglücken. Denn das ist
Müslüms Hauptsorge: "Wo isch de Liebe gebliebe?"
Reithalle - ein Gegenpol
Bis zur Abstimmung am 26.September aber engagiert sich
Müslüm noch mit Leib und Seele für die Reithalle. Bis
dann hat Yavsaner andere kommerzielle Angebote abgelehnt, um die
Glaubwürdigkeit von Müslüm nicht zu gefährden. Das
alternative Kulturzentrum ist Yavsaner ein echtes Anliegen. "In unserer
Gesellschaft ist vieles so gleichförmig - die Reithalle ist ein
wichtiger Gegenpol."
Und was antwortet Yavsaner auf Erich Hess' Frage, warum er die
Missstände in der Reithalle nicht sehen wolle? Yavsaner reagiert
genervt: "Welche Missstände?" Müslüm hingegen antwortet
gelassen: "Zersch studiere, denn schubladisiere." Wieder übernimmt
Yavsaner: Wenn man Hess von "Terroristen" sprechen höre und die
Reithalle nur von aussen sehe, passe sie in diese Schublade. Aber:
"Schaut zweimal hin, macht euch ein eigenes Bild." Er stört sich
daran, dass Erich Hess und die SVP sich dieses "Schubladen-Denkens"
bedienen. Bei der Reithalle, aber auch bei Kampagnen gegen
Ausländer. Das verletze die Gefühle vieler Ausländer,
weiss Yavsaner. Er ist auf dem Papier selber einer, hat keinen
Schweizer Pass, obwohl er in Bern aufgewachsen ist. Seine Eltern kamen
als türkische Gastarbeiter in die Schweiz. "Aber hey, wir lieben
dieses Land genau gleich und geben uns Mühe, etwas beizutragen."
Müslüms nächster Beitrag wird das Weihnachtsalbum
sein - der Plattenvertrag ist unterschrieben; was danach kommt, weiss
Semih Yavsaner noch nicht. Im Sommer hat er seine Stelle als Moderator
und Produzent beim Zürcher Radio 105 aufgegeben. Dort waren auch
Müslüms Telefonscherze zu hören. Dabei offenbart sich
ein weiteres Talent Yavsaners. Als Müslüm bewirbt er sich
telefonisch bei der Polizei - obwohl er vier Jahre im Gefängnis
sass wegen einem Raubüberfall. Das Beeindruckende daran: Die
Angerufenen legen nicht auf, sondern steigen ein auf minutenlange,
skurrile Gespräche mit dem schrägen Vogel.
Müslüms Song ist auf Youtube zu finden.
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Reithalle Warum Erich Hess (SVP) dagegen ist
"Müslüm, warum wosch du nid gsee?"
SVP-Jungspund Erich Hess teilt gerne mit dem verbalen
Zweihänder aus - nun wird er selber Zielscheibe eines Songs. Er
nimmts gelassen und kämpft weiter gegen den "Schandfleck"
Reithalle.
Barbara Spycher, Bern
Erich Hess hat etwas geschafft, was nur wenigen gelingt: Ihm ist
ein Song gewidmet worden. Über 260 000 haben auf Youtube bereits
geschaut, wie Müslüm tanzt und singt: "Erich, warum bisch du
nid ehrlich?" "Erich, warum bisch du immer so aggressiv?" "Erich, hesch
du keini Liebi becho?" Müslüm spielt damit auf die Aussagen
von Jung-SVP-Politiker Hess an, wonach die Berner Reitschule ein Hort
von Terroristen, Krawallbrüdern und Dealern sei. Deshalb will Hess
das alternative Kulturzentrum an den Meistbietenden versteigern (siehe
Kasten). Am 26. September stimmen die Berner über diese Initiative
ab.
"Henusohaut"
Erich Hess nimmt es gelassen hin, dass er von Müslüm
verhöhnt wird. Die Melodie sei "noch ansprechend", der Text
"henusohaut", es gelte freie Meinungsäusserung. Allerdings sei die
Frage falsch gestellt: "Mir wird privat oft vorgeworfen, ich sei zu
direkt und zu ehrlich." Die Frage müsste eigentlich lauten:
"Erich, warum bisch du so ehrlich?" Er sei auch nicht aggressiv,
sondern eher ein ruhiger Mensch. Er vertrete politisch aber viele
unbequeme Themen, was die Linken vielleicht als "aggressiv" bezeichnen
würden.
Tatsächlich fällt Hess oft mit verbalen
Grenzüberschreitungen auf. Das Berner Kulturzentrum "Progr"
bezeichnete er als "Haus voller Taugenichtse und Tagediebe", in der
Reithalle gebe es "Terroristen" und "mafiöse Strukturen",
Asylbewerber hatte er mit Ameisen verglichen. Hess provoziert auch mal
mit Aktionen wie jener von letztem Sommer, als er eine SVP-Hotline
gegen Sozialhilfemissbrauch installierte. Er rief die Bevölkerung
auf, dort Bekannte oder Nachbarn zu denunzieren, bei denen sie
Sozialhilfemissbrauch vermuteten.
Schwyzerörgeli
Im persönlichen Gespräch ist Hess höflich und
bleibt selbst im schicken Nadelstreifenanzug sich selber: ein
29-jähriger Lastwagenfahrer und Politiker, im Emmental
aufgewachsen, der Alphorn, Schwyzerörgeli, Hackbrett und
Fahnenschwingen anderen kulturellen Darbietungen vorzieht. In der
Politik geht es rasch aufwärts mit Hess: Die letzten sieben Jahre
hat er im Berner Stadtparlament politisiert, jetzt wurde er ins
Kantonsparlament gewählt. Seit zweieinhalb Jahren ist er
Präsident der Jungen SVP Schweiz. Als solcher hat er auch schon
die Mutterpartei in die Knie gezwungen. Die SVP-Spitze hatte sich gegen
das Referendum gegen die EU-Personenfreizügigkeit ausgesprochen,
also sammelte Hess mit der Jungen SVP die nötigen Unterschriften.
Im Abstimmungskampf schwenkte die Mutterpartei dann auf seine Linie ein.
Mit der fünften Abstimmung über die Reithalle
dürfte er im rot-grünen Bern aber keinen Erfolg haben. Ist
diese Initiative Zwängerei oder Selbstprofilierung? Weder noch,
meint der Initiant im Gespräch, aber die letzte richtige
Schliessungs-Initiative liege 20 Jahre zurück. Die Zustände
in der Reithalle seien unhaltbar, alle gewalttätigen Demos etwa
würden aus der Reithalle organisiert. Würde sie geschlossen,
"wird Bern nicht zu einer kulturellen Wüste", es gebe viele
vergleichbare Angebote, findet Hess. Und fragt Müslüm
zurück: "Warum wosch du d Missständ nid gsee?"
--
SVP will Reithalle schliessen
Am 26. September stimmt die Stadt Bern über die
SVP-Initiative "Schliessung und Verkauf der Reitschule" ab. Das
alternative Berner Kulturzentrum soll an den Meistbietenden versteigert
werden, weil es "ein Hort von Gewalttätern und Drogendealern" sei.
Ob daraus ein Badetempel, ein Einkaufszentrum oder ein
Bürogebäude entstehen soll, lassen die Initianten offen.
Ausser SVP und FDP lehnen sämtliche Berner Parteien, inklusive
CVP, BDP und EVP, das Anliegen ab: Die kulturellen Freiräume
jenseits von Konsum und Kommerz seien wichtig für Bern. Die
bürgerlichen Parteien sehen aber durchaus Verbesserungspotenzial
bei den basisdemokratischen Strukturen der Reithalle: Die Stadt brauche
klare Ansprechpartner.
Es gilt als höchst unwahrscheinlich, dass die Initiative
angenommen werden könnte. In den vier bisherigen Umnutzungs- und
Kreditabstimmungen zur Reithalle hat sich das rot-grüne Bern stets
hinter das 23-jährige Kulturzentrum gestellt. Es bietet
Filmvorführungen, Theater oder Konzerte, beherbergt eine Beiz,
einen Frauenraum und Politgruppen. Im Sommer haben rund 20
Kulturschaffende, von Züri West bis Stiller Has, eine CD zur
Unterstützung der Reithalle herausgegeben. Kultstatus erreichte
Müslüms Song "Erich, warum bisch du nid ehrlich?". (spy)
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20 Minuten 13.9.10
20 Sekunden
Abstimmung fraglich
BERN. Wegen Beschwerden ist die Abstimmung über die
Reitschule vom 26. September fraglich. Bemängelt wird der Text der
Abstimmungsbotschaft. Es werde suggeriert, bei einem Verkauf der
Reitschule sei der Kulturbetrieb am Ende.
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BZ 11.9.10
Reitschule
Beschwerde eingereicht
Die FDP-Politiker Erwin Bischoff und Fred Moser haben beim
Regierungsstatthalteramt Bern Beschwerde gegen die Abstimmungsbotschaft
zur Initiative über die Zukunft der Reitschule eingereicht. Sie
bezeichnen die Botschaft des Stadtrats als "irreführend" und
fordern, dass die Abstimmung vom 26. September verschoben wird.
azu
Seite 29
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Reitschule
Beschwerde gegen Abstimmungsbotschaft
Gegen das Abstimmungsbüchlein zur Reitschule-Initiative
wurde Beschwerde erhoben, weil es irreführend und einseitig sei.
Hinter der Beschwerde stehen zwei FDP-Mitglieder: Der ehemalige
Grossrat und PR-Fachmann Erwin Bischof sowie Fred Moser, Präsident
des Vereins "Bern sicher und sauber!". Die beiden monieren in einer
Pressemitteilung, dass mit dem Abstimmungsbüchlein zur
Reitschule-Initiative das Volk nicht wahrheitsgemäss und
vollständig informiert werde.
So suggeriere der Text "perfiderweise", dass die Initianten den
Kulturbetrieb schliessen wollten. Das treffe nicht zu: Die Initiative
verlange die Vergabe der Reitschule an den Meistbietenden, die
zukünftige Nutzung werde bewusst offen gelassen.
Abstimmung verschieben
Ein weitere fatale Falschinformation ist für die beiden
Beschwerdeführer, dass im Abstimmungsbüchlein immer von
"Verkauf" die Rede sei. Richtigerweise müsste es aber heissen
"Verkauf im Baurecht". Das sei ein fundamentaler Unterschied,
erklärt Bischof auf Nachfrage. Bei einem Verkauf im Baurecht
könne die Stadt nämlich vorab Nutzungsvorschriften erlassen
und damit etwa eine kulturelle Nutzung vorschreiben.
Die Beschwerdeführer verlangen nun, dass die Abstimmung vom
26. September verschoben wird, damit eine neue Botschaft ausgearbeitet
werden kann.
Entscheid vor Abstimmung
Regierungsstatthalter Christoph Lerch bestätigte gestern in
einem Communiqué den Eingang der Beschwerde. Er werde nun eine
Stellungnahme der Stadt einholen und noch vor dem geplanten
Abstimmungstermin einen Entscheid fällen. Dieser Entscheid kann
ans Verwaltungsgericht weitergezogen werden.
Wem all dies bekannt vorkommt: Im Mai 2009 stand die
Progr-Abstimmung auf der Kippe, weil die SVP Beschwerde eingereicht
hatte.
azu
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Bund 11.9.10
Reitschule-Urnengang droht Verschiebung
Der einstige FDP-Grossrat Erwin Bischof hat beim
Regierungsstatthalter eine Gemeindebeschwerde gegen die Stadt Bern
eingereicht. Damit will er eine Verschiebung der Volksabstimmung vom
26. September über die Anti-Reitschule-Initiative bewirken. Stein
des Anstosses ist die Abstimmungsbotschaft, die nicht vollständig
sei und Fehler enthalte, wie Bischof mitteilt. So werde den Initianten
unterstellt, dass sie den Kulturbetrieb einstellen wollten. Auch bei
einem Ja zur Initiative sei die in der Reitschule gepflegte Kultur aber
weiterhin möglich.
Zudem sei von einem "Verkauf" die Rede, bei dem die Stadt keinen
Einfluss auf die weitere Nutzung haben werde. "Das stimmt einfach
nicht", sagt Bischof. Es gehe nicht um einen Verkauf, sondern um einen
Verkauf im Baurecht, bei dem die Stadt Grundeigentümerin bleiben
würde. "Der Stadtrat kann daher eine kulturelle Nutzung
festlegen", sagt Bischof. Initiant Erich Hess (SVP) unterstützt
die Beschwerde, auch wenn er sie für wenig erfolgsträchtig
hält. Statthalter Christoph Lerch (SP) will übernächste
Woche einen Entscheid fällen. "Zuerst muss die Stadt Zeit für
eine Stellungnahme erhalten", sagt Lerch. (bob)
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BZ 11.9.10
SP Stadt Bern
Ja zu Wankdorf City
Die Delegierten der SP Stadt Bern lehnen die Reitschulinitiative
ab und sagen nach kontroverser Debatte Ja zur Krediterhöhung
für die Wankdorf City.
pd
BDP Stadt bern
Nein zur ReitschulinitiativeDie Bürgerlich-Demokratische
Partei der Stadt Bern unterstützt die Kreditaufstockung für
die Wankdorf City. Nein sagt sie dagegen zur
Reitschulinitiative der SVP. Die BDP dulde deswegen jedoch keineswegs
eine Reitschule als Drogenumschlagplatz oder als Ort der Gewalt. pd
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Bund 11.9.10
Leserbrief Abstimmung über den Verkauf der Reitschule, diverse
Artikel im "Bund"
Wo sollen Kulturschaffende hin?
Die Reitschule ist eine Kulturoase. Sie gibt der Kultur und der
Stadt Bern Farbe. Wieso soll man auf diesen kreativen Ort verzichten?
Damit würde nicht nur ein Farbton der Kultur vernichtet, sondern
auch die Existenz vieler Kulturschaffenden. Wo sollen denn zum Beispiel
Theatergruppen wie wir auftreten, wenn nicht im Tojo der Reitschule?
Uns, die Theatergruppe Ararat, gibt es seit zehn Jahren. Seit Anfang
Jahr 2010 bereiten wir uns auf eine neue Produktion vor. Trotz unserem
voll ausgebuchten Leben proben wir intensiv. Wir wollen einen Beitrag
zur Kultur leisten. Dabei gehört die Reitschule fast zum einzigen
Ort in Bern, wo wir unsere Arbeit präsentieren können.
Diejenigen, welche die Reitschule zu einem Parkhaus oder
Einkaufszentrum umnutzen möchten, sollen uns sagen, wo
Kulturschaffende wie wir sonst einen Platz finden. Das Leben besteht
nicht nur aus Kommerz!
Taner Tanyeri, Bern
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BZ 11.9.10
"I have a dream"
Als Martin Luther King vor 47 Jahren beim Lincoln-Denkmal vor die
Menschen trat, da hatte er einen Traum. Den Traum vom Ende der
Rassentrennung. Als Sarah Palin neulich dasselbe tat, um die "Ehre und
Würde" der USA wiederherzustellen, da wurde klar: Die hat keinen
Traum, die hat vor allem keine Ahnung. Es steht wahrlich schlecht um
die amerikanische Demokratie, wenn mündige Bürger dieser
fleischgewordenen Unwissenheit ihr Gehör (oder noch schlimmer:
ihre Stimme) schenken.
Nun gut, vielleicht sollten wir zuerst vor der eigenen
Haustüre kehren. Auch hierzulande gibt es Menschen, die glauben,
von Erich Hess komme irgendetwas Sinnvolles oder Wahres. Alle paar
Jahre kommt zwar eine Initiative zur Schliessung der Reitschule, das
ist wahr, aber sinnvoll ist es deswegen noch lange nicht. Bereits
fünfmal haben die Berner Stimmberechtigten ähnliche
Vorstösse abgelehnt, es drängt sich mittlerweile die Frage
auf, ob sich hier irgendwer schwertut damit, den Wählerwillen zu
respektieren…
Zurück zum Lincoln Memorial: Sarah Palin hielt eine
fürchterlich anachronistische Rede: von Martin Luther King
(Rassendiskriminierung) kam sie via Irakkrieg (wirtschaftliche
Interessen, amerikanischer Kolonialismus) zur Ehre von Amerika, die
wiederhergestellt werden müsse. Wahrscheinlich weil der
Präsident schwarz ist - so viel zum Thema "Ende der
Rassendiskriminierung".
Entschuldigung, das war jetzt sogar mir zu kompliziert und
widersprüchlich. Beim Zuhören fühlte ich mich wie Erich
Hess an einer Stadtratssitzung: beim einen Ohr rein, beim andern
schneller wieder raus als ein Roma-Kind aus Frankreich. Die Rede hatte
mehr Widersprüche als Jörg Kachelmann Lausemädchen.
Aber gut, zuweilen ist die Welt halt ein wenig kompliziert.
Suspekt sollte deswegen jeder sein, der ganz einfache Lösungen
anbietet, sei es nun für die Reitschule oder die amerikanische
Ehre. Letztere müsste vielleicht tatsächlich
wiederhergestellt werden, aber besser nicht von Leuten, die glauben,
Afrika sei ein Land und Barak Obama Muslim.
Auch ich habe einen Traum: dass wir alle besser zuhören und
uns informieren, um mit unserem Wissen populistische Phrasendrescher zu
entlarven. Und ihnen so bei den nächsten Wahlen die Quittung
präsentieren - um es mit den Worten von Sarah Palin zu sagen: Wir
sollten sie alle "zurückabweisen".
Adrian Merz
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Bund-Dossier Reitschule
http://www.derbund.ch/bern/Verkauft-fuer-sechs-Milliarden/inhalt-2/reitschule-bern/s.html
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BEWEGUNGSMELDER BIETET MEHR
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BZ 11.9.10
Ausgehmagazin
Splitternackte werben für die Reitschule
Ausgerechnet im Jahr des Antisexismus kämpft der
Bewegungsmelder mit Bildern von Splitternackten für die Reitschule.
Eine junge Frau hüpft vor der Reitschule herum und
präsentiert ihre Geschlechtsorgane. Weder Zensurbalken noch
Textilien verdecken ihre Scham. Mit diesem Cover auf der Berner Ausgabe
kämpft das Ausgehmagazin "Bewegungsmelder" für ein Nein zur
Reitschulschliessungsinitiative. Gefragt nach dem nicht ganz
offensichtlichen Zusammenhang, sagt
"Bewegungsmelder"-Geschäftsleiter Marcel Wirth: "Wir zeigen nackte
Menschen, weil das Berner Kulturleben ohne Reitschule nackt wäre."
"Es geht ja nicht um Sex"
2010 ist das Jahr des Antisexismus, für das die
Reitschüler mit einem Transparent beim Haupteingang werben. Wirth
sieht keinen Widerspruch: "Die Bilder sind nicht sexistisch." Es gehe
darauf ja nicht um Sex. "Vielmehr ists eine plakative Umsetzung unserer
Botschaft." Der "Bewegungsmelder" richte sich an ein junges, urbanes
Publikum. "Diese Leute verstehen die Aussage." Die Cover-Aktion sei mit
den Reitschülern abgesprochen. In den Ausgaben der anderen
Städte würden auch nackte Männer gezeigt. Auf den
Plakaten sind die Geschlechtsorgane durch einen Balken bedeckt.
tob
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RABE-INFO
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Mo. 13. September 2010
- Die Abstimmung über die Berner Reitschule spaltet auch die
Bürgerlichen: pro und contra Argumente von FDP und BDP
- Kopf der Woche: Mariela Castro Espin, Tochter des Kubanischen
Präsidenten, Erzieherin und selbst ernannte Provokateurin
Links:
http://www.cenesex.sld.cu
http://en.wikipedia.org/wiki/Cuban_National_Center_for_Sex_Education
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RaBe-Info 13.9.10
http://www.freie-radios.net/mp3/20100913-allewollen-35980.mp3
http://www.freie-radios.net/portal/streaming.php?id=35980
Alle wollen ein alternatives Kulturzentrum - aber welches?
Bürgerliche Politiker streiten über die Reitschule-Initiative
Am 26. September findet die Abstimmung über die
Reitschule-Initiative statt. Das RaBe-Info hat in den letzten drei
Wochen über das Innenleben des Berner Kulturzentrums berichtet.
Ausserhalb führt die Reitschule immer wieder zu Kontroversen. Die
Reitschule polarisiert aber nicht nur bei Rechts und Links, sondern
auch in der sogenannt "bürgerlichen Mitte" der Stadt Bern. Die
BDP/CVP-Fraktion hat die Nein-Parole herausgegeben. Die FDP sagt JA zur
Initiative, die hauptsächlich von Exponenten der SVP auf die Beine
gestellt wurde.
Michael Spahr hat sich bei den bürgerlichen Politikern
umgehört.
->> http://www.reitschulebietetmehr.ch
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STADTRAT
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Stadtratssitzung (Traktanden)
Donnerstag, 16. September 2010 13.30 - 16.30, 17.00 - 19.00, 20.30 -
22.30 Uhr
Sitzungssaal im Rathaus
Die Stadtratssitzungen sind öffentlich zugänglich
(Besuchertribüne)
Traktanden
1. Kleine Anfrage Fraktion FDP (Philippe Müller, FDP):
Wildwest-Kapitalismus vor der Reitschule? (SUE: Nause) 10.000203
http://www.bern.ch/stadtrat/sitzungen/termine/2010/10.000203/gdbDownload
10.000203 (10/225)
Reg. 66/-00
Kleine Anfrage Fraktion FDP (Philippe Müller, FDP):
Wildwest-Kapitalismus vor der Reitschule?
Jeweils am ersten Sonntag im Monat findet auf dem Reitschule-Vorplatz
ein Märit mit Gegenständen aller Art statt. Für diesen
gälten eigentlich die gleichen Regeln betreffend Sicherheit,
Gewerbepolizei, Strassenverkehr etc. wie für alle anderen
Marktleute in Bern. Doch sie werden in keiner Weise eingehalten.
Welches sind die Gründe für diese - erneute -
Ungleichbehandlung/Privilegierung einer bestimmten Gruppe in Bern?
Es ist ja erfreulich zu sehen, wie einmal im Monat Marktwirtschaft und
Kapitalismus in unge-bremster Form praktiziert werden - und dies
ausgerechnet vor der Reithalle! Aber wie so oft, wenn etwas zu lange zu
kurz kommt, wird gleich übertrieben. So auch hier: Auf der
Neubrückstrasse wird mit dem "Motorisierten Individualverkehr"
(sonst Staatsfeind Nr.1 in der Stadt Bern) trotz Verbot parkiert, was
das Zeug hält (sonst Verbrechen Nr. 1 in der Stadt Bern). Die
gewerbepolizeilichen Perimeter wurden längst verlassen, der Markt
hat sich aus-gedehnt, was sogar die Sicherheit beeinträchtigt,
denn es gibt kaum mehr Platz auf dem Trot-toir und die Leute weichen
auf die viel befahrene Neubrückstrasse aus. Die Waren werden bis
dicht an den Strassenrand ausgelegt, teilweise sogar bis in die Strasse
hinein.1 Die allgemein gültige Preisanschreibepflicht wird nicht
befolgt. Die nötigen (Firmen-)Namen der Ausstel-ler/Anbieter
fehlen in aller Regel.
Wir bitten den Gemeinderat um Beantwortung folgender Fragen:
1. Weiss der Gemeinderat um diesen "Märit" und wie er praktiziert
wird?
2. a) Ist der Gemeinderat der Meinung, die geltenden gesetzlichen
Bestimmungen in Zusammenhang mit diesem Märit würden
eingehalten? b) Falls Nein: Welche nicht?
3. Wie erklärt man einem Gewerbler/Marktfahrer auf dem
Bärenplatz, dass diese Vorschriften für ihn hingegen trotzdem
gelten und durchgesetzt werden?
4. a) Warum hat der Gemeinderat bisher nichts unternommen? b) Und bei
einem Unfall?
5. Was unternimmt der Gemeinderat nun?
Bern, 01. Juli 2010
Kleine Anfrage Fraktion FDP (Philippe Müller, FDP), Jimy Hofer,
Manfred Blaser, Yves Seydoux, Conradin Conzetti, Dolores Dana, Kurt
Hirsbrunner, Mario Imhof, Claudia Meier, Beat Gubser, Erich J. Hess,
Edith Leibundgut, Dannie Jost, Thomas M. Bürki, Martin Mäder,
Thomas Weil
1 (vgl. zwei Bilder unten: Die Situation ist nicht ungefährlich
(Strasse), bedarf also einer raschen Kor-rektur. /Andere Gewerbler
werden nicht privilegiert. /Und: Die Reithalle-Gemeinde könnte ja
unter Um-ständen zeigen, dass sie gar keine Extra-Würste
kriegt - gerade im Hinblick auf die bevorstehende Volksabstimmung
"Reithalle-Initiative"... (Beilagen sind auf Anfrage im Ratssekretariat
elektronisch erhältlich.)
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MIGRATION CONTROL
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NZZ 11.9.10
Die Not der Migranten in Griechenland
Flüchtlinge auf sich allein gestellt
fsr. · Internationale Organisationen kritisieren die
Asylpraxis in Griechenland seit Jahren. Bemängelt werden etwa
fehlende Verfahrensgarantien und ein schlechter Zugang zum
Asylverfahren. Trotz der Kritik haben sich die Zustände kaum
verbessert. Asylbewerber müssen teilweise monatelang auf eine
Registrierung warten. Ausserdem gibt es viel zu wenig Unterkünfte,
und die Regierung ist mit ihren Beiträgen für entsprechende
Projekte im Rückstand. Die Migranten sind weitgehend auf sich
allein gestellt.
International, Seite 11
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Das kurze Gedächtnis der griechischen Gesellschaft
Asylsuchende sind in dem Land, das sie als Durchgangsstation auf
dem Weg in ein besseres Leben betrachten, auf sich allein gestellt
Griechenland dient den meisten Flüchtlingen nur als
Durchgangsstation. Im Land sind die Migranten völlig auf sich
allein gestellt. Trotz langjähriger Kritik von
Menschenrechtsorganisationen ändert sich an den katastrophalen
Zuständen nur wenig.
Elena Panagiotidis, Athen
Einige Dutzend Männer aus Pakistan, Bangladesh, Afghanistan,
Nigeria und anderen Staaten warten entlang des Gitterzauns, der die
zentrale Asylbehörde von Attika in der Petrou-Ralli-Strasse in
Athen umgibt. Einer von ihnen ist ein Ghanese, der sich Amadu nennt.
Die Männer stehen am Hintereingang zum Gebäude. Hierher
müssen sich Migranten wenden, wenn sie einen Asylantrag stellen
wollen. In der Petrou Ralli wurden im Jahre 2007 laut dem
Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) rund 94
Prozent aller Asylanträge in Griechenland gestellt.
Monatelanges Warten
Es ist glühend heiss, kein Baum spendet Schatten. Ein
Polizist herrscht auf Griechisch die Männer an, wenn sie zu dicht
zum Tor kommen, um etwas zu fragen. Ein Anwalt läuft zwischen den
Wartenden umher und bietet seine Hilfe an. Es wird offensichtlich, dass
er, gegen Geld, den Flüchtlingen den Zutritt zur Behörde
verschaffen kann. Die Zustände in der Petrou Ralli werden immer
wieder von internationalen Organisationen und griechischen
Flüchtlingshelfern angeprangert. Human Rights Watch, Pro Asyl,
aber auch der Council of Europe und das UNHCR kritisieren seit Jahren
dieselben Punkte an der Asylpraxis in Griechenland: ein Mangel an
Verfahrensgarantien und schlechter Zugang zum Asylverfahren,
willkürliche Verhaftungen, ungenügende Aufnahmeverfahren und
jämmerlich niedrige Anerkennungsquoten.
Laut einem Bericht des UNHCR vom Dezember 2009 müssen
Asylsuchende manchmal monatelang vor den Toren an der Petrou Ralli
vorsprechen, bis sie endlich die Chance erhalten, ins Innere des
Gebäudes zu gelangen, um sich registrieren zu lassen. Der
griechische Flüchtlingsrat weiss von Somaliern, die acht Monate
lang vergeblich vor den Pforten erschienen sind. Bemängelt wird
auch, dass es Polizisten sind, die sich um die Asylverfahren
kümmern. Diese seien nicht dafür ausgebildet, und nur in den
seltensten Fällen ständen den Flüchtlingen Dolmetscher
zur Seite. Erst im Juli hat der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte Griechenland wegen massiver Verstösse gegen die
Europäische Menschenrechtskonvention verurteilt.
Amadu, der Ghanese, hat bereits eine Pink Card. Das rosafarbene
Papier bedeutet, dass jemand ein registrierter Asylbewerber in
Griechenland ist, alle sechs Monate muss die Karte erneuert werden.
Amadu möchte an diesem Tag nur einen Stempel, der ihm eine
Adressänderung bescheinigt. Dies ist wichtig, denn jeder
Asylsuchende muss eine Adresse vorweisen können. Theoretisch auch,
damit ihn die Behörden informieren können, wie es mit seinem
Asylgesuch weitergeht. Eine Anhörung seines Falles hat noch nicht
stattgefunden, obwohl Amadu bereits seit März 2009 in Griechenland
lebt.
Illegale Einreise
Um den Stempel zu bekommen, hat der 34-Jährige bereits am
Vortag stundenlang gewartet, bis es hiess, er solle am nächsten
Tag wiederkommen. Auch heute wartet der zierliche Mann mit den
traurigen Augen bereits seit zwei Stunden. Man hat ihm schon gesagt, er
solle morgen wieder kommen, doch Freitag ist der einzige Tag in der
Woche, an dem Amadu arbeitet, der einzige Tag, der Abwechslung in die
Monotonie und die Einsamkeit seines Daseins bringt. Während die
Sonne brennt und Lastwagen durch die enge, staubige Strasse fahren,
erzählt Amadu, der in Ghana Autos repariert hat, wie er illegal
nach Griechenland eingereist ist, um in Europa ein besseres Leben zu
finden. Ein Freund seiner verstorbenen Eltern habe die Kosten
übernommen. Mit Hilfe eines Agenten habe er die Reise organisieren
können. Mit dem Flugzeug sei er bis nach Istanbul geflogen. Das
Visum in seinem Pass - als Grund für den Besuch wurde eine
Konferenz in Istanbul angegeben - habe die türkische Botschaft in
Nigeria ausgestellt. Nach zwei Wochen in Istanbul seien er und die
Mitreisenden mit einem Lastwagen nach Izmir gebracht worden und
hätten dort mit einem Schlauchboot auf die gegenüberliegende
Insel Samos übergesetzt. Jedes Jahr endet für viele Migranten
die Überfahrt von der Türkei nach Griechenland tödlich.
Im Juni sind mindestens 16 Migranten beim Versuch, den
türkisch-griechischen Grenzfluss Evros zu überqueren,
ertrunken.
Als nach weiteren drei Stunden Wartens offensichtlich wird, dass
Amadu an diesem Tag seinen Stempel nicht mehr bekommen wird,
beschliesst er, in seine Unterkunft zurückzukehren. In
Griechenland gibt es viel zu wenige Unterkünfte für
Flüchtlinge. Laut dem UNHCR-Bericht stehen nur in zwölf
Aufnahmezentren Unterkünfte mit einer Gesamtkapazität von 811
Plätzen zur Verfügung. Die Zahl von 15 925 neu registrierten
Asylbewerbern im Jahre 2009 (rund 20 000 waren es im Jahre 2008) zeigt,
dass Griechenland völlig überlastet ist. Insbesondere
erwachsene männliche Asylbewerber haben kaum Chancen auf einen
Platz in den teils staatlich, teils privat geführten
Unterkünften, die zudem überbelegt und schlecht ausgestattet
sind, weil kaum Geld zur Verfügung steht.
Daher sind unzählige Männer, aber auch Familien
obdachlos, sie schlafen in heruntergekommenen, verlassenen
Gebäuden oder in Parks. Amadu war ebenfalls einige Zeit obdachlos.
Doch eines Tages habe er auf der Strasse einen Priester angesprochen.
Dieser habe ihm einen Zettel mit der Adresse von "Anakoufisi" gegeben.
Nun zeigt er seine Bleibe in Piräus. "Anakoufisi", was auf
Griechisch Linderung bedeutet, ist ein von der orthodoxen Kirche
Griechenlands betriebenes Heim für Obdachlose. An einem Tisch im
Flur, der wie alle Räume im Haus blitzblank ist und nach Chlor
riecht, sitzt Eleni. Die Griechin putzt hier und ist Ansprechpartnerin
für die drei Dutzend Bewohner. Amadu teilt sein Zimmer mit einem
Äthiopier und einem Iraner. Ausser einer somalischen Familie sind
die anderen Bewohner Griechen, die sich keine Wohnung leisten
können.
"Rolex" und Suppenküchen
"Amadu ist so ein guter Junge", sagt Eleni. Er helfe immer, wenn
es etwas sauber zu machen oder zu renovieren gebe. Eleni spricht nur
Griechisch, aber sie hat eine herzliche Art, Mitgefühl und Respekt
für die Menschen, die hier wohnen. Mitgefühl und Respekt sind
etwas, was Amadu und viele seiner Schicksalsgenossen in Griechenland
vermissen. Im Gespräch mit Amadu und anderen Migranten werfen
diese der griechischen Polizei sowie der gesamten Gesellschaft einen
tiefsitzenden Rassismus vor.
Um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, verkaufen viele Migranten
gefälschte Louis-Vuitton-Taschen und Rolex-Uhren oder gebrannte
DVD, da sie keine finanzielle Unterstützung vom griechischen Staat
bekommen. Auch Amadu hat zwei Monate lang versucht, Taschen zu
verkaufen. Seit einiger Zeit hilft er einmal pro Woche beim Beladen
einer privaten Luxusjacht im Hafen von Piräus. Er verdient dabei
40 Euro, von denen er eine ganze Woche leben muss. Oft geht er zu einer
von der Kirche betriebenen Armenspeisung in Piräus. Früher,
als er noch im Zentrum Athens lebte, war sein Anlaufpunkt das
Obdachlosenzentrum der Stadt Athen (Kyada). Dieses liegt in der
Nähe des Omonia-Platzes, wo sich einige Suppenküchen
angesiedelt haben.
Während Kyada 2008 rund 1500 Mahlzeiten am Tag austeilte,
hat sich die Zahl mittlerweile auf 4000 Mahlzeiten erhöht. Am
Abend sind es vor allem die Migranten und Flüchtlinge, die sich in
die lange Schlange vor der Essensausgabe reihen. Bereits ab 17 Uhr
strömen die Menschen auf den grossen Hof. Es gibt kleine
Steinmauern und einige wenige Bänke, doch die meisten finden keine
Sitzgelegenheit. Sie verschlingen das Pasta-Fertiggericht aus den
blauen Plasticschalen im Stehen oder in hockender Position am Boden.
Eine andere Organisation, die sich um Migranten kümmert, hat
ihre Räume auch in der Nähe des Omonia-Platzes. Die
Nichtregierungsorganisation Praksis unterstützt bedürftige
Einheimische und Migranten medizinisch, psychologisch und juristisch.
Sie betreibt zwei Kliniken in Athen und Thessaloniki. Die demografische
Struktur der Migranten in den beiden Städten unterscheidet sich.
Tzanetos Antypas, der Präsident von Praksis, sagt, dass in Athen
vor allem Männer zwischen 18 und 35 Jahren aus Bangladesh,
Pakistan, Indien und afrikanischen Staaten zu finden seien. In der
nordgriechischen Stadt Thessaloniki seien Frauen zwischen 25 und 50
Jahren aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion die grösste
Migrantengruppe. Sie seien vor allem als Haushaltshilfen
beschäftigt und mit der Betreuung alter Menschen betraut.
Ausstehende Zahlungen
Etwa 80 Personen behandeln die Praksis-Mitarbeiter pro Tag,
abgewiesen wird niemand. Die meisten Patienten seien Personen ohne
Papiere und Aufenthaltsbewilligung, sagt Antypas. Ein griechischer
Ministerialerlass sieht vor, dass Inhaber einer Pink Card das Recht auf
kostenlose medizinische Versorgung in staatlichen Spitälern haben.
Doch Amnesty International moniert, dass registrierten Asylbewerbern
zwar gemäss internationalem Recht adäquate medizinische
Behandlung zusteht. Doch wüssten viele Spitäler von dieser
Regelung nichts und verlangten Geld für die Leistungen.
In den Kliniken von Praksis kümmert man sich vor allem um
Neuankömmlinge. Bereits entlang der griechischen Grenze zur
Türkei und in den Aufnahmezentren auf den Inseln verteilen
Freiwillige Informationsblätter von Praksis, auf denen
erklärt wird, wo sich Flüchtlinge melden müssen, wo es
kostenlose Mahlzeiten und Kleidung gibt und wo man medizinische und
juristische Betreuung erhalten kann. Praksis finanziert sich durch
private Sponsoren. Einige Projekte, wie die Unterbringung von
Flüchtlingen in von der Nichtregierungsorganisation gemieteten
Wohnungen, genannt "Stegi" (Obdach), werden zu 75 Prozent durch den
Europäischen Flüchtlingsfonds und zu 25 Prozent vom
griechischen Gesundheitsministerium finanziert. Die Zahlungen für
das Projekt "Stegi" durch die griechische Regierung stünden seit
10 Monaten aus, sagt Antypas. "Wir können eine Familie doch nicht
auf die Strasse setzen und ihr sagen: Die Regierung zahlt halt nicht."
Auch versuchen die Mitarbeiter, Asylbewerber weiterzubilden und
in Jobs zu vermitteln. Vor der Wirtschaftskrise sei dies noch relativ
gut gelungen, sagt Antypas, doch nun seien die Migranten die Ersten,
die ihre Jobs verlören. In den letzten Monaten habe man
verstärkt beobachtet, dass Migranten entweder in ihre
Herkunftsländer zurückgingen oder auch versuchten, in andere
Staaten zu gelangen. Die meisten Migranten betrachteten Griechenland
nicht als ihr eigentliches Ziel. Es sei ein "geografisches Muss", das
es auf dem Weg in andere europäische Länder zu
überwinden gelte, sagt Antypas.
Fluch von Dublin II
Doch selbst wenn es die Migranten schaffen, in ein anderes
europäisches Land zu gelangen, können sie nicht sicher sein,
nicht doch wieder nach Griechenland zurückgeschickt zu werden.
Schuld daran ist die sogenannte Dublin-II-Verordnung (siehe Kasten). Am
Abend trifft sich Amadu mit seinen Freunden auf der Plateia Amerikis.
Sie alle träumen von Deutschland, der Schweiz, England oder
Belgien. Einer von ihnen hat es nach eigener Aussage sogar einmal von
Griechenland über Spanien und Frankreich bis nach Belgien
geschafft, wo sein Onkel lebt. In Brüssel habe er eine dringend
notwendige Operation erhalten, danach sei er von den Behörden in
ein Flugzeug nach Athen gesetzt worden. Jetzt lebe er wieder auf der
Strasse.
"Noch vor wenigen Jahren sind wir Griechen in alle Welt
emigriert, in europäische Länder, die USA, Australien", sagt
Tzanetos Antypas. "Daher würde ich erwarten, dass die griechische
Gesellschaft sensibler mit den Flüchtlingen umgeht. Aber das tut
sie nicht. Sie hat ein sehr kurzes Gedächtnis."
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Der Europäische "Verschiebebahnhof"
ela. · Seit 2003 regelt das Dublin-II-Abkommen, welches
EU-Mitgliedsland für ein Asylverfahren zuständig ist. Auch in
Norwegen, Island und seit 2008 in der Schweiz kommt die Verordnung zur
Anwendung. Durch sie soll vermieden werden, dass Flüchtlinge in
mehreren Staaten Asylanträge stellen. Die
südeuropäischen Länder an der EU-Aussengrenze stehen
unter Druck, da viele Migranten über sie einreisen und sie somit
verantwortlich für die Bearbeitung der Fälle sind. Die
Organisation Pro Asyl kritisiert, dass sich die EU so zu einem
"Verschiebebahnhof" für Flüchtlinge entwickelt habe und ein
regelrechter Wettbewerb stattfinde, wer die meisten Flüchtlinge an
die Nachbarländer loswird.
Internationale Organisationen haben wiederholt für eine
Aussetzung der Rückführungen nach Griechenland plädiert,
da ein Zugang zu einem fairen Asylverfahren dort nicht gegeben sei.
Vereinzelt haben Gerichte auch schon gegen eine Rückschiebung
entschieden. Am 1. September hat der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte in Strassburg den Fall eines afghanischen
Asylbewerbers verhandelt, der im Rahmen der Dublin-II-Verordnung von
Belgien nach Griechenland zurückgeschickt worden war. An der
Anhörung kritisierte der Menschenrechtskommissar des Europarats,
Thomas Hammarberg, die Situation von Migranten in Griechenland.
Staaten, die durch die Rücküberstellung von Flüchtlingen
stark überlastet seien, müssten von ihren Verpflichtungen aus
der Dublin-II-Verordnung befreit werden, so Hammarberg. Dies hatte im
Juli auch der griechische Vizeminister für
Bevölkerungsschutz, Spyros Vougias, in Brüssel gefordert.
Bilaterale Abkommen zwischen Staaten verschieben oft nur die Probleme.
Auf einem informellen EU-Minister-Treffen zur europäischen
Immigrationspolitik am Montag wurde betont, dass eine zwischen Rom und
Tripolis getroffene Vereinbarung zwar zu einem Rückgang der
illegalen Einwanderung in Italien geführt habe, schickt Rom nun
doch Bootsflüchtlinge postwendend nach Libyen zurück.
Dafür beklagte Vougias, dass ein Grossteil dieser Migranten nun
Asyl in Griechenland suchten. Doch auch Athen will sich mit einem
ähnlichen Abkommen die unerwünschten Einwanderer vom Leib
halten. Dafür hat Griechenland mit Ankara im Mai 2010 ein
Rückübernahmeabkommen unterzeichnet, um sicherzustellen, dass
die Türkei illegal eingereiste Migranten wieder übernimmt.
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SANS-PAPIERS
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Basler Zeitung 13.9.10
Hoffen auf den Ständerat
Miranda B. ist Sans-Papiers und möchte gerne eine Lehre
machen
Roman Schenkel
Zum Sessionsstart diskutiert der Ständerat heute über
Berufslehren für Sans-Papiers. Wenn er sie gutheisst, kann Miranda
B. bald eine Lehre beginnen. Wenn nicht, muss sie auf den positiven
Entscheid ihres Härtefallgesuchs hoffen.
Wäre, würde, hätte. Miranda B.* spricht viel im
Konjunktiv. Ihre Situation zwingt sie dazu. Miranda B. ist
Sans-Papiers. Sie lebt ohne Pass und ohne gültige
Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz. Miranda würde gerne ihre
Eltern besuchen, sie würde gerne Ferien am Strand machen, vor
allem aber würde sie gerne eine Lehre machen. Ohne Pass ist all
das nicht möglich. "Ich komme mir vor wie im Gefängnis", sagt
sie. Schweizweit, so schätzt der Schweizerische
Städteverband, könnten pro Jahr zwischen 200 und 400
Lehrverhältnisse mit Papierlosen abgeschlossen werden. Das
schreibt der Verband in einem vergangene Woche veröffentlichten
Bericht. Exaktere Zahlen existieren nicht. Miranda B. hofft als eine
von vielen auf einen positiven Entscheid im Ständerat.
Während des Kriegs in Ex-Jugoslawien vor zwölf Jahren
flüchteten Mirandas Eltern mit sechs Kindern in die Schweiz. Die
Familie erhält eine Aufenthaltsbewilligung und lässt sich im
Kanton Obwalden nieder. Ständig muss sie umziehen. Kaiserstuhl,
Alpnach, Kerns - Obwalden kenne sie ziemlich gut, sagt Miranda
lakonisch.
Bis 2007 läuft alles gut. Miranda geht zur Schule, sie macht
die Primar- und dann die Sekundarschule. Sie fühlt sich wohl. "Ich
hatte stets gute Schulnoten." Doch 2007 wird die Aufenthaltsbewilligung
nicht verlängert. Die Familie wird aufgefordert, die Schweiz zu
verlassen. "Da sind wir untergetaucht", sagt Miranda. Ihr Vater
verlässt die Schweiz. "Ich habe ihn seither nicht mehr gesehen."
Die Mutter bleibt mit den Kindern zurück.
Alleine
2009 gerät Mirandas Mutter mit drei Kindern in eine Passkontrolle
- sie werden ausgeschafft. Miranda und zwei Geschwister weilten an
diesem Tag bei Verwandten. Sie erfahren erst ein paar Tage später,
was passiert ist. Seither schlägt sich Miranda alleine durch. Die
jüngeren Geschwister sind bei einer Pflegefamilie. In Basel kann
sie das zehnte Schuljahr absolvieren. Eine Angst begleitet sie. "Ich
wusste immer, dass die Polizei mich irgendwann erwischen wird." Miranda
verhält sich deshalb so unauffällig, wie es nur geht. Sie
wohnt bei ihrem Freund, einem Schweizer. "Ich will hierbleiben, die
Schweiz ist mein Zuhause", sagt sie.
Vor einem Monat begann sie die Vorlehre-A-Schule. Zwei Tage
Schule, drei Tage Arbeit. "Dazu brauchte ich aber ein Praktikum", so
Miranda. Sie schrieb über 200 Bewerbungen - ein einziges
Vorstellungsgespräch bei einer Kinderkrippe schaute dabei heraus.
"Doch das war mein Glück", sagt sie. Sie bekam die
Praktikumsstelle. Nun hat sie einen AHV-Ausweis und sogar eine
Krankenkasse. Die Chefin kenne ihre Situation. Ihr Lohn wird auf das
Konto ihres Freundes ausbezahlt.
Gefängnis
Dann passiert es: Mitte August taucht unvermittelt die Polizei bei der
Wohnung ihres Freundes auf. "Ich konnte mich natürlich nicht
ausweisen", erzählt sie. Sie muss mit auf den Polizeiposten, wird
verhört und bleibt drei Tage lang im Gefängnis. "Ich dachte,
jetzt werde ich ausgeschafft." Eine Anlaufstelle für Sans-Papiers
reicht kurzerhand ein Härtefallgesuch für Miranda ein, das
schützt sie vor einer Ausweisung - vorerst. Sie wird freigelassen
und wartet seither gespannt auf den Entscheid.
Es sei wie das Erklimmen eines steilen Bergs: "Es war ein drei
Jahre langer Anstieg und jetzt bin ich kurz vor dem Berggipfel." Bei
einem positiven Entscheid auf das Härtefallgesuch könnte
Miranda sogar eine Lehre beginnen. "Das wäre für mich wie ein
Geschenk. Ich wäre sehr dankbar und würde die Chance packen",
sagt Miranda. Da ist er wieder - der Konjunktiv.
*Name ist der Redaktion bekannt
--
Schule ja, Lehre nein?
Standesinitiative. Personen ohne Aufenthaltsbewilligung -
sogenannte Sans-Papiers - können in der Schweiz zur Schule gehen.
Sogar Gymnasium und Studium sind möglich. Eine Berufslehre
hingegen geht nicht. Sans-Papiers können keinen Arbeitsvertrag
unterzeichnen, denn jeder Arbeitgeber ist verpflichtet
nachzuprüfen, ob seine Arbeitnehmer legal in der Schweiz sind. Er
macht sich sonst der Schwarzarbeit strafbar. Dennoch sind Fälle
bekannt, in denen Sans-Papiers eine Lehre absolviert hätten, etwa
weil die Lehrmeister erst spät vom Status erfuhren.
Heute behandelt der Ständerat Vorstösse aus dem
Nationalrat sowie eine Standesinitiative aus dem Kanton Neuenburg. Sie
fordern, dass Sans-Papiers nach der Schule eine Lehre machen
können. Das Thema ist umstritten. Der Nationalrat stimmte der Idee
im Frühling knapp zu, die Staatspolitische Kommission des
Ständerats empfahl auch zur Annahme. Der Ständerat wies die
Vorlage aber zurück und verlangte mehr Fakten. Ende August
votierte dann eine knappe Kommissionsmehrheit dagegen. Die Meinungen
sind vor allem in den Mitteparteien gespalten. ROS
---
Zentralschweiz am Sonntag 12.9.10
Sans-Papiers
Bund verschärft Kontrolle
Von Jürg Auf der Maur
Der Bund will Sans-Papiers und Arbeitgebern stärker auf die
Finger schauen. Dazu soll der Informationsfluss zwischen den
Behörden verbessert werden.
"Ein Sans-Papiers kann einzig über die Bezahlung von
Beiträgen bei der AHV registriert werden. Dabei kommt er nicht
selber mit der zuständigen Stelle in Kontakt, sondern nur
über den Arbeitgeber, der ihn bei der AHV anmeldet und die
Beiträge abrechnet." Das hält der Bundesrat auf eine
Interpellation von Nationalrat Ruedi Lustenberger (CVP, Luzern) fest,
der sich bereits zum zweiten Mal erkundigte, weshalb Menschen, die
eigentlich gar nicht hier sein dürften, AHV-Ausweise besitzen.
Arbeitgeber in der Pflicht
Die Antwort des Bundesrates lässt aufhorchen. Die
Landesregierung hält zwar fest, dass das von Lustenberger
skizzierte Problem gar nicht existiere. Trotzdem ortet auch der
Bundesrat Handlungsbedarf. Jedenfalls wird nun abgeklärt, wie der
Informationsfluss zwischen den Sozialversicherungs- und
Migrationsbehörden verbessert werden kann. Vertreter des
Departementes des Innern und des Justiz- und Polizeidepartementes
strecken in einer Arbeitsgruppe die Köpfe zusammen, wie das
Problem gelöst werden könnte. Denn für den Bundesrat ist
klar: Der Arbeitgeber hat vor Stellenantritt eines Ausländers sich
darüber zu versichern, dass eine Bewilligung zur Erwerbsarbeit
vorliegt. Wenn nicht, macht sich der Arbeitgeber strafbar und wird mit
einer Geldstrafe gebüsst. Mit anderen Worten: Die Kontrollen
sollen verschärft werden.
Diese härteren Kontrollen sind ganz im Sinne von
Lustenberger. "Es ist richtig, dass der Bund in diesem Bereich
stärker aufpassen will", sagt Lustenberger der "Zentralschweiz am
Sonntag". Es könne, so Lustenberger, nicht im Sinne eines fairen
Gewerbetreibenden sein, wenn sich andere Vorteile verschafften, wenn
sie die Gesetze nicht einhalten. Ansonsten habe er bei der ganzen Sache
"nach wie vor kein gutes Gefühl". Zwar sei die Antwort des
Bundesrates dieses Mal ausführlicher und deutlicher. Umso mehr
wolle er nun von den Kantonen wissen, wie es bei ihnen bestellt sei. Er
befürchte, so Lustenberger, dass hier je nach Kanton völlig
unterschiedlich streng vollzogen werde.
Lustenberger: "Ich will jetzt von anderen Nationalräten
wissen, wie die Gesetze bezüglich Sans-Papiers in ihren Kantonen
umgesetzt werden." Je nachdem behalte er sich weitere Schritte vor.
juerg.aufdermaur@zentralschweizamsonntag.ch
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STATISTIK-KRIMI
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Bund 13.9.10
Kurz Ausländerkriminalität
Tamilen sind krimineller als Männer aus Ex-Jugoslawien
Männer aus Angola, Nigeria und Algerien kassieren in der
Schweiz sechsmal mehr Strafanzeigen als Schweizer Männer.
Dafür sind die Schweizer fast doppelt so kriminell wie
eingewanderte Deutsche. Erstmals konnten die Experten vom Bundesamt
für Statistik die Kriminalitätsrate in Beziehung zur
Nationalität der in der Schweiz wohnhaften Bevölkerung
setzen. Die Zahlen basieren auf der polizeilichen Kriminalstatistik
2009 und wurden für die "SonntagsZeitung" erhoben. Demnach sind
Tamilen fast fünfmal krimineller als Schweizer. Männer aus
dem ehemaligen Jugoslawien geraten hingegen doppelt oder dreimal so
viel in Konflikt mit dem Gesetz. Alard du Bois-Reymond, Direktor des
Bundesamts für Migration (BFM), zeigt sich gegenüber dem
"Sonntag" überrascht "von der Deutlichkeit des Bildes". "Die
Zahlen sind frappierend", so der BFM-Chef. "Noch immer sind Afrikaner
in der Schweiz zu wenig gut integriert." (derbund.ch/Newsnetz)
---
BZ 13.9.10
Kriminalitätsrate
Afrikaner begehen mehr Straftaten als Schweizer
Afrikaner begehen in der Schweiz bis zu sechsmal mehr Straftaten
als Schweizer. Einwanderer aus Deutschland leben dagegen sehr
gesetzestreu. Erstmals hat der Bund die Kriminalitätsrate in Bezug
zur Nationalität gesetzt.
Es ist ein düsteres Bild, welches die neusten Zahlen des
Bundesamtes für Statistik (BFS) von den afrikanischen Einwanderern
zeichnen: Demnach ist in der Schweiz niemand so kriminell wie
afrikanische Männer zwischen 18 und 34 Jahren. Sie begehen bis zu
sechsmal mehr Delikte gegen das Strafgesetzbuch als Schweizer. In diese
Kategorie fallen etwa Diebstahl, Körperverletzung, Mord, Betrug,
Erpressung, Menschenhandel und Vergewaltigung. Nicht
berücksichtigt wurden in der aktuellen Erhebung Drogendelikte.
Doch auch in dieser Sparte stehen afrikanische Einwanderer an der
Spitze.
Das Bundesamt für Statistik hat die Zahlen für die
"SonntagsZeitung" erhoben und sich auf die Daten der polizeilichen
Kriminalitätsstatistik 2009 gestützt. Es ist das erste Mal,
dass die Kriminalitätsrate so konkret in Bezug zur
Nationalität der Straftäter gesetzt wird.
Angolaner an der Spitze
In der Kriminalitätsrangliste, welche diverse
Sonntagsblätter publiziert haben, fällt auf, dass unter den
ersten zehn Ländern acht afrikanische vertreten sind (siehe
Tabelle). An der Spitze stehen die angolanischen Einwanderer, welche
6,3-mal so viele Straftaten begehen wie die Schweizer. Nigerianer und
Algerier begehen ähnlich viele Delikte.
Des Weiteren fällt auf: Auch Einwanderer, die in der Schweiz
gemeinhin als gut integriert gelten, tauchen in der Rangliste weit
vorne auf. So etwa die Tamilen, die ebenfalls zu den zehn kriminellsten
Nationen zählen. Die Zürcher Integrationsbeauftragte Julia
Morais erklärt dies in der "SonntagsZeitung" so: "Tamilen gelten
als fleissige Leute, die ohne Murren schlecht bezahlte Arbeit
übernehmen. Aber das Leben in ihrer Gemeinschaft kennt man zu
wenig. Gewaltprobleme zeigen sich dort und innerhalb der Familien." Die
Tamilen seien nicht gut integriert, so Morais weiter: "Es ist eine
Parallelgesellschaft. Tamilen bleiben meist unter sich, heiraten
untereinander."
Der Durchschnitt aller hier lebenden Ausländer begeht
1,6-mal mehr Straftaten als ein Schweizer. Die oft gescholtenen
Einwanderer aus den Balkanstaaten liegen zwar laut Statistik über
diesem Schnitt, jedoch weit unter der Kriminalitätsrate der
meisten afrikanischen Länder.
Die braven Deutschen
Am anderen Ende der Kriminalitätsrangliste stehen die
Zuwanderer aus unseren Nachbarstaaten. Fazit: Österreicher und
Franzosen sind gar gesetzestreuer als die Schweizer. Am bravsten jedoch
sind die Deutschen, die etwa halb so viele Strafdelikte begehen wie die
Schweizer.
Für FDP-Nationalrat und Integrationsspezialist Philipp
Müller ist klar, dass Handlungsbedarf besteht. Er will die
Zuwanderung aus Nicht-EU-Staaten einschränken. "Die Zahlen zeigen
klar, dass wir dort ein Integrationsproblem haben." Müller reicht
dazu nächste Woche drei parlamentarische Initiativen ein.
Gegenüber dem "Sonntag" zeigte sich Migrationschef Alard du
Bois-Reymond von "der Deutlichkeit des Bildes" überrascht. Sein
Fazit: "Die Asylverfahren müssen beschleunigt, abgewiesene
Asylbewerber schneller ausgeschafft werden." Auf der anderen Seite
gelte es, die Integrationsbemühungen zu verstärken.
phm
Straftaten
Auffällige Angolaner
Staatsangehörigkeit der Beschuldigten X-faches der Schweiz
Angola 6,3
Nigeria 6,2
Algerien 6,0
Elfenbeinküste 5,9
Dominikanische Republik 5,8
Sri Lanka 4,7
Kongo (Kinshasa) 4,7
Kamerun 4,4
Marokko4,3
Tunesien 4,2
Irak 3,7
Kolumbien 3,2
Türkei3,2
Serbien und Montenegro (inklusive Kosovo) 3,1
Brasilien 3,0
Bosnien und Herzegowina 2,3
Mazedonien 2,3
Portugal 1,3
Italien 1,2
Spanien1,1
Schweiz 1,0
Österreich 0,8
Frankreich 0,7
Deutschland 0,6
Lesebeispiel: Die Tabelle zeigt etwa, dass 18- bis
34-jährige Algerier, die in der Schweiz leben, sechsmal mehr
Straftaten begehen als Schweizer.
Quellen: Bundesamt für Statistik/"SonntagsZeitung"
---
20 Minuten 13.9.10
"Sie werden immer und immer wieder straffällig"
LUZERN. Der Präsident des Polizeibeamtenverbandes, Heinz
Buttauer, klagt über die Sisyphusarbeit der Polizei im Kampf gegen
immer dieselben Täter. Er fordert, dass sie hart bestraft und
konsequent ausgeschafft werden.
Herr Buttauer, Afrikaner aus Angola, Nigeria und Algerien sind
statistisch die kriminellsten Ausländer in der Schweiz (siehe
Box). Sind Sie überrascht?
Heinz Buttauer: Nein. Wir Polizisten haben in letzter Zeit
zunehmend und sehr oft mit Westafrikanern zu tun. Für sie ist
unser Land äusserst attraktiv: Schlepperbanden machen ihnen weis,
sie kämen in ein Schlaraffenland, wo das Geld an den Bäumen
hängt. Wenn die Realität dann anders aussieht, driften diese
Leute in die Kriminalität ab, begehen Überfälle und
stehlen. Hinzu kommt, dass die Schweiz zu einem Zentrum des
afrikanischen Drogenhandels geworden ist.
Wie kann die Ausländerkriminalität aus Sicht der
Polizei bekämpft werden?
Im Moment machen wir eine Sisyphusarbeit: Die gleichen Täter
werden immer und immer wieder straffällig - und nichts passiert.
Das ist sehr frustrierend und kann doch nicht sein. Es braucht deshalb
härtere, abschreckende Strafen, die auch im Ausland wahrgenommen
werden. Hier ist vor allem die Justiz gefordert. Auch über weniger
luxuriöse Gefängnisse dürfte man ruhig einmal nachdenken.
Abschreckende Strafen sollen potenziell delinquente Migranten
fernhalten?
Ja. Aus unserer Sicht müsste man kriminelle Ausländer
aber auch konsequenter ausschaffen. Es gibt in der Praxis einfach zu
viele Rekursmöglichkeiten.
Sehen Sie auch im Asylwesen Handlungsbedarf?
Wir verlangen vom Bundesamt für Migration, dass die
Asylverfahren beschleunigt werden. Das ist im Sinne der echten
Flüchtlinge: Sie geraten leider mit ins Zwielicht, wenn Personen
mit enormer krimineller Energie um Asyl nachsuchen. DAW
--
Fehlende Integration als Hauptgrund für Kriminalität
NEUENBURG. Eine neue Erhebung des Bundesamts für Statistik
zeigt erstmals, welche Ausländer in der Schweiz am kriminellsten
sind. In den Top Ten finden sich Bürger aus acht afrikanischen
Staaten. Den ersten Platz nehmen die Angolaner ein, die rund sechsmal
häufiger mit dem Gesetz in Konflikt kommen als Schweizer (vgl.
Liste rechts). Auch Bürger aus dem ehemaligen Jugoslawien haben
eine höhere Kriminalitätsrate als Schweizer. Anders sieht es
bei den Deutschen aus: Sie sind nur rund halb so kriminell wie
Schweizer. Überraschend: Auch die Tamilen sind - trotz ihres guten
Images in der Bevölkerung - überdurchschnittlich kriminell.
Die Zürcher Integrationsbeauftragte Julia Morais begründet
dies mit der fehlenden Integration: Von den Gewaltproblemen, die sich
in der Gemeinschaft und in der Familie zeigten, dringe wenig nach
aussen. In der Erhebung wurde die Anzeigestatistik nach Nationen
aufgeschlüsselt und ins Verhältnis zur Wohnbevölkerung
der Schweiz gesetzt. Erfasst sind darin Delikte nach dem
Strafgesetzbuch, also etwa Diebstahl, Mord oder Körperverletzung,
nicht aber Drogendelikte.
--
Top 27
Beschuldigte nach StGB: Faktoren Schweizer - Ausländer
Angola 6,3
Nigeria 6,2
Algerien 6.0
Elfenbeinküste 5,9
Dominikanische Republik 5,8
Sri Lanka 4,7
Kongo (Kinshasa) 4,7
Kamerun 4,4
Marokko 4,3
Tunesien 4,2
Irak 3,7
Kolumbien 3,2
Türkei 3,2
Serbien, Montenegro (inkl. Kosovo) 3,1
Brasilien 3.0
Ägypten 2,7
Kroatien 2,4
Bosnien und Herzegowina 2,3
Mazedonien 2,3
TOTAL AUSLÄNDER 1,6
Portugal 1,3
Italien 1,2
Spanien 1,1
SCHWEIZ 1,0
Österreich 0,8
Frankreich 0,7
Deutschland 0,6
QuellE: BfS
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Sonntagszeitung 13.9.10
Tamilen krimineller als Ex-Jugoslawen
Für die SonntagsZeitung erhobene Deliktquoten
überraschen: Deutsche halb so auffällig wie Schweizer
Matthias Halbeis
Zürich Männer aus Angola, Nigeria und Algerien
kassieren in der Schweiz sechsmal mehr Strafanzeigen als Schweizer
Männer. Dafür sind diese fast doppelt so kriminell wie
eingewanderte Deutsche. Erstmals konnten die BFS-Statistiker die
Kriminalitätsrate in Beziehung zur Nationalität der in der
Schweiz wohnhaften Bevölkerung setzen. Die Zahlen basieren auf der
polizeilichen Kriminalstatistik 2009 und wurden für die
SonntagsZeitung erhoben.
Überraschend: Hohe Kriminalitätsquoten finden sich
nicht nur unter Leuten aus afrikanischen Staaten, sondern auch bei
Tamilen. Ihre Werte liegen im Vergleich mit den Schweizern fast
fünfmal höher. Im Gegensatz dazu geraten Männer aus dem
ehemaligen Jugoslawien nur doppelt bis dreimal so viel in Konflikt mit
dem Gesetz, noch weniger oft als Türken. Allerdings sind diese
Werte höher als der Durchschnitt aller Ausländer. Tief liegen
die Kriminalitätswerte bei EU-Bürgern: Deutsche, Franzosen
und Österreicher sind sogar noch gesetzestreuer als Einheimische.
Bildung und soziale Integration mindern das Konfliktpotenzial
Weil in den Gruppen Frauen und Junge ungleich vertreten sind,
basieren die Werte auf der Kriminalität von Männern zwischen
18 und 34 Jahren bei Delikten aus dem Strafgesetzbuch (StGB).
Statistik-Experten attestieren den Zahlen eine gute Aussagekraft: Dies,
weil sich offenbar auch in der Verurteilungsstatistik praktisch
ähnliche Kriminalitätsraten und eine fast identische
Rangliste der verschiedenen Nationalitäten zeigten.
"Die Wahrscheinlichkeit eines Verstosses gegen das StGB
hängt bei allen Gruppen - auch bei Schweizern - zuerst mit
Bildung, sozialer Integration und sozialer Herkunft zusammen", sagt
Manuel Eisner, Schweizer Kriminologieprofessor an der Universität
Cambridge. Insofern zeige sich, dass Immigranten mit hohem Anteil an
Gutausgebildeten und Integrierten weniger in Konflikt mit dem Gesetz
kämen als solche mit tiefem Sozialstatus. "Weiter verteilen sich
Risikofaktoren für Delinquenz ungleich auf verschiedene
Immigrantengruppen", sagt Eisner. So etwa Gewalt in der Familie,
geringe schulische Bildung sowie Männlichkeitsgehabe, welche
Gewalt und Aggression legitimieren. Gruppen, in denen solche Faktoren
seltener vorkommen, schnitten besser ab.
SVP-Nationalrat Yvan Perrin hatte die Erhebung dieser Zahlen 2007
in einer Motion gefordert. "Jetzt zeigt sich, wo genau Handlungsbedarf
liegt", so Perrin. Nötig seien Integrationsmassnahmen bei allen
Gruppen, die hohe Werte aufwiesen. "Nicht nur für bisher bekannte,
sondern auch für neue wie Dominikaner oder Tamilen."
FDP-Integrationsspezialist Philipp Müller will die
Einwanderung aus Nicht-EU-Staaten einschränken: "Die Zahlen zeigen
klar, dass wir dort ein Integrationsproblem haben." Er reicht dazu
nächste Woche drei parlamentarische Initiativen ein. Die
Einwanderung aus dem EU-Raum sei dagegen integrationspolitisch wenig
problematisch. Doch für ihn ist klar: "Nur wenn wir den
Stimmbürgern zeigen, dass wir die Einwanderung aus
Nicht-EU-Staaten stark einschränken, erleidet eine nächste
Abstimmung über die EU-Freizügigkeit keinen Schiffbruch."
--
Meinung Matthias Halbeis Nachrichtenredaktor
Fordern und Fördern - diese Formel hat weiterhin
Gültigkeit
Statistiken können unangenehme Fakten aufdecken. Trotzdem
tragen sie zur Versachlichung bei. So auch die neuen Zahlen des
Bundesamtes für Statistik. Indem sie erstmals
Kriminalitätsraten der verschiedenen Nationen in der Schweizer
Wohnbevölkerung präzis ausweisen, zeigen sie direkt, wo
integrationspolitischer Handlungsbedarf besteht. Und dieser ist
längst nicht nur dort gegeben, wo ihn viele vermutet hätten.
Denn wenn es Dominikaner und Tamilen unbemerkt von der
Öffentlichkeit an die Spitze der Kriminalitätsrangliste
schaffen, zeigt dies, wie einseitig unsere Wahrnehmung sein kann. Klar
ist: Wer gut integriert ist und über eine gute Ausbildung
verfügt, wird weniger kriminell. Entsprechend sind Massnahmen
für exponierte Gruppen auszugestalten. Wer bei uns leben will,
muss unsere Sprachen erlernen, sich bilden und sich in die Arbeitswelt
eingliedern. Fordern und Fördern - so hat es der Basler
Integrationsspezialist Thomas Kessler einst formuliert. Die Zahlen
zeigen: Diese Formel hat an Aktualität nichts eingebüsst.
---
Sonntag 12.9.10
Statistik zeigt: Afrikaner sind die kriminellsten Ausländer
Chef des Bundesamtes für Migration sieht Integrationsproblem
von Katia Murmann
Erstmals zeigt eine schweizweite Statistik, bei welchen
Einwanderern die Kriminalitätsrate am höchsten ist. Das
Ergebnis: Migranten aus Afrika belegen acht der ersten zehn
Plätze. Staatsangehörige aus Angola begehen 6,3-mal mehr
Verbrechen gegen das Strafgesetzbuch als Personen mit Schweizer Pass,
gefolgt von Nigeria (6,2-mal mehr) und Algerien (6-mal mehr). Insgesamt
begehen Ausländer 1,6-mal mehr Delikte als Schweizer. Einzige
Ausnahme sind die Einwanderer aus unseren Nachbarstaaten: Deutsche,
Franzosen und Österreicher sind unterdurchschnittlich kriminell
und belegen hinter den Schweizern die letzten Plätze.
Für seine Auswertung hat das Bundesamt für Statistik
(BfS) die Anzahl der straffällig gewordenen Ausländer,
aufgeschlüsselt nach Nationen, in Relation zur ständigen
Wohnbevölkerung gesetzt. Alard du Bois-Reymond, der Direktor des
Bundesamts für Migration (BfM), zeigt sich im Interview
überrascht "von der Deutlichkeit des Bildes". Die Zahlen seien
"frappierend", so der BfM-Chef: "Noch immer sind Afrikaner in der
Schweiz zu wenig gut integriert." Seite 9
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Afrikaner sind die kriminellsten Ausländer
Neue Statistik zeigt: Bürger von Angola, Nigeria und
Algerien begehen hierzulande bis zu sechsmal mehr Verbrechen als
Schweizer
von Katia Murmann
Der Direktor des Bundesamtes für Migration, Alard du
BoisReymond, sieht ein Integrationsproblem bei Migranten aus Afrika.
Zudem müssten Ausschaffungen beschleunigt werden.
Angolaner, Nigerianer und Algerier: Bei diesen Einwanderern ist
die Kriminalitätsrate in der Schweiz am höchsten. Das zeigt
eine Auswertung des Bundesamtes für Statistik (BfS), die dem
"Sonntag" vorliegt. Darin wurde erstmals, aufgeschlüsselt nach
Nationen, die Anzahl der straffällig gewordenen Ausländer in
Relation zur ständigen Wohnbevölkerung der Schweiz gesetzt.
Entstanden ist eine Art Rangliste der kriminellsten
Ausländer. Die Ergebnisse:
Auf den ersten zehn Plätzen finden sich Bürger aus acht
afrikanischen Ländern. Am höchsten ist die
Kriminalitätsrate bei Staatsangehörigen aus Angola (6,3-mal
mehr Straftaten als Schweizer Bürger), es folgen Nigeria (6,2-mal
mehr) und Algerien (6-mal mehr).
Auch Serben, Montenegriner und Kosovaren haben eine hohe
Kriminalitätsrate: Sie begehen im Schnitt 3,1-mal mehr Verbrechen
als Schweizer Staatsbürger.
Gesamthaft betrachtet sind Ausländer krimineller als
Schweizer: Sie begehen 1,6-mal mehr Verbrechen als Personen mit
Schweizer Pass.
Eine Ausnahme sind die Einwanderer aus unseren Nachbarstaaten:
Österreicher, Franzosen und Deutsche sind unterdurchschnittlich
oft kriminell und liegen in der Auswertung des Bundesamtes für
Statistik hinter den Schweizern auf den letzten Plätzen.
Die Auswertung des Bundesamtes für Statistik bezieht sich
auf 18- bis 34-jährige Männer - auf jene Personengruppe,
welche gemäss Erhebungen die meisten Delikte begeht.
Berücksichtigt wurden Straftaten gegen das Strafgesetzbuch (StGB),
also Delikte wie Diebstahl, Mord, Körperverletzung, Betrug,
Erpressung, Menschenhandel und Vergewaltigung.
Nicht berücksichtigt wurden Drogendelikte. Auch hier stehen
afrikanische Staatsangehörige an der Spitze. Erst vergangene Woche
informierte die Polizei, dass der Kokainmarkt in der Schweiz
hauptsächlich von Nigerianern und anderen Gruppen aus Westafrika
dominiert wird. Die Drogendealer kommen meist als Asylbewerber getarnt
in die Schweiz.
Auf dieses Problem hatte der Direktor des Bundesamtes für
Migration (BfM), Alard du Bois-Reymond, bereits im April in einem
Interview mit der "NZZ am Sonntag" hingewiesen - und war dafür
scharf kritisiert worden. Gegenüber dem "Sonntag" zeigt sich du
Bois-Reymond nun überrascht "über die Deutlichkeit des
Bildes" der neuen Statistik. "Die Zahlen sind frappierend", so der
BfM-Chef (siehe Interview). Er fühle sich dadurch in seiner
Haltung bekräftigt. Du Bois-Reymond: "Noch immer sind Afrikaner in
der Schweiz zu wenig gut integriert."
Für Polizisten sind die Ergebnisse der Auswertung wenig
überraschend: "Die Statistik bestätigt, was wir als
Polizisten jeden Tag erleben", sagt Heinz Buttauer, Präsident des
Verbandes Schweizerischer Polizei-Beamter (VSPB). "Wir beobachten seit
Jahren, dass es Bevölkerungsgruppen gibt, die mit dem Vorsatz in
die Schweiz kommen, hier zu delinquieren." Dieses Problem habe sich in
den letzten Jahren verschärft. "Es ist leider so, dass immer die
gleichen Leute in der Schweiz straffällig werden, aber es passiert
ihnen nichts", so Buttauer. Er könne nicht verstehen, warum
Ausländer, die permanent gegen das Gesetz verstossen, hier leben
dürften. Buttauer: "Auch um wirklichen Flüchtlingen eine
Chance geben zu können, ist es unerlässlich, dass
Asylbewerber mit einem negativen Bescheid nicht über Jahre hinweg
rekurrieren können, sondern rasch ausgeschafft werden." Kommentar
Seite 15
--
Migrationschef: "Afrikaner sind in der Schweiz noch nicht gut
genug integriert"
Herr du Bois-Reymond, in der Statistik der kriminellen
Ausländer belegen Angehörige aus afrikanischen Nationen acht
der ersten zehn Plätze. Überrascht Sie das?
Alard du Bois-Reymond: In dieser Deutlichkeit des Bildes
überrascht es mich. Die Zahlen sind frappierend.
Fühlen Sie sich nun bestätigt in Ihren Aussagen zu
kriminellen Nigerianern, für die Sie kritisiert wurden?
Ich habe mich damals vor allem auf die Drogenkriminalität
bei Asylsuchenden in der Schweiz bezogen. Diese ist in der vorliegenden
Statistik nicht erfasst. Aber die neuen Zahlen sind ein weiteres
Element, das in eine ähnliche Richtung geht und das Problem
betrifft, das ich damals angesprochen habe. Es bestätigt mich,
dass die Taskforce, die wir zu Nigeria eingesetzt haben, ein richtiger
Weg ist.
Warum werden Migranten aus Afrika hierzulande so häufig
kriminell?
Für dieses Problem gibt es keine klare Ursache. Aber sicher:
Afrikaner haben es schwer in der Schweiz, sie sind hier noch nicht gut
genug integriert. Das liegt an den Schweizern, die es den Migranten
schwer machen, sich einzufinden. Und es liegt an den Afrikanern selbst,
die zu wenig tun, um sich zu integrieren. Ausserdem haben Afrikaner,
die in die Schweiz kommen, schlechtere Chancen, legaler Arbeit
nachzugehen. Da gleiten viele schnell in die Illegalität ab.
Was kann das Bundesamt für Migration denn gegen die hohe
Kriminalitätsrate tun?
Einerseits müssen wir strenger werden: Die Asylverfahren
müssen beschleunigt werden, abgewiesene Asylbewerber müssen
schneller ausgeschafft werden. Andererseits müssen wir nun aber
auch mehr für die Integration tun, wie wir das jetzt bei den
Nigerianern begonnen haben, beispielsweise durch Gespräche mit der
Diaspora und anderen Landesvertretern. Auch bei Somaliern und Tamilen
gibt es Integrationsprobleme, die wir angehen müssen.
Wurden die Ausschaffungsflüge nach Nigeria mittlerweile
schon wieder aufgenommen?
Im Rahmen des Dublin-Abkommens können wir abgewiesene
Asylbewerber aus Nigeria in andere europäische Länder
zurückführen. Aber es bleiben etwa 20 Prozent, die wir direkt
nach Nigeria bringen müssten, die wir noch nicht ausschaffen
können. Da warten wir auf die Zustimmung der Nigerianer. Ich bin
aber zuversichtlich, dass dieses Problem im Oktober gelöst wird,
wenn eine Delegation aus Nigeria in die Schweiz kommt.Interview: Katia
Murmann
--
Meinung
Afrikaner besser integrieren
von Katia Murmann
Die Nachricht: Eine neue Statistik zur
Ausländerkriminalität zeigt: Am höchsten ist die
Kriminalitätsrate bei Einwanderern aus Afrika. Bürger von
Angola, Nigeria und Algerien begehen hierzulande bis zu sechsmal mehr
Verbrechen als Personen mit Schweizer Pass.
Der Kommentar: Bislang waren es nur Mutmassungen, gestützt
auf Beobachtungen der Polizei und auf Zahlen aus den einzelnen
Kantonen. Doch jetzt zeigt erstmals eine Auswertung für die ganze
Schweiz, welche Ausländergruppen am kriminellsten sind. Das Bild
ist überraschend klar: Einwanderer aus afrikanischen Nationen
belegen in der Statistik acht der ersten zehn Plätze. Damit ist es
amtlich: Die Schweiz hat ein Problem mit kriminellen Afrikanern - nicht
nur, wenn es um Drogenhandel geht, sondern auch bei Delikten wie Raub,
Körperverletzung und Vergewaltigung.
Noch vor einigen Jahren wäre es undenkbar gewesen, dass eine
solche Statistik den Weg an die Öffentlichkeit gefunden
hätte. Die Nationalität von Verbrechern, so die Argumentation
damals, tue nichts zur Sache. Doch in der Öffentlichkeit und in
der Politik hat ein Umdenken stattgefunden - zum Glück. Denn
gerade in der Schweiz, einem Land mit einer der höchsten
Ausländerraten in ganz Europa, ist es eben doch relevant, wer die
Kriminellen unter den Einwanderern sind. Die sind nun benannt, und das
ist gut so. Denn nur wenn alle Fakten auf den Tisch kommen, kann nach
Lösungen gesucht werden. Das muss nun dringend passieren - ohne
Polemik von rechts und links, trotz der politischen Brisanz der Zahlen
im Angesicht der Abstimmung über die Ausschaffungsinitiative.
Auf keinen Fall darf die Veröffentlichung der Statistik dazu
führen, dass alle Afrikaner hierzulande unter Generalverdacht
stehen und ihnen mit Misstrauen begegnet wird. Wohl aber muss sich die
Schweiz fragen, wo die Ursachen liegen, dass Afrikaner besonders
schnell in die Kriminalität abrutschen. Für jene, die sich
hier bereits strafbar gemacht haben, darf es kein Pardon geben. Ihre
Geschichten gilt es genauer zu betrachten: Sind sie bereits mit der
festen Absicht in die Schweiz gekommen, kriminell zu werden? Oder waren
es die Umstände hier, die sie zu Verbrechern gemacht haben? Daraus
gilt es zu lernen. Sicher ist: Die Integration von Afrikanern muss
verbessert werden. Denn die Migrationsströme aus Afrika werden in
der Zukunft nicht abreissen. Statistiken zu Kriminalitätsraten hin
oder her.
katia.murmann@sonntagonline.ch
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AUSSCHAFFUNGEN
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Telebärn 11.9.10
Janine Mba soll ausgeschafft werden
http://www.kyte.tv/ch/telebaern/janine-mba-soll-ausgeschafft-werden/c=84713&s=1021935
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Bund 11.9.10
Aktivisten verhinderten die Ausschaffung einer Frau
Am Sonntag haben Aktivisten des "Bleiberecht-Kollektivs" in Bern
eine Ausschaffung verhindert.
Am letzten Sonntagnachmittag blockierten gut ein Dutzend
Aktivisten des "Bleiberecht-Kollektivs" die Ausfahrt des
Regionalgefängnisses beim Amthaus in Bern. Sie verhinderten so,
dass eine Frau, die in den Kongo ausgeschafft werden sollte, von der
Securitas zum Flughafen Zürich gefahren werden konnte. Dies teilte
das Kollektiv gestern in einer Medienmitteilung mit.
Bei der Frau handelte es sich laut der Pressemitteilung um ein
Mitglied des Kollektivs. Sie sei nach der Aktion für einige Tage
ins Regionalgefängnis zurückgebracht worden und gestern
Morgen entlassen worden, sagt auf Anfrage Anja Brunner vom Kollektiv.
Es handelte sich um eine Ausschaffung gemäss dem sogenannten Level
1, bei der keine besonderen Zwangsmittel angewandt werden. "Auch bei
solchen halb freiwilligen Ausschaffungen stehen die Betroffenen unter
enormem psychischem Druck", sagt Brunner, "falls sie nicht mitmachen,
droht ihnen eine Ausschaffung mit Zwangsmassnahmen." Zudem protestiere
das Kollektiv generell gegen Ausschaffungen. Heute wollen die
Aktivisten in Bern eine weitere Solidaritätskundgebung
durchführen.
Die Sprecherin der Kantonspolizei, Corinne Müller,
bestätigt auf Anfrage, dass am vergangenen Sonntag eine
unbewilligte Kundgebung vor dem Regionalgefängnis Bern stattfand.
Die Polizei habe Personenkontrollen der Aktivisten durchgeführt.
(st)
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WEGGESPERRT
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Sonntag 12.9.10
Vorgestern wurde "Entschuldigung" gesagt
Die "administrativ Versorgten" wurden in Hindelbank empfangen.
Ein Buch beleuchtet ihr Schicksal und stellt Forderungen
von Fränzi Rütti-Saner
Jahrelang hat er gedauert, der Kampf, den die Zürcherin
Ursula Müller-Biondi und ihre Leidensgenossinnen geführt
haben. Ein Kampf gegen Ignoranz und Passivität, gegen
Verdrängung und gegen Missachtung. Ein Kampf um Anerkennung von
Schuld, welche Behörden auf sich geladen hatten, als sie
Männer und Frauen, ohne dass diese ein Verbrechen begangen hatten,
und ohne Gerichtsurteil in Strafanstalten und
Arbeitserziehungseinrichtungen haben einsperren lassen. Und dies seit
den Dreissigerjahren des vergangenen Jahrhunderts bis zum Jahr 1981. Es
traf Menschen, die ein weniger angepasstes Leben führen wollten,
als dies damals üblich war. Es traf aufmüpfige Teenager,
Jugendliche aus schwierigen Familienverhältnissen, Unangepasste,
sie alle - Tausende von Frauen und Männer - "administrativ
versorgt", weggesperrt, immer ohne, dass sie wussten, warum und
für wie lange. Die "administrativ Versorgten" begannen sich - auf
Initiative von Ursula Müller-Biondi hin - zu wehren und besonders
durch die Medien auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen(s. auch
"Sonntag" vom 5. Sept.). Vorgestern nun hat die Schweizerische
Justizministerin, Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf, im Beisein
von Marianne Heimoz, Direktorin der Strafanstalt Hindelbank, sich
stellvertretend bei den Betroffenen offiziell entschuldigt. Viele
dieser Menschen waren mit Angehörigen gekommen, um bei diesem
historischen Moment dabei zu sein. Ihr Bedürfnis, sich zu
vergewissern, dass sie tatsächlich keine Kriminellen seien und
dass damals Unrecht an ihnen verübt wurde, ist stark. Und stark
mussten vor allem die Frauen sein, beim Betreten ihres ehemaligen
Gefängnisses. Denn ihre Erlebnisse hinter diesen Mauern haben
viele von ihnen fürs Leben gezeichnet. Manche können das
Erlebte auch heute noch schwer in Worte fassen.
Bereits vergangene Woche aber bekamen die Betroffenen ein
Werkzeug in die Hand, mit welchem auf das damalige Unrecht aufmerksam
gemacht wird und das sich auf ihre Seite stellt. Es ist das Buch
"Weggesperrt" von Dominique Strebel. Der "Beobachter"-Journalist hatte
in den vergangenen zwei Jahren Grundlegendes zum Thema "administrativ
Versorgte" zusammengetragen. Viele Betroffenen kamen zu Wort, aber auch
damalige Behördenvertreter, Juristen und Wissenschafter wurden
befragt und zitiert. "Auf dass solches Unrecht nie wieder passieren
wird, und wir künftig hellhöriger sind, wenn bei hilflosen
Menschen einfaches und ‹kostengünstiges› Bewältigen von
schwierigen sozialen Problemen zur Anwendung kommen sollte", sagte auch
der Zürcher Regierungsrat Markus Notter an der Buchvernissage im
Schweizerischen Landesmuseum in Zürich. Gefordert wird nicht bloss
eine Entschuldigung, es soll auch über Entschädigung und
Rückerstattung von illegalen Zahlungen diskutiert werden.
"Weggesperrt" Dominique Strebel, Zürich Beobachter
Buchverlag Fr. 29.-.
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Bund 11.9.10
Widmer-Schlumpf entschuldigt sich offiziell
Vertreter von Bund und Kantonen haben sich gestern in den
Anstalten Hindelbank bei den Frauen und Männern entschuldigt, die
bis 1981 "administrativ versorgt" worden sind. Die Betroffenen zeigten
sich erleichtert, forderten aber auch weitere Schritte.
Timo Kollbrunner
Fast alle der gut 100 Stühle im Schlosssaal der Anstalten
Hindelbank sind besetzt, als Ursula Müller-Biondi das Wort
ergreift. Mit leiser Stimme sagt sie, das Stigma "Häftling
Hindelbank" werde ihr "ein Leben lang" anhaften. Durch die Verwahrung
von ihr und vielen Leidensgenossen hätten die Behörden die
Menschenwürde verletzt und ihre Macht missbraucht. "Lasst so etwas
nicht noch einmal geschehen", sagt sie mit zittriger Stimme, sichtlich
gegen die Tränen kämpfend, und fordert eine
"Entstigmatisierung": "Eine öffentliche Entschuldigung ist
unumgänglich."
Der bernische Polizeidirektor Hans-Jürg Käser (FDP)
teilt diese Meinung. "Administrativ Versorgte - schon der Ausdruck ist
unglaublich", sagt er und erzählt dann von den
Insassinnenbüchern der Anstalt, in denen alle Eintritte
verzeichnet wurden: "die administrativ Eingewiesenen mit blauer Tinte,
die strafrechtlich Eingewiesenen mit roter". In der Nachkriegszeit
seien fast die Hälfte aller Frauen administrativ Versorgte
gewesen. Er könne versichern, dass heute keine Person mehr ohne
Einweisungsbeschluss festgehalten werde. Er wisse aber auch, dass "das
für die Betroffenen ein kleiner Trost" sei, und wolle deshalb
seine "ehrliche Entschuldigung" aussprechen.
Entschuldigung "in aller Form"
Dann ist die Reihe an Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf
(BDP). Wird auch sie sich, im Namen des Bundes, offiziell
entschuldigen? Oder wird sie nur ihr Bedauern bekunden? Das Geschehene
könne nicht rückgängig gemacht werden, sagt sie, "auch
nicht durch Recht. Ihre Jugend können wir Ihnen nicht
zurückgeben". Es gehe auch nicht darum, die Behörden, die
damals geltendes Recht angewendet hätten, zu verurteilen. "Wir
sind weder Richter noch Historiker." Es gehe um eine moralische
Wiedergutmachung, "den Ausdruck von Respekt gegenüber den
Betroffenen", und darum, dafür zu sorgen, dass "so etwas nie, nie
mehr vorkommen kann".
Dann ist es so weit. "Normalerweise entschuldigt man sich im
privaten Rahmen", sagt Widmer-Schlumpf, und nun weiss jeder im Saal,
was kommt. "Manchmal ist es jedoch erforderlich und wichtig, dies
öffentlich zu tun. Ich möchte das an dieser Stelle machen."
"In aller Form" bittet sie darauf im Namen des Bundes um Entschuldigung
dafür, "dass Sie ohne Gerichtsurteil administrativ versorgt
wurden". Einige haben Tränen in den Augen, Paare umarmen sich,
sogar der eine oder andere der zahlreichen Journalisten schnäuzt
sich oder zieht den Handrücken über das feuchte Auge.
Zusammen sei man nun daran, "ein dunkles Kapitel unserer
Sozialgeschichte zu bewältigen", sagt Widmer-Schlumpf, um dann zu
mahnen, auch die beste Gesetzgebung könne "nicht alles richten".
"Wie künftige Generationen unser Tun dereinst werten werden,
wissen wir nicht."
"Das Stigma ist weg", sagt Madeleine Ischer nach der Rede
Widmer-Schlumpfs. Gina Rubeli sagt, sie hätte eine Entschuldigung
des Bundes nicht erwartet. "Das ist eine sagenhafte Erleichterung." Nun
werde man mit Parlamentsvertretern über weitere Schritte
diskutieren. Am wichtigsten sei es nun, dass alle Betroffenen
ungehindert Einsicht in ihre Akten erhielten. Und vielleicht sei dieser
Tag auch ein Anstoss, darüber nachzudenken, ob die
Menschenwürde nicht auch heutzutage noch missachtet werde. "In
Bezug auf den Umgang mit Ausländern etwa habe ich da meine
Zweifel." Müller-Biondi dagegen wirkt geradezu euphorisiert, sie
strahlt, herzt einen hier und eine da. "Der Fluch ist weg", jubiliert
sie. Nun sei sie gespannt, wie ihr Leben weitergehen wird, jetzt, wo
diese Wut als ständiger Begleiter weg sei. Erstmals hält sie
kurz inne. Und sagt dann: "Die Wut hat mir auch Energie gegeben."
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BZ 11.9.10
"Administrativ Versorgte"
Der Bundesrat entschuldigt sich
Die Erleichterung bei den ehemals "administrativ Versorgten" war
gross: Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf hat sich gestern an
einem Gedenkanlass in Hindelbank im Namen des Bundes "in aller Form"
entschuldigt.
"An Ihrem Schicksal sind Sie nicht selber schuld", sagte
Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf gestern in der
Frauenstrafanstalt Hindelbank. Sie sprach am Gedenkanlass, der zu Ehren
der ehemals "administrativ Versorgten" durchgeführt wurde. Mit
Spannung wurde die Rede der Justizministerin erwartet. Und dann sagte
sie es in aller Deutlichkeit: "Ich möchte Sie im Namen des Bundes
in aller Form dafür um Entschuldigung bitten, dass Sie ohne
Gerichtsurteil administrativ versorgt wurden."
Hörbar atmeten die Betroffenen auf. Einige konnten ein
erleichtertes Schluchzen nicht unterdrücken.
Obwohl sie keine Straftat begangen hätten, fuhr die
Bundesrätin fort, seien sie eingesperrt worden, "nur weil Sie sich
nicht so verhalten hatten, wie man sich das von Ihnen gewünscht
hätte". Sie sprach von einer damals ratlosen und
überforderten Gesellschaft und stellte an die Betroffenen gewandt
fest: "Ihnen fehlten Geborgenheit, Liebe und das notwendige
Grundvertrauen." Und sie bedauerte: "Ihre Jugend können wir Ihnen
nicht zurückgeben."
"Selbstherrlich"
Eveline Widmer-Schlumpf ging es gestern "nicht darum, die damals
verantwortlichen Behörden zu verurteilen". Sie konzentrierte sich
auf die "moralische Wiedergutmachung".
Doch Guido Marbet, Präsident der Konferenz der Kantone
für Kindes- und Erwachsenenschutz, hielt mit Kritik an den
damaligen Behörden nicht zurück. Er äusserte sich als
Vertreter jener Behörden, die damals "in moralischer
Selbstherrlichkeit den ihnen übertragenen Fürsorgeauftrag
aufs Schlimmste missachtet" hätten. Marbet entschuldigte sich im
Namen der öffentlichen Institutionen "für die von Ihnen
erfahrene Persönlichkeitsverletzung".
Gefängnis statt Hilfe
"Gefährdete Jugendliche wurden damals nicht aufgefangen, sie
wurden gefangen", doppelte Hans Hollenstein nach. Der Zürcher
CVP-Regierungsrat und Präsident der Konferenz kantonaler
Sozialdirektoren lehrt aus der Geschichte der "administrativ
Versorgten": "Die Gesellschaft muss sich immer wieder kritisch
hinterfragen, wie sie mit nichtkonformen Lebensformen umgeht." Er
fügte an: "Es tut mir sehr leid, was Sie erleiden mussten."
Und der Berner Regierungsrat Hans-Jürg Käser (FDP)
stand seinen Vorrednern in nichts nach. Auch er sprach im Namen der
Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren seine
Entschuldigung aus.
Aus der ganzen Schweiz
Als "oberster Hausherr" der Strafanstalt Hindelbank berichtete
Käser aus der historischen Aufarbeitung der "administrativ
Versorgten": Der Anteil der administrativrechtlich Eingewiesenen sei
gross gewesen: In den Nachkriegsjahren seien fast die Hälfte der
in Hindelbank eingesperrten Frauen "administrativ Versorgte" gewesen.
Grössere Städte aus der ganzen Deutschschweiz und dem Tessin
hätten minderjährige Frauen eingewiesen. Aber auch in
abgelegenen, sehr ländlichen Regionen habe es sich
"herumgesprochen", so Käser, "dass die Anstalt Hindelbank als
Ausweg in Frage kommen könnte, wenn die Behörden keine
weiteren Möglichkeiten mehr sahen - oder sehen wollten".
Viele der einst Eingewiesenen reisten gestern freiwillig nach
Hindelbank - und kehrten um eine schwere Last erleichtert nach Hause.
Susanne Graf
--
"Jetzt ist ein schwerer Ballast weg"
Christina Jäggi war gestern mehr als zufrieden mit den
Entschuldigungen. Aber künftige Geldforderungen schliesst sie
nicht aus.
Christina Jäggi konnte ihre Tränen gestern Abend nicht
mehr zurückhalten. Die Gefühle waren zu stark, die über
sie kamen, als sie hörte, wie sich Justizministerin Eveline
Widmer-Schlumpf für das Unrecht entschuldigte, das sie als
"administrativ Versorgte" in ihrer Jugend erleiden musste. "Dass die
Entschuldigung von so hoher Stelle kommen würde." Christina
Jäggi war überwältigt, obwohl sie zwei Jahre mit andern
Betroffenen für diese Entschuldigung und die damit verbundene
Rehabilitation gekämpft hatte. "Ja, ich bin zufrieden", sagte sie,
"jetzt ist ein grosser Ballast weg."
Doch Christina Jäggi schliesst nicht aus, dass aus ihren
Reihen künftig auch finanzielle Forderungen kommen werden. Denn
unter den einst "administrativ Versorgten" habe es viele
IV-Bezüger "und überhaupt viele, die finanziell nicht gut
gestellt sind".
Bisher hat der von Ursula Biondi gegründete Verein, der eine
Anlaufstelle für "administrativ Versorgte" unterhält, sein
Vorgehen jeweils mit SP-Nationalrätin Jacqueline Fehr und deren
Ratskollegen Paul Rechsteiner besprochen. Jacqueline Fehr war gestern
ebenfalls in Hindelbank. Wird sie vom Bund Geld fordern für die
"administrativ Versorgten"? Alle bisherigen Treffen hätten die
moralische Wiedergutmachung zum Ziel gehabt, sagte sie. Nachdem diese
Etappe nun erreicht sei, werde sie wieder mit den Betroffenen
zusammenkommen "und hören, ob sie eine finanzielle Abgeltung
fordern".
Für Jacqueline Fehr liesse sich "eine Abgeltung der realen
Kosten" durchaus rechtfertigen. Sie denkt etwa an die Kosten für
den Aufenthalt in den "Erziehungsanstalten" oder die entgangenen
AHV-Beiträge.
sgs
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swissinfo.ch 11.9.10
Einst "Weggesperrte" sind moralisch rehabilitiert
swissinfo
Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf hat ehemalige unschuldig
eingesperrte Jugendliche an einem Gedenkanlass in der Strafanstalt
Hindelbank im Kanton Bern am Freitag offiziell um Entschuldigung
gebeten.
In die Frauenstrafanstalt Hindelbank wurden weibliche Jugendliche
aus der ganzen Deutschschweiz und dem Tessin eingewiesen, mit
Begründungen, sie seien "liederlich, arbeitsscheu oder
aufrührerisch".Insgesamt wurden in der Schweiz bis 1981 Tausende
Jugendliche von Vormundschaftsbehörden in geschlossene Anstalten
eingewiesen - "administrativ versorgt" -, weil sie sozial
auffällig geworden waren. Ohne eine Straftat begangen zu haben,
ohne richterliches Urteil wurden sie oft jahrelang weggesperrt. Unter
dem Stigma leiden sie bis heute.Eine Gruppe ehemaliger administrativ
versorgter Frauen hatte den als "moralische Wiedergutmachung"
organisierten Anlass in Hindelbank angeregt.
Moralische Wiedergutmachung
"Ihnen wurde viel Leid angetan. Ihre Jugend können wir Ihnen
nicht zurückgeben", sagte die Justizministerin am Freitag zu den
rund zwei Dutzend Betroffenen im Schlosssaal der Strafanstalt
Hindelbank. "Wir sind weder Richter noch Historiker. Es geht uns um den
Respekt Ihnen gegenüber, um moralische
Wiedergutmachung."Entschuldigungen würden meist im privaten Umfeld
ausgesprochen, aber manchmal sei eine öffentliche Entschuldigung
wichtig, fuhr Widmer-Schlumpf fort."Im Bewusstsein, dass Vergangenes
nicht ungeschehen gemacht werden kann, möchte ich Sie um
Entschuldigung bitten dafür, dass Sie ohne richterliches Urteil in
Strafanstalten gebracht, weggesperrt worden sind, ohne eine Straftat
begangen zu haben."
Appell an Justiz und Gesellschaft
An dem Gedenkanlass in Hindelbank hatten zuvor drei Betroffene
von ihren Erfahrungen berichtet. Sie betonten dabei den Umstand, dass
sie aufgrund der Einweisung in die Strafanstalt ein Leben lang
ausgegrenzt und diskriminiert wurden. Ursula Müller-Biondi, die
mit 17 Jahren und im fünften Monat schwanger in Hindelbank
eingesperrt wurde, sagte: "Mein Appell richtet sich an die Justiz und
an die Gesellschaft: Lasst so etwas nicht noch einmal geschehen!"Auch
Hans Hollenstein, Vizepräsident der Konferenz der
Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) betonte, dass sich
solche Schicksale keinesfalls wiederholten dürfen: "Als Mensch
Hans Hollenstein und im Namen der Konferenz tut es mir sehr leid, was
Ihnen geschehen ist, und ich bitte Sie, dies zu entschuldigen."Von den
Behörden äusserte sich auch Hans-Jürg Käser,
Vertreter der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen
und -direktoren (KKJPD). Er wies darauf hin, dass in den
Nachkriegsjahren fast die Hälfte der in Hindelbank eingesperrten
Frauen administrativrechtlich eingewiesen war. "Aus heutiger Sicht kann
ich Ihnen versichern, dass keine Person mehr in einem Gefängnis
festgehalten wird, solange kein rechtsgültiger
Einweisungsbeschluss vorliegt", sagte Käser.
"Ich bin so glücklich"
Die Erleichterung und Freude unter den Betroffenen war gross nach
den offiziellen Entschuldigungen. Besonders Ursula Müller-Biondi
war überwältigt. Immer wieder kamen ihr fast die Tränen.
"Es ist wahnsinnig", sagte sie gegenüber swissinfo.ch. "Seit zehn
Jahren habe ich dafür gekämpft, und jetzt ging alles
plötzlich so schnell."Besonders die Erklärungen und die
Entschuldigung der Justizministerin hätten sie überrascht:
"Ich bin an ihren Lippen gehangen und habe genau aufgepasst, ob sie
sich herausreden würde. Aber nichts davon. Ganz klare
Worte."Dennoch seien längst nicht alle Probleme gelöst, sagt
Biondi: "Es gibt Opfer von damals, die immer Opfer geblieben sind.
Für sie bedeutete Hindelbank die Endstation. Selbst als sie aus
dem Gefängnis herauskamen, konnten sie bis heute nie mehr ein
normales Leben führen. Ihnen wollen wir helfen, die Gegenwart
etwas erträglicher zu machen."Inwiefern es dabei auch im
finanzielle Wiedergutmachung gehe, lies Biondi offen. Dies werde noch
diskutiert. Dann fällt sie einer Mitstreiterin um den Hals und
ruft strahlend aus: "Ich bin so glücklich. Das hätte ich so
nicht erwartet. Dies ist der glücklichste Tag meines Lebens."
---
Telebärn 10.9.10
Einfach weggeschlossen
http://www.kyte.tv/ch/telebaern/einfach-weggeschlossen/c=84713&s=1021524
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HUNGERSTREIK
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Indymedia 11.9.10
Hungerstreikerklärung x Marco, Silvia, Billy und Costa! ::
AutorIn : libertat
Wir, Billy, Costa, Silvia und Marco, revolutionäre
ÖkoanarchistInnen in Geiselhaft des Schweizer Staates, haben
entschlossen einen individuell unterschiedlich langen (15-20 Tage)
kollektiven Hungerstreik vom 10. bis Ende September 2010
durchzuführen.
Wegen den umständehalber bestehenden Begrenzungen und
Verzögerungen der Kommunikation, die unter uns drei in U-Haft
sogar im totalen Kommunikationsverbot bestehen, ist die Abmachung und
Organisierung dieser Initiative schwierig und vielleicht nur in der
Folge werden ausführlichere auch individuelle Nachrichten,
Bestätigungen und Erklärungen möglich sein*.
Aber als revolutionäre AnarchistInnen wollen wir von hier drinnen
hiermit entschlossen unsere internationalistische solidarische
Teilnahme jenseits jeglicher spezifischen Tendenz an den
revolutionären Initiativen und Kämpfen drinnen und draussen
gegen Repression, Knast, Isolation, Folter bekräftigen.
Wir stehen für die Befreiung aller Geiseln im sozialen und
revolutionären Krieg gegen das System, für die Befreiung
aller, für die Zerstörung aller Knäste und Gehege und
aller Gesellschaften, die sowas nötig haben. In diesem Sinne
erklären wir auch unsere totale Unterstützung und
Solidarität für die neulich entstandenen Befreiungskampagnen
für langzeitgefangene RevolutionärInnen.
Unsere Initiative ist Kontinuität im Kampf an der Seite aller, die
diesen immer schärferen und brutaleren gesellschaftlichen,
wirtschaftlichen, politischen und ökologischen Krieg und
Krisenzustand nie nur erdulden wollten.
Unsere Initiative ist auch Ausdruck der Kontinuität unserer
langjährigen starken, soliden, affinen und kämpferischen
Beziehungen als "grüne/antizivilisatorische” AnarchistInnen.
Als solche sind wir gemeinsam gegen jeden Staat, Pfaffen und Herrn,
gegen jeden Knast und jede Repression, gegen jegliche Ausbeutung des
Menschen durch den Menschen, der Frauen durch die Männer, der
anderen Spezies und der Natur durch den Menschen.
Wir sind auch untereinander und mit Leuten aus anderen Erfahrungen
vereinigt im radikalen Kampf gegen die Schädlichkeiten und
Zerstörungen dieses System und natürlich gegen dieses System,
das sie verursacht und nötig macht. Das heisst gegen dieses
bestehende techno-wissenschaftliche industrielle Produktions-,
Konsumismus- und Warensystem des Kapitalismus, gegen dieses
monopolistische und imperialistische System der Multis und ihrer
Staaten.
Ob es nun seine alten oder innovativen Schädlichkeiten und
Zerstörungen sind. Und auch wenn sie von der typisch
betrügerischen Arroganz der Herrschenden und ihrer Lakaien, das
heisst von den Wissenschaftern, Medien, PolitikerInnen, Bullen, Pfaffen
und Organisationen auf der Lohnliste der Herrschenden oder ihres
pseudo-demokratischen Dialog-Theaters einen humanitären und
"umweltverträglichen" Anstrich erhalten und als notwendig
erklärt werden. Wie das z. b bei Nano- und Biotech, GVO,
"alternative Energien" und sogar Atomkraft eben der Fall ist! Und auch
wenn dieser imperialistische, kriegstreiberische und global
terroristische Abschaum der Herrschenden und ihre KomplizInnen und
Institutionen kann uns "Vandalen”, "TerroristInnen”,
"Öko-TerroristInnen”, etc. nennt, sobald unser Dissens und
Widerstand und unser Kampf für eine Gesellschaft aus freien und
autonomen Individuen ohne Sklaverei, Unterdrückung, Ausbeutung und
Zerstörungen real wird!
Wir sind also Menschen, die gegen die ursprünglichen Wurzeln
dieses aktuellen Systems grundlegend kritisch sind und kämpfen,
weil dieses System ist der am weitesten fortgeschrittene,
vollständigste und zerstörerischste Ausdruck der jahrtausende
alten anthropozentrischen Zivilisation. Denn diese Zivilisation ist
technologische und industrielle (Produktion/Konsum) Herrschaft, ist
patriarchale Abrichtung, ist soziale Schichtung und Kontrolle, ist
massenweise Einsperrung in Städten, ist Ausbeutung, ist
Unterdrückung, ist organisierte Gewalt und Krieg des Menschen
gegen den Mensch, des Mannes gegen die Frau, des Menschen gegen die
anderen Spezies, des Menschen gegen die Natur und gegen den Rest des
Universums.
Abschliessend, aber sicher nicht als Letztes: diese Initiative ist auch
ein komplizenhafter, solidarischer und aktiver Beitrag und Gruss an
alle euch RevolutionärInnen jeder Tendenz, die ihr uns allein oder
vereint und hier und jetzt mit eurer solidarischen, freien und wahren
revolutionären Liebe unterstützt und gegen jeden Ausdruck des
Monsters Staat und Kapital kämpft: und zwar mit euren Initiativen,
mit der Kontinuität und Verstärkung des revolutionären
Widerstandes, mit der revolutionären Offensive, sei es am Lichte
der Sonne oder der Sterne oder des Mondes, mit allen notwendigen
Mitteln.
Zusammen sind wir stark, Solidarität ist unsere beste Waffe!
7. September 2010, aus dem Knast Schweiz, Billy, Costa, Silvia und Marco
*Zur Initiative und weiter, aus dem Lager Pöschwies, Zürich
Im Juni haben wir mit der Diskussion und Organisierung dieser
Initiative begonnen. Kurz danach verfügte die Bundesanwaltschaft
die bekannten feigen Verschärfungen der politischen und
persönlichen Kommunikationsblockade mit Silvia, Costa e Billy, in
der üblichen Vernichtungs- und Isolierungslogik eines grundlegend
rassistischen und faschistischen, kapitalistischen und
imperialistischen Schurkenstaates der Multis, und hier erinnere ich
daran, dass nur schon die Genfer Privatbanken 10% des weltweiten
Privatvermögens verwalten…. Nur schon der Vorwand gegen diese
Aggression auf die Integrität und Identität der drei
GenossInnen ist ein schwerwiegender Akt der Diskriminierung. Genau das
ist es in einem Schurkenstaat, der sich doch seiner vier amtlichen
Landessprachen, darunter auch Italienisch, so sehr rühmt, und als
Begründung seines Angriffes die Menge an italienischer
Korrespondenz heranzieht, die ins Deutsche übersetzt werden
müsse. Keinesfalls überraschend ist auch, dass irgendein
Bulle der Bundes-Repression aus niedriger politischer Feindseligkeit
und Repressalie willkürlich die Korrespondenz zwischen den Dreien
und einer Genossin der Roten Hilfe International aus der Schweiz total
blockiert, weil sie sich auch zu ihrer Unterstützung
öffentlich einsetzt, und zwar in vorderster Front, praktisch und
sehr wirksam.
Die Kommunikationsblockade heisst praktisch, dass, falls denn die
Briefe nicht total blockiert werden, ich erst nach einem bis eineinhalb
Monaten eine Antwort erhalte. So wurde die gemeinsame Diskussion und
Ausarbeitung einer Erklärung mit besser artikulierten und
verfassten Inhalten verhindert. Als einziger konnte ich diese
Erklärung entwerfen und allen zusenden. Aber, und das erst im
allerletzten Moment, konnten wir uns so gegenseitig nur das sichere
Einverständnis über die grundlegenden zu vermittelnden
Inhalte mitteilen und die Zeiten festlegen.
Aber eins ist sicher, und wir beweisen es jetzt erneut. Wir drinnen und
ihr draussen, wir lassen uns von den kriminellen Logiken der
Repressalie und der Aggression des Repressionsabschaums von Staat und
Kapital weder terrorisieren noch paralysieren. Im Gegenteil, diese
Logiken bewirken die Verstärkung der Mobilisierung, der
Auseinandersetzung, der aktiven Teilnahme und Vereinigung auf den
verschiedenen Ebenen des Kampfes. In diesem Sinne begrüsse ich das
Treffen für die Befreiung der Tiere und der Erde am 10-11-12
September und Silvias Botschaft dazu herzlichst; oder die Vereinigung
von kommunistischen und anarchistischen Kräften in Rom für
die Initiativen der internationalen Kampagne zur Befreiung der
politischen Gefangenen…; oder, wie in Mexiko, Chile, Argentinien, hier
und überall begrüsse ich freudig die militanten
revolutionären/aufständischen Aktionen der Solidarität
und Repressalie gegen die Übergriffe der Repression, weil
revolutionäre Repressalie eines der bedeutenden und notwendigen
Schlachtfelder des sozialen Krieges ist. Ihre Schandtaten dürfen
uns nie verwundern, aber (bis sie nicht hinweggefegt sind) desto
unbestrafter sie davonkommen, desto zügelloser werden sie.
marco camenisch, Pöschwies, 7. September 2010
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NEONAZIS BURGDORF
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Bund 11.9.10
Royal Aces Tattoo Bar bleibt vorläufig geschlossen
Die Betreiberin der umstrittenen Burgdorfer Bar blitzt mit einer
Beschwerde vor Verwaltungsgericht ab.
Bis zum Entscheid der kantonalen Volkswirtschaftsdirektion
über die Rechtmässigkeit der Schliessung der Royal Aces
Tattoo Bar bleibt das umstrittene Lokal, das als Treffpunkt der
rechtsextremen Szene galt, geschlossen. Das Verwaltungsgericht hat es
in einem gestern veröffentlichten Urteil abgelehnt, der Beschwerde
der Barbetreiberin gegen die vom Emmentaler Statthalter im Juli
verfügte Schliessung aufschiebende Wirkung zu erteilen und die
vorläufige Wiedereröffnung des Lokals zu erlauben.
Nachdem Linksradikale Fenster eingeschlagen und Farbkübel
ins Lokal geworfen hatten, hatte der Statthalter die Gefahr von
Auseinandersetzungen zwischen Links- und Rechtsradikalen für akut
gehalten und die Bar als "erhebliche Gefahr für die
öffentliche Ordnung, Ruhe und Sicherheit" geschlossen. Der
Gemeinderat begrüsste den Entscheid.
Grundsätzlich hätten Beschwerden gegen
Schliessungsentscheide von Gaststätten keine aufschiebende
Wirkung, erinnerte nun das Verwaltungsgericht. Wichtige Gründe,
die eine Ausnahme rechtfertigen würden, lägen hier nicht vor,
auch wenn die Schliessung der Bar während des laufenden Verfahrens
für die Betreiberin einschneidende finanzielle Konsequenzen habe.
Gegen eine Öffnung der Bar während des Verfahrens
spräche dagegen die "Gefährdung der öffentlichen
Ordnung". Die Vorinstanz habe eine solche "ohne weiteres glaubhaft
gemacht". (sw)
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BZ 11.9.10
Burgdorf
Bar bleibt weiter zu
Der Gang an die nächste Instanz hat nichts genützt:
Sophie Güntensperger darf ihre Royal-Aces-Tattoo-Bar in Burgdorf
weiterhin nicht offen halten. In einem gestern veröffentlichten
Urteil lehnt es das Verwaltungsgericht ab, Güntenspergers
Beschwerde gegen die provisorische Schliessungsverfügung
aufschiebende Wirkung zu gewähren.
Das Gericht gesteht Güntensperger zwar zu, dass ihr mit der
erzwungenen Schliessung Einnahmen entgehen. Dies liege aber in der
Natur der Sache und sei nicht durch die viel gewichtigeren Gründe
aufzuwiegen, von denen sich die Vorinstanzen hätten leiten lassen.
Die Volkswirtschaftsdirektion wie zuvor bereits der Statthalter hatten
die Bar dichtgemacht, nachdem es in ihrem Umfeld zu
Auseinandersetzungen zwischen der linken und der rechten Szene gekommen
war.
Diese Scharmützel stellten, so die Begründung damals,
eine "Gefahr für die öffentliche Sicherheit" dar.
skk
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Langenthaler Tagblatt 11.9.10
Verwaltungsgericht Burgdorfer Rechtsextremen-Bar bleibt zu
Die umstrittene "Royal Aces Tatoo Bar" in Burgdorf bleibt vorerst
zu. Auch das Verwaltungsgericht stützt den Entscheid des Kantons
von Ende Juli, der Schliessungsverfügung des
Regierungsstatthalters die aufschiebende Wirkung zu entziehen. Nachdem
es in der Nacht auf den 30. Juli zum zweiten Mal zu Angriffen
linksautonomer Kreise auf die Bar gekommen war, schloss der
zuständige Regierungsstatthalter die Bar erneut. Für die
Schliessung machte dieser - wie auch die Stadt Burgdorf -
Sicherheitsbedenken geltend. Die Betreiberin, die mit einem bekannten
Rechtsextremen liiert ist, antwortete auf die Angriffe jeweils mit
Schriftzügen am Gebäude. Beim Kanton hiess es gestern, in der
Hauptsache - ob der Bar die Gastrobewilligung zu Recht entzogen wurde -
sei das Verfahren weiterhin hängig. (sat)
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POLICE BE
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Grenchner Tagblatt 13.9.10
Die Polizei hats schwer
Kantonspolizei Erneut bessere Arbeitsbedingungen gefordert
Seltene Einigkeit im Grossen Rat, als diese Woche über die
Arbeitsbedingungen der Polizei diskutiert wurde. Von rechts bis links
war man sich einig: Besserung tut not.
Samuel Thomi
"Tragischerweise passt mein Anliegen zum Vorfall in Biel",
kommentierte Sabina Geissbühler vorgestern im Grossen Rat die
Aktualität: "Für das immer noch gültige 3-D-System -
Dialog führen, deeskalativ wirken und erst dann durchgreifen -
haben immer weniger Berner Kantonspolizisten an der Front
Verständnis." Im Grossratswahlkampf im Frühling lancierte
SVP-Frau Geissbühler - die Mutter von SVP-Nationalrätin und
Polizistin Andrea Geissbühler - deshalb zusammen mit
FDP-Regierungsratskandidat Sylvain Astier (Moutier) die Motion "Bessere
Arbeitsbedingungen für unsere Polizei bedeuten grössere
Sicherheit für die Bevölkerung".
"Äusserst frustrierend"
Spezialisten seien "äusserst frustriert", wenn
beispielsweise die Gesetze nicht durchgesetzt würden. Als Beispiel
diente Geissbühler das Vermummungsverbot: "Dieses muss
kompromisslos durchgesetzt und geahndet werden." Oder: "Bei
Sachbeschädigungen muss die Polizei unmittelbar einschreiten."
Zudem sollten rechtsfreie Räume nicht toleriert,
Drogenschnelltests eingeführt und die monatlichen Freitage auf den
Arbeitsplänen dürften "nur in absoluten und begründeten
Ausnahmefällen" kurzfristig angepasst werden. Astiers Kommentar:
"Die Polizei macht gute Arbeit, daher müssen wir sie
unterstützen." Das beginne mit einem guten Umfeld.
"Das ist eine Stammtischmotion", antwortete Barbara Mühlheim
(Grüne/Bern). Die Einsätze der Polizei müssten von
Profis beurteilt werden - "das kann der Grosse Rat nicht". Die Kapo
beweise im Kanton, "dass sie es kann und erfolgreich ist." Dass
einzelne Polizisten unzufrieden seien, könne gut sein: "Dafür
allerdings macht die Polizei nach jedem Einsatz Debriefings.
Reklamationen gehören dorthin."
"Die EVP will sich nicht in die Strategie der Kantonspolizei
einmischen", sagte Patrick Gsteiger (Perrefitte). Und wenn, dann
müsse die Kapo mehr Personal erhalten: "Aber das kostet."
"Zuerst hatte ich natürlich Freude"
"Die SVP schreibt Sicherheit gross - und ebenso
Verhältnismässigkeit", sagte Christian Hadorn (Ochlenberg).
Philippe Müller (FDP/Bern) ergänzte: "Es ist gut, wenn das
Parlament Zeichen setzt." Im Berner Stadtrat, dem Müller bisher
ebenfalls angehörte, sei Polizeiarbeit kaum gewürdigt worden.
Allerdings, so der Initiant der eben abgelehnten städtischen
"Initiative für eine sichere Stadt Bern", tue das Kantonsparlament
gut daran, der Polizei zu Einsatzgrundsätzen oder
Verhältnismässigkeit nicht dreinzureden.
"Rückendeckung ist ganz wichtig"
"Zuerst hatte ich natürlich Freude am Titel", so Markus
Meyer (SP/Roggwil). "Es ist wirklich an der Zeit, dass die
Arbeitsbedingungen für die Polizei besser werden", so der
Präsident der Kantonspolizisten. Dazu freue er sich über die
Zusage von Polizeidirektor Hans-Jürg Käser (FDP), sich
für mehr Personal einzusetzen und die Gehaltssituation inklusive
einer Reallohnerhöhung zu verbessern. Überdies seien
Korrekturen am Arbeitszeitmodell angesagt wie auch eine fünfte
Ferienwoche: "Die vorliegende Motion ist ein bisschen ein
Etikettenschwindel", so Meyer. Tatsächlich wolle sie einseitig
mehr Repression, was die Arbeitsbedingungen der Polizei nicht
ändere.
"Selbstverständlich hat die Polizei nicht Freude an
Sachbeschädigungen", konterte Polizeidirektor Hans-Jürg
Käser (FDP). Drogenschnelltests würden geprüft, seien
aber noch zu wenig zuverlässig. Entscheidungen übers
jeweilige Vorgehen lägen bei den Patrouillen oder bei Demos bei
der Einsatzleitung. Bei Sportanlässen sei es zudem wenig sinnvoll,
ein paar betrunkene Vermummte aus Tausenden herauszuholen: "Solche
Fragen diskutieren wir regelmässig mit der Polizei", so
Käser. "Das Parlament muss sich nicht einmischen." Dieses
überwies Geissbühlers Motion praktisch einstimmig in der
unverbindlicheren Form des Postulats.
Geissbühler konterte, es sei "ganz wichtig, dass wir der
Polizei mit einem Ja Rückendeckung geben". Womit die gut
stündige Debatte höchstens noch als wohl gemeintes Warmlaufen
für die Aufstockungsdiskussion gesehen werden kann. Konkret gings
vorgestern um nichts - gekostet hats auch nichts.
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POLICE CH
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NZZ 11.9.10
"Reclaim the Streets", illegale Partys und Betrunkene
Kongress der städtischen Polizeidirektoren in Zürich
über heutige Herausforderungen im öffentlichen Raum
Der öffentliche Raum in Städten birgt zunehmend
Konfliktpotenzial. An einem Kongress in Zürich sind die
Herausforderungen für die Polizei thematisiert worden.
tri. · Öffentliche Räume sind gerade in urbanen
Gebieten wichtige Orte der Begegnung, der Kommunikation und der
Kreativität. Doch in letzter Zeit häufen sich in der
Bevölkerung die Klagen über ein Übermass an Freiheit -
insbesondere in einer Stadt wie Zürich, die am Wochenende Tausende
Nachtschwärmer anlockt. Lärmemissionen, Littering,
Vandalismus, Massenbesäufnisse im öffentlichen Raum oder
Gewalt im Ausgang wollen von vielen nicht mehr einfach geduldet werden.
Die Polizei ist in diesem Zusammenhang immer mehr gefordert.
Die Konferenz der städtischen Polizeidirektoren hat deshalb
ihren jährlichen Kongress im Technopark in Zürich-West am
Freitag dem Thema "Aktuelle Herausforderungen im öffentlichen
Raum" gewidmet. Beat Oppliger, Chef Region Ost der Zürcher
Stadtpolizei, thematisierte in seinem Referat die Herausforderungen
für die Polizei durch Ereignisse wie die
Reclaim-the-Streets-Veranstaltung vom Februar dieses Jahres. Damals
hatte ein kurzfristig mobilisierter Haufen von etwa 500 Linksautonomen,
Hooligans und Partygängern in den Stadtkreisen 4 und 5 einen
Sachschaden von rund einer halben Million Franken verursacht und die
Polizei auf dem falschen Fuss erwischt.
Aggressive Grundstimmung
Laut Oppliger muss die Polizei auch in Zukunft jederzeit mit
einem solch spontanen Missbrauch des öffentlichen Raumes rechnen
und sich darauf einstellen. Als Verbesserungsvorschläge nannte er
ein schnelleres Zusammenziehen der verfügbaren Einsatzkräfte
sowie die Alarmierung von Pikett-Polizisten. Auch müsse bei derart
gravierenden Ereignissen die Kantonspolizei einbezogen werden. Im
Zürcher Polizeidepartement wird gegenwärtig ein neues
Sicherheitskonzept erarbeitet, bei dem auch eine Aufstockung des
Polizeikorps um 15 Stellen geprüft wird. Die ebenfalls im
öffentlichen Raum und meist ohne Bewilligung organisierten
Botellones, welche die Polizeien in diversen Schweizer Städten im
Sommer vor zwei Jahren auf Trab gehalten hatten, gibt es hingegen kaum
mehr, wie Oppliger sagte. Dagegen verzeichnete die Zürcher
Stadtpolizei einen Anstieg der Zahl illegaler Partys in
Unterführungen, Parkanlagen oder im Wald mit bis zu mehreren
hundert Personen und mobiler Musikanlage. Gegenüber eintreffenden
Einsatzkräften der Polizei herrsche häufig eine sehr
aggressive Grundstimmung. Generell zeigen laut Oppliger besonders durch
Betäubungsmittel zugedröhnte oder alkoholisierte Personen in
den Zürcher Ausgehvierteln kaum Respekt vor der Polizei.
Für diejenigen Personen, die am Wochenende auf Zürichs
Strassen im Rausch sich selber oder Dritte gefährden, hat die
Stadtpolizei Anfang März als nationales Pilotprojekt auf der
Hauptwache Urania die Zentrale Ausnüchterungsstelle (ZAS) in
Betrieb genommen (NZZ 10. 3. 10). Wer von der Polizei dort eingeliefert
wird, verbringt die Nacht in einer Ausnüchterungszelle und wird
medizinisch überwacht. Die Vorteile: Die Notfallstationen der
Spitäler und die Regionalwachen werden entlastet, zudem
können die Kosten für den Aufenthalt - 650 beziehungsweise
900 Franken - verrechnet werden. Beat A. Käch, der zuständige
Projektleiter, wollte in seinem Tagungsreferat noch keine konkreten
Zahlen nennen. Zwar soll erst im Oktober - also nach sechsmonatiger
Betriebsphase - Bilanz gezogen werden, dennoch verriet Käch einige
Trends.
Wenig Jugendliche eingeliefert
Die Erfahrungen mit der ZAS seien äusserst positiv. Bereits
jetzt sei absehbar, dass die Planungsgrundlage mit 600 eingelieferten
Personen pro Jahr überschritten werde. Bei seinen "Klienten"
handle es sich in der Mehrheit um Männer. Zudem würden -
für den Projektleiter überraschend - sehr wenige Jugendliche
unter 16 Jahren eingeliefert. Die meisten Personen seien zwischen 20
und 40 Jahre alt. Auch die Zahlungsmoral bezeichnete er als
zufriedenstellend, auch wenn vereinzelt Mahnungen verschickt und
Betreibungsverfahren eingeleitet werden mussten.
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ALKVERBOT
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Sonntag 12.9.10
Alkoholverbot ist in der Region wenig populär
Schweizer Städteverband fordert die Möglichkeit eines
Alkoholverbots im öffentlichen Raum. In der Region besteht
dafür kaum Interesse. Und auch der Bund winkt ab
Kein schöner Anblick, wenn auf Plätzen und Strassen zu
viel Alkohol fliesst. Oft kommt es zu Lärm, Abfall,
Sachbeschädigungen oder Prügeleien. Doch: Wo endet die
persönliche Freiheit des Bürgers im öffentlichen Raum?
Wann darf der Staat präventiv eingreifen? Als der Bund 2007
über ein Alkoholverkaufsverbot für die späteren
Abendstunden nachdachte, löste das noch landesweit Kritik aus.
Doch die Zeiten haben sich geändert.
So erwähnt der neue Sicherheitsbericht der Stadt Luzern
Alkoholverbote im öffentlichen Raum. Ein ähnliches Verbot
für bestimmte Gebiete wird auch in Zürich geprüft. In
Chur ist es schon seit 2008 ab Mitternacht verboten, inder
Öffentlichkeit Alkohol zu trinken. Bei einer Umfrage des
Städteverbands votierten die meisten teilnehmenden Orte für
neue Rechtsgrundlagen. Rund die Hälfte jener Städte
hätten solche Verbote bereits selber ins Auge gefasst, wird
Verbandsvizedirektor Martin Tschirren in der "NZZ" zitiert.
Kein Thema ist ein Alkoholverbot im öffentlichen Raum
für die Stadt Basel. "Wir haben ja auch keine offene Alkiszene",
argumentiert Klaus Mannhart vom Justiz- und Sicherheitsdepartement
(JSD), "auch wenn sich am Bahnhof oder am Claraplatz immer wieder
einige ‹Penner› treffen." Jugendalkoholismus aber bekomme man
bekanntlich nicht in den Griff, indem man den Konsum in der
Öffentlichkeit verbiete.
Das sieht Eveline Bohnenblust ähnlich. Die Leiterin der
Abteilung Suchtim Gesundheitsdepartement weist gleichzeitig darauf hin,
dass Basel-Stadt derzeit aber an der Umsetzung des Massnahmenpakets
"Gegen exzessiven Alkoholkonsum von Jugendlichen" arbeite.
Schwergewichtig sollen dabei der Jugendschutz und die
Suchtprävention verbessert werden und dazu gesetzliche Massnahmen
möglichst zielgerichtet eingesetzt werden.
Der Städteverband seinerseits fordert für die Revision
der eidgenössischen Alkoholgesetzgebung eine Gesetzesgrundlage
für zeitlich und örtlich limitierte Alkoholverbote im
öffentlichen Raum. Der Bundesrat aber winkt ab. Grund: Der Bund
regle zwar den Handel mit Alkohol, nicht aber den Konsum. Dies sei
Sache der Kantone und Gemeinden. Einzig im erläuternden Bericht
ist ein entsprechender Artikel aufgeführt. Darin ist von einem
"örtlich und zeitlich beschränkten Alkoholverbot" die Rede.
Abgeraten aber wird von einem dauerhaften Verbot.
Von einem solchen will beispielsweise auch die Stadt Liestal
nichts wissen. Sie konzentriert sich vielmehr auf die Information sowie
die Sensibilisierung auf die gesundheitsschädigende Wirkung von
übermässigem Alkoholkonsum und auf die Abfallproblematik.
"Wenn überhaupt ein Verbot ins Auge gefasst werden soll, dann
dürfte dieses nur zeitlich und örtlich begrenzt ausgesprochen
werden", sagt Bernhard Allemann von der Stadtverwaltung. Als
"unverhältnismässig" dagegen bezeichnet er ein generelles
Aufenthaltsverbot, wie es in der Region die Gemeinde Birsfelden
verhängt hat. Für das Birschöpfli gilt jeweils ab 22 Uhr
ein Aufenthaltsverbot.
Auf Präventionsmassnahmen verweist dagegen die Organisation
Sucht-Info Schweiz. Verbote im öffentlichen Raum dagegen
könnten den Alkoholkonsum in private Räume verlagern, wo die
soziale Kontrolle noch geringer sei. Auch Bohnenblust setzt den Fokus
auf die Einhaltung der bestehenden gesetzlichen Massnahmen. "Hier
besteht noch ein grösseres Potenzial", betont die Leiterin der
Abteilung Sucht Basel-Stadt. So sei im letztjährigen
AlkoholVerkaufsmonitor im Stadtkanton in 51Prozent aller besuchten
Läden Alkohol an Jugendliche im gesetzlichen Schutzalter verkauft
worden. "Das Problembewusstsein ist hier noch nicht genügend
entwickelt."
Ohnehin könne die Polizei schon heute einschreiten, wenn es
zu Fällen von "öffentlicher Gefährdung oder
Ärgerniserregung im Rauschzustand" kommt, ergänzt
JSD-Sprecher Mannhart. Dann könne die Basler Polizei eine
Ordnungsbusse von 100Franken verhängen, was sie im Jahr 2009 genau
581 Mal getan hat. Mannhart: "Wir wollen aber nur büssen, wer auch
tatsächlich Ärger macht." (db)
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NZZ am Sonntag 12.9.10
Meinungen
Alkoholverbote sind intolerant und kleinkariert
Städte wollen Alkohol in der Öffentlichkeit verbieten.
Das ist falsch. Schon vor 300 Jahren waren Trinken und Rauchen
untersagt. Die Verbote hielten nicht lange, schreibt Gregor A. Rutz
Im Jahr 1650 erliess der Zürcher Rat ein Alkoholverbot
für die Zeit nach 19 Uhr: Um diese Zeit sollen sich die
Bürger nicht bei Wein und Bier in den Gasthäusern
herumtreiben, fanden die städtischen Gesetzgeber. Weil daraufhin
der Alkoholkonsum namentlich in den Morgenstunden in die Höhe
schnellte, wurden alkoholische Getränke in den Zürcher
Wirtshäusern gänzlich verboten. Nach massiven Protesten und
Umsatzeinbrüchen wurde das Verbot 1740 wieder gelockert.
Jetzt, im Herbst 2010, sind wir wieder so weit wie vor 360
Jahren: Der Schweizerische Städteverband fordert ein
"Alkoholverbot im öffentlichen Raum" für die Zeit von 24 bis
7 Uhr. Die Stadt Chur hat ein solches Verbot bereits vor zwei Jahren
eingeführt. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) doppelt nach -
es hat eine Studie finanziert, welche den Nutzen eines solchen Verbots
beweisen soll. Die Studie kam zum gewünschten Ergebnis: Ein
Verkaufsverbot von Bier, Wein und Schnaps in den Abend- und
Nachtstunden senke den Alkoholkonsum bei den Jugendlichen, konnte man
kürzlich in den Zeitungen lesen.
Die Forderung ist nicht neu: Im "Nationalen Programm Alkohol"
forderte das BAG bereits vor drei Jahren ein generelles Verkaufsverbot
von Alkohol zwischen 21 und 7 Uhr sowie ein Alkoholverbot in Fussball-
und Eishockey-Stadien. Im Umfeld dieser Stadien seien alkoholfreie
Zonen zu schaffen. Gleichzeitig sei eine Steuererhöhung für
alkoholische Getränke zu prüfen. Die Eidgenössische
Alkoholverwaltung und die Fachstelle "Suchtinfo Schweiz" wollen noch
weiter gehen und auch "Happy Hours" verbieten. Die vergünstigte
Abgabe von Alkohol in Restaurants und Klubs sei eine Unsitte.
Dass Politiker meinen, für jedes Problem ein Gesetz schaffen
zu müssen, ist ein bekanntes Ärgernis. Dass viele Bürger
froh sind, wenn ihnen jemand Anweisungen gibt, ist aber ebenso
unerfreulich. Vordergründig meint man, Ordnung schaffen und
Sicherheit vermitteln zu können. Faktisch aber sind solche Gesetze
meist Ausdruck von Intoleranz und Kleinkariertheit. Und fast jedes
Gesetz hat seinen geschichtlichen Vorläufer - kaum eine Massnahme
von heute ist wirklich neu.
So verfügte der Zürcher Rat im Oktober 1670 ein
Rauchverbot, um die schädlichen Folgen des Tabaks zu
bekämpfen. Da dieses Gesetz nicht durchsetzbar war, wurde das
Verbot bereits 1700 wieder gelockert. Ab 1756 war das Rauchen in
Zürich wieder erlaubt. Dass die Zürcher Stimmbürger im
September 2008 wiederum über ein Rauchverbot abstimmten,
gehört zur Ironie der Geschichte.
Bereits im Jahr 1571 erliess die Stadt Zürich für die
Zeit nach 19 Uhr ein Ausgangsverbot für Minderjährige. Im
folgenden Jahrhundert wurde die Regelung wieder gestrichen. Dies
hinderte verschiedenste Schweizer Gemeinden von Kerzers über
Zurzach bis nach Gossau und Chur nicht daran, wiederum solche
Ausgangsverbote einzuführen. Wie vor 400 Jahren.
Ordnung muss sein - auch optisch. Darum ist die Möblierung
von Strassen- und Gartencafés mittlerweile eine staatliche
Angelegenheit. Das Schweizerische Bundesgericht hat entschieden, dass
die Errichtung eines Strassencafés neben der
gewerbepolizeilichen Bewilligung neu auch einer Baubewilligung bedarf.
Nach Auffassung des Gerichts sind Bistrotische und Sonnenschirme in
Strassencafés "Bauten und Anlagen", die "nur mit
behördlicher Bewilligung errichtet oder geändert" werden
dürfen.
Von diesen behördlichen Kompetenzen machen die
Stadtverwaltungen ausnehmend Gebrauch: Die entsprechenden Verordnungen
strotzen von Bürokratie und Amtsschimmel. Städte wie
Winterthur oder Basel regeln die Möblierung von
Strassencafés bis ins Detail: Sie definieren die Farbe der
Sonnenschirme (nicht zu grell), das Material von Tischen und
Stühlen (Holz statt Plastic) oder den Abstand zwischen
Blumentöpfen (mindestens 50 cm). Die Stadt Zürich wollte
kürzlich gar ein generelles Lounge-Verbot aussprechen. Dies
scheiterte vorerst am Widerstand der Bevölkerung.
Unerbittlich sind die Behörden bei den Tankstellen-Shops:
Vergangene Woche verzeigte der Zürcher Stadtrichter etliche
Tankstellenpächter, weil ihr Sortiment zu wenig auf die
"automobile Kundschaft" ausgerichtet sei. Die bittere Erkenntnis: Am
Sonntag eine warme Pizza zu verkaufen, ist zwar erlaubt. Eine
tiefgekühlte Pizza zu kaufen, ist jedoch verboten. Und an
öffentlichen Ruhe- und Feiertagen ist es in Zürich strikte
untersagt, Katzenfutter oder Crèmedesserts zu verkaufen. Bei
ihrer Razzia fand die Gewerbepolizei in gewissen Shops bis zu 6
verschiedene Tomatensaucen und 11 Sorten Katzenfutter in den Regalen.
Dies sei zu viel. Die Strafe für die Shops ist hart: 800 Franken
Busse oder 5 Tage Gefängnis.
Da bleibt nur noch ein Wort zum Sonntag: Lesen Sie doch wieder
einmal im Johannes-Evangelium. Sie werden sehen: Auf der Hochzeitsfeier
in Kana hat Jesus Wasser in Wein verwandelt - und nicht etwa umgekehrt.
Heute wäre wohl auch dies verboten.
--
Gregor A. Rutz
(ura)
Der Jurist Gregor A. Rutz, 37, führt eine PR-Agentur in
Zollikon. Von 2001 bis 2008 war er Generalsekretär der SVP.
Zusammen mit Freunden aus FDP, CVP und SVP gründete er 2006 die
"IG Freiheit", die sich für die Freiheitsrechte der Bürger
und gegen den Erlass unnötiger staatlicher Regulierungen einsetzt.
---
Basler Zeitung 11.9.10
Das Alkoholverbot zeigt Wirkung
In Genf sinkt die Zahl der jugendlichen Rauschtrinker,
während sie gesamtschweizerisch steigt
Denise Lachat, Genf
Während im Baselbieter Landrat Vorstösse für ein
nächtliches Alkohol-Ausschankverbot kürzlich scheiterten,
gilt ein solches Verbot seit fünf Jahren für Genfer
Tankstellenshops und Videotheken. Das führt dazu, dass Jugendliche
weniger trinken.
"Prohibition!", schimpften die einen, als das Genfer
Kantonsparlament 2004 beschloss, zwischen neun Uhr abends und sieben
Uhr morgens den Verkauf von Alkohol "über die Gasse" zu verbieten
und Alkoholika aus dem Sortiment der Tankstellenshops und Videotheken
zu kippen. "Gut für den Jugendschutz", applaudierten die anderen,
die sich erhofften, dadurch werde der steigende Alkoholkonsum unter
Jugendlichen eingedämmt. In der Volksabstimmung setzte sich das
Verbot durch.
Nun zeigt eine Untersuchung von Sucht Info Schweiz, dass sich die
Hoffnungen der Verbotsbefürworter erfüllen. Denn während
in der Schweiz Spitaleinlieferungen wegen Alkoholvergiftungen zwischen
2002 und 2007 anstiegen, gehen sie im Kanton Genf seit 2005 bei den 10-
bis 15-Jährigen zurück, und zwar um etwa 4 bis 5,5 pro
tausend im Spital behandelten Fällen.
Prävention
Bei den 16- bis 29-Jährigen ist der Rückgang allerdings
geringer. Bei den über 29-Jährigen wurde keine
Veränderung festgestellt. Die Notaufnahmen wegen
Alkoholvergiftungen sind laut den Autoren ein Indikator für das
Rauschtrinken von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die alkoholische
Getränke häufig spontan eingekauft und punktuell in
unkontrollierten Mengen konsumiert haben.
"Die Ergebnisse stehen im Einklang mit internationaler Literatur,
die zeigt, dass bei Jugendlichen ein Zusammenhang zwischen der
Erhältlichkeit von Alkohol und Konsum besteht", folgern die
Autoren. Und die Genfer Behörden sehen sich in ihren
Präventionsbemühungen bestätigt. Allerdings räumen
die Verfasser der Studie ein, dass nebst der Statistik der
Spitäler weitere Indikatoren notwendig wären, um die Folgen
der Intervention auf den Alkoholkonsum zu untersuchen.
Wirkung
Denn Hospitalisierungen wegen Alkoholvergiftungen seien generell und
insbesondere bei 10- bis 15-Jährigen, die im Grunde gar keinen
Alkohol kaufen dürften, sehr selten. "Sie sind somit nicht der
beste Indikator für ein verändertes Konsumverhalten."
Immerhin lasse sich mit grosser Sicherheit sagen, dass die
eingeschränkten Verkaufszeiten und das Verkaufsverbot für
alkoholische Getränke in Tankstellen und Videoläden dazu
geführt haben, dass es weniger Fälle von Alkoholvergiftungen
bei Jugendlichen gibt. Denn Jugendliche seien stärker als
Erwachsene davon betroffen, wenn sie Alkohol nicht günstig und
einfach einkaufen könnten: In Restaurants und Diskotheken seien
ihnen die Preise für alkoholische Getränke zu hoch. Und dass
Jugendliche zu Hause Alkoholvorräte anlegten, sei zudem eher
selten.
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DROGEN
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Zürichsee-Zeitung 11.9.10
Drogenhandel Weil Scheinkäufe nicht mehr erlaubt sind, erleben
Drogenszenen wieder grösseren Zulauf
An Bahnhöfen wird wieder gedealt
Das Ende der Aktion "Ameise" der Kantonspolizei St. Gallen hat
Folgen: In den Gemeinden am Obersee wird vermehrt mit harten Drogen
gehandelt.
Magnus Leibundgut
"Wir erleben derzeit einen merklichen Rückschlag",
konstatiert Christian Rudin von der Kantonspolizei St. Gallen. Die
Polizei habe kaum mehr Einblick in den Drogenhandel: "Mit der Aktion
‹Ameise› war es uns möglich, die Szene zu kontrollieren und
einzudämmen, weil wir die Dealer verhaften konnten."
Das Bundesgericht in Lau-sanne hat nun entschieden, dass
Scheinkäufe bei Kokain-Kleindealern nicht mehr zulässig sind:
Die Aktion "Ameise" wurde gestoppt. Mit gravierenden Konsequenzen,
betont Christian Rudin: "Ohne Scheinkäufe tätigen zu
können, ist es kaum mehr möglich, Klein- oder Ameisendealer
unmittelbar nach einem Verkauf zu überführen."
Die Dealer sind wieder da
Die Folge sei, dass nun die Händler wieder forscher
auftreten und die Drogenszenen in den Agglomerationen wachsen
würden, stellt Hans Peter Eugster, Sprecher der St. Galler
Kantonspolizei, fest. Mit der Aktion "Ameise" sei es gelungen, die
Dealer zu verunsichern und von den Bahnhöfen zu verdrängen.
Machtlose Polizei
Diese positive Entwicklung drohe jetzt wieder ins Gegenteil zu
kippen. Regelmässig komme es vor, dass Dealer den Polizisten in
Zivil Drogen anbieten würden, erzählt Christian Rudin:
"Frustrierend für die Beamten ist, dass ihnen die Hände
gebunden sind und sie nicht gegen die Händler vorgehen
können." Die Situation an den Bahnhöfen am Obersee hat denn
auch bereits zur Verunsicherung von Passanten geführt. Seite 3
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Drogenhandel Ein Bundesgerichtsurteil stoppt die erfolgreiche Strategie
der Kantonspolizei
Herber Rückschlag für die Polizei
Reklamationen von Bürgern nehmen zu, weil sie sich an
Bahnhöfen nicht mehr sicher fühlen. Die St. Galler
Kantonspolizei versucht nun, mit der neuen Aktion "Schatten" den
Drogenhandel einzudämmen.
Magnus Leibundgut
Rückschlag im Kampf gegen den Drogenhandel: Dealer sind
wieder im Vormarsch und lösen in der Bevölkerung
Verunsicherung aus. Vermehrt würden sich Leute melden, die sich
über den sich wieder ausbreitenden Drogenhandel beklagen,
konstatiert Eugen Rentsch, Leiter der Dienststelle
Betäubungsmitteldelikte bei der St. Galler Kantonspolizei. Dies
sei auch nicht verwunderlich angesichts dessen, dass die
"Kügeli-Dealer", die überwiegend Asylbewerber aus Nigeria und
Kamerun seien, wieder sehr offen Kokain anbieten.
Bahnhöfe und Unterführungen
Laut Rentsch sind vor allem die drei Bahnhöfe in Rapperswil,
Jona und Uznach betroffen: "Hinzu kommen Strassen- und
Bahnunterführungen, wo Deals in der Anonymität ablaufen."
Auch in Bussen werde vermehrt mit Drogen gehandelt. Die Polizei
versuche, mit Kontrollen gegen den Handel vorzugehen: "Uns bleibt
oftmals nichts anderes übrig, als an einem Bahnhof alle Schwarzen
zu kontrollieren." Was dann naturgemäss wieder Reklamationen bei
denjenigen Schwarzen auslöse, die gar nichts mit Drogen zu tun
hätten.
Deals verunsichern Bevölkerung
Als Notlösung bezeichnet Christian Rudin von der St. Galler
Kantonspolizei die Aktion "Schatten", nachdem die Aktion "Ameise"
eingestellt werden musste: "Die neue Strategie ist primär darauf
ausgelegt, den Kontakt in der Szene und die Übersicht über
den Handel nicht zu verlieren." Laut Rudin sind die Folgen des
"Ameisenstopps" vorwiegend subjektiver Art: "Das Sicherheitsgefühl
in der Bevölkerung sinkt. Für die Gemeinden kann dadurch im
Extremfall natürlich auch ein Imageschaden entstehen."
Rudin führt ins Feld, dass in den Sommermonaten nicht nur an
Bahnhöfen, sondern auch an verschiedenen andere Plätzen
Drogen konsumiert und gehandelt werden: "Ich denke dabei zum Beispiel
an die verschiedenen Seeanlagen in Rapperswil-Jona, aber auch andere
Plätze in den verschiedenen Orten des Linthgebietes."
Eugen Rentsch stellt fest, dass in der letzten Zeit vor allem der
Handel mit Kokain stark zugenommen habe, in abgeschwächter Form
auch mit Cannabis. Das erneute Aufleben von Drogenumschlagplätzen
führe nicht nur zur Verunsicherung in der Bevölkerung,
sondern auch zur Gefahr, dass gerade jüngere Leute mit Drogen in
Kontakt kämen: "Wenn so offen mit Drogen gehandelt wird, steigt
auch die Versuchung für manche, Drogen zu kaufen." Eine Zunahme
der Kriminalität in der Umgebung der Bahnhöfe sei die Folge,
wenn wieder vermehrt Leute in die Drogensucht abrutschten. Schliesslich
bräuchten diese Geld, um die Drogen finanzieren zu können,
fügt Rentsch an.
Die Drogenhändler im Visier
Im Fokus der Kantonspolizei stünden hauptsächlich die
Dealer, betont Christian Rudin: "Reine Konsumenten werden nur sehr
selten zur Anzeige gebracht oder bestraft." Oft seien es
Begleitumstände oder Begleitdelikte, die dann zum Einschreiten der
Polizei oder zu Folgen durch die Justiz führten. Rudin hält
fest: "Suchtkranke Menschen heilen wir nicht durch Bestrafung." Hierzu
müssten parallel weitere Massnahmen greifen: "Für diese
werden von den Gemeinden und Kantonen erheblich viele Mittel eingesetzt.
Vor allem an anonymen Orten wie Strassen- und
Bahnunterführungen findet der Handel mit Drogen statt. Das
Sicherheitsgefühl der Passanten an solchen Orten sinkt, wenn Deals
überhandnehmen. (Manuela Matt)
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Busse statt Gericht für Konsumenten
Seit dem Jahr 2003 kennt der Kanton St. Gallen ein einfacheres
Verfahren bei Verstössen gegen das Betäubungsmittelgesetz. In
den meisten Fällen kommen Personen, die mit einer geringen Menge
illegaler Substanzen erwischt werden, mit einer einfachen Ordnungsbusse
davon. Damit geraten Personen, die einmal beim Kiffen erwischt werden,
nicht mehr automatisch in die Mühlen der Justiz.
Eugen Rentsch, Leiter der Dienststelle
Betäubungsmitteldelikte, erklärt, dass diese Regelung
für die Frontpolizei eine grosse Erleichterung bedeute, weil der
ganze Papierkram rund um das Schreiben der Rapporte entfalle.
Allerdings seien mit dieser Regelung die Beamten gefordert, zum
Beispiel jugendliche Drogeneinsteiger zu erfassen: "Die
Einschätzung, ob ein Jugendlicher auf riskante Weise Drogen
konsumiert, liegt beim Polizeibeamten oder bei der Polizeibeamtin an
der Front." Dabei bestehe ein gewisses Risiko der
Fehleinschätzung. (ml)
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GASSE
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Grenchner Tagblatt 13.9.10
Kein Zoobesuch
Gassenrundgang "Perspektive" zeigte die alltäglichen Wege
von Süchtigen
Weniger die Gasse stand im Vordergrund, vielmehr die
Institutionen, die darum besorgt sind, Suchtkranke von der Gasse
wegzuholen. Das war die Idee hinter dem Gassenrundgang.
Samuel Misteli
Es sollte kein Zoobesuch sein. Die Teilnehmer sollten nicht das
Phänomen Drogensucht am lebenden Objekt bestaunen, sondern einen
Einblick in die Lebenswelt von Suchtbetroffenen erhalten. Deshalb
standen die rund zwei Dutzend Interessierten, die am Samstagmittag beim
Gassenrundgang der "Perspektive" mitmarschierten, nicht auf derjenigen
Seite des Amthausplatzes, wo sich Solothurner Suchtbetroffene eine
Nische zu reservieren pflegen. Als "den Platz, wo man in Solothurn eine
offene Szene wahrnimmt", beschrieb Karin Stoop,
Co-Geschäftsleiterin der "Perspektive", einleitend den
Amthaus-platz. Seit im "Adler" in der Vorstadt vor knapp eineinhalb
Jahren Gassenküche und Anlaufstelle ihre Türen öffneten,
gilt die Aussage nur noch eingeschränkt.
Auf der Gasse am Arbeiten
Der Rest des von zwei Studentinnen der Luzerner Fachhochschule
für Soziale Arbeit organisierten Gassenrundgangs war dann vor
allem ein Kennenlernen der Institutionen, die darum bemüht sind,
Drogensüchtige von der Gasse wegzuholen. Vom Amthausplatz ging der
Weg zur evangelisch-methodistischen Kirche, wo täglich ein
kostenloses Frühstück angeboten wird, Richtung Nordwesten
weiter zu den Räumlichkeiten der "Perspektive". Die Besucher
liessen sich die Besprechungszimmer zeigen, wo Beratungsgespräche
durchgeführt werden. Sie setzten sich in die Cafeteria, wo die
"Perspektive"-Schützlinge auf Arbeit warten. Sie besichtigten die
Werkstatt, in deren Lager Besen, Schaufeln und Gabeln aufgereiht sind.
Eine mögliche Erkenntnis aus Besichtigung und dazu abgegebenen
Informationen: Trifft man Suchtkranke auf der Gasse, erkennt man sie
mitunter nicht als solche, weil sie arbeiten. Sie sammeln im Auftrag
der Gemeinde Abfall ein, oder sie schleppen Zügelkisten im Auftrag
von Privaten.
Köchinnen und Kummertanten
Nach der Besichtigung des "Perspektive"-Sitzes ging es wieder auf
die Strasse: zügigen Schrittes zurück Richtung Altstadt,
vorbei noch einmal am Amthausplatz, runter zur Wengibrücke. Rein
in den "Adler": Im Essraum hängen unter anderem Fotos vom
verwaisten Amthausplatz. Ausser den Mitarbeitern sind hier
gewöhnlich nur Gäste zugelassen, die nachweislich ein
Drogenproblem haben. Zwischen 25 und 55 Personen sind das pro Tag. "Wir
sind Köchinnen, Polizistinnen, Kummertanten", erzählt
Käthi Blaser von der Gassenküche. Die Suchtbetroffenen sollen
hier Erholung finden vom Gassenstress. Deshalb gibt es im hinteren Teil
des Gebäudes Gratis-Tee und Gratis-Früchte - aber auch die
Möglichkeit gebrauchte Spritzen gegen saubere einzutauschen.
In den Räumen gleich neben der Cafeteria sieht es aus wie in
einer Arztpraxis: Alles ist weiss, an der Wand hängt ein Poster:
"Das Gefässsystem des Menschen." In die so genannten
Konsumationsräume kommt nur rein, wer sich vorher die Wände
gewaschen hat. Alles soll möglichst steril sein, damit die
Süchtigen den selber mitgebrachten Stoff konsumieren können,
ohne ihre Gesundheit noch zusätzlich zu gefährden. "Wir
wollen, dass den Leuten sauberes Material zur Verfügung steht",
sagt Maya Fritschi von der Anlaufstelle. Das lohnt sich: Die Gesundheit
der Süchtigen, sagt Fritschis Kollegin Senta Strausak, habe sich
über die Jahre enorm verbessert.
Nicht mehr auf der Gasse bleiben
Mit der Verbesserung der Gesundheit ihrer Klienten muss sich auf
der anderen Seite der Wengibrücke, hinter dem Westbahnhof, oft
auch Irma Müller von der Heroinabgabe zufriedengeben. Der
komplette Ausstieg aus den Drogen gelinge nur einer Minderheit,
erzählt sie zum Abschluss des Gassenrundgangs. Vom Sinn ihrer
Tätigkeit ist sie dennoch genauso überzeugt wie die
"Perspektive"-Mitarbeiter, die im "Adler" oder am Bürositz Tag
für Tag Drogensüchtige betreuen.
Geschäftsleiterin Karin Stoop sagt, was man nach zweieinhalb
Stunden Besichtigung der Institutionen, die sich um Suchtkranke
kümmern, ahnt: "Die Leute müssen nicht mehr auf der Gasse
bleiben."
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BIG BROTHER SPORT
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Sonntag 12.9.10
Hand in Hand gegen Chaoten
Das neue Hooligan-Gesetz ist in Kraft, nur wissen Fussball- und
Eishockeyvereine noch nichts davon
von Fabian Kern und Raphael Biermayr
Die Stadionverbote in der Schweiz wurden ausgedehnt. Neu sind
sanktionierte Chaoten für alle Ligen im Fussball und im Eishockey
gesperrt. Und auch Amateurvereine dürfen Platzverbote beantragen.
Gewaltprävention beginnt im Kopf. Und genau da hat der
Schweizerische Fussballverband (SFV) den Hebel angesetzt. Seit dem 1.
Juli muss sich ein potenzieller Chaot gut überlegen, ob er die
Konsequenzen einer Schlägerei oder eines Vandalenaktes tragen will
- und sei es "nur" bei einem 4.-Liga-Spiel.
Der deutsche und der englische Fussball haben gezeigt, was
geschehen kann, wenn man die Hooligans aus den Profi-ligen verbannt:
Sie wüten in den unteren Spielklassen weiter. Auch in der Schweiz
hat man solche Tendenzen beobachtet. "Besonders bei den U21-Teams der
Super-League-Klubs in der 1.Liga sind bereits Ausschreitungen
vorgekommen", sagt Ulrich Pfister, Sicherheitschef des SFV. Der Verband
hat mit einem neuen Hooligan-Gesetz reagiert, das es den
1.-Liga-Vereinen genau wie jenen aus der Super- oder Challenge League
erlaubt, selbst Stadionverbote auszusprechen. Die unterklassigen
Amateurvereine bekommen zudem die Möglichkeit, beim Verband ein
Platzverbot gegen fehlbare Personen zu beantragen. Die nach dem 1. Juli
ausgesprochenen Zutrittsverbote wurden auch weiter ausgedehnt als
bisher. Ein Stadion- oder Platzverbot gilt schweizweit, für alle
Ligen sowohl im Fussball als auch im Eishockey.
Das bedeutet nebst dem Verbot zum Zuschauen vor Ort also auch,
dass Fehlbare auch in ihrer Funktion als Spieler den Platz nicht mehr
betreten dürfen, ihr Spielerpass also während der Zeit des
Verbots ungültig ist.
Die Absicht ist löblich. Doch bisher wurde es verpasst, die
Vereine über ihre neuen, seit zwei Monaten bestehenden Rechte
aufzuklären. Eine Umfrage bei einigen Limmattaler Klubs zeigt,
dass man die Durchführung des Verbots in Bezug auf das Verbot als
Zuschauer als schwer realisierbar erachtet, zumal der SFV auch keine
"schwarze Liste" an sie aushändigen wird.
Es bleibt abzuwarten, wie man sich die Umsetzung von
Verbandsseite vorstellt. Auf der Verbandswebsite des SFV ist das neue
Reglement aufgeschaltet. "Wir arbeiten an einem Merkblatt für die
Vereine", sagt Willy Frey, von der Amateurliga, Mitglied der Kommission
zum Stadionverbot. Vermutlich in den nächsten Tagen erhalten die
Vereine von ihr das Dokument. Diese Kommission dient in Zukunft als
Ombudsstelle für die Klubs. Hoffentlich bekommt sie nicht zu viel
zu tun.
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ANTI-ATOM
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BZ 13.9.10
AKW-Bau
Kosten doppelt so hoch
Ein Atomkraftwerkbau in Finnland kostet doppelt so viel wie
geplant. Für ein neues AKW in Mühleberg könnte dies
Folgen haben.
Mit 1600 Megawatt hat das neue finnische AKW auf der Insel
Olkiluoto etwas mehr als die vierfache Leistung des AKW Mühlebergs
(390 MW). In diesem Jahr hätte das AKW der dritten Generation ans
Netz gehen sollen. Doch der Bau verzögert sich. Die Kosten haben
den vereinbarten Fixpreis von 3 Milliarden Euro (aktuell etwa 4
Milliarden Franken) längst überschritten.
Bis der französische Kraftwerkbauer Areva und die deutsche
Siemens das AKW von Olkiluoto 2013 fertiggestellt haben, dürften
sich die Kosten auf 8 Milliarden Franken verdoppelt haben. Diese
Verteuerung könnte für das in Mühleberg geplante neue
AKW Folgen haben. Denn obwohl noch nicht entschieden ist, ob in
Mühleberg ein Ersatz-AKW gebaut werden kann - das Bernervolk
entscheidet im Februar 2011 -, bringt sich die Firma Areva bereits in
Position. Im Rennen ist auch das US-amerikanisch-japanische Konsortium
Westinghouse-Toshiba.
ue/sny
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AKW-Bau in Finnland
Hohes Lehrgeld für Mühleberg
Für den Bau eines neuen Atomkraftwerks in Mühleberg
muss die BKW noch viele Hürden überwinden. In Finnland
dagegen läuft der Bau des ersten AKW der neusten Generation auf
Hochtouren - und sorgt für viel Streit.
So könnte es in einigen Jahren in Mühleberg aussehen:
Die idyllisch am Bottnischen Meerbusen gelegene Insel Olkiluoto ist das
Herz Finnlands. Bereits heute pumpen zwei Atomkraftwerke, die zusammen
mehr als die vierfache Leistung des AKW Mühleberg erbringen, Strom
in die finnischen Haushalte und Fabriken. Diese sind stromhungrig: Der
Pro-Kopf-Verbrauch ist fast doppelt so gross wie in der Schweiz - vor
allem auch, weil das Heizen mit Strom populär ist.
Viermal Mühleberg
Heute ist Olkiluoto zu einer Art Mekka für Vertreter der
Atomwirtschaft geworden. Seit dem Jahr 2005 baut ein Konsortium
bestehend aus dem französischen Kraftwerkbauer Areva und dem
deutschen Industriekonzern Siemens ein Atomkraftwerk der neuen dritten
Generation mit einer Leistung von 1600 Megawatt, was viermal mehr ist
als diejenige des heutigen AKW in Mühleberg. Käuferin ist die
Betreibergesellschaft TVO, die verschiedenen finnischen Energiefirmen
gehört.
Ein gleich modernes Kraftwerk will das Berner Energieunternehmen
BKW in Mühleberg bauen - wenn es eines Tages tatsächlich die
Bewilligung erhält. Technisch wird es einen grossen Unterschied
zwischen den Anlagen geben: Während das AKW in Finnland mit
Meerwasser gekühlt wird, ist die Kühlung in Mühleberg in
einem Turm geplant.
4000 Arbeiter vor Ort
Auf der Fahrt zur Baustelle sind zuerst rechts und links der
Strasse Baracken zu sehen, in denen die Bauarbeiter wohnen. Derzeit
sind rund 4000 Bauarbeiter aus über 50 Ländern auf der
Baustelle tätig - die BKW rechnet für Mühleberg mit 2500
Arbeitern. Da die Arbeiten auf der Baustelle hohe Spezialkenntnisse
erfordern, liegt der Anteil der Finnen bei nur wenigen Prozenten.
Höhe von 70 Metern
Beim Gang über die Baustelle fallen die riesigen Dimensionen
auf: Die Kuppel des Reaktorgebäudes hat eine Höhe von 70
Metern. Im Innern sind die Arbeiten voll im Gang. In den Gängen
herrscht emsiges Treiben. Der Druckbehälter - das riesige
Stahlgefäss, in dem später die Brennstäbe installiert
werden und wo die atomare Reaktion abläuft - ist bereits
installiert. Doch es ist offensichtlich, dass den Arbeitern der
französischen Areva noch viel zu tun bleibt.
Im Prinzip funktioniert ein Atomkraftwerk der dritten Generation
gleich wie eines der zweiten. Verschiedene Sicherheitssysteme für
einen Störfall sind jedoch verstärkt worden. Zudem besteht
die Hülle des Reaktorbereichs aus einer 1,8 Meter dicken
Betonwand. Bei den AKW früherer Bauart war diese Hülle rund
1,5 Meter dick. Sie dient dazu, die Anlage vor einem beabsichtigten
oder unbeabsichtigten Flugzeugabsturz zu schützen.
Das Reich von Siemens
Der riesige Turbinenraum ist deutsches Hoheitsgebiet. Hier sind
die Siemens-Angestellten am Werk: "Es ist die grösste Dampfturbine
der Welt", erklärt der zuständige Siemens-Ingenieur mit
Stolz. Die 4300 Tonnen schwere Anlage ist weitgehend fertiggestellt.
Sie ist ein Produkt deutscher Ingenieurkunst. So müssen Teile auf
einen Bruchteil eines Millimeters genau hergestellt sein. Anschliessend
an die Turbine folgt der Generator, der nach dem Prinzip eines
Velodynamos Strom erzeugt.
Kritische Aufseher
Die Erbauer der Anlage haben für ihre Innovationen viel
Lehrgeld bezahlt: Die finnische Atomaufsichtsbehörde verfolgte das
Projekt sehr kritisch. So bemängelte sie, dass es in Bezug auf das
Leitsystem des Atomkraftwerks viele offene Fragen gebe. Die Folge waren
grosse Verzögerungen: Ursprünglich hätte die Anlage in
diesem Jahr den Betrieb aufnehmen sollen. Nun soll das AKW im Jahr 2013
ans Netz gehen. Die französische Kraftwerkbauerin Areva hat mit
der finnischen Betreibergesellschaft TVO einen Fixpreis von
rund drei Milliarden Euro vereinbart, was aktuell rund vier Milliarden
Franken entspricht. Wie hoch die effektiven Baukosten schliesslich sein
werden, darüber schweigen sich die Areva-Vertreter in Olkiluoto
aus. Die Zahl dürfte im Bereich von sechs bis acht Milliarden
Franken liegen.
Streit um Strafzahlungen
Wegen der Verzögerung muss Areva an TVO Strafzahlungen in
Höhe von mehreren Hundert Millionen Franken bezahlen. Areva
versucht nun aber, den Spiess umzudrehen, und will gerichtlich
feststellen lassen, dass auch TVO eine Mitschuld trägt.
Streitpunkt ist vor allem, ob TVO die Sicherheitsanforderungen genau
genug definiert hat. So gibt es genaue Vorschriften darüber, wie
Schweissnähte anzubringen und zu dokumentieren sind oder wie der
Beton zu mischen ist. Da diese Vorschriften von den Erbauern und den
Aufsichtsbehörden unterschiedlich interpretiert wurden, mussten
diverse Bauteile ein zweites Mal hergestellt werden.
AKW-Bau als Grossrisiko
Diese Probleme werden auch für die BKW nicht ohne Folgen
bleiben. Das Desaster in Olkiluoto zeigt, welche Risiken der Bau einer
solchen Grossanlage in sich birgt. Aber auch die Hersteller werden
über die Bücher gehen und ihre Preise völlig neu
berechnen. Diese werden nicht unter den effektiven Baukosten in
Olkiluoto liegen. Fest steht: Hinter den Kulissen gehen die
AKW-Hersteller bereits in dieser Phase in Position, um der BKW das neue
AKW in Mühleberg zu verkaufen. Neben Areva ist auch das
US-amerikanisch-japanische Konsortium Westinghouse-Toshiba im Rennen.
So oder so: Eine entscheidende Weiche, ob die BKW in
Mühleberg bauen darf, wird das Bernervolk wohl bereits am 13.
Februar 2011 stellen. Dann kann es entscheiden, wie sich die Berner
Regierung zum Rahmengesuch äussern soll.
Stefan Schnyder, Olkiluoto
Dieser Text entstand im Rahmen einer Medienreise, für die
das Nuklearforum Schweiz eingeladen hatte.
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Hoch radioaktive Abfälle
Grünes Licht für Endlager
Finnland hat als weltweit einziges Land eine politisch
abgesegnete Lösung für die Lagerung hoch radioaktiver
Abfälle: Im Juli dieses Jahres stimmte das Parlament dem Plan der
Regierung zu, unter der Insel Olkiluoto ein Tiefenlager zu bauen.
Dieses ist in 420 Metern Tiefe im Granitgestein geplant. Derzeit laufen
die Untersuchungen über die Eignung des Gesteins, indem ein
Stollen in diese Tiefen gebaut wird. Die Inbetriebnahme ist für
das Jahr 2020 geplant. Die politische Akzeptanz in der Region ist hoch,
da die Atomkraft dort ein wirtschaftlich wichtiger Faktor ist.
In der Schweiz hat die Nationale Genossenschaft für die
Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) drei geologisch geeignete
Standorte für ein Tiefenlager für hochradioaktive
Abfälle ausgemacht. Diese liegen in den Regionen Zürcher
Weinland, Nördlich Lägeren (Kanton Zürich) und
Bözberg (Kanton Aargau). Voraussichtlich Mitte 2011 wird der
Bundesrat bestimmen, welche zwei Standorte die geeignetsten sind. Diese
durchlaufen dann die nächsten Etappen. Das letzte Wort dürfte
das Schweizervolk haben, da der Standortentscheid des Parlaments dem
fakultativen Referendum untersteht. Ziel des Bundesrates ist es, dass
das Endlager 2040 seinen Betrieb aufnimmt.
sny
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St. Galler Tagblatt 13.9.10
Protest gegen geplantes Endlager
Der Zürcher Regierungsrat lehnt ein mögliches
Tiefenlager für radioaktive Abfälle im Weinland ab. Der
Thurgauer Regierungsrat hat sich noch keine Meinung gebildet. Im
Thurgau wären gemäss den provisorischen Plänen drei
Gemeinden betroffen.
Markus Schoch
Trüllikon. Der Weg in die Mehrzweckhalle führt durch einen
Wald von Demonstranten, die vor dem Eingang stehen und Schilder halten,
auf denen "Endlager Nein" steht. Einzelne haben sich den Mund
zugeklebt. Daneben trommeln zwölf Frauen und Männer auf
gelben Fässern. An den rund 40 Atomkraftgegnern im Zürcher
Weinland mit ihren gelben Hütchen kommt an diesem Abend niemand
vorbei.
Anlass für den Protest ist eine Veranstaltung des
Bundesamtes für Energie, das zum Abschluss der ersten Etappe des
Auswahlverfahrens für ein geologisches Tiefenlager die
Bevölkerung in den betroffenen Gebieten über die bisherigen
und folgenden Schritte informiert.
Thurgau stellt Bedingungen
Der Anlass fand letzte Woche vor etwa 150 Besuchern in
Trüllikon statt. Die Verantwortlichen mussten sich dabei viel
Kritik aus dem Publikum anhören. Trotz aller gegenteiliger
Beteuerungen der verantwortlichen Experten gebe es keine Garantie
für die Sicherheit des geplanten Tiefenlagers, sagte
beispielsweise einer.
Eingeladen war auch Regierungsrat Kaspar Schläpfer, der die
Haltung des Thurgaus vertrat. Denn der Kanton wäre von einem
Endlager im Zürcher Weinland vielleicht ebenfalls betroffen. Zur
provisorischen Standortregion gehören 39 Gemeinden, drei davon
liegen im Thurgau. Schlatt ist Teil des Kerngebietes: Im Boden der
Gemeinde wäre ein geologisches Tiefenlager möglich. In
Diessenhofen und Basadingen-Schlattingen könnten gemäss
heutigen Plänen Oberflächenanlagen wie beispielsweise
Zugangstunnels gebaut werden.
Die Schweiz habe mit der Entsorgung der radioaktiven Abfälle
ein grosses Problem zu lösen, sagte Schläpfer. Der Thurgauer
Regierungsrat sei bereit, dabei konstruktiv mitzuwirken. Allerdings nur
unter drei Bedingungen.
• Erstens müssten die sechs zur Debatte stehenden Standorte
umfassend und gründlich abgeklärt werden. Und für alle
müsse der gleiche Massstab gelten. "Es sind alle noch notwendigen
Untersuchungen durchzuführen, so dass alle Standorte den gleichen
Wissensstand aufweisen und auf derselben wissenschaftlichen Basis
beurteilt werden können."
• Zweitens müssten Behörden und Bevölkerung der
betroffenen Kantone und Gemeinden gut in die Abklärungen
einbezogen werden. Das Verfahren müsse offen und transparent sein.
• Drittens müssten die Auswirkungen eines Tiefenlagers
für Region und Kanton umfassend abgeklärt und dargestellt
werden.
Zürich sagt Nein
Der Regierungsrat werde zu den Ergebnissen der Abklärungen
jeweils nach Abschluss der drei Phasen Stellung beziehen, sagte
Schläpfer. "Sollten wir Ungleichheiten feststellen, welche unser
Kantonsgebiet beziehungsweise die Region Zürich Nord-Ost
benachteiligen, werden wir uns dagegen zur Wehr setzen." Bis jetzt
laufe alles korrekt ab.
Seine Meinung bereits gemacht hat der Zürcher Regierungsrat.
Er ist gegen ein Endlager vor der Haustür, wie Baudirektor Markus
Kägi in Trüllikon erklärte. Der Kanton habe bereits
genügend Lasten zu tragen.
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Berichte liegen auf
Das Zürcher Weinland ist eines von sechs Standorten in der
Schweiz, die nach Meinung der Nagra für ein Endlager in Frage
kommen. Die Vorschläge wurden in den letzten zwei Jahren von
Fachbehörden und -kommissionen geprüft und beurteilt. Weiter
wurden Grundlagen zur Raumplanung und Betroffenheit der
Standortregionen erarbeitet. Alle Berichte und Gutachten liegen nun
vor. Bis zum 30. November können sich Interessierte dazu
äussern im Rahmen einer Anhörung. Voraussichtlich Mitte 2011
wird der Bundesrat über die definitive Festlegung der
Standortgebiete entscheiden. Im Zentrum der nächsten Etappe steht
die sogenannte Partizipation: Die Standortregionen haben die
Möglichkeit, bei der Konkretisierung der Lagerprojekte sowie den
Untersuchungen der sozioökonomischen und raumplanerischen
Auswirkungen mitzuarbeiten. Zudem werden die Standorte
sicherheitstechnisch verglichen, bevor die Nagra pro Abfallkategorie
mindestens zwei Standorte vorschlagen kann. (mso)
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Befragt
Kaspar Schläpfer Regierungsrat
Noch zu früh
Der Stadtammann von Schaffhausen meinte, das Vorhaben werde
Schiffbruch erleiden, wenn die Verantwortlichen nicht stärker auf
die Sorgen und Ängste der Bevölkerung eingehen würden.
Teilen Sie seine Befürchtung?
Nein, ich wüsste nicht, was man punkto Verfahren besser
machen könnte. Dieses ist in jeder Beziehung sehr gründlich
und sorgfältig.
Ist die Mitsprachemöglichkeit der Bevölkerung
tatsächlich mehr als ein Feigenblatt?
Ja, davon bin ich überzeugt.
Am Schluss entscheidet zwar der Bundesrat, das letzte Wort wird
aber wie immer in der Schweiz das Volk haben.
Die Zürcher Regierung sagt jetzt schon Nein zu einem
Endlager im Weinland. Die Thurgauer Regierung will sich erst festlegen,
wenn die sicherheitstechnischen Abklärungen abgeschlossen sind.
Ist es nicht blauäugig anzunehmen, politische Überlegungen
würden beim Standortentscheid keine Rolle spielen?
Wir werden genau darauf achten, dass es einen rein sachlich
begründeten Entscheid gibt. Bis jetzt ist das Verfahren korrekt
abgelaufen. Der Regierungsrat ist der Meinung, dass es noch zu
früh ist, Ja oder Nein zu sagen. (mso)
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Sonntag 12.9.10
Neue AKW: Die Lehren aus Finnland
Heute vor fünf Jahren wurde der Grundstein zum Bau des AKW
Olkiluoto 3 gelegt - von den Erfahrungen profitiere die Schweiz, sagt
Areva
Von Yves Demuth aus Olkiluoto
Der AKW-Neubau in Finnland kostet doppelt so viel wie geplant und
hat vier Jahre Verspätung. Dennoch verkauft die
Konsortiumsführerin Areva das Projekt als Erfolg.
"Wie viel der neue Reaktor Olkiluoto 3 tatsächlich gekostet
hat, werden wir wohl nie genau wissen", sagt Jorma Aurela,
Atomkraftspezialist des finnischen Ministeriums für Wirtschaft und
Arbeit. Der Staatsvertreter spielt in der Diskussion im "Kabinetti 35"
des Hotels Seurahuone in Helsinki darauf an, dass die französische
Atomfirma Areva und der finnische AKW-Betreiber TVO sich gegenseitig
mit Milliardenklagen eingedeckt haben.
Für Finnland sei jedoch wichtig, dass der Reaktor sicher
sei, so Aurela vor den 14 Schweizer Journalisten, die einer Einladung
des Nuklearforums Schweiz gefolgt waren, der vormaligen Schweizerischen
Vereinigung für Atomenergie. Indes hat die finnische Atomaufsicht
Stuk noch immer kein definitiv grünes Licht für das Steuer-
und Sicherheitssystem des Reaktors gegeben.
Areva und der finnische Betreiber TVO sind sich uneinig
darüber, wer für die Kostenexplosion und die
Bauzeitverdoppelung auf acht Jahre verantwortlich ist. Areva hat
für den als Vorzeigeprojekt geplanten Reaktor bereits 2,7
Milliarden Euro zurückgestellt - das sind nur 300 Millionen Euro
weniger als der finnische Betreiber für den erstmaligen Bau eines
1600-Megawatt-Reaktors des Typs EPR als Kaufpreis ausgehandelt hat.
Dieser Reaktortyp ist auch bei den Schweizer AKW-Betreibern Axpo, Alpiq
und BKW in der engeren Auswahl, sollten die Stimmbürger nach 2013
neue AKW befürworten.
Kostenüberschreitungen bei AKW-Neubauten sind keine
Seltenheit. In Kanada wurde etwa 2009 ein Projekt storniert, da die
Offerten der Hersteller - darunter auch Areva - um Milliarden
höher lagen, als die Betreiber erwartet hatten. Auch das AKW
Leibstadt kostete mehr als doppelt so viel wie geplant, was zu
vergleichsweise hohen Gestehungskosten von 8,5 bis 9,5 Rappen pro
Kilowattstunde führte. Erst ab 2000 konnten die Gestehungskosten
auf 5 bis 6 Rappen pro Kilowattstunde gedrückt werden - durch eine
Erhöhung der Reaktorleistung, eine "Optimierung der Jahreskosten"
sowie dank einer Laufzeitverlängerung, wie sie diese Woche
Deutschland bewilligt hat.
In der Schweiz rechnet die Axpo mit Kosten von 7 bis 9 Milliarden
Franken und einer Bauzeit von sechs Jahren. Diese Annahmen seien nicht
zu optimistisch - gerade weil man aus den Erfahrungen in Finnland
profitieren könne, sagt Sprecherin Anahid Rickmann. Areva-Sprecher
Christian Wilson betont seinerseits, dass die Baukosten eines
EPR-Reaktors beim ersten Bauprojekt immer höher liegen würden
als bei weiteren Projekten. Davon profitierte auch die Schweiz, wirbt
Wilson. Doch selbst bei der Axpo ist man vorsichtig: Ein Grossprojekt
berge immer ein "Investitionsrisiko", sagt Rickmann. Vor dem
Realisierungsentscheid werde die Axpo deshalb die Machbarkeit "gerade
hinsichtlich der Wirtschaftlichkeit" vertieft prüfen.
Eine Prüfung einer Beteiligung an einem neuen AKW hat auch
die Schweizer Industrie vorgenommen - mit negativem Resultat: Die vor
einem Jahr von Walter Müller von der Gruppe Grosser Stromkunden
(GGS) erhobene Beteiligungsforderung für stromintensive Firmen wie
etwa Stahl Gerlafingen ist heute nicht mehr aktuell, wie er
bestätigt. Laut Müller wäre eine solche Investition in
Anbetracht der damit verbundenen Risiken für hiesige
Industriefirmen zu gross. Die Abschreibedauer von über 60 Jahren
sei zudem problematisch.
Selbst für die wirtschaftsnahe Denkfabrik Avenir Suisse ist
die Rentabilität von neuen Atomkraftwerken nicht eindeutig
gegeben. Deren Energieexperte Urs Meister betrachtet die künftige
Strompreisentwicklung als grösseres Investitionsrisiko als eine
Überschreitung der Baukosten. Denn das Schweizer Strompreisniveau
im Grosshandel hänge wesentlich vom Gaspreis ab, so Meister. Und
die in den letzten Jahren massiv gestiegene Förderung von
unkonventionellem Gas habe Auswirkungen auf die internationalen
Märkte. Durch die daraus entstandenen anhaltenden
Überkapazitäten im Gasmarkt könne der Strompreis sinken
- trotz anderslautenden Prognosen. "Theoretisch könnte die
Rentabilität neuer AKW dadurch beeinträchtigt werden."
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Langenthaler Tagblatt 11.9.10
Ziel erreicht, Verein aufgelöst
Gewaltfreie Aktion Graben Die letzte Versammlung im
"Neuhüsli" in Langenthal
Urs Byland
Nach 35 Jahren Kampf und Arbeit gegen ein Atomkraftwerk in Graben
löst sich der Verein Gewaltfreie Aktion Graben (GAG) auf. Das noch
vorhandene Vermögen erhalten der Grimselverein und das noch zu
gründende Komitee gegen eine Rahmenbewilligung für das AKW
Mühleberg.
"Wachtelkönig, Flussregenpfeifer und
Rotrückenwürger." Der Langenthaler Ueli Marti nennt drei
seltene Vogelarten, die im Gebiet, das einst als Standort für ein
Atomkraftwerk vorgesehen war, gesichtet wurden. Und er habe einmal
gezählt: "Beinahe tausend Menschen nutzten an einem Sonntag das
Naherholungsgebiet an der Aare bei Graben." Ueli Marti ist eines der
Gründungsmitglieder der Gewaltfreien Aktion Graben (GAG) und
schreibt das Protokoll. Mit ihm sitzen drei weitere
Gründungsmitglieder des Vereins am Tisch im Jägerstübli
im 1. Stock des Restaurant Neuhüsli. Die 30. GAG-Versammlung in
Langenthal soll die letzte sein. Mit dem Traktandum 4 wird die
Auflösung beantragt. Drei Mitglieder des Vereins, ebenfalls
Kämpfer gegen Atomkraftwerke, inzwischen nahe dem Pensionsalter
oder darüber, sind mit dabei.
Vermögen "gut verwaltet"
Bevor die Anwesenden jedoch über die Auflösung des
Vereins entscheiden wollen, erledigen sie die Jahresrechnungen 2006 bis
2009. Seit mehreren Jahren habe man keine Versammlungen mehr
durchgeführt, stellt Tony Lüchinger aus Herzogenbuchsee mit
leiser, aber bestimmter Stimme fest. Auch er ist Gründungsmitglied
und der Vorsitzende, der die Versammlung leitet - ein
Präsidentenamt kennt der Verein nicht. Dafür das Amt des
Kassiers. Gründungsmitglied Helene Brechbühl aus Langenthal
stellt per Ende 2009 ein Vermögen von 21540 Franken fest. Dass mit
der Einladung zur Auflösungsversammlung dennoch ein Spendenaufruf
mit Einzahlungsscheinen die immer noch rund 600 Mitglieder erreichte,
habe einen einfachen Grund, erklärt Lüchinger. "Mit den
eintreffenden Spenden finanzieren wir gleich jeweils den Versand."
Obwohl kaum mehr aktiv, habe man das Vermögen gut verwaltet, sagt
der Vorsitzende. "Das ist wichtig."
Das Kämpferherz ist müde
Beim Traktandum Jahresberichte spürt man das Ende des
Kampfes gegen das AKW Graben nahen. Die Helden von früher sind
müde geworden: "Man könnte sich weiter einsetzen, andernorts,
aber ich mag nicht mehr", so eine Stimme. "Wir haben unser Ziel
erreicht, es ist nicht gebaut, und es besteht nicht die Gefahr, dass es
noch gebaut werden könnte", antwortet eine andere Stimme. Dass vor
bald zwei Jahren das Gerücht aufkam, trotz allem plane die BKW auf
dem vor Jahrzehnten erworbenen Land in Graben einen AKW-Ersatz für
Mühleberg zu bauen, daran glaubt niemand. Dann flackern wieder die
alten Kämpferherzen auf: "Man darf einfach keinem Atomkraftwerk
den Betrieb verlängern, solange die Entsorgung des Atommülls
nicht klar ist", sagt Elsy Zulliger. Das 88-jährige
Gründungsmitglied, bekannt als "Atom-Elsy" oder "Sonnenschein aus
Thunstetten", ist eine engagierte Verfechterin der Sonnenenergie und
beherzte AKW-Gegnerin. "100000 Jahre dauert es, bis die Strahlung des
Atom-Mülls weg ist. Das ist ein nicht vorstellbarer Zeithorizont",
so Lüchinger. Es wird an Tschernobyl erinnert, an die Strahlung,
die das Tessin erwischte, und man wundert sich, dass heute Pilze aus
dieser Region bedenkenlos gegessen würden.
"Wir wurden beschattet"
Und man erinnert sich an Umstände, wie der Verein agierte.
"Man kann sich das heute gar nicht mehr vorstellen, aber damals glaubte
man nicht, dass man gewaltfrei ein AKW verhindern kann", erklärt
Lüchinger. Deshalb habe man den Verein "gewaltfrei" genannt.
"Damals konnte man nicht so frei diskutieren wie heute." - "Wir wurden
beschattet", so Elsy Zulliger. "Wir standen aber nie vor Gericht. Wir
hätten uns auch ‹Demokratische Aktion Graben› nennen können."
Geschichte abgeschlossen
Trotz vielen Anekdoten und Erinnerungen, Wünschen und
Hoffnungen: Das vierte Traktandum, die Auflösung, liess sich auch
mit vielen Worten nicht mehr aufhalten. Der Entscheid fiel schnell. Das
Rechnungsjahr 2010 wird noch mitgenommen. Ende Jahr wird der Verein
aufgelöst. Das Vermögen erhält zu drei Vierteln ein noch
zu gründendes Komitee gegen eine Rahmenbewilligung für das
AKW Mühleberg. Ein Viertel geht an den Grimselverein, der sich
gegen eine Erhöhung der Mauer beim Grimselstausee einsetzt: "Dann
haben wir die Geschichte abgeschlossen", sagt Tony Lüchinger. "Es
war eine gute Zeit", sagt Elsy Zulliger.
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Update
Am 1. April 1975, morgens um sechs, kletterten 60 Leute der
Gewaltfreien Aktion Kaiseraugst auf das Gelände des geplanten
Atomkraftwerkes Kaiseraugst und stellten sich vor die anrollenden
Lastwagen. Bald waren es 200 Personen darunter auch Oberaargauer und
Oberaargauerinnen. Diese gründeten im gleichen Jahr die
Gewaltfreie Aktion Graben GAG. Ziel der GAG war die Verhinderung eines
Atomkraftwerkes in Graben. (uby)
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Stimmen zur Vereinsauflösung
Tony Lüchinger, Herzogenbuchsee
"Was einen Anfang hat, hat auch ein Ende. Das Ziel ist
erfüllt. Deshalb hat der Verein seine Berechtigung verloren. Klar
waren zu Beginn viele Emotionen dabei, aber wir haben immer rational,
mit Argumenten gekämpft."
Elsy Zulliger, Thunstetten
"Es ist Zeit. Wir haben viel gearbeitet, aber die Auflösung
ist eine logische Folge. Die Zusammenkünfte werden mir enorm
fehlen. Ich habe so viel Schönes erlebt. Opposition war mein
Leben."
Helene Brechbühl, Langenthal
"Ich empfinde eine gewisse Befriedigung. Unsere Aufgabe ist
erledigt. Gleichzeitig weiss ich, dass der Kampf weitergeht, und das
bereitet mir nach wie vor Sorgen."
Ueli Marti, Langenthal
"Ich fühle mich erleichtert und wehmütig zugleich. Eine
gewisse Last ist weg. Wehmütig bin ich, weil ich momentan nicht
sehe, dass andere Leute in eine ähnliche Richtung kämpfen."
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NLZ 11.9.10
Luzerner Zeitung Aufschlag
Konsultativabstimmung
Atomkraft: Luzerner sollen an die Urne
Daniel Schriber
Geht es um Atomkraftwerke, kann das Volk nicht früh genug
mitreden - finden die Grünen. Die bürgerlichen Parteien sehen
das anders.
Die Diskussion um neue Atomkraftwerke (AKW) in der Schweiz setzt
die Bevölkerung unter Strom. Alain Greter, Kantonsrat der
Grünen, weiss das. Er sagt deshalb: "Der Entscheid für oder
gegen neue AKW wird die Schweiz in den nächsten 50 Jahren
prägen."
Bis im Frühling 2011 können alle Kantone beim Bund ihre
Stellungnahmen zu den neu geplanten AKW einreichen. Später soll
eine eidgenössische Volksabstimmung zu dem Thema stattfinden
(siehe Kasten).
Dringlicher Vorstoss
Mit diesem Vorgehen sind die Grünen nicht einverstanden. Die
Partei, die sich traditionell gegen AKW und für erneuerbare
Energien einsetzt, verlangt in einem dringlichen Vorstoss, dass die
Luzerner Bevölkerung bereits im Frühjahr 2011 über neue
Atomkraftwerke abstimmen kann. "Angesichts der Tragweite des Themas
soll sich nicht nur die fünfköpfige Regierung dazu
äussern können. In einer solch bedeutenden Frage muss das
Volk von Anfang an mitreden können", sagt Alain Greter. Konkret
soll die Bevölkerung die Stellungnahme der Luzerner Regierung an
den Bundesrat in einer Konsultativabstimmung entweder gutheissen oder
ablehnen. Anfang nächster Woche wird der Kantonsrat darüber
befinden, ob er mit der dringlichen Behandlung des Vorstosses
einverstanden ist. Sollten die Grünen mit ihrer Forderung nach
einer Konsultativabstimmung durchkommen, würde Luzern dem Kanton
Bern folgen. Dort wird die Bevölkerung im Februar 2011 zum
geplanten neuen AKW Mühleberg befragt.
Unterstützung erhalten die Grünen von der SP. "Es ist
richtig, die Leute in einem sehr frühen Zeitpunkt zu befragen,
bevor bereits viel Geld für unnötige Planungen ausgegeben
wird", so Parteipräsidentin Felicitas Zopfi. Die Bevölkerung
sei Atomkraftwerken gegenüber zu Recht sehr skeptisch. "Der Fokus
in der Energiegewinnung sollte bei den erneuerbaren Energien liegen",
sagt Zopfi. Ausserdem müsse die Energieeffizienz verbessert
werden. Die SP habe deshalb eine Initiative explizit zu diesem Thema
lanciert.
"Vergleich mit Bern hinkt"
Die anderen Parteien begegnen dem Postulat mit Skepsis. Albert
Vitali, Fraktionschef der FDP, weist darauf hin, dass das
Kantonsparlament im November über die Stromversorgung in der
Schweiz diskutieren wird. "Ich gehe davon aus, dass sich die Regierung
eine professionelle Meinung bilden kann." Ein Einbezug des Volkes sei
in dieser Phase der AKW-Diskussion nicht nötig. Auch hinkt laut
Vitali der Vergleich mit Bern. "Dieser Kanton ist im Vergleich zu
Luzern bereits AKW-Standort." SVP-Fraktionschef Guido Müller ist
der Meinung, dass es "wenig Sinn macht", wenn die Bevölkerung
jetzt schon mitredet. Dafür seien derzeit schlicht zu wenig
Informationen über die geplanten AKW-Projekte vorhanden.
Auch CVP-Fraktionschef Bruno Schmid glaubt nicht an die Idee der
Grünen. Dies aus praktischen Gründen: "Luzern kennt gar keine
gesetzliche Grundlage für Konsultativabstimmungen." Eine
entsprechende Gesetzesänderung könne kaum von heute auf
morgen realisiert werden. Eines ist für Schmid aber dennoch klar:
"Ohne die Zustimmung des Volkes wird es in der Schweiz nie ein neues
Atomkraftwerk geben."
Anfrage des Bundes steht aus
Beim Luzerner Baudepartement, das für das Dossier AKW
zuständig ist, wollte sich gestern niemand inhaltlich zum Thema
äussern. Departementssekretär Hans-Peter Bossart sagte
einzig, dass der Kanton Luzern vom Bund bis gestern noch keine
offizielle Aufforderung zu einer Stellungnahme erhalten habe.
daniel.schriber@neue-lz.ch
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Neues AKW
So läuft das Verfahren ab
Drei Energiekonzerne wollen in der Schweiz neue Atomkraftwerke
(AKW) erstellen. Die Berner BKW will das AKW Mühleberg ersetzen,
die Axpo Beznau und die Alpiq will im solothurnischen Niederamt einen
neuen Reaktor bauen. Die Rahmenbewilligungsgesuche wurden 2008 beim
Bund eingereicht. Bis im Frühling 2011 können alle Kantone
ihre Stellungnahmen zu den Gesuchen beim Bundesrat einreichen.
Allerdings ist es möglich, diese mit einem Vorbehalt zu versehen,
wenn die Stellungnahmen noch in den kantonalen Parlamenten beraten
werden oder vors Volk kommen. Die definitiven Antworten der Kantone
werden dann Ende 2011 oder Anfang 2012 eingereicht.
Kaum vor 2025 am Netz
Mitte 2012 wird dann der Bundesrat betreffend AKW-Neubauten
entscheiden. Dieser Entscheid muss vom Parlament genehmigt werden und
untersteht dem fakultativen Referendum - das ist bereits sicher. Eine
eidgenössische Volksabstimmung wird voraussichtlich Ende 2013
stattfinden.
Bis ein neues Kernkraftwerk ans Netz ginge, dürfte es
mindestens bis 2025 dauern. Denn nach einem allfälligen Volks-Ja
folgen erst die eigentlichen Bau- und Betriebsbewilligungsverfahren -
mit Einsprachemöglichkeiten.
Weitere Unterlagen zum Rahmenbewilligungsverfahren für ein
neues AKW finden Sie unter www.zisch.ch/bonus
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Oltner Tagblatt 11.9.10
"Jetzt Widerstand vorbringen"
Olten-Gösgen SP ist gegen ein Endlager
Die SP Olten-Gösgen nimmt in einem gestern Freitag
eingegangenen Communiqué Stellung zu einem allfälligen
Endlager für radioaktive Abfälle in der Region
Jurasüdfuss/Niederamt. Darin heisst es: "Seit November 2008 sind
die Pläne der Nagra bekannt, am Jurasüdfuss ein Endlager
für atomare Abfälle zu errichten. Und seit diesem Zeitpunkt
wurde unmissverständlich klar, dass die Region Niederamt von
diesen Plänen gar nichts hält. Dies hat die
Gemeindepräsidentenkonferenz verlauten lassen, das dokumentiert
ein überwiesener Vorstoss im Kantonsrat, und dies äussern
Bürger und Bürgerinnen in Leserbriefkommentaren und an
Veranstaltungen". Nun beginne "im extrem komplizierten und für
Normalbürger fast nicht zu verstehenden Verfahrensdschungel" die
nächste Etappe. Die sogenannte "Anhörung". Bis Ende Oktober
hätten Gemeinden, Vereine sowie alle Bürgerinnen und
Bürger Gelegenheit, um sich zu den Nagra-Plänen zu
äussern.
Anhörung: "Klartext reden"
Auch nach der "Informationsveranstaltung" in Niedergösgen
schienen diese Verfahren unter dem Slogan zu laufen: "Schön, haben
wir darüber geredet", moniert die SP Olten-Gösgen. "Trotzdem
fordern wir alle Gemeinden, Bürgerinnen und Bürger auf, sich
in den nächsten drei Monaten an dieser Anhörung zu
beteiligen. Allerdings nicht, wie angedacht, um irrelevante Details zu
beleuchten wie <ist das Eingangstor dann mal blau oder
grün>, sondern um unmissverständlich die Ablehnung eines
Endlagers zu dokumentieren", heisst es weiter.
Ein "politischer" Entscheid?
Das Niederamt habe schon genug atomare Belastung. "Unsere Gegend
ist eine dicht bevölkerte Wohngegend, jetzt längts!" Dass der
Standort Jurasüdfuss trotz fehlenden und negativen Fakten
überhaupt und immer noch im Gespräch sei, zeige vor allem
eines: Die Entscheidfindung werde politisch betrieben. Sprich: Da, wo
der geringste Widerstand sei und - entgegen allen Beteuerungen - nicht
nach Sicherheitskriterien.
Appell an Walter Straumann
"Der sogenannte Informationsanlass in Niedergösgen war im
Übrigen ein grosses Ärgernis. Eine Heerschar von Interessen-
und Behördenvertreter breiteten sich 90 Minuten aus, und die
angekündigte Frage- und Diskussionsmöglichkeit wurde
dafür schon nach 30 Minuten mit dem Hinweis: <Wir wollen nicht
allzu lange werden> abgeklemmt. So schafft man kein Vertrauen",
beschwert sich die SP Olten-Gösgen.
Auch die Rolle von Regierungsrat Walter Straumann bleibe
fraglich. "Er gab sich als neutraler Moderator. Und dies, nachdem der
Kantonsrat erst im Juni nochmals klar bekräftigt hatte, dass er
sich gegen ein Endlager im Niederamt einsetzen müsse. Damals schon
wollte er den Auftrag unglaublicherweise als erledigt abschreiben
lassen". Die SP der Region Olten erwarte unmissverständlich, dass
Regierungsrat Walter Straumann den Auftrag nun befolge, fordert die
SP-Amteipartei Olten-Gösgen in ihrer Pressemitteilung
abschliessend. (otr)
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Aargauer Zeitung 11.9.10
Der Widerstand wächst
Informationsabend zum geologischen Tiefenlager in Glattfelden
Die Vertreter des Bundesamtes für Energie bemühten sich
an der Infoveranstaltung in Glattfelden um Wohlwollen. Angetroffen
haben sie tiefes Misstrauen - und Widerstand. Das Publikum nahm die
Bundesbehörden in die Mangel.
Rolf Haecky
"Seit gut 40 Jahren produzieren die Atomkraftwerke radioaktiven
Müll, ohne zu wissen, wo sie ihren gefährlichen Abfall
entsorgen", rügte ein Redner am Informationsabend in Glattfelden
zum Auswahlverfahren des künftigen Standorts für das
geologische Tiefenlager "nördlich Lägern".
Die Region soll mitreden
Zuvor hatten die Vertreter des Bundesamts für Energie (BFE)
und der Nationalen Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver
Abfälle (Nagra) dargelegt, wie das Verfahren zur Wahl des
Standorts eines Tiefenlagers für Atommüll aussehen soll und
was der Bund unter einer Mitsprache der betroffenen Gemeinden versteht.
Anschliessend stellten sie sich den Fragen des Publikums. Und die
waren sehr kritisch. "37-mal habe ich heute Abend das Wort Sicherheit
gehört - aber mich haben Sie kein bisschen überzeugt", drosch
ein Zuhörer auf Nagra und Bundesbehörde ein. Die Redner aus
dem Publikum befürchteten vor allem, der Region entständen
aus einem Tiefenlager weitere Lasten. Immer wieder wurden Fragen zur
Sicherheit und zum Mitspracherecht gestellt.
Hanspeter Lienhart, Präsident des Forums Lägern Nord,
in dem der Planungsverband Zurzibiet mit Marcel Baldinger
(Gemeindeammann Fisibach) vertreten ist, liess keinen Zweifel offen, wo
das Forum und die Gemeindebehörden der Region stehen: "Wir lehnen
ein Tiefenlager im Unterland ab."
Einig waren sich Gegner wie Befürworter, dass die Sicherheit
bei der Suche nach dem richtigen Standort oberste Priorität haben
muss. Umstritten war hingegen, ob das Tiefenlager in die Region
Lägern Nord gehöre. Eine Frage, welche eine Mehrheit des
Publikums mit Nein beantwortete. Einzig zwei Votanten zeigten sich
gegen Steuerfreiheit und ein angemessenes Entgelt bereit, das
Tiefenlager in ihrer Gemeinde zu akzeptieren. Weiter wiesen
verschiedene Vertreter regionaler Behörden darauf hin, dass die
Region Lägern Nord bereits heute hohe Lasten trage.
Entscheiden wird Bern
Behördenvertreter und Vertreter des Widerstands im Unterland
forderten die Anwesenden auf, sich in den Mitspracheprozess
einzubringen - "obwohl wir nur mitreden, aber nicht mitentscheiden
dürfen", wie Hanspeter Lienhart nüchtern festhielt.
Zur Sicherstellung der Mitsprache baut das Bundesamt für
Energie Startteams auf. In diesen sitzen neben Abgesandten des
Bundesamts und des Kantons Zürich auch Vertreter der Gebiete, die
für den Bau eines Atommülllagers infrage kommen. Diese sollen
die Bedürfnisse und Interessen der Menschen in der Region in die
Diskussion um die Standortwahl einbringen.
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Tagesanzeiger 13.9.10
Offene Fragen zu Atommüll-Lager
Nagra-Leute sowie Vertreter von Bund und Kanton stellten sich in
Glattfelden der Bevölkerung. Doch die Anhörung vermochte
viele nicht zu befriedigen.
Von Raquel Forster
Glattfelden - "Am besten bauen sie doch einen Golfplatz über
dem Tiefenlager. Dann kann man da auch am Abend spielen, weil sowieso
alles leuchtet", sagt Christian Ulrich aus Glattfelden kurz vor dem
Ende der Diskussion und erntet tosenden Applaus. Nach knapp zwei
Stunden hat die Verzweiflung wohl in Ironie umgeschlagen.
Das Bundesamt für Energie (BFE) hat am Donnerstagabend zu
einer weiteren Informationsveranstaltung geladen - dieses Mal in der
Mehrzweckhalle Eichhölzli in Glattfelden. Eine Stunde lang
informierten insgesamt neun Vertreter verschiedener Behörden,
darunter auch Thomas Ernst, der Direktor der Nationalen Genossenschaft
für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra), wie das
Verfahren zur Standortwahl eines künftigen Endlagers für
Atommüll etappenweise funktionieren wird. Danach stellten sie sich
eine weitere Stunde den kritischen Fragen der Teilnehmer. Mit mehr als
300 Personen aus vielen Gemeinden war die Veranstaltung gut besucht -
neue Erkenntnisse gabs jedoch nicht.
Wie in Kölliken?
Manch eine Frage wurde gar nicht beantwortet, und vonseiten der
Behörden kamen immer die gleichen Argumente: "Über die
Geologie braucht man nicht zu diskutieren", sagte etwa ein
BFE-Vertreter. Die Standortgemeinden seien geprüft worden, und die
Geologie sei "einfach gegeben". Als eine Teilnehmerin mit der
Sondermülldeponie Kölliken argumentierte, die wegen
Mängeln saniert werden musste, kamen auch keine neuen Fakten
zutage: "Das ist ein fundamentaler Unterschied. Vor 60 Jahren hatten
wir noch keine Abfallwirtschaft wie heute", sagte Thomas Ernst, der
Direktor der Nagra. Mittlerweile hätten sowohl die konventionelle
als auch die radioaktive Abfallwirtschaft enorme Fortschritte gemacht.
Auch die am vergangenen Montag gegründete
Bürgerbewegung Loti (nördlich Lägern ohne Tiefenlager)
war anwesend und meldete sich mit kritischen Voten. So wollte Rosi
Drayer, Co-Präsidentin des Vereins, von den versammelten
Fachleuten wissen, wie es mit der Gasentwicklung in einem solchen
Tiefenlager stehe. Ihr antwortete Erich Frank vom Eidgenössischen
Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi): "Acht Wissenschafter und vier
Geologen kümmern sich allein beim Ensi um die Langzeitsicherheit
eines solchen Lagers."
Entschädigungen erst später
Nach der wenig zufriedenstellenden Antwort versuchte jemand eine
andere Strategie: "Wir haben alle Angst vor dem, was passieren kann",
sagte der Votant und bat den Nagra-Direktor, zu erklären, was im
schlimmsten Fall passieren könnte. Dieser ignorierte aber die
Frage und redete wieder über die Sicherheit. Dasselbe, als man in
der "Diskussion" auf eine mögliche finanzielle Abgeltung zu
sprechen kam: Dies wurde von Regierungsrat Markus Kägi auf die
zweite Etappe vertagt. Und so verliessen viele enttäuscht die
Versammlung, bei der vor allem die Beantwortung von Fragen hätte
im Mittelpunkt stehen sollen.