MEDIENSPIEGEL 17.9.10
(Online-Archiv: http://www.reitschule.ch/reitschule/mediengruppe/index.html)

Heute im Medienspiegel:
- Reitschule-Kulturtipps (Rössli, Kino, DS, RS, GH)
- (St)Reitschule: Tojo vs Regi Bern
- Reitschule bietet mehr: NZZ will mehr Impulse
- Alternativkultur ZH/BE: 30 Jahre Rote Fabrik; Integrierte Feindbilder + verblödete Journis
- Bollwerk: keine Kultur in Cinemastar; Le Ciel
- Zaffaraya: Lärmanzeige möglich
- Rabe-Info 15.-17.9.10
- Kino Lichtspiel: Zukunft ungewiss
- Big Brother Video BE: Kommission für Reglement
- Demorecht Burgdorf: Handbuch
- Securitas: Offene Türen
- Pnos: 10 Jahre eidgenössischer Sozialismus
- Sempach: neues Geschtürm
- Statistik & Rassismus
- Drogen: Dast Winti; Szenenausstieg; Schwarzafrikaner-Hatz;Legalisierungs-Debatten; Eltern gegen Drogen
- Alkitreff Biel bald geschlossen
- Alkverbot: bringt nix
- Notschlafstelle ZH: Züri fix, Bern immer noch nix
- Obdachlos SG: Jugendliche auf der Gasse
- 25 Jahre Gassenarbeit LU
- ÖV-Cops ZH
- Sans-Papiers: keine Lehre ist illegal
- Ausschaffungshaft BE gerügt
- Migration Control: Einwanderungserschwerungen
- No Border Camp Brüssel
- Sework: Businessplan ZH
- Antifeminismus-Treffen
- Punk's not dead in Ost und West
- Anti-Atom: Schwangere; Angriffe; Atom-Retro; NW atomlos; Auslaufmodell

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REITSCHULE
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Fr 17.09.10
20.30 Uhr - Grosse Halle - Harakiri, Fritz Lang, D 1919, Live-Musik: Marco Dalpano, Bologna, Piano
20.30 Uhr - Tojo - .random . . von/mit Jonas Althaus, Jonglage, Tanz & elektronische live Musik
22.00 Uhr - Dachstock - Bonaparte (CH/GER) "My Horse likes you" Support: King Pepe (BE), DJ?s Ereccan & Dactylola (Raum) - Electroclash, Pop, Trash

Sa 18.09.10
0-24 Uhr - ganze Reitschule - Abstimmungsfest "Reitschule bietet mehr" - siehe Tagespresse und www.reitschulebietetmehr.ch
16.00 Uhr - Grosse Halle - Tastentheater Schweiz: Die kleinen Strolche - Kino für die Ohren und Musik für die Augen, (The Little Rascals, Hal Roach, USA 1923-1927) Vier Stummfilmepisoden mit Musik von Leo Dick - Uraufführung
19.00 Uhr - SousLePont - Fein Essen!!!
20.30 Uhr - Tojo - .random . . von/mit Jonas Althaus, Jonglage, Tanz & elektronische live Musik
20.30 Uhr - Grosse Halle - The General, Buster Keaton, USA 1926, mit Musica nel buio, Bologna
22.00 Uhr - Dachstock - Abstimmungs-CD Taufe "Reitschule beatet mehr" mit: Tomazobi, The Monsters, Müslüm & The Funky Boys, Mani Porno, Baze, Kutti MC, Steff la Cheffe, Churchhill, Copy & Paste feat. Bubi Rufener (Allschwil Posse), DJ Dannyramone
22.00 Uhr - Frauenraum - Electronic Floor mit missBehaviour (Crash Helmet Crew), Mastra, Berybeat live (Midilux), Brian Python (Festmacher), Xylophee
22.00 Uhr - SousLePont - Lounge mit DJ Tomzoff (70er/80er/90er/Mambo!)

So 19.09.10
20.00 Uhr - Grosse Halle - Glück - Reise nach Bhutan Film und Live-Musik, SMS from Shangri-La, Dieter Fahrer, CH 2009, Konzert und Film: Susanna Dill, Regula Gerber, Mark Oberholzer, Gilbert Paeffgen, Werner Wege Wüthrich

Infos:
http://www.reitschule.ch
http://www.reitschulebietetmehr.ch

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kulturstattbern.derbund 17.9.10

Von Gisela Feuz am Freitag, den 17. September 2010, um 05:47 Uhr

Indiedance im Rössli

Draussen auf dem Vorplatz bekam YB gestern am Flachbildschirm mal wieder aufs Dach, drinnen im Rössli waren Labrador City mit ihren Instrumenten in den Startlöchern. Irgendetwas Richtung Pop würde man machen, hat am Dienstag im Interview auf Radio RaBe der Keyboarder, Gitarrist und Teilzeit-Bassist Marc verlauten lassen. Lüpfiger Pop wars denn auch, was die vier Herren da fabrizierten. Irgendwie klangs ein Bisschen nach Brooklyn und Vampire Weekend. Einfach weniger hektisch und (zum Glück) ohne Worldmusic-Einschlag.

Im Anschluss bearbeitete eine Band ihre Instrumente, deren Namen niemand vor Ort so richtig wusste, wie man ihn ausspricht. "Vénetus Flos", Betonung auf dem ersten E? "Venétus Flos", auf dem zweiten? Oder Englisch "Vinitös Flos"? Wie auch immer. Die New Wave-Indiedance Hymnen des Trios gefielen und fuhren in die Beine, der Sänger verblüffte mit sonorer Stimme und der Keyboarder durch seine abenteurliche Hüftschwünge und Verrenkungen. Die Herren sind noch jung, aber sie kommen gut. Bisschen weniger Schwulst und dann wird das perfekt. Auf die kommende EP darf man jedenfalls gespannt sein.

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BZ 16.9.10

Kino in der Reitschule, Bern

 Ein Mord und ein Gast

 Als letzten Film der Reihe "Tatort Reitschule" zeigt das Kino in der Reitschule den Kriminalfilm des Schweizer Regisseurs Markus Imboden. Der Film dreht sich um den Polizeimeister Helge Vogt, der zurück auf seine Heimatinsel Amrum kommt. Alles ist wie immer, die Zeit scheint still zu stehen: Ruhiges Polizeirevier, Dorfkneipe, kleine Liebelei mit der Wirtstochter Lona. Da öffnet sich die Reviertür und vor Helge und seinem Vorgesetzten Heinz steht eine blutüberströmte BKA-Beamtin. In Amrum gibt es einen Mörder... Anschliessend an den Film ist der Regisseur Markus Imboden zu Gast. Der Anlass wird moderiert von Elio Pellin.
 pd

 Heute, 19.30 Uhr, Kino in der Reitschule, Neubrückstrasse 8, Bern.

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WoZ 16.9.10

Film

 Tatort Reitschule

 Ende Monat stimmen die Stadtberner StimmbürgerInnen einmal mehr über die Zukunft des bald dreissigjährigen alternativen Kulturbetriebs Reitschule ab. Ein Initiativkomitee um Erich Hess, Präsident der Jungen SVP Kanton Bern, verlangt den Verkauf der Reitschule an den Meistbietenden. Somit wird die Reitschule wieder einmal zum Tatort politischer Interessen. Das Kino in der Reitschule nimmt dies zum Anlass, mehrere Sonntagabendstreifen der Kultserie "Tatort" sowie andere Krimis zu zeigen.

 So ist etwa der hochgelobte und mit mehreren Preisen ausgezeichnete TV-Kriminalfilm "Mörder auf Amrum" des Schweizer Regisseurs Markus Imboden zu sehen. Darin steht der junge Polizeimeister Helge Vogt, soeben aus den Ferien in Berlin auf seine Heimatinsel Amrum zurückgekehrt, eines Tages einer blutüberströmten Beamtin des Bundeskriminalamts gegenüber. Nun ist es vorbei mit dem beschaulichen Provinz leben. Die "Süddeutsche Zeitung" schrieb nach der Erstausstrahlung im ZDF vom vergangenen Januar: "Schaut man ‹Mörder auf Amrum›, zahlt man die Fernsehgebühren wieder eine Weile ganz unverzagt." süs

 "Mörder auf Amrum" in: Bern Reitschule, Do, 16. September, 19.30 Uhr. Ab 21 Uhr Gespräch mit dem Regisseur Markus Imboden. www.reitschule.ch

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Bund 16.9.10

Fünf Fragen an
Tobias Jundt

 Der in Berlin wohnhafte Berner Musiker Tobias Jundt kehrt am Freitag, 17. September, als Bonaparte mit seinem neuen Album "My Horse Likes You" und der ominösen Zirkusshow im Dachstock der Reitschule ein. Das Konzert ist ausverkauft. Kurzfristig hat die Band für denselben Abend ein Zusatzkonzert auf der Terrasse des Fizzen-Kleidergeschäfts angekündigt. Konzertbeginn ist 18.30 Uhr. Weitere Daten in der Schweiz: Samstag, 18. September, Label Suisse, Lausanne. Sowie: Donnerstag, 21. Oktober, Alte Börse, Zürich.

 Die Berlin-Frage ist unmöglich. Aber auch unmöglich auszulassen. Darum gleich zu Beginn: War Bonaparte nur dort möglich?

 Ja und nein. Die Bonaparte-Songs habe ich geschrieben, bevor ich mich in Berlin niederliess. Was mir jedoch fehlte, war ein Nährboden, auf dem diese Stücke gedeihen konnten. Im Umfeld der Berliner Bar 25 habe ich diesen gefunden. Hier konnte man zum Beispiel einen ganzen Tag im barocken Mozart-Kostüm herumlaufen, ohne dass jemand den Kopf nach einem umgedreht hätte. Alle, die da waren, hatten eine ähnliche Geschichte wie ich. Sie waren nach Berlin gekommen, weil sie irgendwas suchten, was sie zu Hause nicht finden konnten. Jeder war ein Niemand, der aus dem Nichts kam. Das hat sehr viel Energie freigesetzt.

 Fühlten Sie sich eingeengt in der Schweiz?

 In gewisser Weise ja. Ich brauchte mehr Freiraum, um mich weiterentwickeln zu können. Aber das hat nichts mit der Schweiz zu tun. Ganz egal, wo man sich befindet, man wird immer wieder in einer Ecke stehen. Sollte es mir mit Berlin und Bonaparte irgendwann zu viel werden, dann würde ich vielleicht nach Argentinien gehen oder auf eine Alp. In letzter Zeit spüre ich, dass ich Bern und die Schweiz immer stärker vermisse.

 Verglichen mit heute: Was war besser, als Sie noch musikalischer Alleinunternehmer waren?

 Eigentlich hat sich gegenüber früher gar nicht viel verändert. Ich bin immer noch Alleinunterhalter. Ich nehme meine Songs immer noch in meinem Wohnzimmer auf, genau so, wie ich es früher in meiner Wohnung über dem Café Parterre getan habe. Auch die Art und Weise, wie ich Leute für Konzerte hinzuziehe, ist gleich geblieben. Ausser dem Namen und dem Charakter, der die Message transportiert, ist fast alles wie früher.

 Wirklich? Sie spielen doch Konzerte auf der ganzen Welt. Im Juli waren sie gar auf dem Cover des deutschen Pop-Magazins "Spex" abgebildet.

 Ich war während meiner Zeit in Bern auch einmal auf der Titelseite des "Bund". Für einen Berner ist das dieselbe Ehre, wie wenn man als Berliner Musiker auf dem Cover des "Spex" ist. Sicher, ich komme heute mehr herum als früher, die Welt wird kleiner. Aber am Ende des Tages geht es immer noch um dasselbe: Man muss Leidenschaft haben, für das, was man tut. Und man muss Risiken auf sich nehmen, um etwas Neues zu kreieren. Nur so kann Energie entstehen. Es wird einem ja immer gesagt, wie man tönen soll, wenn man Erfolg haben will, welche Klamotten man tragen soll und so weiter. Es dann doch so zu machen, wie man es selbst möchte - das erfordert Mut und Leidenschaft. Ich habe mich meiner Musik immer mit Fleisch und Blut und Knochen verschrieben. Das ist das Einzige, worauf es ankommt.

 Sie treten in Bern mit Ihrer Zirkus-Show auf. Da gibt es Feuerspucker, Tierkostüme und nackte Haut. Bonaparte wurde auch schon als bandgewordene Spassgesellschaft bezeichnet. Wo hört der Spass auf?

 Grundsätzlich wird unsere Sprache meist richtig verstanden. Aber vor zwei Jahren gab es da so einen Vorfall mit einer meiner Tänzerinnen. Sie entblösste sich während des Konzerts und zauberte eine mehrere Meter lange Girlande aus ihrer, hmm, Vagina hervor. Am nächsten Abend in Paris hat sie glücklicherweise auf diesen Teil der Show verzichtet. Ich meine: Okay, es war vom anatomischen Standpunkt her schon spannend. Aber man musste das ja nicht unbedingt wiederholen. (len)

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Bund 16.9.10

Abstimmungsfest

 Ein bisschen Spass muss sein

 Die Reitschule rührt vor der Abstimmung am 26. September noch einmal die Werbetrommel für sich selber - am Abstimmungsfest. Da gibts Film in der Grossen Halle, Avantgarde-Jonglage im Tojo-Theater, Disco im Frauenraum und vor allem die Taufe der Abstimmungs-CD "Reitschule beatet mehr" im Dachstock, mit Humor-Guerillero Müslüm (Bild), The Monsters, Baze, Copy & Paste, Kutti MC, Tomazobi und anderen. (reg)

 Reitschule Samstag, 18. Sept., ab 16 Uhr.

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Bund 16.9.10

Film & Musik

 Im Land des Bruttosozialglücks

 Bhutan ist das Land, wo der Begriff des "Bruttosozialglücks" erfunden wurde. Wie es sich mit diesem Glück verhält, versuchten die Filmemacher Dieter Fahrer und Lisa Röösli sowie einige Schweizer Musiker auf einer Reise herauszufinden. Das Resultat ist der Film "SMS from Shangri-La", der in der Grossen Halle der Reitschule mit musikalischer Begleitung gezeigt wird. (reg)

 Reitschule Grosse Halle Sonntag, 19. September, 20 Uhr.

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(ST)REITSCHULE
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Bund 16.9.10

Vornehme Zurückhaltung oder "krasse Selbstzensur"?

 Das Schweizer Radio lässt einen Bericht über ein Theaterstück in der Reitschule fallen - und eckt dort an.

 Patricia Götti

 Michael Röhrenbach vom Reitschul-Theater Tojo ist empört: "Krasse Selbstzensur" und eine "Beschränkung der Pressefreiheit" sei das, was sich das "Regionaljournal Bern" des Schweizer Radios DRS geleistet habe, schreibt der Tojo-Presseverantwortliche in einer E-Mail an den "Bund". Grund seines Ärgers: Das "Regionaljournal" hatte Anfang September kurzfristig entschieden, doch nicht über die Theaterproduktion "Kurtli VII" zu berichten, die Anfang September im Tojo gastierte.

 Ursprünglich hatte eine Radioredaktorin beim Tojo ihr Interesse an einem Bericht angemeldet, worauf dieses ihr Kontakte zu der Theatergruppe Kurtli vermittelte. Das "Regionaljournal" begründete Röhrenbach die Absage damit, in der Zeit vor der Abstimmung über die Reitschule vom 26. September nichts über das autonome Kulturzentrum berichten zu wollen, um sich nicht dem Vorwurf der Parteinahme auszusetzen.

 Reichlich harmlos, aber . . .

 "Nicht nachvollziehbar" sei diese Begründung, die von einer "seltsamen Angst" zeuge, sagt Röhrenbach auf Anfrage. Der Sender gebe offenbar zum Vornherein vor möglichen bürgerlichen Vorwürfen klein bei. Das Stück sei "total apolitisch", und die Theatergruppe von Reitschule und Tojo "völlig unabhängig".

 Es könne nicht sein, dass ein öffentlich-rechtlicher Sender bis zum 26. September nicht über Veranstaltungen in der Reitschule berichte. Normalerweise seien Tojo-Veranstaltungen regelmässig Thema im "Regionaljournal".

 In der Tat mutet das Stück der Theatergruppe Kurtli, eine "Trash-Revue", reichlich harmlos an: Alles dreht sich darin laut Pressetext um das Oberthema "das verflixte Siebte" - vom belasteten siebten Beziehungsjahr bis zu den sieben Todsünden und der Tatsache, dass "Kurtli" seit 2002 in seiner siebten Produktion erscheint.

 . . . Inhalt nicht entscheidend

 Der Inhalt des Stücks war aber gar nicht relevant für den Entscheid des "Regionaljournals", nicht über die Produktion zu berichten, wie Peter Brandenberger, Leiter der Regionalredaktion Bern/Freiburg/Wallis, auf Anfrage sagt. Er selbst traf den Entscheid zuhanden der internen Planungssitzung. Ausschlag hätten die publizistischen Leitlinien von SR DRS gegeben, die allgemein "besondere Sorgfalt" verlangten in der Berichterstattung über Themen, die mit bevorstehenden Abstimmungen und Wahlen in Zusammenhang gebracht werden könnten. Brandenberger: "Ich befand den Zeitpunkt für zu heikel, um über das Stück zu berichten." Stattdessen habe sich sein Team letzte Woche auf eine Abstimmungsvorschau konzentriert.

 Das "Regionaljournal" muss laut seinem Redaktionsleiter aus der Fülle von kulturellen Veranstaltungen eine rigide Auswahl treffen - zwei bis drei Themen pro Woche. Zum Zug kämen meist Berner Eigenproduktionen, Gastspiele seien dagegen seltene Ausnahmen. Es habe keinen zwingenden Grund gegeben, gerade jetzt über das Stück zu berichten. Die Kurtli-Theatergruppe sei zudem schon zum wiederholten Mal in Bern aufgetreten. Es stimme überdies nicht, dass das "Regionaljournal" regelmässig über Produktionen im Tojo berichte, sagt Brandenberger: "Auf jeden Fall ist es weniger als einmal im Jahr." Dass schliesslich vor der Planungssitzung schon Abklärungen getroffen würden, sei normal, sagt er.

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Blick am Abend 15.9.10

Theater sauer auf DRS

 VORWURF

 Selbstzensur oder Sorgfaltspflicht? Das Tojo-Theater und Radio DRS sind im Clinch.

 Elf Tage vor der Abstimmung über den Verkauf der Reitschule liegen die Nerven in der Stadt Bern blank. Die Betreiber des Tojo-Theaters in der Reithalle werfen dem Re gionaljournal Bern von SR DRS vor, es betreibe Selbstzensur und "schweige aus Vorsicht". Die Handlungsweise stehe in Widerspruch zum Leitbild. Was ist passiert?

 Das Regionaljournal plante einen Beitrag über das Tojo-Theater und die Gruppe Kurtli VII, die Anfang September in Bern gastierte. Die Kulturredaktion hatte schon erste Kontakte geknüpft. Aufgrund der bevorstehenden Reithallen-Abstimmung verzichtete das Regionaljournal dann aber auf einen Bericht über das Theater.

 Peter Brandenberger, Leiter des Regionaljournals verteidigt darum den Entscheid. "Wir haben eine ausgewogene Abstimmungsvorschau gesendet. Wir halten uns an unsere publizistischen Leitlinien." Darin steht: Kurz vor Wahlen und Abstimmungen sind die Regeln der Fairness und der Vielfalt besonders eng zu interpretieren. Und: Es besteht eine erhöhte Sorgfaltspflicht. pp

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REITSCHULE BIETET MEHR
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Bund 17.9.10

Meinungen

 Leserbrief Abstimmung über den Verkauf der Reitschule, diverse Artikel im "Bund"

 Garant des sozialen Friedens

 Es scheint leider neuerdings zum guten Ton zu gehören, sich darüber Gedanken zu machen, wer sich noch in einer Innenstadt aufhalten darf und wer nicht. Diese Tendenz ist leider nicht auf die Stadt Bern beschränkt, aber hier sicher zuletzt verstärkt zu spüren.

 Der erneute Versuch, die sehr zentral gelegene Reitschule loszuwerden, passt hier sehr genau ins Bild: Wäre die Reitschule nicht so nahe am Bahnhof, sondern vielleicht irgendwo in Bethlehem (was ja zumindest metaphorisch irgendwie noch passend wäre), würde die Diskussion mit Sicherheit auch nicht alle paar Jahre geführt.

 Um es deutlicher zu machen: Die Reitschule ist nicht ein Luxus, den sich Bern leistet - sie ist mitunter ein Garant des sozialen Friedens. Im Unterschied zu all den kommerziell ausgerichteten Angeboten der Innenstadt macht sich die Reitschule keine Gedanken darüber, ob jemand einer abstrusen Kleiderordnung entsprechend daherkommt oder ob er oder sie vielleicht einer gerade nicht so beliebten ethnischen Gruppe angehört - die Reitschule nimmt jede und jeden, so wie sie sind. Dies allein macht sie schon zu einer unterstützens- und schützenswürdigen Institution.

 Dass die Reitschule dabei auch noch ein erstklassiges Programm an alternativer Kultur in allen möglichen Sparten von Musik über Film und Literatur bietet, macht sie zu einem Juwel, auf das die Stadt Bern stolz sein darf. Oder anders gesagt: Die Reitschule ist (gerade aus der Optik einer anderen Stadt betrachtet) viel weniger "Stein des Anstosses" oder "Elend", sondern vielmehr ein bedeutender Puzzlestein, der zu einem urbanen und auch zu einem "sicheren und sauberen" Bern unverzichtbar dazugehört.

 Dagmar Lorenz, IG Rote Fabrik Zürich

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saiten.ch/ostblog 16.9.10

Pedro Lenz goes Rap & Kellerbühne

16.09.2010, 19:12 Uhr

In Bern veranstaltet die Partei mit den streng dafür immer tiptop gestrählten Volkswahnsinnigen und Milliardärs-Bekniern die etwa 827. Abstimmung zum Kulturzentrum Reitschule (grob geschätzt). Dieses Mal soll die Reitschule - grandiose Idee übrigens - einfach dem Meistbietenden verkauft werden. Das wiederum lässt die Berner Kultur zusammenstehen und spiegelt sich in einer schönen Musik-Produktion: Die CD "Reitschule beatet mehr" besteht nicht nur aus dem allseits bekannten türkisch-schweizerischen Secondo-Gassenhauer von Müslüm (Erich, warum bisch du nid Ehrlich?), sie vereinigt von Steff la Cheffe über Reverend Beat Man, Patent Ochsner, Züri West, Sophie Hunger, Stiller Has und Kutti MC ganz viele. Herausragend ist für uns jedoch der rappende Pedro Lenz, der mit Paed Conca in "Dr Buebli Troum" die politisch bewegten Kleingeister aufs Korn nimmt und ihre Versteigerungsidee konsequent zu Ende denkt: "Nein, an eine Koranschule (auf dem Gelände der Reitschule) hatten wir eigentlich nicht gedacht..."

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NZZ 16.9.10

Spiegelfechterei um eine Reithalle

 Bern stimmt zum fünften Mal über das Kulturhaus ab - mit kalkulierbarem Ausgang

 Wie der Schalttag im Februar kehrt in Bern alle paar Jahre die Reithalle-Debatte wieder. Nun müssen die Berner erneut abstimmen. Doch die Auseinandersetzung über das Kulturzentrum liefert die nötigen Impulse für die Stadt nicht mehr.

 Daniel Gerny, Bern

 Blickt man, von Zürich herkommend, unmittelbar vor der Einfahrt in den Berner Bahnhof auf die Uhr, die zur rechten Seite des Zuges im Hof der Berner Reitschule (oder Reithalle) angebracht ist, bleiben die Zeiger zuweilen stehen, hüpfen dann sprunghaft vorwärts, um unvermittelt erneut zu stoppen oder in die entgegengesetzte Richtung zu springen. Zufällig und wild wirbeln die Zeiger auf dem Zifferblatt, das jenem einer Bahnhofsuhr gleicht, in alle Richtungen. Es ist unmöglich, sich zu vergewissern, ob der Zug, in dem man sitzt, pünktlich einfährt. Die Reithalle-Uhr, ein Stück computergesteuerter Kunst am Bau, ist eine augenzwinkernde Provokation an einem Ort, an dem Sekunden sonst eine harte Währung sind.

 "Schandfleck" im Mittelalter

 Zu Frechheiten aber haben die Bernerinnen und Berner keinen leichten Zugang, und die Uhr ist nicht die einzige und keineswegs die schwerwiegendste aller Provokationen auf dem Areal der Reithalle. Die Fassade des Gebäudes, das Ende des 19. Jahrhunderts als Pferdehof erbaut und in den 1980er Jahren im Zuge der Jugendunruhen besetzt wurde, ist versprayt und macht auf viele, die nicht der Szene angehören, einen abschreckenden Eindruck. Drogenhandel und Gewalt sind ein ständiges und von den Betreibern der Reithalle, der "IKuR" (Interessengemeinschaft Kulturraum Reitschule), lange unterschätztes Thema, auch wenn diese weder das eine noch das andere tolerieren.

 Über Grundsatzfragen entscheidet wie zu alten Besetzungszeiten die Vollversammlung, interne Abläufe sind daher für Aussenstehende schwer nachvollziehbar, und die Verhandlungen zwischen den Betreibern und der Stadt, die zum Betrieb jährlich rund 600 000 Franken beisteuert, sind mühsam. In Bern aber, das sein städtebaulich mittelalterliches Gesicht äusserlich bis heute beinahe mit der Konsequenz eines Briefmarkensammlers bewahrt und wo zeitgenössische Eingriffe die Ausnahme bleiben, stellt ein solches Kuriosum, von den Gegnern zum Schandfleck der Stadt geadelt, einen augenfälligen Störfaktor dar. Bereits zum fünften Mal in den letzten zwanzig Jahren stimmen die Bernerinnen und Berner am 26. September über die Reithalle als Kulturzentrum ab. Ein Komitee unter Führung des jungen SVP-Haudegens Erich Hess verlangt per Initiative die Veräusserung des Gebäudes an den Meistbietenden.

 BDP und Grüne vereint

 Dazu, was auf dem Areal anstelle des Kulturzentrums entstehen soll, haben die Initianten keine konkrete Vorstellung. Denkbar sei alles - ein Kino, Büros, ein neues Kulturzentrum, eine Markthalle, ein Hallenbad. Es ist nicht untypisch für die wiederkehrenden Auseinandersetzungen über die Reitschule, dass sie sich kaum darum drehen, was im Innern geschieht. Zwar kann das Haus nicht für sich in Anspruch nehmen, die breite Bevölkerung anzusprechen, doch als Teil des städtischen Lebens stellt das alternative Kulturangebot mit Theater, Kino, Begegnungsorten und Beizen für die mittelgrosse Stadt keineswegs einen Luxus dar. Die Reithalle liefert ein Programm, das sich über die Alternativszene hinaus etabliert hat, teilweise nationale Beachtung findet und bisweilen sogar von jenen geschätzt wird, die die Institution in Frage stellen.

 Das führt dazu, dass die Akzeptanz des Kulturzentrums grösser ist, als dies das Abstimmungs-Stakkato vermuten liesse: In allen vier bisherigen Abstimmungen wurde die Reithalle gestützt, und es gibt wenig Anhaltspunkte dafür, dass sich dies diesmal ändert. Im städtischen Parlament, dem Stadtrat, fing die SVP-Initiative eine kräftige Niederlage ein, wobei sich auch die FDP, die nun im Abstimmungskampf für ein Ja wirbt, gespalten zeigte. Ausser von den Sozialdemokraten und den Grünen wird die Initiative auch von der CVP und der BDP abgelehnt. Eine Ablehnung darf deshalb als ebenso sicher gelten wie die Prognose, dass die Bernerinnen und Berner auch diesen Herbst nicht zum letzten Mal über die Reithalle abstimmen werden.

 "Müslüm" contra Erich

 Inzwischen entwickelt sich die Auseinandersetzung zum ritualhaften Scheingefecht, das den Blick auf wesentlichere Fragen in der Hauptstadt verstellt. Bern und seine Region sind drauf und dran, den Anschluss an die übrigen Schweizer Städte und Metropolitanräume zu verlieren, woran nicht die Reithalle Schuld trägt, sondern viel eher der Mangel an Gestaltungswillen und -möglichkeiten. Wohl sind die Sicherheitsdefizite, die die Diskussion um die Reithalle massgeblich prägen, ein ernstzunehmendes Problem, doch als Grundlage für seriöse Debatten über die kulturelle Zukunft einer selbstbewussten Stadt sind sie eine Nummer zu klein. Umgekehrt erscheint das Beharren der Reithalle-Anhänger auf alten Strukturen und einem liebevoll gepflegten Anarcho-Image, das bewusst an die Achtziger-Jahre-Besetzungen erinnert, bisweilen als etwas angestaubtes und kalkulierbares Revoluzzertum, das inzwischen von den meisten Bernerinnen und Bernern durchschaut wird und seinerseits an Potenzial verliert.

 Es passt nicht schlecht zu dieser Pseudo-Kulturdebatte, dass im Abstimmungskampf vor allem ein massenhaft abgerufener You-Tube-Film aus der Reitschule-Küche für Aufmerksamkeit sorgt, in welchem ein etwas vertrottelter und überbunt gezeichneter Secondo mit Namen "Müslüm" mit seinem Song ("Erich, warum bisch du nid ehrlich?") den ebenfalls nicht durch übermässigen Scharfsinn auffallenden Anti-Reithalle-Initianten Erich Hess veräppelt. Das Comedy-Video ist nicht schlecht gemacht und just so konstruiert, dass sich die Generation Facebook - ob Befürworter oder Gegner des Kulturzentrums - amüsieren kann oder sich zumindest nicht übermässig ärgern muss. Die Bernerinnen und Berner aber wären auf Frechheiten angewiesen, die ihrer Stadt wieder etwas wert- und wirkungsvollere Impulse lieferten.

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vorwaerts.ch 14.9.10

Reithalle hat viel zu beaten

14.09.2010

Immer wieder geht›s gegen die Reitschule: in den Medien, im Stadtrat, und etwa alle fünf Jahre kommt das ganze noch vors Volk. Mittlerweile das fünfte Mal darf es sich dazu äussern. Bisher ist das Urteil immer positiv ausgefallen und die mittels Initiativen oder Referendum erfolgten Angriffe sind abgewehrt worden, meistens mit respektablem Vorsprung. Nur einmal wurde es knapp, als es um das neue Dach ging, also nicht um die Existenz.

"Terroristen"

Diesmal hat sich Erich Hess, profilierungssüchtiger (j)SVP-Parlamentarier (Stadt- und mittlerweile auch noch Grossrat), folgendes auf die Fahnen geschrieben: Die Reitschule, von ihm auch gerne als ein von "Terroristen" bevölkerter "Schandfleck" bezeichnet, soll an den Meistbietenden verkauft werden. Diesen drohenden Ausverkauf lassen sich die ReitschülerInnen nicht bieten.

Während sich vom Kollektiv David Böhner, stellvertretend für andere, an der Pressekonferenz im Frauenraum zur Sampler-Veröffentlichung über die andauernd zu führenden Abstimmungskämpfe nervt, scheinen diese doch von Mal zu Mal engagierter und origineller geführt zu werden, was auch das Trojanische Pferd auf dem Vorplatz, aus welchem zum Beispiel Fussballmatchs wie Fenerbahçe-YB projiziert wurden und die Fülle des Angebots an farbigen Bekundungsmöglichkeiten (Badetücher, T-Shirts, Fahnen), alle versehen mit zwei (selbst)zufriedenen Rössern mit Schwanzflosse, beweist.

Furzideen wie Hallenbad, Museum, Einkaufszentrum und so weiter hat Hess auf Lager für das Gebäude, welches zum Inventar der nationalen Kulturgüter gehört. Doch die Reitschule bietet mehr: Konzert, Theater, Kino, Bar, Restaurant, Politik, Selbstverwaltung (neben dem Erwähnten auch Druckerei, Holzwerkstatt), Infoladen und vieles andere. Ohne Reithalle wäre Bern nicht Bern. Sie gehört dazu. Gäbe es sie nicht, müsste man sie erfinden, beziehungsweise besetzen, wie anno 1987. Kuno Lauener von Züri West war an vorderster Front dabei beim "Einbruch", kurz bevor 1000 Leute dort feierten, sich im Rahmen der sogenannten Straf-Bars die Reitschule zurückholten und die halbe Schweiz sich damit solidarisierte. Deshalb war auch er - mit zwei seiner Bandkollegen (die nach seinem Statement, das mit "Hopp Reitschule! Hopp Züri West! Hopp YB!" schloss, nicht mehr viel beizufügen hatten) - an der CD-Vernissage des prominent bestückten Solisamplers zur Abstimmung "Reitschule beatet mehr" anwesend.

"Erich, warum bisch du nid ehrlich?"

Nachdem es schon zwei Bücher zum 10- und 20-jährigen Jubiläum der Institution gab, ist dies der erste Tonträger der Reithalle. Über zwei Drittel der Stücke sind bisher unveröffentlicht und die Namen lesen sich wie das Who is Who der (vor allem Berner) Musikszene: Neben Züri West sind dies unter anderem Sophie Hunger, Tomazobi, Reverend Beat Man, Churchhill und Steff la Cheffe, die mit neuem Material aufwarten. Stiller Has, Patent Ochsner, die Tight Finks oder die Kummerbuben steuerten ebenfalls Songs bei. Insgesamt waren es 22 KünstlerInnen, die aufgeboten wurden zu "beaten". Sogar Lou Reed ist drauf, wenn auch nur gecovert, mit neuem berndeutschen Text von Züri West. Für Furore sorgte der Song "Erich, warum bisch du nid ehrlich?" von Müslüm. Der lustige Videoclip und die klare, aber wegen Akzents nicht klar verständliche Botschaft machten das Stück zum Hit und rief sogar Hess‘ Mentor Thomas Fuchs auf den Plan, der mit Busse drohte und für seine Meinung ebenso viel Platz einforderte, da es sich um Abstimmungspropaganda handle. Dies, nachdem schon Hess fast täglich in der Presse seinen Senf als "Opfer" dazu geben durfte.

Während sich auf der Seite der Initianten vor allem einer aus der parlamentarischen extremen Rechten inszeniert, schmücken hinter Müslüm viele mehrheitsfähige KünstlerInnen den Sampler und zeigen, dass die Reitschule in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, auch wenn sie als Sündenbock für viele Probleme der Stadt herhalten muss und des linken Extremismus bezichtigt wird. Ihnen allen bedeutet die Kultur in Bern sehr viel, und damit auch die Reithalle, die eine wichtige Rolle, auch über die Stadtgrenzen hinaus, zwischen den Generationen und zwischen den verschiedenen Subkulturen spielt.

Hier haben viele ihre Karriere begonnen und beglücken noch heute das autonome Kulturzentrum mit ihrer Anwesenheit, gehören teils fast zum Inventar. Viele verknüpfen auch selber Kultur mit Politik, wie zum Beispiel die junge Rapperin und Beatboxerin Steff la Cheffe, die ihre ersten Anläufe hier machte und auch immer wieder an politischen Anlässen auftritt. Für sie gehört das einfach zusammen. So hat sie sich nicht nur musikalisch, sondern mit einigen andern auch organisatorisch am Sampler beteiligt. Und schon ihre Mutter stand für die Reitschule ein, auf der Strasse.

Damit auch die nächste Generation noch von der Reitschule in bewährter Weise profitieren kann: Ja zur Reitschule und ein entschiedenes, lautes hoffentlich letztes Nein zur städtischen Initiative und zur Hess-Zwängerei!

Aus dem aktuellen vorwärts

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Reitschule-Beiträge auf freie-radios.org
http://www.freie-radios.net/portal/suche.php?such=true&end_monat=12&end_jahr=2020&ssu=1&query=reitschule
http://www.freie-radios.net/portal/suche.php?such=true&query=reithalle&redaktion=0&art=0&serie=0&sprache=0&radio=0&autor=&beg_monat=01&beg_jahr=1970&end_monat=12&end_jahr=2010&Submit=Suche+starten

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ALTERNATIVKULTUR
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Landbote 17.9.10

Spagat zwischen Tradition und Moderne

 Fabian Eberhard

 Was vor 30 Jahren als illegaler Rebellenbetrieb begann, zählt heute zu den grössten alternativen Kulturzentren Europas und erfreut sich einer breiten Akzeptanz. Eine Standortbestimmung mit Silvia Hofer vom Vorstand der Roten Fabrik.

 Vom gesellschaftskritischen Ansatz der Roten Fabrik ist im aktuellen Jubiläumsprogramm nichts zu spüren. Ist dieser über die Jahre verloren gegangen?

 Silvia Hofer: Nein, sicherlich nicht. Vielleicht gehen wir heute einfach subtiler mit politischen und gesellschaftlichen Themen um. Dafür brauchen wir kein Jubiläumsprogramm oder Transparente wie in den Achtzigern. Gesellschaftspolitische Entwicklungen werden aber immer noch kritisch hinterfragt und die Auseinandersetzung gesucht.

 Einigen geht das zu wenig weit. Unbekannte haben im letzten Jahr aus Protest alle Aussenwände des Kulturzentrums weiss übermalt.

 Wir sind offen für Kritik und begrüssen Diskussionen. Ich persönlich habe mich über diese Aktion gefreut, weil ich es wichtig finde, dass man sich mit der Fabrik im "Jetzt" auseinandersetzt. Von den "Weissmalern" war aber nie eine Aussprache erwünscht. Es gibt leider wenig konstruktive Kritik.

 Unterscheidet sich die Fabrik denn überhaupt noch von der grossen Masse der vielen Zürcher Clubs?

 Ja das tut sie. Für viele Leute ist die Fabrik ein Ort der Zuflucht, ohne Schickimicki, ein Ort mit immer noch sehr tiefen Eintrittspreisen, wo Menschen Freiräume vorfinden, um ihre eigenen Ideen zu verwirklichen.

 Im Konzept der Fabrik nehmen Sie klar Stellung gegen Rassismus, Sexismus und Gewalt. Mit Sizzla stand kürzlich ein umstrittener Reggae-Interpret auf der Bühne, der in Vergangenheit immer wieder öffentlich zu Gewalt gegen Homosexuelle aufrief. Sind die Konzeptvorsätze nur noch leere Worthülsen?

Rassismus, Sexismus und Gewalt haben definitiv keinen Platz bei uns. Sizzla ist ein umstrittener Künstler und wir haben dies auch zum Thema gemacht. Im Vorfeld haben wir ein Podiumsgespräch organisiert, an dem dies öffentlich diskutiert wurde.

 Viele der heutigen Verantwortlichen waren während den Anfangszeiten nicht aktiv dabei. Inwieweit ist die Rote Fabrik noch von ihrer Entstehungsgeschichte geprägt?

 Wir sind seit den Anfängen basisdemokratisch organisiert. Und genau diese Betriebsstruktur prägt unseren Alltag immer noch stark. Auch die Begegnung mit Künstlern oder Mitarbeitern aus dem "Ziegel oh Lac", die seit Beginn auf diesem Areal arbeiten, prägen uns "Neue". Aufgrund der Geschichte ist es manchmal aber schwierig, Veränderungen vorzunehmen. Von aussen kommt schnell der Vorwurf, dass die Fabrik nicht mehr so ist, wie sie früher einmal war. Aber die Fabrik muss sich ändern, weil sich auch die Zeit geändert hat. Ich glaube, dass es sehr wichtig ist, dass dieser Ort die Stimmungen der jeweiligen Zeit aufnimmt.

 Wo ordnen sie die Rote Fabrik heute in der Zürcher Kulturlandschaft ein?

 Uns einzuordnen ist gar nicht so einfach, und das ist gut so. Wir sind ein Mehrspartenhaus und innerhalb der jeweiligen Sparten offen für die verschiedensten Kunstformen. Wir sind ein Ort, der Freiräume bietet für die Jugend, für Kulturliebhaber und für Künstler. Das weite Spektrum innerhalb des Programmes und das Areal, mit all seinen Menschen, ist in der Stadt Zürich einzigartig.

 Finanziell war die Fabrik immer wieder in Schieflage. Wie sieht das zurzeit aus?

 Früher wurde tatsächlich manchmal über die Verhältnisse gelebt. Vor fünf Jahren wurden dann die Strukturen angepasst und Sparmassnahmen getroffen. Vieles wurde professionalisiert. Seither sind wir wieder auf Kurs und schreiben schwarze Zahlen.

 Diese Anpassungen fallen tatsächlich auf. So weigerte man sich früher, Sponsoren zu engagieren. Das hat sich mittlerweile geändert. Eine weitere Entwicklung, die vielen sauer aufstösst.

 Auch heute versuchen wir noch, möglichst ohne Sponsoring auszukommen. Wenn wir aber darauf angewiesen sind, haben wir klare Richtlinien. Voraussetzung ist beispielsweise, dass die Firmen sozial gerechte und menschenwürdige Arbeitsbedingungen bieten. Zudem vermeiden wir Unternehmen aus Bereichen wie Tabak und Alkohol oder Versicherungen und Banken.

 Wo sehen Sie die Fabrik in 30 Jahren?

 Ich bin überzeugt, dass sie auch in der Zukunft ein wichtiger Ort innerhalb der Stadt Zürich sein wird. Das Areal als Begegnungsort mit einem riesigen Kulturangebot sucht seinesgleichen und wir alle müssen dafür sorgen, dass dies auch in 30 Jahren noch der Fall sein wird.

INTERVIEW: FABIAN EBERHARD

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 Die Rote Fabrik wird erwachsen

 Fabian Eberhard

 Eigentlich hatte die Stadt Zürich die ausgediente Seidenweberei und spätere Fernmeldetechnikfabrik Anfang der Siebzigerjahre gekauft, um sie wegen der geplanten Verbreiterung der angrenzenden Seestrasse abreissen zu lassen. 1977 wurde dieser Plan aber durch eine Volksabstimmung verhindert. Drei Jahre später wurde die Interessengemeinschaft Rote Fabrik (IGRF) gegründet, die vorerst illegal Feste und Konzerte veranstaltete.

 Auf Druck der Jugendbewegung und nach einem heissen Sommer voller gewalttätiger Auseinandersetzungen, öffnete die Rote Fabrik im Herbst 1980 ihre Tore für sieben provisorische Betriebsjahre. Musik und Theater bildeten das Schwergewicht der Aktivitäten und allbekannt war das "autonome Veloflicken". Manche freie Theatergruppen, die in der Szene zunehmenden Einfluss gewannen, gaben in der Roten Fabrik ihr Debüt. 1981 wurde die Rote Fabrik unter Denkmalschutz gestellt und 1985 das Restaurant Ziegel oh Lac und die Shedhalle eröffnet. 1987 anerkannte das Zürcher Stimmvolk die Rote Fabrik als subventioniertes Kultur-, Freizeit- und Bildungszentrum.

 Dieses Wochenende feiert die IG Rote Fabrik ihren 30. Geburtstag. Das bedeutet vor allem 30 Jahre Vermittlung und Förderung von zeitgenössischer und kritischer Kultur fernab des Mainstreams. Heute wird der Betrieb von 16 Angestellten geführt, die Hälfte davon sind Frauen und alle arbeiten für den gleichen Lohn. Diverse Arbeitsgruppen mit über 100 Mitgliedern gestalten das Programm mit und organisieren rund 300 Veranstaltungen pro Jahr. Der finanzielle Aufwand der IG Rote Fabrik beträgt 3,7 Millionen Franken jährlich. Die Stadt subventioniert den Kulturbetrieb mit 2,4 Millionen. Die restlichen finanziellen Mittel setzen sich aus Mitgliederbeiträgen, den Einnahmen aus den Veranstaltungen, Spenden und den Mieteinnahmen zusammen. (feb)

 Jubiläumsfeier: 30 Jahre sind genug!

 "Die Rote Fabrik macht die Luken dicht!", heisst es in einer Mitteilung, welche das Kulturzentrum kürzlich verbreitete. Nicht länger werde hier auf Kosten der Allgemeinheit eine Utopie zelebriert, die schon seit den Achtzigerjahren überholt sei. In einer Gesellschaft, in der jedes Individuum nur noch für sich alleine stehe, brauche es auch keine Alternative wie die Rote Fabrik mehr.

 Doch keine Angst. Schnell wird klar, dass dieses Schreiben nur eine gewohnt provokative Ankündigung für das Festivalprogramm zum 30-jährigen Jubiläum des alternativen Kulturzentrums ist. Mit einem breit gefächerten, kostenlosen Angebot an Konzerten, Theatern, Filmen und Kunstinstallationen feiert die Rote Fabrik dieses Wochenende ihren runden Geburtstag. Gespannt sein darf man vor allem auf die künstlerische Intervention "30 Jahre sind genug" von Michael Meier und Christoph Franz, die laut Ankündigung das gesamte Gelände in den Ausnahmezustand versetzen wird. (feb)

 Programm: www.rotefabrik.ch

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Tagesanzeiger 16.9.10

Die etwas andere Kultur

 Die Rote Fabrik in Zürich feiert dieses Wochenende ihren 30. Geburtstag. Die Berner Reitschule steht vor der fünften Abstimmung. Obwohl beide Kulturzentren basisdemokratisch betrieben werden, unterscheiden sie sich klar. Die Rote Fabrik bietet Kultur an, wie sie auch anderswo zu haben ist, sehr viel Alternatives ist nicht mehr auszumachen. Der Vorwurf steht im Raum, das Programm der Roten Fabrik sei profillos geworden, weil viel zu viel hineingepackt werde. Im "züritipp" widerspricht Fränzi Keller von der Betriebsgruppe: Die Rote Fabrik habe als öffentlich subventionierter Mehrspartenbetrieb "geradezu die Aufgabe, für ein möglichst breites Publikum ein möglichst vielfältiges Programm zu bieten".

 Dafür zahlt die Reitschule für ihre Renitenz einen beträchtlichen Preis. Weil es ihr schwerfällt, sich von Gewaltbereiten in den eigenen Reihen zu distanzieren, wird sie jedes Mal mitverantwortlich gemacht, wenn eine Demonstration in der Stadt Bern eskaliert. (jmb./cf.)

 Rote Fabrik und Reitschule

 Analyse: Die alternative Kultur ist heute keine Alternative mehr. - Seite 9

 Bericht: Zu Besuch in der Berner Reitschule, dem integrierten Feindbild. - Seite 27

 Roundtable-Gespräch: Wie soll es in der Roten Fabrik weitergehen? - züritipp

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Tagesanzeiger 16.9.10

30 Jahre Rote Fabrik Weshalb die alternative Kultur inzwischen keine Alternative mehr ist.

 Marschhalt in der Institution

Von Christoph Fellmann

 Die Rote Fabrik ist 30 Jahre alt. 1980 vom jungen, alternativen Zürich erstritten, ist das Kulturzentrum heute fest etabliert. Sie habe sich, schrieben ihre Betreiber einmal, "zum prestigeträchtigen Vorzeigeobjekt weltstädtisch gemeinter Kulturpolitik" entwickelt. Ja, man könnte sogar sagen, der spöttische Unterton sei das Letzte, was noch an die alternative Vergangenheit dieses Kulturzentrums erinnere.

 Denn die alternative Kultur hat sich in den letzten zehn Jahren bis zur Unkenntlichkeit verändert. Ihre Inhalte sind längst Allgemeingut, und in einem modernen Kulturangebot ist nicht die Alternative gefragt, sondern das "Anything goes". Das hat auch politische Gründe: Im Aufbruch der 80er-Jahre war vom Punk über den Bluesrocker bis zum freischaffenden Kindertheater alles irgendwie politisch, weil ein Teil der selbst ernannten Gegenkultur. Die ist nach 1989 untergegangen, auch weil sie in ihren neuen Kulturzentren bald zu sehr vom bürgerlichen Staat abhängig war, um im Ernst noch dagegen sein zu können. Auch das "Alternative" wird heute meist als "Indie" übersetzt, notabene einem Marketingbegriff der Musikbranche. Er passt schon, bedeutet er doch, sich postmodern in Szenen zu organisieren und sich politisch den Rücken frei zu halten.

 Die Rote Fabrik und ähnliche Kulturzentren arbeiten heute pragmatisch mit den Behörden zusammen, und ideologisches Denken ist dem kreativen Milieu mittlerweile fremd. Und umso attraktiver ist sein junges, urbanes, flexibles Image. Für die Sponsoringmillionen der Privatwirtschaft, aber auch für die Städte. Diese erkennen in der Kulturszene den Motor einer potenten "Kreativwirtschaft", den es im Standortwettbewerb zu fördern und vermarkten gilt.

 Geld gegen Professionalität

 Der Einzug ins urbane Establishment wurde der alternativen Kultur aber nicht geschenkt. Staat und Wirtschaft erwarten im Gegenzug, dass die Kulturleute ihre Häuser professionell führen, dass sie mit Globalbudgets und Businessplänen zu hantieren wissen. Anders als der Luzerner Südpol, die Basler Kaserne oder das Zürcher Theater Spektakel wird die Rote Fabrik zwar immer noch durch ein Kollektiv und nicht durch einen Intendanten geführt. Aber auch hier erwartet die Stadt für jährlich 2,4 Millionen Franken mehr als "nur" ein gutes Programm. Die Behörden überprüfen auch "Projektmanagement", "Eigenwirtschaftlichkeit" und den "Einfluss auf die Standortqualität".

 Was ist also übrig von der alternativen Kultur? Wo findet man noch eine Kultur, die man so nennen könnte? Überall dort, wo eine künstlerische Leistung zu neu, zu sperrig oder zu wenig spektakulär ist, um auf dem Radar der Sponsoren und Standortpromotoren aufzutauchen. Dort zudem, wo Künstler noch nicht professionell genug sind, um in die etablierten Häuser eingelassen zu werden. Seit in Luzern die alte Boa geschlossen und durch den professioneller geführten Südpol ersetzt ist, hört man auf der Strasse den Ruf nach niederschwelligem, experimentellem Freiraum. Es ist ein Echo auf die Achtzigerjahre.

 Die alternative Kultur, die in den 80ern den Marsch in die Institutionen angetreten hat, ist und bleibt dort gut aufgehoben. Die alternative Kultur von heute aber, das ist die, die noch nicht etabliert genug ist für die alternativen Kulturhäuser von gestern. Sie erneuert sich mit jeder Generation und in wechselnden Pionierzonen. Sie braucht keine Häuser, die 30 Jahre alt werden.

 Mehr zum Thema: Seite 27 und "züritipp"

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Das integrierte Feindbild

 Die Berner Reitschule beschert der Stadt immer wieder Ärger. In zehn Tagen wird über die weitere Existenz des Kulturzentrums abgestimmt. Besuch in einer Institution, in der endlos diskutiert, aber auch hart gearbeitet wird.
 
Von Jean-Martin Büttner, Bern

 Wochensitzung im Dachstock der Berner Reitschule, ein Dutzend Männer und vier Frauen sitzen am Holztisch und arbeiten sich durch die Traktandenliste. Die überlaute Musik der Piratenbar gibt zu reden und der Abfall vor dem Kino. Dann wird die Gage einer amerikanischen Band neu verhandelt. Und man macht ab, wer zu welcher nächsten Sitzung muss und wer bis spätnachts die Garderobe hütet.

 Polizisten heissen hier Bullen und der interne Sicherheitsdienst Wellness-Truppe; junge Besucher sind Kiddies, Bier geht als Alk durch und Betreiber als Reitschüler. Doch das Vokabular täuscht, es geht sachlich zu und zügig vorwärts. Nur manchmal reden alle durcheinander, dazwischen wird gelacht. Draussen rauscht der Autoverkehr, über der Brücke gleiten die Züge aus dem Hauptbahnhof.

 "Die Reitschule bietet mehr", versprechen die Reitschüler, laden die Bevölkerung zu Führungen ein, bieten Musiker zum solidarischen Mitsingen auf und lassen sich vom Establishment aus Politik und Kultur unterstützen. Dem alternativen Kulturzentrum steht nämlich eine weitere Abstimmung bevor, wie immer von rechts lanciert. Für ihre Gegner war, ist und bleibt die Reitschule ein Schandfleck der Stadt (siehe Kasten).

 Das Dorf

 Dass das Zentrum auch etwas bietet, bezweifeln in Bern nur wenige. Die Reitschüler sprechen von 75   000 bezahlten Eintritten und gegen 50   000 weiteren Besuchen pro Jahr. Konzerte werden abgehalten, Theateraufführungen und Filme gezeigt, Tanzabende, Flohmärkte, Yoga-Kurse und Weiteres angeboten. Das Restaurant Sous le Pont serviert Spezialitäten aus aller Welt, die Druckerei druckt, der Infoladen informiert, die Holzwerkstatt sägt, der Politladen politisiert. Man kann hier gemeinsam "Tatort" schauen oder ein Fussballspiel auf der Grossleinwand.

 Das Kulturzentrum funktioniere wie ein Dorf mit vielen Gästen, sagen die Leute hier. Oder wie es die langjährige Reitschülerin Agnes Hofmann formuliert: "Die Reitschule ist das, was wir alle aus ihr machen." Was sie damit meint, präzisiert die Autorin Ariane von Graffenried: "Hier kann jeder etwas ausprobieren, mit dem er anderswo keine Chance hätte." Also auch nicht in der Roten Fabrik in Zürich, mit der die Reitschule übrigens kaum Kontakte pflegt.

 Die kulturelle Vielfalt ist grösser als die soziale Durchmischung. Die Reitschule solidarisiert sich mit armen Ausländern, wird aber fast nur von Schweizern betrieben. Sie verbreitet den Klassenkampf, hat sich aber als Projekt der Mittelklasse etabliert und bekommt bei Abstimmungen am wenigsten Zuspruch aus dem Arbeiterquartier Bethlehem. "Wir sind die Stachel im fetten Fleisch der Stadt", sagt der 24-jährige Yannick Spindler, der vor fünf Jahren hier begann. Dabei sind die meisten hier dem Fleisch entsprungen, das sie einstacheln möchten: Die Reitschule ist das integrierte Feindbild von Bern.

 Das Geld

 Auch beim Geld geht es schweizerisch zu. Man arbeitet sparsam, die Buchhaltung gilt als vorbildlich. Das Zentrum bekommt Subventionen von der Stadt, nicht ganz 666   000 Franken pro Jahr, weist aber eine Eigenfinanzierung von über 50 Prozent aus. Zum Vergleich: Das Berner Stadttheater erhält fast 24 Millionen Franken, deckt aber knapp ein Fünftel seiner Kosten.

 So billig zu wirtschaften, ist ohne die Gratisarbeit nicht zu schaffen, die viele hier verrichten. Das hat den zusätzlichen Vorteil, dass sich das Personal laufend verjüngt. Die meisten machen hier zwei bis vier Jahre mit und ziehen dann weiter. Dazwischen haben sie gelernt zu debattieren, zu überzeugen und zu organisieren, Projekte erst auf- und dann durchzuziehen. Die Reitschule funktioniert auch als soziales Laboratorium, sie fördert Kulturmanager-Kompetenzen, ganz ohne Studium und Abschluss.

 Das alles gibt in Bern auch wenig zu reden, dafür zwei immer wieder genannte Probleme: die Drogenszene vor der Reitschule und die gewaltbereiten Demonstranten in ihrer Mitte. Häufig tauchen Dealer und ihre Kunden vor dem Kulturzentrum auf oder stehen in der Beiz herum.

 Dafür könnten sie nichts, halten Reitschüler dagegen. "Ich arbeite hier seit 15 Jahren", sagt etwa Sabine Ruch vom Dachstock; und sie verspüre keinerlei Lust, "für die Probleme dieser Stadt den Privatbullen zu spielen." Egal wie barsch man die Dealer und ihre Konsumenten wegweise, sie kämen immer wieder. Die Reitschule liege zentral, ausserdem sei die Anlaufstelle für Süchtige gleich auf der anderen Seite. Das wiederum lässt Barbara Mühlheim nicht gelten: Die grüne Politikerin leitet die heroingestützte Behandlung in Bern und kritisiert, die Reitschule müsse "konsequenter gegen die Drogenszene vorgehen, statt immer anderen die Schuld dafür zu geben".

 Die Knallköpfe

 Unklar bleibt auch das Verhältnis zur Gewaltbereitschaft in den eigenen Reihen. Wenn einer in Bern Kultur mache, sang einst Kuno Lauener von Züri West, komme meistens nur die Polizei. Das war in den Achtzigerjahren, als die Berner Band regelmässig in der Reitschule aufspielte und die Kultur mit Tränengas benebelt wurde.

 Dass aber die Reitschule die Polizei bis heute nicht losgeworden ist, hat sie sich auch selber zuzuschreiben. Man verurteilt zwar die Ausschreitungen an Demonstrationen, will sich aber nicht von ihren Adepten distanzieren. Das merkt man der Antwort von Agnes Hofmann an, der langjährigen Reitschülerin: Sie windet sich ins Umständliche. Einerseits wolle man, dass sich "auch antirassistische und antifaschistische Bewegungen bei uns treffen können", sagt sie, ganz der korrekten Terminologie verpflichtet. Der Preis dafür sei halt, "dass wir uns manchmal mit ein paar jungen Männern herumschlagen", denen die Botschaft einer Demonstration weniger bedeute als das Gewaltspektakel. "Wir finden die Knallköpfe bei uns genauso blöd wie die bei der Polizei." Es gehe aber darum, solidarisch zu sein "und unsere Anliegen nicht zu verraten".

 Die Frage ist nur, wer hier wen verrät. Am heftigsten wird die Reitschule immer dann kritisiert, wenn eine Demo in Bern knallkopfmässig eskaliert. Zum Beispiel kurz vor den letzten Nationalratswahlen, als eine Gegendemo zur SVP ausser Kontrolle geriet und der Hauptstadt weltweite Schlagzeilen bescherte. Zum letzten Mal kam der sogenannte antifaschistische Abendspaziergang vor knapp zwei Jahren vom Weg ab, zwei Monate nach der letzten Abstimmung zur Reitschule. Kein Zufall, dass das nächste linke Stadtwandern wieder erst nach der Abstimmung abgehalten wird.

 Der Waschküchenplan

 Trotzdem verbreitet Reto Nause (CVP), der Stadtberner Polizeichef, ungetrübten Optimismus. Die letzten Jahre über sei es ruhig geblieben, sagt er, der Kontakt zwischen Reitschule und Polizei habe sich spürbar verbessert. Zudem löst die Reitschule ihre Binnenprobleme mit einem hauseigenen Sicherheitsdienst. Das sind zwei Dutzend Männer, die sich vor einem Jahr gruppierten, eine Ausbildung durchlaufen haben und bei Alkoholexzessen, Streit und Schlägereien eingreifen. Fast alles lasse sich mit Worten klären, sagt Friedrich Stucki vom Wellness-Team. Die Polizei hätten sie jedenfalls noch nie rufen müssen.

 Zurück in den Dachstock, wo die Gruppe dem Ende der Traktandenliste entgegenredet. Unter "Varia" bespricht sie das Problem der gemeinsam genutzten Waschmaschine. Am Schluss der gründlichen Debatte beschliesst das Kollektiv, einen Waschplan zu erstellen. Darüber habe man heute am längsten geredet, sagt einer. Alle lachen. Niemand scheint überrascht.

 Weitere Artikel auf Seite 9 und im "züritipp".

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 Die fünfte Abstimmung

Reitschule soll verkauft werden

 In zehn Tagen stimmt die Stadt Bern zum fünften Mal innert zwanzig Jahren über die Reitschule ab - und zum fünften Mal dürfte diese die Abstimmung gewinnen. Die Initianten der SVP verlangen diesmal, die Reitschule zu schliessen und dem Meistbietenden zu verkaufen. Wer das sein wird, ist ihnen egal, es könnten sogar die Reitschüler sein.

 Überraschende Hilfe bekommt die SVP vom Stadtberner Freisinn. Ihre Fraktion habe Stimmfreigabe beschlossen, sagt Parteipräsidentin Dana Dolores, "doch dann ist die Diskussion ausgeartet"; die geballte Frustration der Parteibasis habe sich bei der Reitschule entladen. Am meisten stört die Gegner, dass das Kulturzentrum zwar Subventionen beziehe, sich aber nicht genügend von Drogen und Gewalt distanziere. (jmb)

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Züritipp 16.9.10

Roundtable: 30 Jahre Rote Fabrik

 "DIE REVOLUTION SCHLÄGT ZURÜCK"

 "30 Jahre sind genug!", verkündet die Rote Fabrik aus Anlass ihres diesjährigen Jubiläums. Ist das vielleicht sogar wahr? Worin liegt in der Eventstadt Zürich heute die Aufgabe eines alternativen Kulturzentrums? Zwei Ehemalige und eine Fabriklerin der Gegenwart suchen nach Antworten.

 Gesprächsleitung: Corina Freudiger, Philippe Zweifel. Bilder: Dominique Meienberg

 Zum Jubiläum will sich die Rote Fabrik selber abschaffen. Die Ironie dieses Gags kann man auch überlesen: Braucht es die Fabrik wirklich noch?

 Christoph Bürge: Ja, aber nur, wenn sie sich vom Mainstream abzugrenzen weiss.

 Fränzi Keller: Die Fabrik ist inihrer kulturellen Vielfalt nach wie vor einzigartig. Ausserdem wird hier unabhängig von Gewinnüberlegungen noch Neues ausprobiert. Aktuell etwa im Medienstudio Dock 18.

 In anderen Bereichen ist man weniger experimentierfreudig. So spielen hier Bands, die auch im Abart oder im X-tra auftreten.

 Richard Wolff: Im Musikbereich gibt es heute Überschneidungen mit dem Mainstream. Aber auf der konzeptionellen Ebene unterscheidet sich die Rote Fabrik nach wie vor von anderen Orten. Wo sonst finden kritische, politische Veranstaltungen zu Ernährungsfragen, Globalisierung, Überwachungsstaat statt?

 Um aktuelle politische Themen scheint man aber einen Bogen zu machen. Die Bankenkrise wurde zum Beispiel nicht aufgegriffen.

 Keller: Doch, die Bankenkrise wurde in der Fabrikgesprächsreihe thematisiert.

 Wolff: Und der in ein Minarett verwandelte Fabrikkamin war doch eine tolle Aktion . . .

 Bürge: Allerdings mehr Reaktion als Aktion. Generell spüre ich heute zu wenig, dass die Fabrik einen Schritt vor den anderen ist. Man packt heute sehr viel ins Programm, was zu einer gewissen Profillosigkeit führt.

 Richard Wolff: Die Konkurrenz ist in allen Bereichen gross geworden, in der Musik, bei Partys, beim Off-Theater, bei Informations- und Diskussionsveranstaltungen. Das war in den Anfängen anders. Wir hatten in vielen Bereichen ein Quasi-Monopol und konnten damit rechnen, fast einmal pro Monat die Titelseite des "züritipps" zu bekommen.

 Keller: Heute ist Zürich eine Eventstadt. Für das Publikum ist die Fabrik ein Ort unter vielen.

 Die Rote Fabrik wird basisdemokratisch geführt. Könnte ein Intendantensystem die Wahrnehmung gegen aussen verbessern?

 Wolff: Das steht immer wieder zur Debatte. Doch die Vielfalt der Fabrik beruht auch auf der Basisdemokratie und darauf, dass sich verschiedene Gruppen einbringen können.

 Bürge: Mit 17 Mitgliedern ist Basisdemokratie allerdings ein hartes Brot. Wir waren 1987 zu 8 in der Betriebsgruppe - und das war schon eine Herausforderung.

 Keller: Wir sitzen heute nicht mehr jeden Dienstag, nur noch zweimal pro Monat. Ausserdem delegieren wir mehr. Zum Vorwurf der Profillosigkeit: Ich finde nicht, dass sich die Fabrik auf Nischen konzentrieren sollte. Als öffentlich subventionierter Mehrspartenbetrieb hat sie geradezu die Aufgabe, für ein möglichst breites Publikum ein möglichst vielfältiges Programm zu bieten.

 Man hört immer wieder, dass sich in der Leitung eine gewisse Trägheit eingestellt habe. Wie lange bleiben die Betriebs-mitglieder der Roten Fabrik im Schnitt?

 Bürge: Bei uns waren es 1 ½ bis 3 Jahre. Wobei man sich von hinten und vorne gleichzeitig angezündet und lichterloh für die Sache gebrannt hat. Was auch nötig ist, wenn man sich wirklich für etwas einsetzen will.

 Wolff: "Durchlauferhitzer" nannten wir das.

 Brennt das Feuer auch heute noch?

 Keller: Klar. Ich bin auch dafür, dass man nicht ewig hier arbeitet. Heute bleiben die Leute unterschiedlich lange hier, im Durchschnitt sind es etwa 5 bis 6 Jahre.

 Das klingt für gewisse Leute nach Sesselkleberei. Vor einem Jahr malten Aktivisten die Rote Fabrik weiss an, weil sie sie als Teil des Kultur- establishments sehen.

 Wolff: Ich fand das eine gelungene Aktion. Debatten und ein grundlegendes Infragestellen sind immer willkommen. Allerdings vermisste ich dann die eigentliche Debatte.

 Keller: Persönlich habe ich mich über die Aktion amüsiert. Innerhalb der Roten Fabrik wurde die Weissmalerei aber verschieden aufgenommen. Einige waren total empört,andere fanden es kreativ.

 Wolff: Manchmal klagen meine Jungs, dass die Fabrik zu teuer sei, dass der Zugang fehle. Dann sage ich einerseits, dass das zum Teil stimmt, dass aber anderseits die heutigen Kids auch ihre eigenen Strukturen aufbauen müssen! Die permanente Revolution in der Fabrik zu verlangen, ist ein Widerspruch in sich.

 Ist der Begriff "Alternativkultur" für die Fabrik überhaupt noch zutreffend?

 Bürge: Ich finde, der Begriff hat ausgedient. Er stammt aus einer Zeit, in der es reichte, in einem Lokal ein Konzert zu veranstalten, wo noch nie ein Konzert stattgefunden hat.

 Wolff: Bereits 1986 stellte man diese Frage - "Alternativkultur" kommt wahrscheinlich von den 68ern. Heute ist der Begriff weitgehend sinnentleert, weil er längst vom Mainstream usurpiert worden ist.

 "Alternativ" ist allerdings immer noch auf der Homepage der Fabrik zu finden . . .

 Bürge: Würde ich streichen. Nur weil es im WC Graffiti hat, ist ein Ort nicht alternativ.

 Wie definiert sich denn ein alternatives Kulturzentrum heute?

 Bürge: Eine mögliche Definition wäre "ein Kulturbetrieb, der nicht gewinnmaximierend ausgerichtet ist".

 Keller: Das ist bei der Fabrik der Fall. Auch die Eintrittspreise sind immer wieder ein Thema. Doch grosse Konzerte haben heute ihren Preis, die Gagen sind insbesondere in Zürich sehr hoch im internationalen Vergleich. Und wir sind immer noch günstig: Wo sonst in Zürich siehst du zum Beispiel M.I.A. für 35 Franken? Aber persönlich wünsche ich mir auch mehr kleinere Veranstaltungen für wenig Geld.

 Bürge: Wenn man subventioniert ist, muss man natürlich günstigere Preise haben als andere Veranstalter. Bloss: Schätzen das die Leute überhaupt noch? Die Bereitschaft zu zahlen, vor allem in der Schweiz und in Zürich, ist enorm und nicht nachvollziehbar.

 Man kann sich also nicht einmal mehr über die Preispolitik abgrenzen?

 Bürge: Der Helsinki-Klub und das El Lokal fahren einen solchen Kurs. Die unterscheiden sich vom Restangebot. Oft ist das aber nur dankeiner günstigen Zwischennutzung des Lokals realisierbar.

 Wolff: Doch, mit den Preisen unten reinfahren fände ich heute "alternativ". Konzerte für fünf Franken! Bürge: Da kommen mir die M-Budget-Partys in den Sinn, die bloss ein paar Franken Eintritt kosteten. Warum hat man dieses Feld derMigros überlassen? Das Konzept - natürlich ohne dröge DJs - hätte hervorragend in die Rote Fabrik gepasst. Gerade in einem Umfeld, in demdie Preise ins Absurde steigen. Wir hätten uns damals gegen diesen Preiswahnsinn gewehrt.

 Was haltet ihr von Aktionen wie Shantytown oder der Hardturmbesetzung?

 Wolff: Das war schon beeindruckend, vor allem auch wegen der generalstabsmässigen Organisation. Aber nicht mit der Aufgabe einer Roten Fabrik vergleichbar. Die Leute in der Besetzerszene arbeiten gratis. Die "Brotäktschen" im Hardturmstadion wurde wochen- und monatelang vorbereitet und fand dann an einem  Wochenende statt. Aber so etwas passiert auch nicht jede Woche, vielleicht einmal pro Jahr oder alle zwei Jahre. Die Fabrik ist eine Institution, die Angestellte hat und Löhne bezahlt.

 Keller: Und deswegen hat sie eine Kontinuität, die solche Aktionen nicht bieten können: Wir ziehen pro Jahr 60 000 Besucher an: Offensichtlich wird die Fabrik seit Jahrzehnten als das geschätzt, was sie ist.

 Wolff: Genau. Die Atmosphäre ist immer noch gut, der Sound super. Ich war kürzlich am Patti-Smith-Konzert. Es war wundervoll, der Ort am See ist europaweit einzigartig. Das subversiv-politische Angebot wird eher von den besetzten Häusern abgedeckt. Da läuft jeden Abend irgendwo irgendwas, an der Hönggi, in der Friesi, der Binz und so weiter.

 Erwartet die Stadt als Besitzerin der Fabrik eigentlich volle Säle?

 Keller: Nein, selbstverständlich nicht, das hat ja nichts damit zu tun, wem das Gelände gehört. Im Unterschied zu den Künstlerateliers. Ein viel gehörter Vorwurf ist, dass in den Ateliers die ewig gleichen Leute sitzen. Das mag so sein - darauf haben wir aber nur wenig Einfluss, da von den 60 Ateliers auf dem Gelände nur fünf von uns verwaltet werden, der Rest von der Stadt.

 Wolff: Nach innen besteht eine grosse Autonomie, man arbeitet immer noch selbstbestimmt - dass man sich das bewahrt hat, ist für mich ein riesiger Erfolg. Wer vielleicht ein Interesse an vollen Sälen hat, ist der Ziegel oh Lac. Denn das Restaurant hat bei Konzerten das Ausschankmonopol. Zwar ist der Ziegel ein eigenständiger Betrieb, er hat aber Mitsprache im Fabrikrat. Kann schon sein, dass es dann mal heisst: Jetzt macht nicht nur Kleinproduktionen, sondern Konzerte, die Leute bringen!

 Bei der Minarett-Aktion war es die Stadt, die Einspruch erhob . . .

 Wolff: Da hätte man tatsächlich nicht nachgeben dürfen.

 Keller: Wir haben auch nicht nachgegeben! Entgegen der Behauptung, dass hier eine Vermittlung stattfand, musste die Stadt das Minarett mit einem Kran eigenmächtig herunterholen. Der politische Druck war wohl zu gross.

 So wie beim Kiffverbot im Ziegel?

 WolfF: Der Ziegel ist keine Untergrundbar. Man erfüllt schliesslich auch die Hygienebestimmungen und hat gesetzeskonforme Fluchtwege.

 Bürge: Man muss auch schauen, wofür man kämpft: Ist kiffen heute wirklich einen Aufstand wert? Früher war es einfacher, sich konstruktiv an Verboten zu reiben.

 Wolff: Genau. Die Deregulierung im Beizenbereich geht zum grossen Teil auf die Rote Fabrik zurück. Auch das Tanzverbot am Karfreitag und an anderen gesetzlichen Feiertagen hat man hier zuerst und konsequent gebrochen. Auch das Aufbrechen der Polizeistunde ist zu einem grossen Teil das Verdienst der Roten Fabrik.

 Bürge: Es ging stets darum, ein neues Lebensgefühl zu kreieren. Damals war das der 24-Stunden-Nonstop-Betrieb. Im Sinne eines neuen Lebensgefühls würde ich heute ironischerweise das Gegenteil propagieren: Tage der Ruhe. Die Liberalisierungsrevolution schlägt zurück.

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 DAS JUBILÄUMSFEST

 Zu ihrem 30. Geburtstag verwandelt sich die Fabrik drei Tage lang in einen Erlebnispark: Das Musikbüro sorgt für KONZERTE u. a. von Little Dragon, Jamaica, Science Fiction Theater oder The Maccabees, das Fabriktheater zeigt PERFORMANCES von Pascal Grau, Miguel Gutierrez oder Laura Kalauz. Für die Kinder gibts "The Wizard of Oz" von Kolypan, und die Erwachsenen erwartet das Splätterlitheater mit viel Blut. Für KUNST rund um die Shedhalle sorgen Damian Jurt, Georg Keller und andere, während Christian Ratti durch das Areal führt. Ums Literarische kümmern sich Ruth Schweikert und andere Autoren mit LESUNGEN in den Ateliers. Eine fabrikeigene RADIOSTATION geht auf Sendung (96,9 MHZ), das Medien-studio Dock18 dokumentiert 72 Stunden lang das Geschehen, und am Sonntag gibts auf dem FLOHMI Dinge aus der Fabrik zu kaufen. Und mittendrin skandiert die Gruppe Seh-Tank: "30 Jahre sind genug!"

 Zürich, Rote Fabrik, Seestr. Fr 17.9., 18 Uhr bis So 19.9., 18 Uhr Detailliertes Programm: www.rotefabrik.ch

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 DIE ROTE FABRIK

 1972 erwarb die Stadt Zürich die Rote Fabrik, um sie abzureissen und die Seestrasse zu verbreitern. 1977 verhinderte eine Volksabstimmung diesen Plan. 1980 veranstaltete die Interessengemeinschaft Rote Fabrik (IGRF) zuerst illegal Feste und nahm dann im Herbst - auch auf Druck der Jugendbewegung ("Leben in die Tote Fabrik!") - den provisorischen Betrieb auf. 1987 stimmten die Zürcher dem Kulturzentrum Rote Fabrik zu. Heute wird es von 17 Angestellten geführt, von denen mehr als die Hälfte Frauen sind und die alle für den gleichen Lohn arbeiten. Das Programm umfasst Musik-, Theater- und Konzeptveranstaltungen. Daneben gibt es die Bereiche Dock18, Fabrikzeitung, Bewegungsraum, Fabrikvideo. Das Restaurant Ziegel oh Lac und der Kunstraum Shedhalle sind eigenständig. Die Rote Fabrik beherbergt 60 Ateliers und sechs Proberäume. Der finanzielle Aufwand beträgt 3,7 Millionen Franken pro Jahr bei Subventionen von 2,4 Millionen Franken.

 CHRISTOPH BÜRGE

 Christoph Bürge (48) war zwischen 1985 und 1987 Mitglied in der Betriebsgruppe, und da im Bereich Musik tätig. Danacharbeitete er als Koch-Stagiaire, Aufnahmeleiter und Regieassistent, bevor er 1992 zum Schweizer Fernsehen kam. Es folgten Aufgaben als TV-Manager bei TV 3 und osteuropäischen Privatfernsehstationen. Heute leitet Bürge eine TV- und New-Media-Produktionsfirma. Für die Fabrik der Zukunft wünscht er sich "ein nach aussen besser wahrnehmbares Profil".

 RICHARD WOLFF

 Richard Wolff (53) war zwischen 1985 und 1987 Mitglied der Betriebsgruppe, wo er den Bereich Konzept aufbaute. Es folgten drei Jahre als Vorstandsmitglied. Der Geograf und Stadtsoziologe ist heute Partner im Inura Zürich Institut für Stadtforschung und Dozent für Stadtentwicklung an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Winterthur. Er ist heute noch Mitglied des Bereichs Konzept und wünscht sich, "dass in der Fabrik die Selbstverwaltung bestehen bleibt".

 Fränzi Keller

 Fränzi Keller (29) hat Geschichte und Gender Studies studiert, bevor sie 2007 Bühnentechnikerin in der Roten Fabrik wurde. Sie ist Mitglied der Betriebsgruppe und wünscht sich, "dass die Fabrik ein ort der Experimente bleibt".

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20 Minuten 16.9.10

Rote Fabrik

 Die Rote Fabrik feiert am Wochenende ihr 30-jähriges Bestehen. Aus diesem Anlass wurden alle Fenster der Fabrik verrammelt. "30 Jahre sind genug" - die Rote Fabrik mache die Luken dicht, heisst es auf der Homepage des Kulturlokals. Allerdings gibt es beim Jubiläumsfestival in der "geschlossenen" Fabrik ein reichhaltiges Programm.

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Limmattaler Zeitung 15.9.10

Happy Birthday, Rote Fabrik

 Zürichs vielfältiges Kulturzentrum mit Wurzeln in der 80er-Revolte feiert 30.Geburtstag

 Mit einem dreitägigen Fest feiert die Rote Fabrik am kommenden Wochenende ihr 30-jähriges Bestehen. Ein Rückblick auf ihre bewegte Geschichte, die erstaunliche Resultate hervorbrachte.

 Matthias Scharrer

 Eigentlich sollte die Fabrik einem Strassenprojekt weichen. Deshalb kaufte die Stadt Zürich Anfang der 1970er-Jahre die frühere Seidenspinnerei am Seeufer im beschaulichen Stadtteil Wollishofen. Dann kam jedoch alles ganz anders. Und aus der Seidenfabrik wurde die Rote Fabrik, die "Mutter aller Kulturzentren", wie sie Zürichs Ex-Kulturchef Jean-Pierre Hoby im Katalog zur Jubiläumsausstellung (siehe Fussnote) nennt.

 "Die tote Fabrik muss leben"

 Doch der Reihe nach. 1973 lancierte die lokale SP eine Initiative für den Erhalt der Fabrik. Statt einer Strasse Platz zu machen, sollte sie zu einem Kulturzentrum werden. Vier Jahre später nahmen die Stadtzürcher Stimmberechtigten die Vorlage an. Der Stadtrat hatte es allerdings nicht eilig mit ihrer Umsetzung. Der damalige Stapi Sigmund Widmer war der Ansicht, Rockmusik sei keine Kultur und brauche auch keinen Platz in städtischen Institutionen.

 Das sah die Zürcher Jugend anders. Räume für ihre Kultur, ihre Musik, waren Mangelware. Am 30.Mai 1980 riss ihr der Geduldsfaden: Es kam zum Opernhauskrawall, der Geburtsstunde der Zürcher "Bewegung". Steine flogen, und die Polizei prügelte auf Demonstranten ein. Sie trugen Plakate mit Parolen wie "Lasst uns die Rote Fabrik" oder "Die tote Fabrik muss leben". "Rock als Revolte" hiess eine Gruppierung, die die "Bewegung" lancierte, indem sie Rockkonzerte veranstaltete - auch in der Roten Fabrik.

 Sandi Paucic, heute Rektor der F+F Schule für Kunst und Mediendesign, beschreibt die damalige Stimmung: "Ich war im Frühling 1980 als Winterthurer Kantischüler zum ersten Mal und vor allem zum Zweck in die Rote Fabrik angereist, um mir jene aus der Nähe anzuschauen, die Zürich zum Brennen gebracht hatten. Ich erinnere mich an einen von Zigaretten- und Marihuanarauch vernebelten Abend in düsterer, noch provisorischer Beleuchtung, jedoch voller aufregender Eindrücke, und mit Musik, die ich im Winterthurer Jugendhaus noch nie gehört hatte, dazu knisternde Vollversammlungs-Stimmung. Ich trug das Gefühl nach Hause, man könne die Welt vielleicht doch verändern."

 Ein neues Kulturverständnis

 Nun, die Welt veränderten Zürichs Jugendunruhen nicht. Dafür halfen sie dem Stadtrat auf die Sprünge, sodass das Kulturzentrum Rote Fabrik 1980 provisorisch eröffnet wurde. Sieben Jahre später stimmten die Stadtzürcher in einer weiteren Abstimmung einem dauerhaften Betrieb zu.

 Corine Mauch, heute Stadtpräsidentin von Zürich, meint rückblickend: "Die damaligen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und die Aufnahme eines Versuchsbetriebs in der Roten Fabrik markieren das Entstehen eines neuen Kulturverständnisses." Sie sieht darin "den Beginn einer Kulturpolitik, die diesen Namen auch verdient".

 Heute könnte man die Rote Fabrik als schon beinahe klassisches Mehrspartenhaus mit den Schwerpunkten Musik, Theater und Kunst bezeichnen. Und würde ihr damit doch nicht gerecht. Zwar leistet sie auf diesen Gebieten seit nunmehr drei Jahrzehnten Grosses: Rockbands wie Nirvana und die Red Hot Chilli Peppers spielten hier, kurz bevor sie Weltstars wurden. Theatergrössen wie Christoph Marthaler und Heiner Goebbels inszenierten im Gemäuer aus roten Ziegeln. Und die Ateliers der Roten Fabrik bilden ein Stück weit das Rückgrat der Zürcher Kunstszene.

 Doch was die Fabrik und ihre Macher speziell macht, ist gerade ihr spartenübergreifendes Kulturverständnis. Geistesgrössen wie Pierre Bourdieu und Noam Chomsky fanden in der früheren Seidenfabrik, die einst einer Strasse weichen sollten, ebenso ihr Publikum wie Rock-Bands und Techno-DJs.

 Jubiläumsfest mit breit gefächertem Programm

 Entsprechend breit gefächert ist das Programm zum Jubiläumsfest, das am kommenden Wochenende von Freitag bis Sonntag in der Roten Fabrik steigt. Es reicht von Konzerten über Theater, Film, Performances und Lesungen bis hin zum Flohmarkt. Happy Birthday, Rote Fabrik!

 Zitate stammen aus dem Ausstellungskatalog "Jubiläumsmappe 30 Jahre Rote Fabrik - aus dem Druckatelier des Künstlervereins". Die Ausstellung von Druckgrafiken, die Künstler in Ateliers der Roten Fabrik zum Jubiläum schufen, läuft noch bis 3.Oktober im Museum Bärengasse in Zürich.

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WoZ 16.9.10

Fest

 Dreissig Jahre Rote Fabrik

 Die Festivitäten zum dreissigjährigen Bestehen des Kulturzentrums Rote Fabrik in Zürich werden - in Analogie zum Alpsegen - mit einem Fabriksegen eröffnet. Hans X. Hagen verkündet ihn über ein Megafon vom zentralen Hochkamin aus. Mehr zu reden gab schon im Vorfeld der Slogan "30 Jahre sind genug!", der aus der Fabrik heraus verbreitet wurde. Er ist nicht ganz ernst zu nehmen, denn ein weiterer lautet: "Achtung Zukunft!"

 Darauf bereiten unter anderen Tim & Puma Mimi vor. Das Zürich-Tokio-Duo pflegt einen kreativen Dialog auf der elektronisch-gesanglichen Ebene. Fabienne Hadorn und Gustavo Nanez lassen den "Zauberer von Oz" als Puppenmusical auferstehen, und die musikalischen Künstler Ian Anüll, Luigi Archetti und Marc Zeier sind mit ihrem mobilen Plattenladen unterwegs. Ganz neu in ihrem Angebot: eine Schallplatte mit frisch montierten akustischen Impressionen von Soundchecks und Konzerten aus der Fabrikgeschichte. Das ist aber längst nicht alles. Für weitere Überraschungen ist gesorgt - und das Jubiläumsprogramm erst noch gratis zu geniessen. ibo

 "30 Jahre sind genug!" in: Zürich Rote Fabrik, Fr, 17., bis So, 19. September. www.rotefabrik.ch

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20 Minuten 16.9.10

Rote Fabrik

 Die Rote Fabrik feiert am Wochenende ihr 30-jähriges Bestehen. Aus diesem Anlass wurden alle Fenster der Fabrik verrammelt. "30 Jahre sind genug" - die Rote Fabrik mache die Luken dicht, heisst es auf der Homepage des Kulturlokals. Allerdings gibt es beim Jubiläumsfestival in der "geschlossenen" Fabrik ein reichhaltiges Programm.

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Zürichsee-Zeitung 16.9.10

Rote Fabrik Zürichs Kulturzentrum mit Wurzeln in der 1980er-Bewegung feiert den 30. Geburtstag

 Erfolgreiche Revolte für die Kultur

 Mit einem dreitägigen Fest feiert die Rote Fabrik am kommenden Wochenende ihr 30-jähriges Bestehen. Ein Rückblick auf ihre bewegte Geschichte, die erstaunliche Resultate hervorbrachte.

 Matthias Scharrer

 Eigentlich sollte die Fabrik einem Strassenprojekt weichen. Deshalb kaufte die Stadt Zürich Anfang der 1970er-Jahre die frühere Seidenspinnerei am Seeufer im beschaulichen Stadtteil Wollishofen. Dann kam jedoch alles ganz anders. Und aus der Seidenfabrik wurde die Rote Fabrik, die "Mutter aller Kulturzentren", wie sie Zürichs Ex-Kulturchef Jean-Pierre Hoby im Katalog zur Jubiläumsausstellung nennt.

 Doch der Reihe nach. 1973 lancierte die lokale SP eine Initiative für den Erhalt der Fabrik. Statt einer Strasse Platz zu machen, sollte sie zu einem Kulturzentrum werden. Vier Jahre später nahmen die Stadtzürcher Stimmberechtigten die Vorlage an. Der Stadtrat hatte es allerdings nicht eilig mit ihrer Umsetzung. Der damalige Stapi Sigmund Widmer war der Ansicht, Rockmusik sei keine Kultur und brauche auch keinen Platz in städtischen Institutionen.

 "Die Tote Fabrik muss leben"

 Das sah die Zürcher Jugend anders. Räume für ihre Kultur, ihre Musik waren Mangelware. Am 30. Mai 1980 riss ihr der Geduldsfaden: Es kam zum Opernhauskrawall, der Geburtsstunde der Zürcher "Bewegung". Steine flogen, und die Polizei prügelte auf Demonstranten ein. Sie trugen Plakate mit Parolen wie "Lasst uns die Rote Fabrik" oder "Die Tote Fabrik muss leben". "Rock als Revolte" hiess eine Gruppierung, die die "Bewegung" lancierte, indem sie Rockkonzerte veranstaltete - auch in der Roten Fabrik.

 Ein neues Kulturverständnis

 Sandi Paucic, heute Rektor der F+F Schule für Kunst und Mediendesign, beschreibt die damalige Stimmung: "Ich war im Frühling 1980 als Winterthurer Kanti-Schüler zum ersten Mal und vor allem zum Zweck in die Rote Fabrik angereist, um mir jene aus der Nähe anzuschauen, die Zürich zum Brennen gebracht hatten. Ich erinnere mich an einen von Zigaretten- und Marihuanarauch vernebelten Abend in düsterer, noch provisorischer Beleuchtung, jedoch voller aufregender Eindrücke und mit Musik, die ich im Winterthurer Jugendhaus noch nie gehört hatte, dazu knisternde Vollversammlungs-Stimmung. Ich trug das Gefühl nach Hause, man könne die Welt vielleicht doch verändern."

 Nun, die Welt veränderten Zürichs Jugendunruhen nicht. Dafür halfen sie dem Stadtrat auf die Sprünge, sodass das Kulturzentrum Rote Fabrik 1980 provisorisch eröffnet wurde. Sieben Jahre später stimmten die Stadtzürcher in einer weiteren Abstimmung einem dauerhaften Betrieb zu.

 Corine Mauch, heute Stadtpräsidentin von Zürich, meint rückblickend: "Die damaligen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und die Aufnahme eines Versuchsbetriebs in der Roten Fabrik markieren das Entstehen eines neuen Kulturverständnisses." Sie sieht darin "den Beginn einer Kulturpolitik, die diesen Namen auch verdient".

 Heute könnte man die Rote Fabrik als schon beinahe klassisches Mehrspartenhaus mit den Schwerpunkten Musik, Theater und Kunst bezeichnen. Und würde ihr damit doch nicht gerecht. Zwar leistet sie auf diesen Gebieten seit nunmehr drei Jahrzehnten Grosses: Rockbands wie Nirvana und die Red Hot Chilli Peppers spielten hier, kurz bevor sie Weltstars wurden. Theatergrössen wie Christoph Marthaler und Heiner Goebbels inszenierten im Gemäuer aus roten Ziegeln. Und die Ateliers der Roten Fabrik bilden ein Stück weit das Rückgrat der Zürcher Kunstszene. Doch was die Fabrik und ihre Macher speziell macht, ist gerade ihr spartenübergreifendes Kulturverständnis. Geistesgrössen wie Pierre Bourdieu und Noam Chomsky fanden in der früheren Seidenfabrik, die einst einer Strasse weichen sollte, ebenso ihr Publikum wie Rockbands und Techno-DJs.

 Breit gefächertes Programm

 Entsprechend breit gefächert ist das Programm zum Jubiläumsfest, das am kommenden Wochenende von Freitag bis Sonntag in der Roten Fabrik steigt. Es reicht von Konzerten über Theater, Film, Performances und Lesungen bis hin zum Flohmarkt. Happy Birthday, Rote Fabrik!

 Die Zitate stammen aus dem Ausstellungskatalog "Jubiläumsmappe 30 Jahre Rote Fabrik".

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BOLLWERK
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Bund 15.9.10

Cinemastar

 Aus dem ehemaligen Kino wird kein Kulturlokal

 Aus dem ehemaligen Kino Cinemastar am Bollwerk, das Ende Mai seine Türen geschlossen hat, wird kein Kulturlokal. Dies hat die Gruppe Kulturwerk gestern Abend auf Facebook vermeldet. Die Eigentümer wollten kein Kulturlokal, liessen sie verlauten. Unter dem Namen Kulturwerk haben sich junge Berner zusammengeschlossen, welche das ehemalige Quinnie-Kino und die dazugehörige, beliebte Bar als Kulturlokal erhalten wollten. Aus dem Kinosaal hätte ein Konzertraum werden sollen. (jäg)

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BZ 15.9.10

Bollwerk

 Neuer Stern am Berner Clubhimmel

 Le Ciel öffnet am Bollwerk Ende Oktober die Pforten. Clubbetreiber Jan Kamarys will internationale Acts nach Bern bringen.

 "Adore" und "All Eyes on me" gehören der Vergangenheit an, Le Ciel verheisst die Zukunft. Jan Kamarys, der bisher im Du Théâtre Partys organisierte, eröffnet Ende Oktober am Bollwerk 31 seinen eigenen Club. Er hat vor, die Szene mit internationalen Acts für Erwachsene aufzumischen:   "Ich will die Stadt wecken und Stars nach Bern bringen." Zugang hat, wer 21-jährig oder älter ist. Denn für diese Klientel gebe es zu wenig.

 Er muss es wissen. Fünf Jahre lang veranstaltete der 27-jährige Kamarys an der Seite von Remo Neuhaus Partys und half mit, den Ruf des heutigen "Düdü" aufzubauen. Als Booker hat er Tamer Atar alias DJ Cut Supreme verpflichtet, der an Partys im Liquid auflegt. Musikalisch setzt Kamarys auf Vielfalt: House, Rock, R 'n' B werde auf dem Programm stehen.

 Die Baubewilligung des Regierungsstatthalteramts Bern-Mittelland für die Lounge-Bar liegt seit Anfang dieser Woche vor, wie Kamarys und das Statthalteramt bestätigen. Der Club werde jeweils donnerstags, freitags und samstags ab 22.30 bis 3.30 Uhr geöffnet sein, ergänzt Kamarys. Das zweistöckige Lokal fasst rund 200 Personen. "Klein, aber fein" soll Le Ciel sein.

 Kamarys legt in der ehemaligen Bar Bermuda selber Hand an. Der Umbau gibt noch einiges zu tun. Bei vielen Geschäftsbetreibern geniesst das Bollwerk nicht den besten Ruf. Für Kamarys, der in Seedorf noch einen Fashion Market betreibt, ist der Standort geradezu ideal: "Parkplätze gibts gleich nebenan, der Bahnhof ist nah und die Ausgehmeile Aarbergergasse ebenfalls."
 cab

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ZAFFARAYA
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BZ 15.9.10

Zaffaraya

 Anzeige wäre möglich

 Die ausgelassene Party in der alternativen Wohnsiedlung Zaffaraya vom 31. Juli könnte ein Nachspiel haben. In der Fragestunde des Grossen Rates sagte der kantonale Polizeidirektor Hans-Jürg Käser, die Stadt könnte gegen die Verantwortlichen Anzeige erstatten. Vonseiten des Kantons sei dies nicht gemacht worden.

 Zahlreiche Bewohner aus Bremgarten und Herrenschwanden hatten sich über den Lärm beschwert, der vom Zaffaraya-Fest bis in die frühen Morgenstunden zu hören gewesen war. Das Fest mittels grossen Polizeieinsatzes zu beenden, wäre aber unverhältnismässig gewesen, beantwortete Käser eine entsprechende Anfrage von SVP-Grossrat Thomas Fuchs.
 mm

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RABE-INFO
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Fr. 17. September 2010
http://www.rabe.ch/uploads/tx_mcpodcast/RaBe-_Info_17._September_2010.mp3
http://www.rabe.ch/nc/webplayer.html?song_url=uploads/tx_mcpodcast/RaBe-_Info_17._September_2010.mp3&song_title=RaBe-%20Info%2017.%20September%202010
- Die Schweiz in der Pflicht: NGOs fordern mehr Effort zum erreichen der Milleniumsziele
- Entwicklungshilfe auf Japanisch: mit falschen Versprechen Migranten anlocken
- Begleitschutz in Bern: WuShi Kämpfer am Bahnhof

Links:
http://www.alliancesud.ch/de/ep/eza/millenniumsziele-auf-zum-schlusspurt
http://www.tai-chi.ch/deutsch/d_home.html

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Do. 16. September 2010
http://www.rabe.ch/uploads/tx_mcpodcast/RaBe-_Info_16._September_2010.mp3
http://www.rabe.ch/nc/webplayer.html?song_url=uploads/tx_mcpodcast/RaBe-_Info_16._September_2010.mp3&song_title=###TITLE###
- Wegweisendes Bundesgerichtsurteil: Transgender Menschen müssen nicht mehr zwingend 2 Jahre in Beratung, bevor Krankenkasse geschlechtsangleichende Operation übernimmt
- Analyse zur Ausschaffungsinitiative: Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländer befürchtet Gesetzesverschärfung- auch beim Gegenvorschlag
- WOZ in neuem Kleid: Überarbeitetes Layout, neue Blattdramaturgie, mehr Raum für Bilder und Synergien

Links:
http://www.transgender-network.ch
http://www.beobachtungsstelle.ch/fileadmin/user_upload/pdf_divers/Berichte/Analyse%20Initiative_def.pdf
http://www.woz.ch

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Mi. 15. September 2010
http://www.rabe.ch/uploads/tx_mcpodcast/RaBe-_Info_15._September_2010.mp3
http://www.rabe.ch/nc/webplayer.html?song_url=uploads/tx_mcpodcast/RaBe-_Info_15._September_2010.mp3&song_title=RaBe-%20Info%2015.%20September%202010
- Boykott von Andersdenkenden - SVP-Politiker will Geschäfte strafen, die nicht seine Meinung teilen
- Jeder Mensch ist ein Künstler - Soziale Plastik (Teil 2)
- Sponsorenlauf der anderen Art - Velokuriere radeln für Afrika nach Paris

Links:
http://www.soziale-plastik.ch
http://www.baselparissuperschnell.ch
http://www.velosfuerafrika.ch

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KINOLEBEN BE
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WoZ 16.9.10

Kino Lichtspiel

 Noch surren die Projektoren

 Einst wurden hier Kakaobohnen geröstet. Seit zehn Jahren stapelt sich im alten Fabrikgebäude in Bern Ausserholligen Material aus der hundertjährigen Kinogeschichte. Doch die Zukunft des Kinos Lichtspiel und seiner Filmsammlung ist ungewiss. Von Silvia Süess (Text) und Ursula Häne (Foto)

 "Herzlich willkommen zum ‹Lichtspiel›-Sonntag Nummer 525." David Landolf steht vor der Leinwand und begrüsst die Gäste   - wie jeden Sonntagabend seit zehn Jahren im Kino Lichtspiel. Das Publikum sitzt in orangen Kinosesseln, inmitten eines grossen Lagerraums, umgeben von Projektoren, Filmrollen, Kameras und anderen Filmutensilien aus über hundert Jahren Kinogeschichte. Noch wissen die anwesenden Cinéphilen nicht, was ihnen heute geboten wird: Der Sonntagabend im "Lichtspiel" ist eine Wundertüte - aus dem hauseigenen Archiv zeigt Landolf Musikclips, Wochenschauen, Trailer und Kurzfilme. Nach einer kurzen Einführung ins Programm des Abends geht Landolf nach hinten im Saal, das Licht geht aus, der Projektor an, und sein leises Surren füllt den Raum.

 Das Kino Lichtspiel in Bern ist einzigartig in der Schweiz. Untergebracht ist es in den ehemaligen Lagerhallen der Schokoladenfabrik Tobler in Bern Ausserholligen. Die Fabrik wurde in den zwanziger Jahren gebaut und liegt heute zwischen Bremgartenfriedhof, Güterbahnhof und der städtischen Kehrichtverbrennungsanlage. Hier wurden bis in die fünfziger Jahre Kakaobohnen gelagert, später auch geröstet - bis das Unternehmen in den achtziger Jahren nach Bern Brünnen zog und dann die Stadt Bern die Liegenschaft übernahm.

 Noch heute sticht beim Eintreten der Duft von geröstetem Kakao in die Nase, dabei befindet sich hier auf tausend Quadratmetern inzwischen eine beträchtliche Menge an Material aus der hundertjährigen Kinogeschichte. Projektoren sind in Reih und Glied aufgestellt, Filmplakate zieren die Wände, auf Gestellen stapeln sich Filmrollen - und im hinteren von zwei Räumen hat sich das Kino eingenistet.

 Kurz vor der Räumung gerettet

 Tagsüber sind die roten Vorhänge zurückgezogen, und die Fensterfront mit Blick auf die Bahngeleise lässt die Sonne ins Haus. David Landolf steht hinter einer Bar und schaut sich um. Als er diese Sammlung übernahm, sah es noch ganz anders aus. Hier hatte der Kinotechniker und Sammler Walter A. Ritschard sein Reich aufgebaut. Ritschard hatte jahrzehntelang Filmvorführungen organisiert und Landkinos technisch betreut. 1980 zog der Filmbesessene mit seinem Material in die Fabrikhallen ein. Als er 1998 starb, hatte er über 10 000 Objekte gesammelt.

 "Ich hatte Ritschard durch meine Arbeit als Operateur im Kino Kunstmuseum kennengelernt und war fasziniert von ihm", sagt Landolf. Der studierte Elektroingenieur ist seit seiner Jugend ein grosser Filmlieb haber. "Als Ritschard starb, waren die Erben überfordert mit dem Material. Sie wollten verkaufen, aber es hat sich niemand dafür interessiert." Da Ritschard seit längerem die Miete nicht mehr bezahlt hatte, drohte die Räumung, womit das ganze kulturelle Erbe versteigert oder entsorgt worden wäre - für Landolf eine Horrorvorstellung. Er nahm mit den Erben und der Stadt Kontakt auf, unterbreitete ihnen seine Pläne und rettete wenige Tage vor dem Räumungstermin die Sammlung: Landolf beglich die Mietschulden und erhielt die Nutzungsrechte für den Ritschard-Bestand.

 Darauf begann die Knochenarbeit: "Gemeinsam mit Freunden räumten wir drei Monate lang nur auf", sagt Landolf. "Unser Ziel war es, möglichst schnell ein Kino einzurichten. Das Material war ja da, und wir wollten die Öffentlichkeit am Ort und an der Sammlung teilhaben lassen."

 Im August 2000 war es so weit: Der erste "Lichtspiel"-Sonntag fand statt. Zu sehen war eine kleine Auswahl von jenen Filmen aus Ritschards Archiv, die das Team um Landolf bereits visioniert hatte. Die Filmvorführungen am Sonntagabend etablierten sich schnell: "Die Idee dieses Abends besteht unter anderem darin, dass wir aus unserem einzigartigen Bestand schöpfen." Seit Landolfs Team das "Lichtspiel" betreibt, ist der Bestand auf über 14 000 Filmrollen angewachsen. Firmen und Filmverleiher, aber auch Privatpersonen übergeben dem "Lichtspiel" Filmrollen. Das Material wird vor Ort visioniert, in einer öffentlich zugänglichen Datenbank erfasst und in einem Kühlraum gelagert.

 Es gibt viel zu tun im "Lichtspiel", und so surrt der Projektor nicht nur am Abend. Auch tagsüber ist hier Hochbetrieb: An einem Projektor sitzt ein Zivildienstler und visioniert Filme, am Computer arbeitet eine der wenigen Festangestellten, nimmt Telefone entgegen und kümmert sich um die Filmprogrammation, einmal pro Woche reparieren in der Werkstatt vier Pensionierte Filmprojektoren. Zwischendurch betritt ein Mann das "Lichtspiel", der alte Super-8-Filme auf DVD überspielt haben möchte.

 "Wir sind eine Schnittstelle für alles, was mit Filmproduktion zu tun hat, und wir haben das Bestreben, alles sicht- und erlebbar zu machen - den Film selbst wie auch die Technik", erklärt Landolf.

 Oswalt Kolle persönlich

 Diese Ambition hat ihren Preis. "Es steckt viel Fronarbeit im ‹Lichtspiel›", so Landolf. Die Stadt Bern unterstützt die Institution jährlich mit 30 000 Franken. Ungefähr so viel beträgt auch die Miete, die an die Stadt bezahlt wird, was das Ganze zu einem Nullsummenspiel macht. Ausserdem finanziert sich das "Lichtspiel" über die Kollekten und die Bareinnahmen der öffentlichen Veranstaltungen, über die Vermietung des Raums für Privatanlässe und über Mitgliederbeiträge - seit Herbst 2000 ist das "Lichtspiel" ein Verein.

 Trotz der Unterfinanzierung hat Landolf in den zehn Jahren seine Leidenschaft für das Projekt nicht verloren. Positive Reaktionen und schöne Erinnerungen an spezielle Anlässe spornen ihn immer wieder zum Weiter machen an. Unvergesslich sei zum Beispiel das Programm mit den Oswalt-Kolle-Filmen im Jahr 2001 gewesen. "Wir hatten Trailer von Kolles Aufklärungsfilmen aus den sechziger und siebziger Jahren in unserer Sammlung und kamen so auf die Idee, eine Filmreihe zu organisieren", so Landolf. Die Reihe wurde ein Riesenerfolg, das "Lichtspiel" von ZuschauerInnen überrannt - an einem Abend war Oswalt Kolle sogar persönlich im "Lichtspiel" anwesend.

 Mittlerweile hat das Kino Lichtspiel ein vielfältiges Filmprogramm, zeigt Filme zur Filmgeschichte, programmiert in Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Institutionen thematische Filmreihen und veranstaltet Volkshochschulkurse. Das Angebot ist variabel - fix ist einzig der Sonntagabend.

 Doch auch dieser hat ein Ende. Nach zwei vierzigminütigen Filmblöcken verstummt der Projektor, das Licht geht an, die ZuschauerInnen räkeln sich in den Sesseln. An der Bar trifft man sich noch, plaudert über den einen oder anderen Kurzfilm, bevor man sich auf den Heimweg macht.

 Vor dem Ausgang steht ein oranger säulenartiger Apparat mit Guckloch und der Aufschrift: "Dieser Kinoautomat zeigt Ihnen fremde Schicksale, ferne Länder, Mensch und Tier, Tagesneuigkeiten etc., die mit sprühender Lebendigkeit an Ihrem Auge vor überziehen. Ein Wurf 20 Cts." Genau das bietet auch das "Lichtspiel" jeden Sonntag. Wir kommen wieder.

 Jeden Sonntag: Filme aus dem Archiv (Bar ab 19 Uhr, Filme ab 20 Uhr). Sa, 18. September, ab 14 Uhr: Fantoche - Best of for Kids. So, 19. September, 20 Uhr: Lichtspiel-Sonntag Nr. 526.

http://www.lichtspiel.ch

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 "Lichtspiel", wie weiter?

 Die Zukunft des "Lichtspiels" ist ungewiss: Im Jahr 2012 wird die benachbarte Kehrichtverbrennungsanlage geschlossen, und das 22 000 Quadratmeter grosse Fabrikareal, in dem sich das "Lichtspiel" befindet, wird neu gestaltet.

 Die Stadt möchte achtzig Prozent des Areals für Wohnungen nutzen. Voraussichtlich im Frühling 2011 stimmt das Stadtberner Stimmvolk über eine Umzonung der Industrie- in eine Wohnzone ab, danach soll ein Architekturwettbewerb ausgeschrieben werden.

 Ob die Liegenschaft, in der das "Lichtspiel" untergebracht ist, stehen bleibt oder einem Neubau weichen muss, ist noch unklar. Für das "Lichtspiel" gibt es drei Zukunftsvarianten: Es kann im sanierten Gebäude bleiben, es wird im Neubau unterkommen - oder es muss ein neuer Standort gefunden werden.

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BIG BROTHER VIDEO
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BZ 17.9.10

Ein Ja zu Kameras

 Ein weiterer Schritt zu Big Brother: Die vorberatende Kommission beantragt dem Stadtrat die Annahme des Videoreglements.

 Das im vergangenen Juli verabschiedete städtische Videoreglement gibt dem Berner Gemeinderat das Recht, Überwachungskameras im öffentlichen Raum zu installieren. Noch fehlt der Segen des Stadtrates, damit das Reglement in Kraft tritt. Doch eine erste Hürde hat das von Reto Nauses (CVP) Sicherheitsdirektion verfasste Papier bereits genommen: Die vorberatende Kommission für Finanzen, Sicherheit und Umwelt (FSU) empfiehlt das Reglement zur Annahme. Der Entscheid des Parlaments soll am 21. Oktober fallen.

 Allerdings koppelt die FSU Forderungen an die Zustimmung. Sie verlangt vom Gemeinderat einen ersten Evaluationsbericht nach bereits drei Jahren. Falls die Wirksamkeit der Kameras nicht nachgewiesen wird, sollen diese entfernt werden. Eine Minderheit der Kommission beantragt, dass das Parlament über die Überwachungsstandorte entscheidet. Zudem soll eine Echtzeitüberwachung nur bei Massenveranstaltungen möglich sein.
 tob

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20 Minuten 17.9.10

Kommission sagt Ja zu Kameras

 BERN. Die zuständige Kommission des Stadtrats empfiehlt dem Berner Parlament, das geplante Reglement zur Videoüberwachung anzunehmen. Gleichzeitig beantragt sie jedoch einige Änderungen am Reglementstext. So verlangen etwa einzelne Mitglieder, dass nicht einfach der Gemeinderat entscheiden dürfen soll, wo die Videoanlagen aufgestellt werden, sondern die Parlamentarier. Vorgesehen im Reglement ist ein Mitspracherecht des Stadtrats erst ab Kosten von 300 000 Franken. Im Text müsse ausserdem stehen, dass Live-Überwachungen nur bei Massenveranstaltungen möglich sind.

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Telebärn 16.9.10

Streitpunkt Videoüberwachung
http://www.kyte.tv/ch/telebaern/streitpunkt-videouberwachung/c=84713&s=1025399

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DEMORECHT BURGDORF
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BZ 15.9.10

Burgdorf

 Ein Handbuch für die Sicherheit in der Stadt

 Zum ersten Mal in der Geschichte der Stadt soll Burgdorf ein Polizeireglement erhalten. Bald liegt es vor dem Stadtrat.

 Die Verantwortlichen der Stadt Burgdorf standen vor einem Dilemma: Am 8. März 2009 hatte die Partei National Orientierter Schweizer (Pnos) zu einer grossen Demonstration in die Emmestadt geladen. Welche Spielregeln bei einem solchen Anlass gelten und wie dabei Recht und Ordnung durchzusetzen sind - die Linke hatte massiven Widerstand gegen das Treffen angekündigt -, wusste in Burgdorf kein Mensch. "Uns fehlt ein Polizeireglement", klagten die zuständigen Stellen. Dieser Mangel soll behoben werden. Der Gemeinderat legt dem Parlament am 20. September ein Polizeireglement zur Genehmigung vor.

 "Mehr Transparenz"

 Falls der Stadtrat Ja zu der Vorlage sagt, könne der Gemeinderat "die Transparenz darüber erhöhen, was in der Stadt unter ‹Sicherheit und Ordnung› zu verstehen ist", schreibt die Stadtregierung in ihrer Botschaft. Es würde, zum Beispiel, Klarheit herrschen im Umgang mit "Personengruppen, die in aller Öffentlichkeit übermässig Alkohol oder Drogen konsumieren", Fahrenden, die öffentliche Parkflächen ohne Bewilligung als Standflächen zweckentfremden, oder Jugendliche, die an öffentlichen Veranstaltungen dem Kampftrinken frönen.

 In all diesen Fällen kann die Stadt auch ohne Reglement eingreifen. Mit dem 20 Seiten starken Dokument würden die Massstäbe zum Handeln aber "demokratisch besser abgestützt". Allen Beteiligten sei zum Vornherein klar, wie sich die Stadt in welchem Fall verhalten werde.

 Kein "neues Recht"

 Das Reglement sei auch dazu da, "Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden" und "die Verhältnismässigkeit des ortspolizeilichen Handelns zu wahren", teilt die Stadt mit. Darum, "neues Recht" zu schaffen, gehe es nicht. Der Gemeinderat glaubt, dass das Regelwerk Zuständigkeitsfragen zwischen dem städtischen Ordnungsdienst und der Kantonspolizei klärt. Seit die Stadtpolizei in die Kapo integriert wurde, hat der Ordnungsdienst keine polizeilichen Kompetenzen mehr. Wofür und wie er nun eingesetzt werden kann: Auch diese Frage soll das Reglement beantworten.
 jho

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SECURITAS
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BZ 15.9.10

Berner Wirtschaftstage: Securitas AG

 Sicherheit dank schönen Uniformen

 Das Berner Bewachungsunternehmen Securitas ist schweizweit die Nummer eins. Am Wochenende öffnet es seine Türen.

 Stolz posieren die Berner Mitarbeiter der Schweizerischen Bewachungsgesellschaft im Gründungsjahr 1907 mit dem damaligen Direktor: Damals wählte Securitas Uniformen aus, die denjenigen von Polizei und Armee sehr nahekamen. Die Anzüge waren wie heute blau, und auf der Brust prangte eine Pfeifenschnur, am Gurt hing ein Bajonett. Im Gründungsjahr zählte die Firma 70 Mitarbeiter, die pro Monat zwei freie Nächte zugut hatten.

 Das rasche Wachstum

 Bereits in den Anfangsjahren war das Wachstum unter der Führung von Verwaltungsratspräsident Jakob Spreng stark: Ein erster Meilenstein war der Auftrag der SBB, die das Unternehmen mit nächtlichen Bewachungsaufgaben betrauten. Im Jahr 1914 erhielt das Unternehmen den Auftrag, die Landesausstellung in Bern zu bewachen.

 Das Unternehmen machte sich auch den technischen Fortschritt zunutze und gründete 1948 die auf Alarmanlagen spezialisierte Tochterfirma Securiton. Heute ist Securitas immer noch in den gleichen Geschäftsfeldern tätig, die Zentrale des Unternehmens befindet sich indes seit 1967 in Zollikofen. Mittlerweile ist Securitas zu einem Konzern geworden, der rund 6200 Mitarbeitende beschäftigt - viele von ihnen in Teilzeit. Im vergangenen Jahr erzielte das Unternehmen einen Umsatz von 372 Millionen Franken. Geführt wird die Securitas-Gruppe von Hans Winzenried. Verwaltungsratspräsident ist Samuel Spreng, ein Grosssohn des Firmengründers.

 An den Berner Wirtschaftstagen am kommenden Wochenende können die Besucher die Einsatzzentrale von Securitas in Bern besichtigen.
 sny

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 Die Berner Wirtschaftstage finden am 17. und 18. September im Rahmen des 150-Jahr-Jubiläums des Handels- und Industrievereins des Kantons Bern statt. Die Firmen, ihre Besuchsangebote und das Anmeldeformular sind unter www.bernerwirtschaftstage.ch abrufbar. Diese Zeitung stellt im Vorfeld ausgewählte Firmen vor, die ihre Türen öffnen.

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PNOS
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Tacheles 17.9.10

PNOS

 Sprachrohr der rechten Szene

HANS STUTZ

 Am ersten Samstag im September feierte die Partei national orientierter Schweizer (PNOS) in Biel ihr zehnjähriges Bestehen. Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg kann sich in der Schweiz eine rechtsextreme Kleinpartei längere Zeit halten.

 Rund 250 Personen füllten am 4. September den Saal eines Bieler Restaurants. Sie hörten neben zwei Liedermachern — beide aus Deutschland - auch zwei Rednern zu, so auch Pascal Trost. Der Aargauer, einst Mitglied der Freiheitspartei, dann der SVP, nun seit drei Jahren PNOS-Mitglied, beklagte sich — gemäss des Berichts des exklusiv zugelassenen Journalisten eines von einem Luzerner JSVP-Exponenten gegründeten Infoportals —‚ dass er wegen seiner Kritik am Schächten von "einflussreichen Kreisen als Antisemit" gebrandmarkt worden sei, Erhellend der Kom~mentar eines deutschen Kongressbesuchers, wonach "in unserer nationalsozialistischen Ideologie andere Lebewesen eine wichtige Rolle" spielen würden.

 Seit Jahren allerdings versucht die PNOS sich von ihrem Nazi-Image zu befreien, allerdings ohne nachhaltigen Erfolg. Noch im Januar 2009 wurden mehrere Mitglieder des PNOS-Bundesvorstands wegen Rassendiskiminierung verurteilt, dies wegen des Parteiprogramms. Viele PNOS-Exponenten sind denn auch bereits einschlägig vorbestraft, auch wegen Angriffen auf missliebige Menschen. Die Partei wurde im September 2000 von mehreren Exponenten der sogenannten "Blood and Honour"-Skinheads gegründet und ist seit 2004 im Gemeindeparlament von Langenthal vertreten. Sie ist heute das politische Sprachrohr der an sich marginalen Rechtsextremistenszene der Deutschschweiz. Ende 2009 behauptete sie auf ihrer Homepage, sie hätte "mittlerweile über 300 Mitglieder für die nationale Sache gewinnen können". Diese Angabe lässt sich nicht überprüfen. Klar ist aber: Sie hat heute Sektionen in den Kantonen Bern, Basel, Schwyz und Luzern, dazu noch "Infoportale" im Aargau und im Kanton Zürich.

 Die Partei strebt einen "eidgenössischen Sozialismus" an und betont die sozialen Unterschiede in der Schweizer Geselischaft, Sie kritisiert den Kapitalismus und gibt darauf nationalistische, teils rassistische Antworten. In ihrem Parteiprogramm fordert sie das Verbot von "geheimen Logen und Bünden" — bei den Frontisten der dreissiger Jahre hiess dies Freimaurereiverbot. Sie verlangt die "Abschaffung aller Parteien", die Einsetzung eines "Staatsoberhauptes", dessen Stellung "gegenüber dem Bundesrat und dem Parlament gestärkt" werden müsse. Auch soll die Regierung vom Volk auf unbestimmte Zeit gewählt werden. Die PNOS schreibt von "Volksgemeinschaft" und "biologisch gewachsenem Volk", was die Schweiz allerdings nicht sei. Sie sieht die Schweiz als "kulturelle und völkische Einheit" und fordert eine "Fremdenpolitik nach ethnopluralistischen Grundsätzen".

 Das bedeutet unter anderem, dass "kulturfremde Ausländer" das Bürgerrecht (und damit die politischen Rechte) nur "in Ausnahmefällen" erhalten könnten. Sie kritisiert die Menschenrechte als "universalistisch" und als "Ausdruck eines widernatürlichen Menschheitsbegriffs", da sie "die Existenz von Völkern und Kulturen" negieren würden. Im Klartext: Ansichten, wie sie auch andere rechtsextreme Parteien Europas verbreiten, die PNOS pflegt denn auch regelmässige Kontakte mit anderen Parteien wie der deutschen NPD.

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SEMPACH
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Wilisauer Bote 17.9.10

Verzicht auf Marsch bleibt umstritten

 Schlachtfeier Sempach | Kantonsrat befasst sich erneut mit der Neugestaltung

 Der Kantonsrat möchte, dass an der Schlachtfeier von Sempach weiterhin ein Festzug auf das Schlachtfeld stattfindet, allerdings nicht zu jedem Preis.

 Das Kantonsparlament hat am Dienstag ein Postulat von Marcel Omlin (SVP Rothenburg) zur Sempacher Schlachtfeier teilweise überwiesen. Grundsätzlich stellte sich bis auf die SVP das Parlament hinter die von der Regierung angestossene Neukonzeption der Feier. Die Kantonsregierung möchte auf den Marsch verzichten, weil dieser nur noch unter grossen Sicherheitsvorkehrungen durchgeführt werden konnte. Stattdessen sollen der Dialog und die Begegnung ins Zentrum der Feier gestellt werden.

 Der Kantonsrat beauftragte nun aber die Regierung, eine Integration des Marsches in die neue Feier zu prüfen, äusserte aber gleichzeitig Verständnis für die damit verbundenen Schwierigkeiten. Heidi Frey-Neuenschwander (CVP, Sempach) könnte sich deshalb eine neue Art Umzug vorstellen, etwa in Form eines Sternmarschs.

 Postulant Marcel Omlin hatte dem Regierungsrat vorgeworfen, er trage die alte Feier zu Grabe und plane einen "Judihui"- und "Gschpörsch-mi"-Anlass. In dem vorgestellten Grobkonzept habe die Tradition offenbar keinen Platz mehr. Die Geschichte müsse aber nicht neu geschrieben werden.

 In den letzten Jahren waren an der Schlachtfeier Rechtsextreme aufmarschiert, was linke Gegendemonstrationen provozierte. Der Missbrauch dieses Ereignisses durch extreme Gruppierungen bedingte im Jahre 2009 einen 300 000 Franken teuren Polizeieinsatz. Dieses Jahr wurde deshalb statt einer Feier lediglich ein Gedenkgottesdienst durchgeführt.sda/-art.

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STATISTIK & RASSISMUS
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WoZ 16.9.10

Und ausserdem

 Der Afrikaner an und für sich

 Von Dinu Gautier

 Sie, Katia Murmann, sind Redaktorin des "Sonntags" und haben eine Rangliste unter dem Titel "Afrikaner sind die kriminellsten Ausländer" veröffentlicht. Sie schlüsseln nach Nationalität auf, wen die Polizei beschuldigt, gegen das Strafgesetzbuch verstossen zu haben. Berücksichtigt werden 18- bis 34-jährige Männer. Der Lead Ihres Artikels lautet: "Neue Statistik zeigt: Bürger von Angola, Nigeria und Algerien begehen hierzulande bis zu sechsmal mehr Verbrechen als Schweizer." Erst im Text erfährt man, dass es um relative Zahlen geht. Die absoluten Zahlen sind weit weniger schlagzeilenträchtig: Insgesamt 190 Tatverdächtigen aus den drei Ländern stehen 11 777 aus der Schweiz gegenüber.

 "Nur wenn alle Fakten auf den Tisch kommen, kann nach Lösungen gesucht werden", kommentieren Sie. Mal abgesehen davon, dass Sie keine Anhaltspunkte für Problemursachen liefern (und die zu kennen, wäre ja die Voraussetzung für eine Lösungsfindung), ist das so eine Sache, welche Fakten man wie auf Tische legt. So unterschlagen Sie, dass es sich hier um eine reine Verdachtsstatistik handelt, die die Polizei "nach eigenem Ermessen" führt, die also lediglich beweist, wen die Polizei für Täter hält. Des Weiteren schreiben Sie wiederholt von durch Ausländer begangene "Verbrechen". Verbrechen sind laut Gesetz "Taten, die mit Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren bedroht sind". Ihre Tabelle listet aber alle Widerhandlungen gegen das Strafgesetzbuch auf. Ähnlich suggestiv die Beispiele, die Sie kommentierend für das "Problem mit kriminellen Afrikanern" heranziehen: Raub, Körperverletzung und Vergewaltigung. Tatsächlich aber machen allein die Diebstähle in der Kriminalstatistik das Siebzehnfache der von Ihnen erwähnten drei Beispiele aus.

 Ist es Ihnen, Frau Murmann, ob solch vielfältiger Zuspitzungs- und Suggestionsmöglichkeiten im Umgang mit Zahlen möglicherweise selber etwas ungemütlich geworden? "Auf keinen Fall darf die Veröffentlichung der Statistik dazu führen, dass alle Afrikaner hierzulande unter Generalverdacht stehen und ihnen mit Misstrauen begegnet wird", raten Sie Ihren LeserInnen zum Schluss.

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DROGEN
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NZZ 17.9.10

Noch ein Weiterzug gegen die Anlaufstelle

 Endlose Geschichte in Winterthur

 flo. · Im Kampf gegen den Volksentscheid zur Verlegung der Winterthurer Anlaufstelle für Randständige an die Zeughausstrasse lassen Exponenten des Quartiervereins Wildbach-Langgasse kein Rechtsmittel aus. Sie ziehen eine Beschwerde gegen die Gestaltung der städtischen Abstimmungszeitung vom letzten November ans Bundesgericht weiter, wie dem "Landboten" vom Donnerstag zu entnehmen ist. In dieser Sache haben sie bereits beim Bezirksrat und anschliessend beim Verwaltungsgericht verloren. Parallel dazu sind die Gegner des Anlaufstellen-Umzugs noch in ein weiteres Rechtsverfahren involviert. Nachdem sie mit einer Einsprache gegen die Baubewilligung bei der Baurekurskommission gescheitert waren, zogen sie deren Entscheid vor wenigen Tagen ans Verwaltungsgericht weiter.

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Zürichsee-Zeitung 17.9.10

Anwohner vor Bundesgericht

 Winterthur. Die Stadt Winterthur wird ihre Drogen-Anlaufstelle wohl so bald nicht an den neuen Standort verlegen können: Anwohner wollen vor Bundesgericht die Abstimmung vom November 2009 für ungültig erklären lassen. Deren Ansicht nach waren die Abstimmungsunterlagen irreführend und fehlerhaft.

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Freiburger Nachrichten 16.9.10

"Habe Sehnsucht, an der Gefahr zu lecken"

 Michelle Nahlik war ein Teenager, dem alles gelang: Sie schrieb gute Noten, hatte Erfolg im Sport, war beliebt - und doch verspürte sie eine innere Leere. Sie betäubte dieses Gefühl mit Heroin. Nun hat sie ein Buch über ihre Zeit in der Szene und ihren Ausstieg veröffentlicht.

 Nicole Jegerlehner

 Im Blutabnehmen ist die bio-medizinische Analytikerin einsame Spitze: Michelle Nahlik findet jede Vene auf Anhieb. "Das ist wenigstens eine positive Folge meiner Drogenabhängigkeit." Die 38-Jährige erzählt in ihrem Buch (siehe Kasten), wie sie mit 17 Jahren zum ersten Mal Heroin spritzte - und wie sie danach das Gefühl "dieser inneren Umarmung" immer wieder suchte. Seit gut vierzehn Jahren hat sie nie mehr Heroin auf einem Löffel erhitzt, um die Flüssigkeit danach mit der Spritze direkt in die Venen zu schicken. Und trotzdem steigen noch heute sofort Bilder aus ihrer Drogenzeit in ihr auf, wenn sie verbranntes Metall riecht.

 "Nie wieder"

 "Die Erinnerungen kommen hoch - aber sie wecken in mir keine Lust auf Drogen mehr." Heute hat Michelle Nahlik genügend Abstand zu dieser dunklen Zeit, um zu wissen: "Nie wieder setze ich mir einen Schuss." Diese Distanz hat ihr auch ermöglicht, das Buch über ihre Heroinabhängigkeit zu schreiben.

 Sie hatte ihre zwanzig Tagebücher mit dicht beschriebenen Seiten aus diesen acht Jahren wieder hervorgeholt. In jedem steht auf der ersten Seite, dass nur sie dieses Buch lesen darf: "Diese Dinge gehen niemanden etwas an." Auch falls sie sterben sollte, dürfe niemand die Einträge lesen.

 Ständig am Schreiben

 "Ich will nie mehr Sugar nehmen. Ich fühle mich beschissen, schuldig, mies": das hat sie 1992 auf einem Zettel notiert und ihn später ins Tagebuch gelegt. Michelle Nahlik hat ständig und überall ihre Gefühle niedergeschrieben - auch wenn sie kotzend in der Wohnung eines Junkies lag.

 "Es hat lange gedauert, bis ich mit Hilfe den Tagebucheinträge ein Buch schreiben konnte." Zwei Jahre lang hat sie daran geschrieben, und immer wieder "emotionale Pausen" eingelegt: Zu nahe gingen ihr die Gefühle, die ihr aus den Tagebuchseiten entgegenschlugen. Um Distanz zu halten, benutzt sie im Buch einen anderen Namen: Sie nennt sich Luana.

 Jetzt, nach der Veröffentlichung des Buches, fühlt sie sich befreit. "Das allerletzte Geheimnis ist in die Freiheit gerannt", sagt sie. Bis vor kurzem wussten nur ihre Eltern und Geschwister und drei Freunde von ihrer früheren Abhängigkeit. "Das war auch belastend - ich hatte immer Angst davor, dass jemand meine Vergangenheit entdeckt und mich abstempelt."

 Angst vor Reaktionen

 Als der Blick im März kurz vor dem Erscheinen des Buchs über sie berichtete, getraute sie sich fast nicht an ihren Arbeitsplatz, ins Labor im Spital Tafers: "Ich hatte Angst, dass die Leute mich anders anschauen." Doch bisher hat sie nur positive Reaktionen erhalten: Viele gratulierten ihr zu ihrem Mut und dazu, dass sie den Ausstieg geschafft hat. "Und wenn nur ein Jugendlicher durch mein Buch davon abgehalten wird, Drogen zu nehmen, habe ich mein Ziel erreicht."

 Die innere Umarmung

 Michelle Nahlik gelang als Jugendliche alles: Sie hatte gute Noten, war bei den Kolleginnen beliebt, trieb erfolgreich Sport - und doch verspürte sie eine innere Leere. "Ich habe Sehnsucht, an der Gefahr zu lecken", vertraute sie als 17-Jährige ihrem Tagebuch an. Und das tat sie auch: Als ein Dealer sie im Zug ansprach, folgte sie ihm - und liess sich Heroin spritzen. Und sehnte sich danach immer wieder nach diesem Gefühl der inneren Umarmung, Wärme und Unverletzlichkeit. Auch wenn die Zeit zwischen zwei Flashs eine harte war.

 "Ich bin die Nächste"

 Als Michelle Nahlik 21-jährig war, starb ihre beste Freundin an einer Überdosis Heroin. "Ich wusste: Ich bin die Nächste, die stirbt." Einmal mehr wollte sie raus aus den Drogen - und diesmal stand ihr ein alter Freund bei, der selber keine Drogen nahm. Michael hat die Süchtige bei sich aufgenommen, hat den kalten Entzug mit ihr durchlitten. Zusammen ist das Liebespaar nach Zürich gezogen. Michelle Nahlik begann dort die Ausbildung zur medizinischen Laborantin. Und schwitzte Blut, als die Studentinnen bei der Hämatologielehrerin lernen sollten, Blut zu entnehmen. "Mir war, als würde die Lehrerin sofort sehen, dass ich ein Ex-Junkie bin." Doch nein - die Lehrerin lobte sie als Naturtalent.

 "Ich fühle mich so leer"

 In Zürich stürzte Michelle Nahlik noch einmal ab. "Egal, wie dreckig es mir danach geht und wie viel ich mich übergebe, ich habe immer Lust darauf!!! Ich fühle mich so leer!" schrieb sie in ihr Tagebuch. Als Michael sie verlässt, spritzt sie sich eine Überdosis und landet im Spital. Dies ist der Wendepunkt: Sie beschliesst, nach der Diplomverleihung alleine zu verreisen. Dort, in der Wüste am Roten Meer, lernt sie das arabische Wort Maktub kennen: Es steht für Schicksal. Oder auch: "Alles, was geschehen wird, steht bereits in einem Buch geschrieben." So empfindet Michelle Nahlik ihr Leben: Als eine vom Schicksal besiegelte Verkettung.

 "Hier nie abgestürzt"

 "Ich bin aber selber dafür verantwortlich, dass ich heroinabhängig wurde." Nach ihren Reisen entschied sie sich bewusst für eine Arbeitsstelle ausserhalb von Thun, Bern und Zürich - dort hätte zu viel sie an ihre Drogenzeit erinnert. Heute lebt Michelle Nahlik in Villars-sur-Glâne und fühlt sich wohl im Kanton Freiburg. "Freiburg ist die Stadt, in der ich nie abgestürzt bin."

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 Das Buch: Mitten aus dem Leben eines süchtigen Teenagers

 Alles läuft wie am Schnürchen in Michelle Nahliks Leben: Sie schreibt gute Schulnoten, ist bei den Mitschülern beliebt, bereitet ihren Eltern keine Probleme. Doch sie fühlt sich nicht wohl in ihrer Haut, hört innere Schreie, die sie nicht deuten kann. "Ich will raus aus meiner Haut!", schreibt sie in ihr Tagebuch.

 Und das macht die 17-Jährige: Was mit Schwänzen und einigen Haschzigaretten beginnt, endet in der Thuner und Berner Drogenszene. Michelle ist süchtig nach Heroin. Die heute 38-Jährige erzählt in ihrem Buch "Das Maktub von Luana. Sugar", wie sie als Teenager in die Sucht abglitt - und auch, wie sie den Schritt aus der Drogenszene wieder schaffte.

 Immer wieder zitiert sie aus ihren Tagebüchern, aus denen die seelische Not des Mädchens schreit. Die Leserinnen und Leser bleiben manchmal etwas ratlos, weil das Umfeld die Drogensucht nicht entdeckt - und auch ob der Naivität des Teenagers, der sich immer wieder in bedrohliche Situationen bringt. Das ist vielleicht das, was das Buch ausmacht: Es zeigt, wie verletzlich Jugendliche sind - und wie schnell sie sich der Welt der Erwachsenen entziehen können. njb

 Das Buch: Michelle Nahlik: "Das Maktub von Luana. Sugar. Ein Tagebuch". Erschienen 2010 beim Verlag elfundzehn; 268 Seiten, 36 Franken.

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Aargauer Zeitung 16.9.10

"Black Jesus" und das Kokain

 Die "Holderbank-Connection" und andere Drogenbanden beschäftigen Polizei und Justiz

 Michael Spillmann

 Sie wechseln ständig ihre Handys, ihre Gespräche führen sie in der Igbo-Sprache und benützen für Drogenbestellungen unverdächtige Ausdrücke wie "Filme" oder "Mützen": Die Nigerianer dominieren den Kokainhandel - auch im Aargau.

 Ermittler und Justiz führen - nicht erst seit Beginn der landesweiten Operation "Cola" - einen aufwändigen und teuren Kleinkrieg gegen die flexiblen Kokainnetzwerke. Die Fälle sind meist kantonsübergreifend. Ist ein Dealer gefasst, dann rückt der nächste nach. Steht ein Mitglied vor Gericht, stehen bereits weitere Fälle in der Warteschlaufe.

 So hatte das Bezirksgericht Lenzburg Anfang September einen 23 Bundesordner umfassenden Fall von "Drahtziehern" behandelt. Die Richter verurteilten schliesslich zwei Männer und eine Frau zu mehrjährigen Freiheitsstrafen. Doch heute steht in Lenzburg bereits der nächste Fall auf der Traktandenliste: Ein 27-jähriger Nigerianer muss sich wegen mehrfacher Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz verantworten.

 Tarnen und verschleiern

 Der Staatsanwalt fordert sieben Jahre Freiheitsstrafe. Der Mann, der zur "Holderbank-Connection" der dortigen Asylunterkunft gehören soll, sitzt bereits seit Oktober 2008 hinter Gittern.

 Die Anklage zeigt auf, wie der Nigerianer von der Asylunterkunft aus im Land herumreiste: nach Olten, nach Freiburg oder nach Bern, wo er jeweils Kokain im Wert von mehreren tausend Franken umgeschlagen haben soll.

 Dank Telefonüberwachungen konnten die Ermittler einige Telefonate abhören. Seine Verbindungsleute trugen Tarnnamen wie "Fernando", "Mazi" oder "Black Jesus". Wobei der Name "Black Jesus", der schwarze Jesus, immer wieder fällt. Ob es sich dabei um einen "dicken Fisch", einen Grosshändler, handelt oder nur um ein Hirngespinst, um die Hintermänner zu schützen, konnte bislang noch nicht beantwortet werden.

 Ein Kilo Kokain geschluckt

 Wie die Netzwerke aus Grosshändlern, die meist in Holland oder Spanien aktiv sind, Zwischen- und Strassenhändlern funktionieren, zeigt sich auch bei der "Holderbank-Connection". Bereits im Sommer 2009 war der Polizei ein Fang gelungen, als die Ermittler von einer grösseren Kokainlieferung Wind bekommen hatten.

 Rund ein Kilogramm Kokain sollte per Kurier - geschluckt in Form von 79 Fingerlingen - nach Holderbank gelangen. Der "Bodypacker" flog von Malaga nach Paris, von dort reiste er mit dem Zug nach Bern. Ein Asylbewerber der "Holderbank-Connection" sollte ihn in den Aargau schleusen. Dort wäre der Stoff an die Strassenhändler verkauft worden. Doch die Polizei war ihnen auf der Spur, in Brugg klickten die Handschellen.

 Michael Perler, der Chef der Bundeskriminalpolizei, verglich den Kampf gegen die Kokainhändler letzte Woche mit einer Pfütze. "Wenn man den Fuss rausnimmt, fliesst das Wasser wieder zurück", sagte er. Dies, da vor allem im unteren Teil der Hierarchie oft Asylbewerber dealten, die auf ihre Ausweisung warten.

 Jahrelang Doppelleben geführt

 Es geht aber auch anders: Vor dem Bezirksgericht Aarau stand unlängst ein 36-jähriger Schweizer nigerianischer Herkunft. Er, der vor zwölf Jahren eine Schweizerin geheiratet und mit ihr in der Region gewohnt hatte, führte offenbar während Jahren ein Doppelleben. Wie dem Urteil der Richter zu entnehmen ist, mischte er neben seiner Tätigkeit als Lagerarbeiter im grossen Stil im Kokainhandel mit. Seiner Schweizer Frau gab er an, die unzähligen Treffen und Telefonate mit Landsmännern hätten mit seiner Tätigkeit im Autoexport zu tun.

 Um einen Einzelfall handelt es sich dabei nicht. Der zuständige Aarauer Bezirksamtmann Dieter Gautschi ermittelt bereits gegen einen inhaftierten 34-jährigen Schweizer westafrikanischer Herkunft.

 "Ein schwerwiegender Fall", sagt Dieter Gautschi. Die Kosten für Dolmetscher und Telefonüberwachung hätten bereits "viel Geld" verschlungen, die Untersuchung gestalte sich aufwändig.

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Landbote 16.9.10

Die Drogenhändler tricksen Polizei aus

 Marisa Eggli

 Winterthur - Die afrikanischen Drogenhändler, die im Stadtpark Kokain verkaufen, wechseln immer wieder ihre Rollen und kennen keine Hierarchien. Auch deshalb sei es sehr schwierig, einem Einzelnen den Handel nachzuweisen, sagt Fritz Lehmann, Kommandant der Winterthurer Stadtpolizei. Zudem sind die Händler gut organisiert ("Landbote" von gestern) und gewieft. So wissen sie beispielsweise genau, wie sie Passanten gegen Polizisten aufbringen können, die sie kontrollieren wollen: Sie schreien laut und beschuldigen die Beamten, Rassisten zu sein. (meg)lSeite 11

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"Banker kaufen kaum im Stadtpark"

 Marisa Eggli

 Die afrikanischen Drogenhändler, die sich seit drei Monaten im Stadtpark ausbreiten, verkaufen kleine Kokainkugeln. Ihre Kunden seien Süchtige, die oft ganz verschiedene Drogen konsumierten, sagt Polizeikommandant Fritz Lehmann.

 Im Stadtpark floriert seit einigen Wochen ein neuer Kokainhandel. Warum löst ihn die Polizei nicht einfach auf?

 Fritz Lehmann: Das können wir nicht. Für uns ist vor allem schwierig, dass wir das Netz dieser neuen Drogenhändler nicht richtig erfassen und es folglich nicht zerstören können.

 Weshalb?

 Die Händler sind sehr flexibel und schlüpfen ständig in neue Rollen. Mal ist einer Verkäufer, mal Verteiler, mal Kassierer oder ganz einfach der Aufpasser, der vor den Stadtpolizisten warnt. Es gibt unter diesen Händlern keine Hierarchie mit einem klassischen Anführer, der seine Leute dirigiert und die Fäden zusammenhält. Zudem schützen sie sich sehr gut.

 Schützen?

 Sie haben viele Tricks auf Lager. Wenn sie zum Beispiel von einer Patrouille kontrolliert werden, kann es gut sein, dass einer laut zu schreien anfängt. Er wehrt sich und beschimpft die Stadtpolizisten, Rassisten zu sein. Gerade kürzlich hatten wir so einen Fall am Bahnhof. Wir hatten einen Händler bereits eine Weile beobachtet, wollten ihn kontrollieren und er schrie los.

 Polizisten haben doch eine dicke Haut, das sollten sie wegstecken können.

 Das Problem ist ein anderes. Wegen der Schreie und Beschimpfungen solidarisieren sich Passantinnen und Passanten mit den Afrikanern und machen der Polizei die Arbeit schwer. Manchmal wird die Menge sogar handgreiflich. Das stresst meine Leute sehr.

 Personenkontrollen sind also schwierig. Was bleibt der Polizei?

 Nachdem uns das Bundesgericht diesen Frühling das verdeckte Ermitteln mit einem Urteil erschwert hat, arbeiten wir vermehrt mit Druck. Wir tauchen immer wieder im Stadtpark auf, in Uniform oder zivil, und wir beobachten den Handel von nah und fern. Wir wechseln unsere Taktik ständig, weil auch die Händler ihre Strategie laufend anpassen. Meine Ermittler beschäftigen sich also intensiv mit dem Geschehen im Stadtpark.

 Mit Erfolg?

 Verdecktes Ermitteln wäre uns tatsächlich lieber. So müssen wir die Drogenhändler eigentlich in flagranti erwischen, sonst kann man ihnen gar keine strafbare Handlung nachweisen.

 Dafür muss man die Verdächtigen einfach lange genug beobachten.

 Da sind wir schon beim nächsten Problem. Die Drogenhändler wechseln nämlich immer wieder die Ortschaft. Wir hatten schon Leute kontrolliert, die in Martigny oder Delémont im Durchgangszentrum wohnen. Andere verkaufen mal in Frauenfeld, mal in Winterthur oder St. Gallen.

 Wenn es schwierig ist, die Händler zu kriegen, kann man nicht einfach die Käufer von ihnen fernhalten?

 Das ist der Weg, der uns schliesslich bleibt. Aber wenn wir einen Süchtigen büssen, bestrafen wir in diesem Fall eigentlich den Falschen und einen, der die Busse wahrscheinlich eh nicht zahlen kann. Das ist eine weitere negative Folge des Bundesgerichtsurteils.

 Wer sind denn diese Süchtigen?

 Es sind sicher keine Banker, sondern Drogenkonsumenten, die Verschiedenes nehmen. Also beispielsweise kaufen sie eine Kugel Kokain und spülen diese mit einer halben Flasche Wodka hinunter. Die afrikanischen Händler bedienen den untersten Markt und verkaufen meist bloss kleine Mengen.

 Selbst konsumieren die Händler nicht?

 Nein. Sie handeln nicht, um sich selbst Drogen leisten zu können, sondern um Geld zu verdienen.

 Kann ich mich im Park sicher fühlen?

 Ja. Momentan verhalten sich die Drogenhändler nicht aggressiv oder gar gewalttätig. lINTERVIEW: MARISA EGGLI

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Weltwoche 16.9.10

Geschichten

 Schnee aus Schwarzafrika

 Die meisten Drogendealer in der Schweiz stammen aus Nigeria. Kriminelle Gruppen verfügen über langjährige Erfahrung im internationalen Schmuggelgeschäft. Durch den steigenden Kokainkonsum in Europa gewinnt Westafrika an Bedeutung als Transitregion.

 Von Kurt Pelda

 Der 52-jährige Politiker Eme Zuru Ayortor brauchte Geld, denn er wollte ins Regionalparlament des nigerianischen Teilstaats Edo einziehen. Darum schluckte der in den USA ausgebildete Pharmazeut hundert Fingerlinge mit rund zwei Kilogramm Kokain. Er wollte das weisse Pulver nach Deutschland schmuggeln. Dank seines Status hoffte er die Kontrollen am Flughafen von Lagos umgehen zu können. Doch ein Körperscanner setzte dem Traum vom schnellen Geld ein Ende. Unter den Augen nigerianischer Drogenfahnder musste der Politiker die Drogenbällchen auf der Toilette ausscheiden und wanderte dann ins Gefängnis.

 Die Episode zeigt, dass in Nigeria nicht nur arme Teufel in die Fänge der Narko-Mafia geraten. Der Staat, der zu den korruptesten in Schwarzafrika zählt, ist von kriminellen Organisationen unterwandert. Drogen stellen dabei nur einen Teil der Untergrundwirtschaft dar. Stark sind nigerianische Netzwerke auch im Diebstahl und im illegalen Export von Erdöl, bei Finanzbetrügereien rund um den Globus und im Handel mit Wirtschaftsflüchtlingen und Prostituierten. In der Schweizer Kokainszene haben Banden aus der Dominikanischen Republik und aus Westafrika die Nase vorne, wobei Nigerianer unter den Afrikanern dominant sind, wie das Bundesamt für Polizei kürzlich mitteilte.

 Ähnlich verhält es sich beim organisierten Verbrechen in den USA: Von den Organisationen aus Afrika seien die nigerianischen am wichtigsten, heisst es beim amerikanischen Federal Bureau of Investigation (FBI). Am meisten Geld verdienten die nigerianischen Netzwerke mit dem Heroin- und Kokainhandel. Sie gehörten weltweit zu den aggressivsten und am schnellsten expandierenden kriminellen Gruppen und operierten inzwischen in rund achtzig Ländern.

 Das ist kein Zufall. Gründe für die überragende Rolle von Nigerianern im europäischen Kokainhandel gibt es viele: Seit längerem zeichnet sich eine Trendwende beim Kokainmissbrauch ab. Während die Bedeutung des US-Markts für die südamerikanische Narko-Mafia abnimmt, legt der Konsum in Europa zu. Damit ist eine Verlagerung der Schmuggelrouten verbunden. Ein immer grösserer Teil des weissen Pulvers gelangt statt über den zunehmend riskanten direkten Weg über den Atlantik mit Schiffen und Flugzeugen zuerst nach Westafrika, wo die Drogen umgepackt und zwischengelagert werden. Im November vor einem Jahr flog eine Boeing 727 mehrere Tonnen Kokain nach Mali, wo die Maschine auf einer improvisierten Landepiste in der Sahara aufsetzte. Geländefahrzeuge mit bewaffneten Eskorten brachten den Schnee durch die Wüste nach Nordafrika, wo er dann in für Europa bestimmten Schiffscontainern versteckt wurde.

 Mit seinen schätzungsweise 150 Millionen Einwohnern ist Nigeria das mit Abstand bevölkerungsreichste Land des Kontinents und die wirtschaftliche Drehscheibe Westafrikas. Nigeria ist nicht nur einer der grössten Can- nabis-Produzenten des Kontinents, sondern nimmt laut dem United Nations Office on Drugs and Crime auch beim Opiat-Missbrauch einen Spitzenplatz innerhalb Afrikas ein.

 Kooperation mit Kolumbianern

 Nigerias Rolle als Transitland für Kokain und Heroin geht auf die starke Diaspora und den wachsenden Auswanderungsdruck nach dem Ende des Erdölbooms in den achtziger Jahren zurück. Die Schweizer Ermittlungsbehörden geben Unsummen dafür aus, um mitgeschnittene Telefongespräche von Dealern nigerianischer Herkunft aus der Igbo-Sprache übersetzen zu lassen. Die Igbo aber sind schon seit vierzig Jahren ein Auswanderungsvolk. Das erklärt sich aus dem Biafra-Krieg im Südosten Nigerias. Nachdem der Sezessionskrieg 1970 verloren worden war, emigrierten viele Igbo, Biafras dominierende Ethnie.

 Die nigerianische Diaspora in Europa, Nordamerika und Asien hat die Ausbreitung krimineller nigerianischer Netzwerke begünstigt. So haben sich nigerianische Narko-Gangs, gemäss Angaben des FBI, in Indien, Pakistan und Thailand den Zugang zu etwa neunzig Prozent der weltweiten Heroinproduktion verschafft. Bevor die nigerianische Mafia mit Kokain zu handeln begann, hatte sie also Erfahrungen mit dem Heroinschmuggel gesammelt. Einen Brückenkopf für die Netzwerke stellte dabei die Diaspora in Westafrika dar, denn viele Drogenkuriere gelangen indirekt über andere westafrikanische Staaten nach Europa.

 Die immer grössere Zahl nigerianischer Geschäftsleute und Verbrecher entlang der westafrikanischen Küste war denn auch einer der Gründe, warum die südamerikanische Kokainmafia mit diesen gemeinsame Sache zu machen begann: Die Kolumbianer stützten sich einfach auf die bereits lokal vorhandenen kriminellen Netzwerke.

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Landbote 15.9.10

Drogenhändler setzen sich im Stadtpark fest

 Marisa Eggli

 Direkt neben dem Sommertheater floriert seit rund drei Monaten ein neuer Drogenhandel. Laut Polizeistadtrat Michael Künzle (CVP) verkaufen die Händler dort Kokain, arbeiten unauffällig und sind "sehr gut organisiert".

 winterthur - Der Drogenhandel, der sich seit dem Frühsommer im Stadtpark ausbreitet, "hat eine neue Dimension", sagt Polizeistadtrat Michael Künzle: "Die Händler stammen meist aus Afrika, sind gut vernetzt und arbeiten so unverdächtig wie möglich." Um den Schein zu wahren, wird beispielsweise eine ganze Familie mit dem Handel beschäftigt: Während der Vater mit dem Kleinen auf der Wiese Fussball spielt, wird er beiläufig angesprochen und kassiert Geld, dann schickt er den Käufer zur Frau, die das Kokain aushändigt. Gehandelt werde am helllichten Tag, bevorzugt am Nachmittag und frühen Abend. Und: Die Händler warnen einander, sobald die Polizei im Stadtpark auftaucht.

 Die neuen Drogenhändler hätten nichts mit der Szene zu tun, die sich früher beim Musikpavillon befand, so Künzle. Diese habe sich nach der Auflösung im April 2008 zerstückelt. Einige der ehemaligen Pavillonbesucher hätten sich in ihre Wohnungen zurückgezogen und handelten vereinzelt in Stadtbussen. Die Alkoholiker hingegen sitzen am Hauptbahnhof. "Gegen sie haben wir nichts in der Hand."

 Auch gegen die gewieften Kokainhändler im Stadtpark kann die Polizei weniger tun, als sie möchte. Nachdem das Bundesgericht im März 2010 die Anforderungen für verdecktes Ermitteln erhöht hat, müssen Polizisten meist offiziell auftreten. "Das erschwert unsere Arbeit." Künzle setzt deshalb vor allem auf häufige Personenkontrollen und das Beobachten des Treibens. Zudem will er erreichen, dass sich Asylsuchende nicht mehr so weit von ihren Durchgangszentren entfernen dürfen. "Dann kommen sie auch nicht nach Winterthur."

 Beobachtet wird der rege Handel im Park nicht nur von der Polizei. Auch Sommertheater-Direktor Hans Heinrich Rüegg stört sich daran und klagt über Probleme während der grade abgeschlossenen Saison. (meg)lSeite 16

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NZZ 15.9.10

Neue Regeln für den Rausch

 Bund erarbeitet Plan für umfassende Drogendebatte - theoretische Einbettung umstrittener Verbote

 Das Bundesamt für Gesundheit gleist eine neue Suchtdebatte auf, aus der auch neue Verbote resultieren könnten. Offen bleibt die Frage der Liberalisierung von Cannabis.

 Davide Scruzzi

 Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) will in den nächsten Jahren einen umfassenden Meinungsbildungsprozess in der Drogenpolitik "anstossen und moderieren". Im Frühjahr soll Bundesrat Didier Burkhalter das genaue Vorgehen unterbreitet werden. Ziel von Markus Jann, Chef der Sektion Drogen beim BAG, ist es, dass nun "der Funke" nicht nur auf Suchtexperten, sondern auch auf andere wichtige Politikbereiche wie Bildung und Wirtschaft überspringt, wie es in der neuen Nummer der BAG-Fachpublikation "Spectra" heisst.

 Fragwürdige Hanf-Regelung

 Eine neue Runde im Meinungsbildungsprozess ist auch nötig: In den vergangenen Jahren hat sich hierzulande die Meinung von Experten von den politischen Entscheidungen stark unterschieden. So plädiert etwa die Eidgenössische Kommission für Drogenfragen (EKDF) seit Jahren für eine Liberalisierung des Cannabiskonsums, während dieser Prozess im Parlament 2004 gestoppt wurde und die Hanfinitiative 2008 beim Volk durchfiel. Beim BAG betont man, dass die neue Debatte ergebnisoffen geführt werden soll. Der Bund will den Eindruck vermeiden, bereits eine neue politische Stossrichtung vorzugeben. Ziel sei eine kohärente Drogenpolitik, so das BAG.

 Tatsächlich lässt sich der aktuelle Grundlagenbericht der EKDF und zwei weiterer Sucht-Kommissionen unter dem Titel "Herausforderung Sucht", entgegen einigen Medienberichten, nur auf den ersten Blick als Plädoyer für eine Liberalisierungs-Welle lesen. So schlagen zwar die Autoren vor, sich von der vereinfachten Unterscheidung in legale und illegale Drogen zu verabschieden, und es wird die Widersprüchlichkeit der Kriminalisierung von Cannabiskonsumenten im Vergleich zu Nutzern legaler Drogen erwähnt. Durch den "Public-Health-Ansatz" wird aber der suchtpolitische Handlungsrahmen erweitert: Es geht im Allgemeinen um staatliche Interventionen, die auf Verbesserungen von Gesundheit, Lebensverlängerung und Erhöhung der Lebensqualität abzielen. Eher neu ist die Erweiterung der Drogenpolitik um "substanzungebundene" Abhängigkeiten, wie die Spielsucht, und die Akzentuierung der Medikamentensucht.

 Untermauerung von Verboten

 In der Vergangenheit besonders heftig umstrittene Vorschläge des BAG rund um abendliche Alkohol-Verkaufsverbote werden durch den Bericht aufgewertet. So heisst es etwa mit Blick auf die entsprechenden Proteste aus liberalen Kreisen und Branchenverbänden: "Vorschnell wird die staatsbürgerliche Freiheit mit der Wahlfreiheit der Konsumenten gleichgesetzt." Und weiter: "Der Zugang zu Alkohol rund um die Uhr oder das Trinken auf öffentlichen Plätzen" würden zu einer "grundlegenden Freiheit verklärt", so die etwas fragwürdige Argumentation der Studie.

 Für François van der Linde, EKDF-Präsident und leitender Herausgeber des Grundlagenberichts, geht es in der Suchtpolitik nicht nur um Fragen der Selbstverantwortung und der persönlichen Freiheit, sondern ebenso um eine Beurteilung eines möglichen gesellschaftlichen und individuellen Schadens von psychoaktiven Substanzen oder psychoaktiv wirksamen Verhaltensweisen wie Glücksspielen.

 Van der Linde plädiert für eine Straffreiheit des Konsums von Cannabis, aber auch härterer Drogen, bei gleichzeitiger staatlicher Regulierung und Kontrolle der Märkte sowie Prävention. Bei Alkohol oder Tabak könnten die Überlegungen des Grundlagenberichts grundsätzlich auch dazu führen, dass die Regulierungs- und Verbotsdichte noch verstärkt werde, räumt van der Linde ein. Resultate der neuen Debatte erwartet der Präventivmediziner in fünf bis zehn Jahren.

 Obwohl die Liberalisierung des Cannabiskonsums schliesslich durch "kulturell verankerte Werthaltungen" gestoppt worden sei, könne man die bisherige Schweizer Drogenpolitik gesamthaft als Erfolg betrachten. So habe mit der Annahme des Betäubungsmittelgesetzes die Vier-Säulen-Politik und die Möglichkeit heroingestützter Behandlungen gesetzlich festgeschrieben werden können, sagt van der Linde. Das dabei erfolgte Umdenken sei durch das Leid der offenen Drogenszenen hervorgerufen worden. Solche Faktoren fehlten freilich für jetzige drogenpolitische Schritte, sagt van der Linde.

 Unbestritten ist, dass sowohl die Frage der Hanf-Liberalisierung, wie auch neue Verbote rund um Alkohol und Tabak weiterhin für Konflikte sorgen werden. Zur Frage neuer Gesetze verweist das BAG denn zu Recht auf die politischen Entscheidungsträger.

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pressetext.ch 15.9.10

Experte fordert Lizensierung von Cannabis

 Erneuter Vorstoß für Hanf beim britischen Forscher-Festival

 Birmingham/Wien (pte/15.09.2010/13:50) - Gesetzgeber sollten ernstlich darüber nachdenken Cannabis zu lizensieren, fordert Roger Pertwee, einer der prominentesten Drogenexperten Großbritanniens, beim Festival der British Science Association http://www.britishscienceassociation.org in Birmingham. Seiner Ansicht nach ist die Kriminalisierung von Cannabis ineffektiv. Die Regierung beharrt hingegen auf Einhaltung der derzeit geltenden Gesetze und will von einer Änderung nichts wissen.

 Pertwee will Cannabis allerdings nicht in Form von Zigaretten freigeben, da dies lungenschädigend sei. Vielmehr sieht der Experte Cannabis-Produzenten aufgefordert, neue Verabreichungsformen anzubieten. Ein weiterer Vorteil einer lizensierten Freigabe sei, dass Cannabis dadurch sicherer wird. Pertwee tituliert eine solche Lösung als "Schadensbegrenzung". Erst im Vorjahr scheiterte der Vorstoß an einem Veto von David Nutt, dem obersten Drogenbeauftragten der britischen Regierung.

 Mediziner: Skeptisch gegenüber völliger Freigabe

 "Eine generelle Freigabe von Cannabis würde mehr Schwierigkeiten verursachen als man glaubt", meint der Mediziner Kurt Blaas, Vorstand der Arbeitsgemeinschaft "Cannabis als Medizin" http://www.cannabismedizin.at im pressetext-Interview. Ein ganz wesentlicher Punkt wäre die unbedingte Einhaltung des Jugendschutzes, die eine Abgabe an unter 18-jährige verbietet. Sinnvoll sei jedoch eine Lizensierung des Cannabis. Das bedeutet, dass die Pflanzen kontrolliert angebaut werden müssen, um sicherzustellen, dass sie frei von Pestiziden und Düngemitteln sind und immer die gleiche Qualität haben.

 "Eine Hanfpflanze liefert zwischen 40 und 60 verschiedene Cannabinoide. Daher muss auch sichergestellt werden, welche dieser Substanzen abgegeben werden", erklärt Blaas. "In der Medizin werden derzeit Dronabinol und Cannabidiol angewendet." Eine weitere Herausforderung ist die Frage der Abgabe. Dass man diese Substanzen einfach im Lebensmittelhandel kaufen kann, hält Blaas für nicht sinnvoll. Nur speziell lizensierte Einrichtungen wie etwa Apotheken sollten damit beauftragt sein, Cannabis zu verkaufen.

 Ärger über Verteufelung von Cannabis

 "Natürlich ist auch darauf zu achten, dass es bei Konsumenten zu keinen Anhäufungen von Cannabis-Produkten kommt", argumentiert Blaas. Daher sei eine ärztliche Verschreibung von kleinen Packungsgrößen eine gute Möglichkeit, dies zu unterbinden. "Wir wollen das natürliche Cannabis für die medizinische Anwendung fördern, denn dadurch ergibt sich eine breite Behandlungspalette", erklärt der Mediziner.

 Es sei nicht einzusehen, dass ein wertvolles Arzneimittel, das in medizinisch indizierten Dosen verabreicht, kaum Nebenwirkungen zeigt, immer noch derart verteufelt wird. "Hanf wird von allen Seiten negativ stigmatisiert", so der Arzt. "Selbst Hanfbauern, die Hanföl, Hanfbier oder Hanfmehl herstellen, sind davon betroffen. Und das obwohl die EU den Hanfanbau finanziell fördert."

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BZ 15.9.10

Drogenarzt Kehrsatz

 Keine Kritik vom Kanton

 Im Bulletin "Eltern gegen Drogen" kritisierte der Hausarzt der Drogenklinik Marchstei in Kehrsatz die aus seiner Sicht zu liberale Drogenpolitik. Die Klinik passte daraufhin seinen Vertrag an (wir berichteten).

 Ob der kantonale Gesundheitsdirektor darüber informiert sei und was er zu unternehmen gedenke, wollte SVP-Grossrätin Sabina Geissbühler gestern in der Fragestunde des Grossen Rates wissen. "Es gibt aus aufsichtsrechtlicher Sicht keinen Handlungsbedarf", betonte aber Regierungsrat Philippe Perrenoud (SP). Es stehe der Institution frei, einen solchen Personalentscheid zu treffen.
 mm

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ALKITREFF BIEL
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bielertagblatt.ch 16.9.10

Randständige bald ohne Alkitreff

Sieben Jahre lang waren die selbst gezimmerten Baracken hinter dem Bahnhof Biel Treffpunkt der Randständigen. Nun müssen diese den Alkitreff verlassen.

sam/pl. Ende dieses Monats wird der Alkitreff am Bieler Walserplatz verschwinden. Ab 2003 begannen alkoholabhängige Randständige damit, einen Treffpunkt für sich zusammenzuzimmern. Eine Bewilligung dafür gab es nicht. Hinter dem Bieler Bahnhof entstand ein abenteuerlich anmutendes Backenensemble. Die Stadt hatte über lange Zeit beide Augen zugedrückt und, wenn es keine Klagen gegeben hätte, dann wären sie den "Alkis" womöglich weiterhin gut gesinnt. Aber die Randständigen sollen die öffentliche Ordnung gestört haben. Das hat verschiedene Beschwerden ausgelöst. Bei der unmittelbar neben dem Alkitreff ansässigen Wirtschaftsförderung löste das Treiben der Randständigen besonderes Missfallen aus. Schliesslich soll die Organisation Investoren den Standort Biel schmackhaft machen. Der Gemeinderat beschloss jedenfalls, den Treff zu schliessen und die Bauten zu entfernen.

Der zuständige Gemeinderat, Pierre-Yves Moeschler (PSR) bedauert, dass bislang kein neuer Ort für die rund 50 alkoholabhängigen Menschen gefunden wurde. "Es fehlen uns strukturelle und finanzielle Mittel", sagt Moeschler. Nach der Vertreibung aus ihrem Paradies werden die Nutzer des Alkitreffs also auf die Strasse verbannt. Aus der Bevölkerung werden Befürchtungen über den Auftritt Alkoholabhängiger im öffentlichen Raum laut. Sicherheitsdirektorin Barbara Schwickert (Grüne) beruhigt: "Wir überlassen die Randständigen nicht ihrem Schicksal." Die neue Dienststelle Sicherheit - Intervention - Prävention (SIP) werde mit diesen Personen Kontakt suchen und sie zur Einhaltung der öffentlichen Ordnung anhalten. Die Gemeinderätin will mögliche Gefahren nicht schönreden: "Es gibt ein gewisses Risiko, dass diese Menschen bei anderen Gruppen auftauchen, zum Beispiel in der Drogenszene. Wir wissen auch, dass es dann leicht zu Streit kommen kann."

Pierre-Yves Moeschler teilt diese Bedenken nicht: "Es gibt keine Hinweise darauf, dass es zu Raufereien oder Sachbeschädigungen kommen könnte." Man werde die Entwicklung beobachten und wenn nötig einschreiten. "Wir werden Lösungen finden", ergänzt der Sozialdirektor.

Moeschler nicht gegen "Yucca"

Könnte man die Besucher des Alkitreffs an die Brasserie Yucca verweisen, wo die Drogenszene zuhause ist? "Ja, kurzfristig könnte das eine Lösung sein", sagt Moeschler. "Schliesslich steht das ‹Yucca› nicht nur Drogenabhängigen sondern allen Gästen offen."

Die Betroffenen vom Alkitreff haben klare Vorstellungen über ihre Zukunft: "Wir würden uns gerne auf dem Feldschlösschenareal niederlassen", sagt ein Randständiger. Aber das Feldschlösschenareal unterliegt den gleichen Bestimmungen wie der Walserplatz. Es könne keine Baugenehmigung für Baracken erteilt werden, sagt Rolf Iseli von der Baudirektion.

Das Schicksal der Alkis ist mit der Wegweisung vom Walserplatz nicht besiegelt. Die Stadtverwaltung hat eine Studie über die Drogenpolitik in Auftrag gegeben. Die Stadtverantwortlichen wollen auch für den künftigen Alkitreff eine Lösung im Lichte der Ergebnisse dieser Studie finden.

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ALKVERBOT
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St. Galler Tagblatt 15.9.10

Nachgefragt

 "Ein Verbot bringt rein gar nichts"

 Gemäss Umfrage des Städteverbandes fänden 30 von 35 Schweizer Städten gesetzliche Grundlagen für zeitlich und örtlich begrenztes Alkoholverbot im öffentlichen Raum nützlich. Die Juso reagieren in der ganzen Schweiz mit parlamentarischen Vorstössen. Der St. Galler Juso-Stadtparlamentarier Pascal Kübli hat gestern eine Einfache Anfrage zum Thema Alkoholverbot eingereicht.

 Warum gelangen Sie mit einer Einfachen Anfrage an den Stadtrat?

 In der kürzlich in St. Gallen diskutierten Vorlage zum öffentlichen Raum steht unter dem Punkt "Alkoholkonsum", dass rasch geprüft werden soll, ob weitergehende rechtliche Massnahmen notwendig sind. Die Stadt Chur und ihr Alkoholverbot werden als Beispiel für eine mögliche Stossrichtung genannt. Deshalb befürchte ich, dass auch St. Gallen ein Verbot in Erwägung zieht.

 Was wollen Sie vom Stadtrat konkret wissen?

 Ich möchte wissen, wie er sich in dieser Städte-Umfrage geäussert hat, wie er generell zu einem Alkoholverbot im öffentlichen Raum steht und ob er eine solche Massnahme ins Auge fasst. Zudem habe ich die Frage gestellt, ob er ein Verbot als sinnvolles Instrument erachtet, um einem übermässigen Alkoholkonsum entgegenzuwirken.

 Wie ist Ihre Meinung zu einem Alkoholverbot?

 Ein Verbot bringt gar nichts. Damit wird das Problem nicht gelöst. Ich denke, Personen, die davon betroffen wären, würden einfach an einem anderen Ort trinken.

 Man spricht immer vom Reiz des Verbotenen. Denken Sie, ein Verbot würde den Alkoholkonsum von Jugendlichen fördern?

 Das kann ich nicht beurteilen. Dass Jugendliche heute generell mehr trinken als früher, glaube ich allerdings nicht. Es könnte höchstens sein, dass sie absichtlich dort trinken, wo es nicht erlaubt ist. Aber das ist nur eine Vermutung von mir.

 Mirjam Bächtold

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NOTSCHLAFSTELLE
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Tagesanzeiger 16.9.10

Stadt eröffnet neue Notpension für Randständige

 Das Sozialprojekt soll ab Anfang 2011 die stark belegte Notschlafstelle entlasten.

 Von Martin Huber

 Die neue Nachtpension richtet sich an Personen, die bisher in der Notschlafstelle Rosengartenstrasse über längere Zeit und immer wieder übernachtet haben, wie der Stadtrat gestern Mittwoch mitteilte. In den letzten Jahren sei die Belegung der 52   Betten stetig gestiegen. Dieses Jahr rechnet man mit einem Rekordwert von rund 16 000 Übernachtungen. Hauptgrund für den Anstieg sind eben diese Langzeitaufenthalter - vorab ältere, sozial desintegrierte Personen und solche mit schweren psychischen Problemen ohne Krankheitseinsicht, wie es in der Mitteilung heisst.

 Die Tendenz zum Daueraufenthalt in der Notschlafstelle ist laut Stadtrat unbefriedigend: Die Einrichtung sei nicht darauf ausgerichtet, Personen langfristig zu beherbergen und zu betreuen. Zudem wirke sich ein Daueraufenthalt für die Betroffenen ungünstig in Bezug auf eine Verbesserung ihrer Situation aus.

 Stillschweigen zum Standort

 Um die Notschlafstelle zu entlasten, wird nun voraussichtlich Anfang 2011 die Nachtpension eröffnet und in einem zweijährigen Pilotbetrieb getestet. Wo der Versuchsbetrieb startet werde, geben die Sozialen Einrichtungen und Betriebe noch nicht bekannt. "Zuerst wollen wir die Anwohner informieren", sagt Sprecherin Barbara Strebel. Immerhin verrät sie, dass die Nachtpension in einer bestehenden Sozialeinrichtung untergebracht werden soll, weshalb sie keinen Widerstand von Anwohnern erwartet.

 Die Nachtpension wird rund 25 Schlafplätze in Einzel- und Zweierzimmern umfassen, deren Monatsmiete 1100 bis 1400 Franken betragen soll. Für die Betreuung werden ständig Sozialarbeiter im Haus anwesend sein. Hauptziel des für Zürich neuartigen Angebots ist es, die Gesamtsituation der Betroffenen zu stabilisieren und sie an eine bestehende Wohn- und Therapieeinrichtung zu vermitteln. Der Aufwand für den zweijährigen Versuchsbetrieb beläuft sich auf 920 000 Franken. Da es sich bei den meisten Betroffenen um IV-Rentner sowie Sozialhilfebezüger handelt, kann die Stadt den Aufenthalt weiterverrechnen, was ihr Einnahmen von 540 000 Franken beschert. Sollte sich die Nachtpension bewähren, könne der Gemeinderat nach Ablauf des Versuchs über die definitive Einführung entscheiden, schreibt der Stadtrat in seiner Mitteilung.

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OBDACHLOS SG
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Schweiz Aktuell 16.9.10

Obdachlose Teenager

In den meisten Schweizer Städten nimmt die Zahl junger Obdachloser zu. "Schweiz aktuell" mit einer Reportage aus der St. Galler Notschlafstelle UFO. Zudem: Jugendforscherin Annegret Wigger im Interview.
http://videoportal.sf.tv/video?id=ad76b9aa-184e-496d-81ee-ace9ec0ef802

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GASSENARBEIT LU
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NLZ 16.9.10

Gassenarbeit direkt auf dem Busperron 2

 Luzern

Barbara Inglin

 Seit einem Jahr sind die Gassenarbeiter wieder auf den Strassen präsent. Sie helfen Randständigen, doch manchmal sind sie selber machtlos.

 Barbara Inglin

 barbara.inglin@neue-lz.ch

 Am Busperron 2 am Luzerner Bahnhof treffen sich die Randständigen - die Luzerner Drogenszene. Auch Rolf Notter und sein Team sind hier an mehreren Abenden pro Woche unterwegs. Die Gassenarbeiter stellen sich dann einfach zu den Leuten, hören zu. Ganze Lebensgeschichten erfahren sie, das Neuste aus der Drogenszene, wie die Abhängigen tagtäglich an ihre Grenzen stossen, alles schrecklich finden und doch nicht vom Stoff wegkommen.

 Rolf Notter ist Sozialarbeiter und Leiter des Teams Gassenarbeit. Seit einem Jahr ist sein Team wieder auf den Luzerner Strassen, besucht und berät die Klienten direkt vor Ort, statt wie bis anhin nur im Büro an der Murbacherstrasse. Das Projekt heisst "Aufsuchende Sozialarbeit" - und es zeigt bereits Wirkung: 48 Personen konnten für eine längerfristige Sozialberatung gewonnen werden, sechs Personen konnten in ein Methadon-Programm oder zu einer Therapie motiviert und vermittelt werden, für zwei Personen wurde eine Einkommensverwaltung übernommen.

 "Es sind kleine Schritte"

 "Diese Leute wären nie von alleine für eine Beratung in unser Büro gekommen, wir hätten sie schlicht nicht erreicht", sagt Notter. "Und häufig sind es gerade diese Personen, die unsere Unterstützung am nötigsten haben." Trotzdem sei es schwierig, von einem Erfolg zu sprechen: "Es sind kleine Schritte, die sie vorwärtsmachen."

 Erst letzthin habe er einen Mann davon überzeugt, sich für eine Arbeitsstelle zu melden, Sozialhilfe zu beantragen und den Alkoholentzug einzuleiten. Am Montag sollte der Termin für den Entzug vereinbart werden, stattdessen kam ein Anruf: Der Mann mache nun doch nicht mit. Notter nimmt das gelassen: "Er hat seine Bussen abbezahlt und muss darum nicht ins Gefängnis. Das ist schon ein kleiner Erfolg für uns."

 Wohnungsnot ist grosses Thema

 "Wir haben keinen ordnungspolitischen Auftrag wie die Polizei oder die Gruppe Sicherheit, Intervention, Prävention (SIP). Deshalb ist das Vertrauen in uns viel grösser, die Leute können einfach einmal frei erzählen", sagt Notter. Denn selbst unter den Randständigen sei das Misstrauen häufig gross.

 Ein wichtiges Thema auf der Gasse sei die Wohnungsnot. Seit Luzern zur Studentenstadt geworden ist, werden billige Wohnungen immer knapper. "Unsere Leute haben im Normalfall Einträge im Betreibungsregister, sind vorbestraft und haben keine Arbeit. Da ist es fast unmöglich, eine Wohnung zu finden", so Notter.

 Ohne Arbeit kein Entzug

 Ein weiteres grosses Problem ist, dass die Süchtigen kaum Aussicht auf Arbeit haben - selbst nach dem Entzug nicht. "Es ist schwierig, Leute zu einem Entzug zu motivieren, wenn sie danach keine Perspektive sehen", sagt der Seelsorger und frühere Gassenarbeit-Geschäftsführer Sepp Riedener. "Hier müssten mehr Angebote geschaffen werden."

 Bei der Wohnungs- und Arbeitssuche können die Sozialarbeiter in den meisten Fällen nicht weiterhelfen. "Wir können zuhören, vielleicht einmal ein Wohnungsinserat mitbringen, aber unternehmen können wir wenig", sagt Rolf Notter. Aktiv werden die Sozialarbeiter in anderen Bereichen: Wenn es um den Ausstieg aus den Drogen geht, um therapeutische Massnahmen, aber auch um die Geldverwaltung.

 Die Leute, die Notter und sein Team aufsuchen, sind zwischen 16 und 60 Jahren alt. Eine Gruppe von rund dreissig Personen ist es jeweils, in wechselnder Zusammensetzung. Sie nehmen Drogen, meist ein Mix aus Heroin, Kokain, Medikamenten und Alkohol. Sie kennen sich untereinander, räumen manchmal die Bierdosen auf dem Perron 2 weg, damit sie nicht weggewiesen werden. Tauchen "Neue" auf, sagen sie: "Melde dich doch einmal bei Rolf, Renate oder Mathias", den Sozialarbeitern der Gassenarbeit. Die Geschichten ähneln sich: Heimkarrieren, Kleinkriminalität, mit 18 erstmals im Gefängnis. "Es sind meist Leute, die nie eine Chance hatten im Leben", sagt Notter.

 "Mein Leben begann mit dem Tod"

 So wie Claudia S. "Schreib, mein Leben begann mit dem Tod", sagt sie. "Der Tod hat meine Familie ausgelöscht, bevor ich fähig war, selber zu leben." Nach dem Tod der Mutter blieb nur der Vater übrig, "der Teufel persönlich"; er missbraucht seine Tochter jahrelang. Sie kommt ins Kinderheim. Dieses wird später "wegen schlechter Führung" geschlossen. Claudia S. wird nach Zürich in ein Töchterheim geschickt, wo sie in den jungen Frauen eine Art Ersatzfamilie findet.

 "Dort habe ich es gelernt. Wie man Heroin zubereitet und einnimmt." Anfangs eine gute Erfahrung, doch dann kommt die Sucht. Claudia S. haut ab und landet schliesslich in Luzern, lebt auf der Gasse, in besetzten Häusern, geht anschaffen, lebt von einem Tag zum nächsten. Hier kommt sie auch in Kontakt mit der Gassenarbeit.

 "Damals habe ich gar nicht gemerkt, was sie für mich getan haben", sagt sie. "Doch jetzt bin ich sehr dankbar, dass jemand da war zum Reden und dass mir jemand bei der Geldverwaltung geholfen hat." Heute ist Claudia S. in einem Methadonprogramm, 45 Jahre alt und "glücklich, überlebt zu haben". Bei der Gassenarbeit schaut sie immer noch regelmässig vorbei. "Ich brauche die, und die brauchen mich", sagt sie und lacht. "Und vielleicht helfen sie mir jetzt auch noch, eine Arbeit zu finden."

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 Offene Drogenszene machte das Elend sichtbar

 bin.Gassenarbeit Die Gassenarbeit Luzern feiert dieses Wochenende das 25-Jahr-Jubiläum. 1985 hat sich aus der kirchlichen Jugendarbeit ein spezielles Angebot für Drogensüchtige entwickelt. Die Gassenarbeiter suchten die Betroffenen damals direkt vor Ort auf. Sepp Riedener, Initiant und ehemaliger Geschäftsführer der Gassenarbeit, erinnert sich: "Die Probleme auf der Gasse lagen damals auf der Hand: Es fehlte an Arbeit, medizinischer Betreuung, Essen und Wohngelegenheiten. Doch im Gegensatz zu heute nahmen viele ausschliesslich Heroin zu sich. Das machte den Ausstieg leichter, da nur eine Sucht behandelt werden musste." Ein Gramm Heroin habe damals rund 700 Franken gekostet, heute ist es noch ein Zehntel davon. "Ein Süchtiger braucht zwei Schüsse pro Tag, damals also rund 1400 Franken. Die Szene war darum geprägt von Kriminalität, Prostitution und Dealen." Auch habe es damals eine offene Drogenszene gegeben. "Unter der Egg und in der Eisengasse wurde gefixt."

 Vor 15 Jahren folgte der Rückzug

 1995 wurde die "Aufsuchende Sozialarbeit" beendet, die Gassenarbeiter zogen sich in die Büros an der Murbacherstrasse zurück. Grund war die verschärfte Drogensituation, die offene Szene sollte nicht noch unterstützt werden. Fortan mussten die Süchtigen also selber den ersten Schritt machen, um zu einer Beratung zu kommen.

 Am 1. September 2009 wurde nun die aufsuchende Gassenarbeit wiederaufgenommen - vorerst als auf zwei Jahre beschränktes Pilotprojekt. Riedener, der vor zwei Jahren als Geschäftsführer zurückgetreten ist und heute als Seelsorger arbeitet, ist zuversichtlich, dass das Projekt danach weitergeführt wird. Die Luzerner Regierung hat bereits vor zwei Jahren Zustimmung signalisiert.

 Der Verein kirchliche Gassenarbeit beschäftigt heute rund 40 Mitarbeitende. Träger des Vereins sind die römisch-katholische und die evangelisch-reformierte Kirchgemeinde von Stadt und Kanton Luzern sowie die christkatholische Kirchgemeinschaft Stadt Luzern. Neben dem Team Gassenarbeit, welches zusätzlich neben Sozialberatung und Einkommensverwaltung ein 80-Prozent-Pensum für die aufsuchende Sozialarbeit zur Verfügung stellt, gibt es weitere Angebote:

 Gassechuchi:Aufenthaltsort mit warmen Mahlzeiten, Beratung und Begleitung bei Alltagsproblemen.

 Ambulatorium:Hygienische und medizinische Grundversorgung.

 Paradiesgässli: Beratung und Begleiten von Eltern mit Suchtproblemen und von Kindern und Jugendlichen.

 Seelsorge:Begleitung von Menschen, die von Sucht, Armut, Obdachlosigkeit usw. betroffen sind.

 Kontakt- und Anlaufstelle:Ermöglicht Drogenabhängigen, mitgebrachte Drogen unter hygienischen und stressfreien Bedingungen zu konsumieren.

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 Gassenarbeit feiert 25-Jahr-Jubiläum

 Die Feier zum Jubiläum "25 Jahre Gassenarbeit Luzern" findet morgen Samstag in der Matthäuskirche an der Hertensteinstrasse in Luzern statt. Der Anlass beginnt um 16 Uhr, dauert bis 17.30 Uhr und ist öffentlich. Programm:

 Rückblick auf 25 Jahre Gassenarbeit durch Sepp Riedener;

 Vernissage des Buches "Verwundete Engel - Begegnung mit Menschen am Rand" von Fridolin Wyss und Sepp Riedener mit Lesung;

 Grusswort von Sozialdirektor Ruedi Meier;

 Musikalische Unterhaltung durch Klienten der Gassenarbeit;

 Apéro serviert von der Gassechuchi.

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ÖV-COPS
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sf.tv 16.9.10

Zürcher ÖV will mit neuem Sicherheitsdienst für mehr Sicherheit sorgen

sf/godc

 "Hände weg von den Zug-Chefs", skandierten die Demonstranten in rot-weissen Westen. Gegen 100 Zugbegleiter und Mitglieder der Gewerkschaft des Verkehrspersonals (SEV) haben am Mittwoch vor dem Sitz des Zürcher Verkehrsverbundes in Oerlikon gegen den Entscheid protestiert, bis Ende 2011 die Zugbegleitung durch einen neuen Sicherheitsdienst zu ersetzen. Etwa 250 sogenannte Zug-Chefs verlieren damit ihren bisherigen Aufgabenbereich.

 "Weg mit dem unsinnigen ZVV-Sicherheitskonzept", stand auf einem Transparent der Zugbegleiter. Aber welches neue Konzept?

 Seit 2004 patrouillieren die Zugbegleiter, sogenannte Zug-Chefs ab 21 Uhr zu zweit in den S-Bahnen des Zürcher Verkehrsverbundes (ZVV). Ab 2011 soll die Funktion der Zugs-Chefs abgeschafft und dafür Sicherheitspersonal im Schichtbetrieb eingesetzt werden.

 Neues Bundesgesetz zur Sicherheit

 Der Grund dafür ist das neue Sicherheitskonzept des ZVV. Laut diesem sollen Transportpolizei, Kontroll- und ein neuer Sicherheitsdienst zusammenarbeiten, um besser gegen Aggressionen vorgehen zu können.

 Möglich wurde der neu erschaffene "Sicherheitsdienst" erst durch das neue "Bundesgesetz über den Sicherheitsdienst der Transportunternehmen" (BGST).

 Mit In-Kraft-Setzung des neuen Bundesgesetzes per 1. Januar 2011 wird auch das neue Sicherheitskonzept schrittweise umgesetzt.

 Securitas-Angestellte

 "Auf jeder Linie wird mindestens einmal pro Abend eine Patrouille unterwegs sein", sagte ZVV-Mediensprecherin, Beatrice Henes, gegenüber der Zeitung "Zürichsee" am Dienstag.

 Dafür werde eigens ein neuer Sicherheitsdienst aufgebaut. Diesem gehören laut Henes 250 Personen an, "voraussichtlich Securitas-Angestellte". Zudem kümmerten sich künftig 140 Kontrolleure um Ticketkontrollen, so Henes weiter.

 "Es geht darum, unser Personal besser zu schützen. Wir haben gesehen dass die Arbeitsbedingungen von Zug-Chefs nicht ideal sind", sagte Thomas Kellenberger, ZVV-Mediensprecher, gegenüber "tagesschau.sf.tv".

 Alkoholisierte Gruppen

 "Aggressionen gegen sie haben zwar nicht zugenommen, aber wir haben ein verändertes Verhalten bei Zuggästen festgestellt. Wir denken hier einfach in die Zukunft", sagte Kellenberger weiter.

 "Das bisherige System hat Schwächen. Denn immer häufiger machen alkoholisierte Gruppen Probleme bei Ticketkontrollen", sagte denn auch Henes gegenüber der "Zürichsee-Zeitung". "Die Zug-Chefs sind für solche Sicherheitsaufgaben nicht ausgebildet."

 Keine Mehrkosten

 Vielfach zögen sie sich daher zurück, was das Schwarzfahren erleichtere. Von ihrer nun geplanten Abschaffung seien 220 Mitarbeiter betroffen.

 "Kosten soll das neue Sicherheitskonzept nicht mehr als das alte aus dem Jahr 2004, aber auch nicht weniger", sagte Kellenberger.

Videoüberwachung, Telefonverbindung zur Bahnpolizei, Sicherheitspolizei, Bahnpolizei, Kontrollen - die totale Überwachung?

 "Nein, überhaupt nicht", meint Kellenberger. Im Gegenteil. "Wenn sich Leute beklagen, dann eher weil sie sich mehr Sicherheit wünschen, und nicht weniger." Im Übrigen seien Videokameras hauptsächlich dazu da, um gegen Vandalismus vorzugehen.

 Keine Entlassungen

 Entlassen wird allerdings laut dem SBB-Sprecher Danile Pallecchi niemand. Dies verböte der SBB-Gesamtarbeitsvertrag. Ein schwacher Trost für die Demonstranten: Viele seien auf eine Arbeit am Abend angewiesen. Deshalb würden nicht wirklich gleichwertige Jobs angeboten.

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SANS-PAPIERS
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WoZ 16.9.10

Sans-Papiers

 Keine Lehre ist illegal

 "Dafür kämpfen wir seit neun Jahren", sagt Anni Lanz. Der Sans-Papiers-Aktivistin ist die Freude und die Überraschung deutlich anzuhören. Am Dienstag hat sich nach dem Nationalrat auch der Ständerat knapp dafür ausgesprochen, jugendlichen Sans-Papiers künftig eine Berufslehre zu ermöglichen. Niemand weiss besser als Anni Lanz, dass - sobald es um Migrationspolitik geht - Erfolge lange und hart erkämpft werden müssen. Bis zuletzt haben sie und ihre MitstreiterInnen bei StänderätInnen lobbyiert.

 Tatkräftige Unterstützung kam von ungewohnter Seite: Peter Malama, Gewerbeverbandsdirektor und FDP-Nationalrat aus Basel-Stadt, habe sich stark eingesetzt, sagt Lanz. "Der Mann hat keinen Betonkopf, sondern Zivil courage. Er getraut sich, Positionen zu vertreten, die nicht dem Mainstream entsprechen."

 Peter Malama zur WOZ: "Es freut mich wahnsinnig, dass es geklappt hat." Von JournalistInnen werde er häufig gefragt, wieso er sich für ein linkes Anliegen einsetze. "Dabei ist diese Haltung keine Frage von links oder rechts, sondern eine der Gerechtigkeit." Drei Hauptargumente hätten Gehör gefunden: Dass jugendliche Sans-Papiers nicht verantwortlich für ihren illegalen Aufenthalt sind, dass es laut Bundesverfassung ein Recht auf Bildung gibt und dass jugendliche Sans-Papiers bereits heute Matur und Universität abschliessen können, während ihnen eine Lehre verwehrt wird.

 Nun ist es am Bundesrat, einen Gesetzesvorschlag auszuarbeiten, der dann wiederum vom Parlament verabschiedet werden muss. Angesichts der knappen Abstimmungsresultate kann also noch nicht von einem definitiven Erfolg gesprochen werden. Peter Malama fordert einen straffen "Fahrplan", damit die Vorlage ins Parlament kommt, bevor sich die Räte nach den Wahlen anders zusammensetzen. dig

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Bund 15.9.10

Kinder von Sans-Papiers dürfen einen Beruf erlernen

 Das Parlament zwingt den Bundesrat zu einer Änderung des Ausländergesetzes.

 Markus Brotschi

 Jährlich beenden in der Schweiz 300 bis 500 Kinder von papierlosen Eltern die obligatorische Schulzeit. Davon dürften 200 bis 400 die Voraussetzungen für eine Lehre erfüllen. Allerdings machen heute nur wenige Kantone wie Genf, Waadt oder Basel-Stadt eine Ausnahme, wenn Sans-Papiers einen Lehrbetrieb finden. Laut Gesetz ist ihnen die Lehre verwehrt, Lehrbetriebe dürfen ihnen keine Verträge geben. Gestattet ist Sans-Papiers dagegen der Besuch weiterführender Schulen wie dem Gymnasium und sogar ein Hochschulstudium.

 Mit dieser paradoxen Rechtslage ist nun Schluss. Der Ständerat hat sich gestern mit 23 zu 20 für die Zulassung zur Lehre ausgesprochen. Einig waren sich alle, dass die Kinder der illegalen Einwanderer keine Schuld an ihrer Situation haben. Für Maximilian Reimann (SVP/AG) handelt es bei Sans-Papiers aber um "Gesetzesbrecher". Um deren Kindern allenfalls eine Lehre zu ermöglichen, gebe es die Härtefallregelung. Darauf verwiesen auch einige CVP- und FDP-Vertreter.

 Für die Mehrheit des Ständerates geht das Recht auf Ausbildung für Kinder vor. Die Härtefallregelung sei nicht immer eine Lösung. Dies bestätigt der basel-städtische Gewerbedirektor Peter Malama. Jugendliche schreckten davor zurück, ein Härtefallgesuch zu stellen, weil sie und ihre Familien bei einer Ablehnung die Ausweisung riskierten. FDP-Nationalrat Malama hatte sich in der grossen Kammer für die Zulassung zur Lehre stark gemacht. Wie im Nationalrat stimmten auch in der kleinen Kammer Linke und Grüne für das Sans-Papiers-Anliegen, FDP und CVP waren gespalten, die SVP dagegen. Christine Egerszegi (FDP/AG) wandte gegen die Zulassung zur Lehre ein, dass das Problem nur um drei bis vier Jahre verschoben werde.

 Nach der Lehre hätten die Jugendlichen immer noch keine Aufenthaltsbewilligung. "Wir haben genügend Arbeits- und Ausbildungsplätze, um diese Mädchen oder Knaben auszubilden, damit sie später einem Beruf nachgehen können und nicht von der Fürsorge leben müssen", entgegnete Helen Leumann (FDP/LU). Ohne Lehrstelle drohten die Jugendlichen auf der Strasse zu landen. Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf warnte dagegen vor der Signalwirkung, die von einer Regularisierung ausgehe.

 Gewerbe reagiert ablehnend

 Der Nationalrat hatte im März mit 93 zu 85 der Sans-Papiers-Motion zugestimmt, die von Luc Barthassat (CVP/GE) stammt. Der Bundesrat muss nun gegen seinen Willen das Ausländergesetz ändern. Dass Sans-Papiers es auch künftig schwer haben werden, zeigt die Reaktion des schweizerischen Gewerbeverbandes. Wenn Arbeitgeber Lehrverträge mit illegal anwesenden Eltern abschlössen, begäben sie sich weiter in eine rechtsfreie Zone, sagte Verbandsdirektor Hans-Ulrich Bigler. Anni Lanz, Sekretärin der nationalen Sans-Papiers-Plattform, ist dagegen überzeugt, dass die Arbeitgeber froh um diese Arbeitskräfte sind. Papierlose seien meist hoch motiviert und gegenüber ihrem Lehrbetrieb sehr loyal, sagt auch Malama. Für die Jugendlichen sei die Berufslehre die einzige Chance, um eine Perspektive zu erhalten. Für Malama darf der Lehrabschluss aber nicht automatisch zu einer Aufenthaltsbewilligung führen. Eine Berufsausbildung eröffne einem Sans-Papiers auch in seinem Heimatland bessere Chancen.

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NZZ 15.9.10

Für Berufslehre auch ohne Aufenthaltsrecht

 Der Ständerat überweist knapp die Motion für bessere Chancen von Sans-Papiers

Christoph Wehrli (CW)

 Mit 23 zu 20 Stimmen hat der Ständerat eine Motion überwiesen, die für Jugendliche ohne Aufenthaltsrecht einen Zugang zu Berufslehren verlangt.

 C. W. · Fast die Hälfte aller Mitglieder hat sich am Dienstag im Ständerat an der Debatte über die Frage beteiligt, ob Sans-Papiers, einige hundert Jugendliche pro Jahr, nach der auch für sie obligatorischen Schule das Recht erhalten sollen, eine Lehre zu absolvieren. Die Mehrheit folgte schliesslich nicht dem Bundesrat und der Kommissionsmehrheit (6 zu 5), sondern dem Nationalrat, so dass die betreffende Motion von Luc Barthassat (cvp., Genf) nun verbindlich ist. Zwei weitere in die gleiche Richtung zielende Vorstösse wurden mit 21 zu 20 und 22 zu 16 Stimmen abgelehnt.

 Gleichstellung mit Gymnasium

 Die von der Linken bis in einen Teil der CVP hinein und zu einzelnen Liberalen reichende Mehrheit möchte die Berufsbildung, die mit einer Erwerbstätigkeit verbunden ist, nicht anders behandeln als weiterführende Schulen, die unabhängig vom ausländerrechtlichen Status zugänglich sind. Die Jugendlichen ohne Aufenthaltsrecht sollten eine für ihr späteres Leben wichtige Chance erhalten, statt nach dem Schulabschluss ohne Anschluss dazustehen und allenfalls gar auf die schiefe Bahn zu geraten. Eine Lehre als Basis einer Erwerbstätigkeit sei auch wirtschaftlich sinnvoller, als die vorangegangenen Investitionen in die Bildung verfallen zu lassen.

 Den Einwand, illegales Verhalten dürfe nicht belohnt werden, nahmen mehrere Votanten vorweg und hielten ihm entgegen, die papier-, d. h. bewilligungslosen Kinder und Jugendlichen seien für ihre Situation nicht selber verantwortlich. Bei dieser Gelegenheit hob man auch hervor, dass viele zehntausend (erwachsene) Sans-Papiers offenkundig Arbeitgeber finden.

 Verweis auf Härtefallregelung

 Die meisten Gegner einer solchen Öffnung wollten die menschliche Seite der Angelegenheit nicht verkennen. Das Problem des fehlenden Status, betonte Christine Egerszegi (Aargau, fdp.) als Sprecherin der Kommission, würde aber durch eine Lehre nicht gelöst, sondern nur um ein paar Jahre hinausgeschoben. Einen wirklichen Ausweg biete hingegen eine Aufenthaltsbewilligung in Härtefällen. Im Hinblick auf eine Lehre würden solche Gesuche in der Regel gutgeheissen.

 Unmündige könnten selber kein Gesuch stellen, machten wiederum die Befürworter der Vorstösse geltend, und die Eltern scheuten oft das Risiko. Zudem werden die Dossiers zuerst von den kantonalen Behörden geprüft, und zwar in recht unterschiedlicher Art. Nach einer im Rat zitierten Statistik stammen die an den Bund weitergeleiteten Fälle grösstenteils aus den Kantonen Genf und Waadt.

 Sie strebe eine Gleichbehandlung in den Kantonen an und habe daher die Kriterien für Härtefälle in einer Weisung präzisiert, sagte Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf. Sie erinnerte daran, dass das Parlament kollektive Regelungen für Sans-Papiers stets abgelehnt hat, und möchte am Prinzip der Einzelfallprüfung festhalten.

 Nach dem Nationalrat wollte nun auch der Ständerat "Billigkeit und Gerechtigkeit" stärker gewichten als "formelle Legalität" (Dick Marty). Letztere muss dennoch hergestellt werden, indem der Bundesrat nun eine konkrete Gesetzesänderung vorzulegen hat. Eine weitere Debatte hat sich das Parlament also nicht erspart - und die SVP kündigte ohne Zögern ihr Referendum an.

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NLZ 15.9.10

Sans-Papiers dürfen Berufslehre machen

Christoph Reichmuth

 Bis zu 400 junge Sans-Papiers wollen jährlich eine Lehre machen. Das wird ihnen nun erlaubt. Die SVP ist empört.

 Rund 150 000 Menschen ohne Papiere leben in der Schweiz, darunter etwa 10 000 junge Leute. 200 bis 400 von ihnen, so schätzt der Schweizerische Städteverband, möchten nach der Schulzeit eine Berufslehre anfangen - doch weil sie sich illegal in der Schweiz aufhalten, fehlt ihnen dazu die Möglichkeit.

 Diese Situation soll sich nun ändern, nachdem gestern der Ständerat - wie zuvor bereits die Grosse Kammer - eine entsprechende Motion des Genfer Nationalrats Luc Barthassat mit 23 zu 20 Stimmen gutgeheissen hat. Das Parlament will jungen Papierlosen ermöglichen, eine Berufslehre zu absolvieren.

 Die Mehrheit im "Stöckli" vertritt die Ansicht, dass die gegenwärtige Situation für die jungen Papierlosen ungerecht ist: Jugendliche ohne Aufenthaltsbewilligung können heute studieren, nicht aber eine Berufslehre absolvieren. "Wir sind sehr froh über diesen Entscheid. Es darf nicht sein, dass Jugendliche nach der Schulzeit aufgrund fehlender Perspektiven in die Armut oder die Kriminalität abrutschen", zeigte sich André Durrer von der Caritas Schweiz in einer ersten Reaktion erleichtert.

 "Sind wir wirklich so hart?"

 Dem Anliegen Barthassats zum Durchbruch verholfen hat die Ratslinke mit Hilfe von Teilen der Mitteparteien CVP und FDP. So meinte etwa die Luzerner FDP-Ständerätin Helen Leumann: "Sind wir wirklich so hart, dass wir diesen jungen Menschen keine Chancen geben?" Die Menschlichkeit einer Gesellschaft bemesse sich daran, wie sie mit den Schwächsten umgehe, fügte ihr Tessiner Parteikollege Dick Marty hinzu. Und der Luzerner CVP-Vertreter im Ständerat, Konrad Graber, ist überzeugt: "Diese jungen Menschen sind unverschuldet in diese Lage geraten. Sie sollen auch von unserem Grundrecht auf eine Ausbildung profitieren können." Eine einheitliche gesetzgeberische Lösung sei nötig, so Graber weiter: "In den Kantonen besteht zu dieser Frage bislang grosse Rechtsunsicherheit."

 Lösung für Hess unbefriedigend

 Der Obwaldner FDP-Ständerat Hans Hess hingegen hat das Anliegen gestern im Ständerat abgelehnt. Nicht, weil er für die unbefriedigende Situation der jungen Sans-Papiers kein Verständnis aufbringen würde. "Aber indem wir den Sans-Papiers einfach ermöglichen, eine Lehre abzuschliessen, ohne ihren Aufenthaltsstatus zu regeln, lösen wir das Problem nicht."

 Kommts zur Volksabstimmung?

 Hess' Vorschlag: Jenen gemäss Gesetz illegal hier lebenden jungen Menschen, die bereits die Schule absolvierten und eine Lehrstelle nachweisen können, sollen eine offizielle Aufenthaltsbewilligung erhalten. "Diese Leute brauchen einen gesicherten Status. Ansonsten bleibt die Angst vor einer ungewissen Zukunft auch dann bestehen, wenn wir ihnen eine Berufslehre ermöglichen."

 Für Empörung sorgt der gestrige Entscheid bei der SVP. Der Luzerner Nationalrat Felix Müri ist überzeugt: "Jetzt heisst es überall: In die Schweiz kannst du illegal einreisen und sogar noch eine Lehre machen. Das kanns ja nicht sein." Müris Parteikollege im Ständerat, Maximilian Reimann Aargau, wählte noch deutlichere Worte: "Sans-Papiers sind Gesetzesbrecher. Die Schweiz darf nicht zu einem Hort illegaler Zuwanderer werden." Gegen eine Änderung der heutigen Praxis sprach sich auch Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf aus. Die Kantone hätten heute schon die Möglichkeit, in Härtefällen den Status von Sans-Papiers zu regeln, gab sie zu bedenken.

 Nun muss der Bundesrat das Gesetz ändern. Der Luzerner CVP-Nationalrat Ruedi Lustenberger glaubt nicht an eine rasche Lösung: "Ich bin sicher, dass diese Regelung eine Verfassungsänderung benötigt. Das Volk wird das letzte Wort haben."

 Christoph Reichmuth

 christoph.reichmuth@neue-lz.ch

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Le Temps 15.9.10

Les sénateurs ouvrent la voie de l'apprentissage aux enfants de "sans-papiers"

 "Les enfants n'ont pas à payer pour le statut d'illégalité de leurs parents", décide le Conseil des Etats

Yves Petignat, Berne

 Pour les jeunes sans-papiers, c'est une injustice qui vient de tomber. Grâce au revirement du Conseil des Etats. Jusqu'ici, les jeunes sans statut légal pouvaient être scolarisés à tous les niveaux, poursuivre des études au gymnase ou à l'université, mais pas entamer d'apprentissage. Ce sera le cas désormais. Mardi, après le Conseil national au mois de mars dernier, la Chambre haute a accepté une motion du conseiller national Luc Barthassat (PDC/GE) demandant au Conseil fédéral d'organiser l'accès à l'apprentissage pour les jeunes sans statut légal.

 Alors que la gauche milite depuis longtemps pour cette idée, c'est surtout l'appui du groupe démocrate-chrétien qui a fait pencher la balance, avec le renfort de la quasi-totalité des sénateurs romands et quelques radicaux comme Felix Gutzwiller (ZH). Une majorité trouve en effet injuste la différence de traitement entre les jeunes sans statut légal: les uns peuvent poursuivre leurs études dans le cadre scolaire alors que les autres sont interdits d'apprentissage.

 "Il s'agit simplement de trouver une solution pragmatique pour permettre aux patrons et aux entreprises d'engager ces jeunes tout en restant dans la légalité", a expliqué Jean-René Fournier (PDC/VS). Engager un jeune sans-papiers comme apprenti, c'est jusqu'ici courir le risque d'être poursuivi pour avoir engagé un travailleur "au noir" ou de ne pas être couvert par les assurances.

 Refuser la voie de l'apprentissage à ces jeunes, "c'est les marginaliser, les exclure socialement et les inciter à choisir d'autres voies, comme celles du travail au noir ou de la petite délinquance", a plaidé le radical neuchâtelois Raphaël Comte. Pour le Vert genevois Robert Cramer, "on ne doit pas faire payer aux enfants le statut d'illégalité dans lequel se sont mis leurs parents."

 L'Union des villes suisses, souvent confrontée à cette question, s'était aussi fortement engagée pour une solution en faveur des jeunes sans statut légal en démontrant qu'il n'était pas question de légaliser tous les sans-papiers. Mais de trouver une solution juridique par la simple modification d'une ordonnance d'application.

 Du côté des opposants, les sénateurs UDC ont mis en garde contre le danger de transformer la Suisse en lieu d'accueil pour les réfugiés illégaux ou de donner un bonus à l'illégalité. Accepter l'entrée en apprentissage des enfants de "sans-papiers" ne ferait que repousser la décision de quelques années. Or, précisément, la libérale-radicale neuchâteloise Sylvie Perrinjaquet a déposé une motion qui demande de régler le statut légal d'un jeune sans-papiers possédant un diplôme de fin de formation "tout en évitant toute tentative de régularisation automatique des parents".

 La solution, selon la conseillère fédérale Eveline Widmer-Schlumpf, passe par une régularisation comme "cas de rigueur" pour lesquels les cantons sont compétents.

 La motion n'a été adoptée que de justesse, par 23 voix contre 20, alors qu'une motion identique d'Antonio Hodgers (Verts/GE), qui avait été acceptée très facilement au Conseil national, était largement refusée et que l'initiative du canton de Neuchâtel, poursuivant le même but, a été repoussée d'une voix, 22 contre 21. La différence tient au fait qu'une initiative cantonale adoptée par le parlement est transformée en initiative parlementaire, ce qui aurait exigé que le parlement légifère lui-même. Alors que la motion charge le Conseil fédéral de rédiger le projet. Ce qui permet de gagner beaucoup de temps.

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 "A quoi bon nous former si on nous renvoie après?"

 Cynthia Gani

Sans-papiers, Tatiana reste sceptique sur l'avenir des jeunes clandestins

 Quand on lui annonce la décision du Conseil des Etats, Tatiana réagit au quart de tour: "C'est cool!" Cette jeune sans-papiers brésilienne avait accepté de témoigner dans Le Temps suite à l'adoption par le parlement de deux motions réclamant que les clandestins aient accès à l'apprentissage (LT du 12.03.2010). Elle dénonçait sa propre situation, révoltée d'être écartée de la légalité malgré son parcours sans faute.

 Mais très vite, Tatiana se rétracte: l'étape franchie par la Confédération est certes porteuse d'espoir, mais surtout d'illusions. "Ils ouvrent la porte aux sans-papiers, mais après, que vont-ils faire? Les renvoyer chez eux?" Elle sait de quoi elle parle.

 Agée de 22 ans, arrivée en Suisse il y a huit ans, Tatiana n'a toujours pas de permis. Même si ses parents paient des impôts, des cotisations à l'AVS et au chômage, auquel la famille n'a pourtant pas droit. La jeune femme a tout de même réussi à décrocher un apprentissage dans l'hôtellerie genevoise, qu'elle a terminé en mai. "Lors des examens pour le certificat fédéral de capacité, j'étais la seule sans-papiers." Une fierté teintée d'amertume: même formée, elle imagine mal les grands palaces genevois l'engager sans papiers.

 Alors Tatiana attend. Et continue à croiser les doigts: "Le Syndicat interprofessionnel des travailleurs, qui gère le dossier de ma famille, nous a dit que la procédure était en cours de finalisation. J'espère que cela ne va pas durer encore des années…"

 Dans les villes de Genève et Lausanne, les autorités avaient pris les devants en affirmant qu'elles étaient prêtes à engager des apprentis sans papiers alors que le débat était en cours à Berne. Ministre genevois de l'Emploi, le radical François Longchamp s'était fâché et avait prévenu qu'il sanctionnerait la Ville de Genève le cas échéant (LT du 8.3.2010).

 Aujourd'hui, le magistrat, présidant de l'exécutif genevois, se déclare satisfait de l'avancée fédérale: "Le canton appelait de ses vœux l'élaboration par la Confédération de critères factuels, comme la durée du séjour ou la maîtrise de la langue." Il affirme par ailleurs que l'accès à l'apprentissage devrait faciliter la naturalisation des clandestins.

 Dans le canton de Vaud, le Parti socialiste se réjouit pour sa part "d'une victoire importante pour tous les enfants de Suisse, qui n'ont pas à faire les frais de la situation, légale ou non, dans laquelle ils se trouvent."

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 Editorial. Prime aux apprentis sans papiers

 François Modoux

 Ce qui était impossible ne l'est plus. Le Conseil fédéral est invité à trouver une solution légale pour en finir avec la discrimination des adolescents sans papiers. Ceux-ci doivent pouvoir suivre un apprentissage. L'accès à la formation professionnelle leur était jusqu'à présent interdit tandis que de jeunes sans-papiers, après l'école obligatoire, suivent les filières gymnasiales puis l'Université.

 Les appels à l'équité sont venus de Lausanne, Genève et Neuchâtel. Sensibles à cette cause, des élus romands ont su rallier nombre de collègues alémaniques issus des grandes villes. A Zurich, Bâle ou Lucerne, des patrons ont aussi dit leur malaise face à la mise à l'écart de mineurs qui ne sont pourtant pas responsables de leur statut illégal.

 Alors que les deux Conseils ont voté ces dernières années les durcissements du droit des étrangers, un vent de bon sens a soufflé dans ce cas précis. Après le National, les Etats ont reconnu qu'il y avait motif à assouplir les règles. Belle leçon de pragmatisme, le pas franchi hier l'a été en dépassant les habituels clivages partisans.

 La prime ainsi donnée aux mineurs sans papiers prêts à apprendre un métier donne un signal nouveau. Leur intégration par le travail obtient une forme de reconnaissance. Au contraire, cimenter le statu quo, par juridisme étroit, les maintenait dans l'oisiveté et la marginalité.

 Le parlement serait encore plus crédible s'il acceptait de faire miroiter à ces jeunes la perspective d'une régularisation à condition que leur formation, une fois réussie, leur assure une autonomie économique durable. La régularisation par le travail reste pourtant un épouvantail en Suisse. Il faut craindre que les limites des contradictions que peut supporter l'Etat ne soient que repoussées d'un cran. öPage 9

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AUSSCHAFFUNGEN
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Bund 16.9.10

Ausschaffungshaft: Gericht rügt Haftbedingungen in Bern

 Nach Kritik des Verwaltungsgerichts an den Haftbedingungen im Regionalgefängnis Bern entliessen die Behörden eine Kamerunerin aus der Ausschaffungshaft.

 Stefan Wyler

 Die heute 44-jährige Frau aus Kamerun hatte sich anderthalb Jahre illegal in der Schweiz aufgehalten, sie wurde ausgewiesen, reiste aber wieder ein und wurde in Biel von der Polizei aufgegriffen. Am 6. April 2010 setzte sie ein Haftrichter in Ausschaffungshaft, und am 2. Juli verlängerte er die Haft bis zum 4. November, nachdem sich die Frau geweigert hatte, einen für sie gebuchten Linienflug in ihre Heimat anzutreten.

 Die Frau, die im Regionalgefängnis Bern inhaftiert war, forderte darauf beim Verwaltungsgericht des Kantons Bern ihre Freilassung. Das Gericht hat nun in seinem - gestern veröffentlichten - Urteil vom 6. August die Beschwerde abgewiesen. Es hielt zwar die Verlängerung der Ausschaffungshaft für grundsätzlich verhältnismässig, es übte aber detaillierte Kritik an den Haftbedingungen im Regionalgefängnis Bern und wies darum die Behörden an, die Frau in eine geeignete Einrichtung zu verlegen oder freizulassen. Die Frau wurde aus der Haft entlassen.

 Einziger Zweck der Ausschaffungshaft, so erinnerte das Gericht, sei die Sicherstellung einer Ausweisung. Das Vollzugsregime müsse sich von jenem für Untersuchungshäftlinge oder Strafgefangene "wesentlich unterscheiden". Die Beschränkung der Freiheitsrechte dürfe nicht über das hinausgehen, was zur Gewährleistung des Haftzwecks erforderlich sei.

 Spaziergang unter Stacheldraht

 Das Verwaltungsgericht anerkannte zwar in seinem Urteil, dass die Haftbedingungen für Ausschaffungshäftlinge im Regionalgefängnis Bern nach bundesgerichtlicher Kritik verbessert worden seien; für Frauen und Männer existierten mittlerweile Wohngruppen mit Aufenthaltsraum und freiem Zugang zum Telefon. Es fehlten aber, so kritisierte das Gericht, "geeignete Beschäftigungsmöglichkeiten", und Aufenthalte im Freien beschränkten sich auf einen einstündigen Spaziergang in einem kleinen, "von hohen Mauern umgebenen und mit Stacheldraht überdeckten Spazierhof auf dem Dach des Gebäudes".

 Der Vollzug der ausländerrechtlichen Administrativhaft in einer Wohngruppe des Regionalgefängnisses, folgerte das Gericht, sei zwar am Anfang der Haftzeit "nicht als optimal, aber doch als grundsätzlich gesetzes- und verfassungskonform" anzusehen, insbesondere dann, wenn eine Beschäftigungsmöglichkeit bestehe. Je länger die Haftzeit andauere, desto weniger einschneidend aber hätten die Freiheitsbeschränkungen auszufallen. Bei einer Haftdauer von vier Monaten jedenfalls, so fand das Gericht, entspreche die Unterbringung von Ausschaffungshäftlingen im Regionalgefängnis nicht mehr den gesetzlichen Mindestanforderungen - weshalb es den Behörden die Verlegung oder die Freilassung der Frau empfahl.

 Keine speziellen Plätze für Frauen

 Männer in Ausschaffungshaft durchlaufen laut den Berner Vollzugsbehörden in der Regel ein "dreistufiges Vollzugsregime": Sie verbringen zuerst "kurze Zeit" in einer Mehrfachzelle, später halten sie sich in einer Wohngruppe in einem Regionalgefängnis auf. Spätestens nach acht bis zehn Wochen dann werden sie in den Ausschaffungstrakt in der Strafanstalt Witzwil verlegt, wo sie mehr Freiheiten geniessen. Für Frauen gibt es im Kanton Bern keine vergleichbare Einrichtung. Sie verbrachten bisher die ganze Ausschaffungshaft in der Wohngruppe des Regionalgefängnisses Bern.

 Man werde für Frauen mit längerer Ausschaffungshaft aufgrund des Gerichtsurteils nun eine Lösung suchen müssen, sagte gestern auf Anfrage Georges Caccivio, Stabschef im kantonalen Amt für Freiheitsentzug für Betreuung. Eine solche liege aber nicht einfach auf der Hand. So seien auch die Möglichkeiten beschränkt, die Frauen in ausserkantonalen Anstalten unterzubringen. Der Kanton Bern verfügt über rund 80 Plätze für die Ausschaffungshaft, derzeit sind fünf Frauen inhaftiert - in der Wohngruppe des Regionalgefängnisses Bern.

 Gericht fordert explizite Regeln

 Das Verwaltungsgericht hat die Berner Behörden in seinem Urteil auch in einem zweiten Punkt hart kritisiert. Die ausländerrechtliche Administrativhaft, so erinnerte es, stelle einen "schwerwiegenden Eingriff in die Freiheitsrechte der betroffenen Person" dar. Laut dem Bundesgericht seien deshalb "die wichtigsten mit dem Haftvollzug verbundenen Freiheitsbeschränkungen auf Gesetzes- oder mindestens Verordnungsstufe" zu regeln. Im Kanton Bern bestünden aber, anders als in vielen anderen Kantonen, keine entsprechenden Regeln. Der Kanton habe deshalb "ohne Verzug" entsprechende Bestimmungen auszuarbeiten, forderte das Verwaltungsgericht. Die Sache werde "in Kürze an die Hand genommen und geregelt werden", sagte gestern Stabschef Caccivio.

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MIGRATION CONTROL
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Tagesanzeiger 17.9.10

Bürgerliche wollen den Zustrom aus Afrika und dem Balkan bremsen

 FDP, CVP und SVP planen, die Einwanderung aus Nicht-EU-Staaten zu erschweren. Die Schweizer Flüchtlingshilfe übt heftige Kritik an den Vorschlägen.

 Von Fabian Renz, Bern

 Die Bevölkerung der Schweiz wächst und wächst - "zehnmal schneller, als es das Bundesamt für Statistik vor neun Jahren prophezeit hat. Und mit entsprechend negativen Folgen für Gesellschaft, Wirtschaft und Ökologie", warnt der Aargauer FDP-Nationalrat Philipp Müller. Da der freie Personenverkehr mit der EU vertraglich fixiert ist, bleibt für Müller nur ein Sektor, in dem wirksame Gegenmassnahmen getroffen werden können: bei der Immigration aus Ländern ausserhalb der Europäischen Union (EU). "Jedes Jahr wandern über 40 000 Personen aus Nicht-EU-Staaten in die Schweiz ein, vor allem aus Afrika und dem Balkan. Trotzdem weigert sich Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf, etwas gegen diesen massiven Zustrom zu unternehmen."

 Unterstützt durch seine bürgerlichen Kollegen aus der Staatspolitischen Kommission (SPK) hat Müller das Heft darum selbst in die Hand genommen. Am Mittwoch reichte er drei parlamentarische Initiativen für ein verschärftes Asyl- und Ausländerrecht ein - mit den Unterschriften aller FDP-, CVP- und SVP-Vertreter aus der SPK. Konkret beinhalten die Initiativen folgende Forderungen:

 Niederlassungsbewilligung erst nach zehn Jahren: Anerkannte Flüchtlinge sollen statt wie heute fünf neu zehn Jahre warten müssen, bis sie Anspruch auf eine Niederlassungsbewilligung erhalten - so wie es für die als normale "Büezer" eingewanderten Nicht-EU-Ausländer schon jetzt Voraussetzung ist. Müller hält die Verschärfung für umso nötiger, als eine Niederlassungsbewilligung auch einen Rechtsanspruch auf Familiennachzug zur Folge habe.

 Kein Flüchtlingsstatus für Familienangehörige: Künftig sollen Ehegatten und Kinder anerkannter Flüchtlinge nicht mehr von einer automatischen Angleichung ihres Status profitieren. Der Flüchtlingstitel führe dazu, dass Familienangehörige auch bei schwerem Fehlverhalten nicht aus dem Land gewiesen werden könnten, argumentiert Müller.

 Familiennachzug nur bei gesicherten Lebensverhältnissen: Personen mit einer Niederlassungsbewilligung sollen ihre Familien nur in die Schweiz nachziehen dürfen, wenn eine geeignete Wohnung vorhanden ist und keine Sozialhilfe bezogen werden muss. Für Jahresaufenthalter sei das schon heute Bedingung, gibt Müller zu bedenken.

 Ob diese Massnahmen die Einwanderung in der gewünschten Grössenordnung abbremsen würden, wagt der FDP-Nationalrat nicht vorherzusagen. "Aber mit diesen Neuerungen hätten wir unser Möglichstes getan." Denn klar ist für Müller auch: Noch weiter gehende Verschärfungen, die mit der Europäischen Menschenrechtskonvention kollidieren würden, kommen nicht infrage. Bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe bezweifelt man indes die Rechtmässigkeit der von Müller eingereichten parlamentarischen Initiativen. Problematisch ist für Susanne Bolz, die Chefjuristin der Organisation, etwa die Streichung des Flüchtlingsstatus für die nächsten Familienmitglieder: "Wenn ein politisch Verfolgter aus seinem Land flieht, haben seine Angehörigen oft Racheakte zu befürchten - darum werden eben auch sie als Flüchtlinge anerkannt."

 Den Vorschlag, Flüchtlinge neu zehn Jahre lang auf eine Niederlassungsbewilligung warten zu lassen, wertet Bolz überdies als Bruch mit der UNO-Flüchtlingskonvention. "Flüchtlinge müssen gleich behandelt werden wie die bestgestellten Ausländer im Land. In der Schweiz sind das die Einwanderer aus der EU sowie ausländische Ehegatten von Schweizern - und für sie alle gilt bezüglich Niederlassungsbewilligung eine Wartefrist von nur fünf Jahren."

 Bolz' Urteil über die bürgerlichen Repressionspläne fällt in der Summe entsprechend ungnädig aus: "Einmal mehr reiner Aktionismus".

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Beobachter 17.9.10

Das Tabu Zuwanderung

Gian Signorell

 Noch nie sind so viele Menschen in die Schweiz eingewandert wie in den letzten Jahren. Die Bevölkerung ist beunruhigt - Politiker und Fachleute sind in ideologische Grabenkämpfe verwickelt. Text: Gian Signorell

 Der Shootingstar der Grünen muss aufpassen, was er sagt. "Das Thema ist heikel. Es ist wichtig, dass ich die Worte so wähle, dass sie nicht missverstanden werden", sagt Bastien Girod heute. Er will nicht wieder in die gleiche Bredouille kommen wie im letzten Herbst, als er von der eigenen Partei in die rechte Ecke gestellt wurde.

 Girod fordert, die Zuwanderung in die Schweiz sei zu bremsen. Andernfalls würden der Wohnungsmangel und die Verkehrsengpässe auf Strasse und Schiene verschärft, die sozial Schwachen in schlechtere Wohnlagen verdrängt und die Erholungsräume noch stärker zerschnitten. Für diese Forderung erntet er viel Zuspruch an der Basis, doch die Parteispitze sieht es ganz anders. Grüne Migrationspolitik basiere auf Solidarität, Chancengleichheit und Nichtdiskriminierung, sagt der Präsident der Grünen, Ueli Leuenberger, und stellt fest: "Die Schweiz hat kein Problem mit der Zuwanderung."

 Es kommen mehr Gutqualifizierte

 Doch Zahlen können diesen Befund kaum stützen. 74600 Personen betrug im letzten Jahr der Bevölkerungszuwachs durch Einwanderung. Das entspricht ungefähr einer Stadt von der Grösse St. Gallens. Im Jahr 2008 wurde gar die bislang höchste Nettozuwanderung erreicht: 98200 Personen. Damit kamen etwa so viele Menschen in die Schweiz wie Winterthur, die sechstgrösste Stadt des Landes, Einwohner zählt. Auch 2007 war die Einwanderungsbilanz mit 75500 Personen bereits hoch gewesen.

 Die massive Zunahme bei der Zuwanderung der letzten Jahre ist vor allem ein Effekt der Personenfreizügigkeit. Das Abkommen trat 2002 in Kraft und ermöglicht es den Bürgern der EU, sich in der Schweiz niederzulassen, wenn sie hier Arbeit gefunden haben. Umgekehrt können Schweizer unter der gleichen Bedingung in der EU wohnen. Vor allem der Wegfall der Kontingente, der zahlenmässigen Beschränkung, im Jahr 2007 führte zu einem rapiden Anstieg der Einwanderungszahlen.

 Seit Mitte der neunziger Jahre hat sich der Bildungsstand der Einwanderer verschoben - zugunsten von Hochqualifizierten. Bei der "alten" Zuwanderung verfügte vier Jahrzehnte lang rund die Hälfte der neu einwandernden ausländischen Vollzeiterwerbstätigen nicht über eine Berufsausbildung; nur jeder Fünfte hatte einen Hochschulabschluss. Inzwischen hat sich dieses Verhältnis beinahe umgekehrt: Fast 60 Prozent weisen einen Hochschulabschluss auf, weniger als 20 Prozent sind ungelernt.

 "Freizügigkeit hat Aufschwung ermöglicht"

 Die Bundesverwaltung wird denn auch nicht müde, die Personenfreizügigkeit als Erfolg darzustellen. "Das Personenfreizügigkeitsabkommen hat die Zuwanderung von Arbeitskräften in die Schweiz in den letzten acht Jahren begünstigt und der Schweizer Volkswirtschaft einen aussergewöhnlich starken Aufschwung ermöglicht", teilte das Staatssekretariat für Wirtschaft im Mai mit. Die anhaltende Zuwanderunghabe sich stabilisierend auf den Konsum und die Bauinvestitionen ausgewirkt, Rezession und Beschäftigungseinbruch in der Schweiz seien im Vergleich zu anderen Industrienationen moderat ausgefallen.

 Auch der Berner Thomas Straubhaar, der seit mehr als 20 Jahren im Ausland lebt und heute an der Universität Hamburg eine Professur für Volkswirtschaftslehre innehat, lobt die Personenfreizügigkeit als "die beste Migrationspolitik". Wenn die Grenzen offen seien und die Gewähr bestehe, wieder einreisen zu dürfen, sei die Bereitschaft grösser, das Land bei einer Rezession zu verlassen, so Straubhaar.

 Bedenken zu den hohen Zuwanderungszahlen, wie sie sich häufig in Internetforen und Leserbriefen äussern, wehrt Serge Gaillard, Leiter der Direktion für Arbeit, ab: "Wenn wir eine blühende Wirtschaft wollen, müssen wir auch die Zuwanderung akzeptieren. Wirtschaftliches Wachstum ist ohne Bevölkerungswachstum nicht möglich." Was Gaillard nicht sagt: Die Produktivitätsgewinne müssen auch auf mehr Leute verteilt werden. "Die Zahlen werden nie pro Kopf gerechnet. Der einzelne Arbeitnehmer hat deswegen kaum mehr im Portemonnaie", kritisiert der Freiburger Volkswirtschaftler Reiner Eichenberger.

 Gaillard geht davon aus, dass bei einer weiteren Konjunkturerholung in der nächsten Zeit zusätzlich rund 50000 Menschen pro Jahr in die Schweiz kommen werden. Eine Summe in der Grössenordnung der Einwohnerzahl von Biel. Zieht die Konjunktur stark an, dürfte es mehr werden.

 Die Prognose fiel falsch aus

 Wenn die Wirtschaft brummt, werden die problematischen Seiten der Personenfreizügigkeit gerne ausgeblendet. Etwa der Umstand, dass sich die Bundesverwaltung vor Jahren schon einmal gründlich verrechnet hat. "In Zeiten schwächerer Konjunktur wird die Zuwanderung zurückgehen", versprach Volkswirtschaftsministerin Doris Leuthard im Januar 2009, einen Monat vor der Abstimmung über die Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf Rumänien und Bulgarien.

 2009 schrumpfte die Schweizer Wirtschaft real um 1,9 Prozent. Es handelt sich um den stärksten Einbruch seit der Erdölkrise der siebziger Jahre. Zwar ging die Zuwanderung zurück, verharrte jedoch auf hohem Niveau. Die Arbeitslosigkeit stieg in der ersten Hälfte des Jahres stark an, bei kürzlich zugewanderten Personen sogar überproportional. "Wir haben erwartet, dass die Rückwanderung stärker ausfällt und mehr EU-Bürger in ihre Länder zurückkehren, wenn sie arbeitslos werden. Da haben wir uns getäuscht", musste Bundesrätin Doris Leuthard eingestehen.

 Der Irrtum erstaunt nicht, denn selbst Experten sind sich über die Auswirkungen der Freizügigkeit nicht einig. Der Bundesrat navigiert auf Sicht. "Die Auswirkungen der Personenfreizügigkeit werden eigentlich gar nicht richtig diskutiert. In der politischen Debatte dominiert Ideologie", sagt Roland Aeppli von der Konjunkturforschungsstelle der ETH.

 Zehn Millionen wollen in die Schweiz

 Rechtssicherheit, sozialer Frieden, moderate Steuern, tiefe Arbeitslosigkeit, hoher Lebensstandard machen die Schweiz attraktiv für Arbeitsuchende und internationale Unternehmen wie Google, Ebay oder den Navigationsriesen Garmin. Das US-Umfrageinstitut Gallup hat 347000 Erwachsene in 148 Ländern über ihre Auswanderungsträume befragt. Ergebnis: Hochgerechnet zehn Millionen Menschen möchten gern in der Schweiz leben. Das US-Magazin "Newsweek" zollte der Schweiz im August viel Lob und wählte sie zum zweitbesten Land der Welt, in internationalen Rankings der Lebensqualität erreichen Zürich und Genf regelmässig Spitzenplätze.

 "Die Welt hat die Schweiz entdeckt und gemerkt, dass sie weltweit der beste Standort ist", sagt Björn Johansson, Headhunter für Topkader. Eine Folge davon: Viele Firmenchefs sind Ausländer. Für Johansson ein Wettbewerbsvorteil: "Wir sind besser gerüstet für die Globalisierung als die Deutschen, die Franzosen oder die Engländer. Das verdanken wir dem multikulturellen Topmanagement."

 Volkswirtschaftler Straubhaar lobt den durch die Zuwanderung entstehenden "Alinghi-Effekt": "Da wird die Schweiz, die nicht einmal ein Meer hat, plötzlich als Segelnation wahrgenommen. Und das wegen einer Crew, in der keine Urschweizer dabei sind, in einer Disziplin, die bei uns keine Tradition hat. Und was passiert? Weltweit weht das Schweizer Fähnlein, die ETH forscht im Windkanal, eine Bieler Firma entwickelt Segeltechnologie, es entstehen neue Arbeitsplätze."

 Doch der Erfolg hat auch Schattenseiten. Unmittelbarster Effekt: Druck auf die Miet- und Wohnpreise. Die Nationalbank-Ökonomen Kathrin Degen und Andreas M. Fischer haben am Beispiel von Einfamilienhäusern errechnet, dass ein Prozent Immigration das Wohneigentum im Schnitt um 2,7 Prozent verteuert. Ein Effekt, mit dem auch die Mieten steigen. Die Städte tragen dabei die Hauptlast. Für Zürich heisst das: Wächst die Stadtbevölkerung um 3650 Personen, steigt der Durchschnittszins einer 2000-Franken-Wohnung um mehr als 50 Franken (siehe Beobachter Nr. 17).

 "30 Jahre lang Baustellen"

 Gepaart mit dem steigenden Mobilitätsbedürfnis sorgt unter anderem die Zuwanderung für Staus auf den Strassen und überfüllte Züge. Die Prognosen des Bundesamts für Raumentwicklung rechnen für den Zeitabschnitt von 2000 bis 2030 mit einem Wachstum des motorisierten Individualverkehrs von knapp einem Fünftel. Die SBB gehen bis 2030 von einem Nachfragewachstum von deutlich mehr als 50 Prozent aus, in den grossen Agglomerationen wie Zürich und Genf-Lausanne sogar von einem Spitzenwachstum von über 100 Prozent. Investitionsbedarf allein für die Bahn: geschätzte 20 Milliarden Franken.

 Wie viel davon zuwanderungsbedingt ist, können die SBB nicht sagen: "Bevölkerungswachstum generell ist bei der Berechnung von Nachfrageprognosen ein Faktor unter vielen, wie zum Beispiel Mobilitätsverhalten, Wirtschaftswachstum, Raumplanung, Bahnangebot, Angebot anderer Transportmittel und so weiter. Diese Faktoren stehen zudem in steter Wechselwirkung zueinander", sagt ein SBB-Sprecher.

 Volkswirtschaftler Eichenberger warnt vor dramatischen Veränderungen: dichtere Besiedlung, Landverschleiss, hohe Investitionen in die Infrastruktur, Lärm und Stress wegen der Verkehrsprobleme. "Natürlich können wir sagen, wir machen die Schweiz fit für neun oder zehn Millionen Einwohner. Das bedeutet aber auch, dass wir 30 Jahre lang praktisch permanent und fast überall mit Baustellen und deren negativen Auswirkungen konfrontiert werden."

 Bei anhaltendem wirtschaftlichem Erfolg ist diese Entwicklung kaum mehr aufzuhalten. Mit dem Abschluss des Freizügigkeitsabkommens hat die Politik die Möglichkeit der Steuerung der EU-Einwanderung aus der Hand gegeben. Die Wirtschaft diktiert. Im Falle von "grossen Verwerfungen", so Serge Gaillard vom Staatssekretariat für Wirtschaft, bestünde die Möglichkeit, "mit der EU zu reden".

 Doch aktuell geht die EU genau in die entgegengesetzte Richtung. Die Schweiz muss mit der Forderung rechnen, die Personenfreizügigkeit sei auf die EU-intern geltende Unionsbürgerschaft auszudehnen. Unter anderem hätte das zur Folge, dass nichterwerbstätige EU-Bürger Zugang zu Sozialhilfe erhielten und der Familiennachzug erleichtert würde. Bei der heutigen Regelung ist das anders: Nichterwerbstätige sowie Selbständigerwerbende verlieren ihr Anwesenheitsrecht, wenn sie der Fürsorge anheimfallen.

 Und ein weiteres Problem bleibt vorerst ungelöst: die Einwanderung aus Nicht-EU-, also aus Drittstaaten. "Wir haben in diesem Bereich heute wieder genau so hohe Zahlen wie vor Einführung der Personenfreizügigkeit im Jahr 2002", warnt der Aargauer FDP-Nationalrat Philipp Müller.

 "Direkte Einwanderung in den Sozialstaat"

 Müller ortet vor allem Handlungsbedarf beim Familiennachzug. "Der macht über die Hälfte der Einwanderung aus Drittstaaten aus." So würden mittlerweile Jahr für Jahr über 40000 Menschen aus Drittstaaten eine definitive Aufenthaltsbewilligung erhallten, in vielen Fällen sei das gleichbedeutend mit der "direkten Einwanderung in den Sozialstaat". Ein Grund dafür ist eine spezielle Regelung im Asylbereich: Normalerweise erhält ein Ausländer nach zehn Jahren eine Niederlassungsbewilligung. Anerkannte Flüchtlinge hingegen werden schon nach fünf Jahren niederlassungsberechtigt und erhalten Rechtsanspruch auf Familiennachzug. Das stört Müller: "Sie können also ihre Familie in die Schweiz holen, obwohl sie weder eine Wohnung haben noch selber für ihre Familie aufkommen können."

 Weil es teilweise auch zweifelhaft sei, ob es sich bei den über den Familiennachzug eingereisten Personen wirklich um Verwandte handle, fordert Müller nun, dass der Familiennachzug in allen Fällen nur noch möglich sein soll, wenn er nicht zu Sozialfällen führt.

 Bei Justizministerin Widmer-Schlumpf ist Müller mit seinen Ideen aufgelaufen, jetzt versucht er es mittels Vorstössen im Parlament. "Wir müssen etwas tun, sonst läuft die Situation massiv aus dem Ruder. Korrigieren wir die Zahlen bei der Drittstaaten-Einwanderung nicht massiv nach unten, wird das Volk die Personenfreizügigkeit bei der nächsten Abstimmung versenken", prophezeit Müller. n

 Redaktionelle Mitarbeit: Susanne Loacker

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NO BORDER CAMP BRÜSSEL
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linksunten.indymedia.org 16.9.10

Enjoy Brussels! Einige Ideen...

Verfasst von: Autonome Gruppe "Schuman's dritte Symphonie”.

Enjoy Brussels! Einige Ideen...

enjoybrussels.noblogs.org - Text und praktische Infos zum No Border Camp in Brüssel (25. September - 3. Oktober)

I. EINLEITUNG

Dieser Text entstand aus praktischen Fragen im Zusammenhang mit der Austragung des ECOFIN-Treffens (europäische Finanzminister versammeln sich vom 30. September bis 1. Oktober) und europäische Gewerkschaftsdemo (am 29. September) während des No Border Camps in Brüssel (25. September bis 3. Oktober). Während Diskussionen, erfragten wir unsere Position im Bezug auf diesen Gipfel. Unsere Überlegungen führten schnell zu "die” aktuelle Krise und ihre soziale und politische Effekte, in der zwischenzeitlichen Erhöhung rassistischer Politik und Verhaltensweisen, und soziale Revolten und Massenbewegungen. Fragen über diese Effekte sind schlussendlich, der zentrale Grund, dieses Textes, mit der letzten September Woche als Hintergrund. Aus einer radikalen Position gegen Grenzen und für die Freiheit der Bewegung schlagen wir hier mit ein paar Ideen über die "No Border Bewegung”, über Relationen zwischen antimigrations- und europäische ökonomische Politik und über das aktuelle Aufblühen von Revolten vor. Ideen die darauf abzielen zu überlegen, zu diskutieren … und zu agieren.

II. ÜBER UNSERE LIMITS

III. MIGRATIONEN IN DER ENTWICKLUNG DES ÖKONOMISCHEN UND SICHEREN EUROPAS

IV. ANGST UND PATRIOTISMUS IN ZEITEN DER "KRISE”

V. SOZIALE BEWEGUNGEN UND PERSPEKTIVEN

Als pdf (deutsch)
http://linksunten.indymedia.org/system/files/data/2010/09/1005252488.pdf

Artikel auf français, english, deutsch, español, italiano und praktische Infos auf: http://enjoybrussels.noblogs.org


Weitere interessante Links zum No Border Camp in Brüssel:

No Border Camp Brussels: http://noborderbxl.eu.org

Precarious United: http://www.precarious-united.eu/

Brussels Indymedia: http://bxl.indymedia.org

Enjoy Brussels! Einige Ideen... (PDF)
http://linksunten.indymedia.org/de/system/files/data/2010/09/1005252488.pdf

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Zeige Kommentare: ausgeklappt | moderiert
actionlists
Verfasst von: anonym. Verfasst am: Do, 16.09.2010 - 12:31.

http://paris.indymedia.org/IMG/doc/LIST-en.doc

http://www.adequations.org/IMG/pdf/LobbyPlanet.pdf

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no prison
Verfasst von: no state. Verfasst am: Do, 16.09.2010 - 17:13.

Mobiclip: http://www.youtube.com/watch?v=TyFBndmaRL4

1. Okotober in Brüssel: Anarchistische Demonstration gegen Abschiebelager und Knäste

Plakat: http://media.de.indymedia.org/media/2010/09//289902.pdf

Aufruf (vorerst nur auf fr): http://non-fides.fr/?Pour-un-monde-sans-centres-fermes

Auf nach Brüssel!

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Indymedia 16.9.10

Gegen Abschiebezentren!
Aufruf zur Demonstration am
1. Oktober 2010, 19:00 Gare du Midi - Brüssel http://ch.indymedia.org/de/2010/09/77515.shtml

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SEXWORK
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20 Minuten 15.9.10

Businessplan für Dirnen?

 ZÜRICH. Zürcher Prostituierte sollen womöglich bald einen Businessplan vorlegen müssen und darin detailliert Auskunft über ihre Arbeit geben. Rolf Vieli, Leiter des städtischen Projekts Rotlicht, bestätigte gegenüber "10 vor 10", dass das Polizeidepartement dies prüfe. "Grundsätzlich befürwortet das Projekt Rotlicht alles, was mehr Transparenz ins Rotlichtmilieu bringt." In Bern arbeitet man bereits seit einem Jahr damit: "Der Businessplan gibt uns Gewissheit, dass die Frauen nicht von Zuhältern ausgenutzt werden", sagte Alexander Ott, Chef der Berner Fremdenpolizei. Politiker widersprechen allerdings: "Aus sprachlichen Gründen können die wenigsten Dirnen einen solchen Plan erstellen- sie werden so in die Illegalität gezwungen", sagte die Berner FDP-Grossrätin Katrin Zumstein zu 20 Minuten.

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ANTI-FEMINISMUS
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20 Minuten 15.9.10

Antifeminismus-Treffen eine Angstreaktion der Männer?

 ZÜRICH. Fünf namhafte Männerorganisationen wagen den Aufstand gegen die "Unterdrückung der Männer". Am ersten internationalen Antifeminismus-Treffen beginnen sie ihren Kampf.

 Nirgends hätten ledige Väter so wenig Rechte wie in der Schweiz, sagt Michael de Luigi von der Schweizer Männerorganisation Mannschafft. Deshalb wird er am ersten internationalen Antifeminismus-Treffen in Zürich teilnehmen. "Die Feministinnen hocken noch immer an den Schaltstellen der Macht, vor allem im so- zialen und familiären Bereich." Das Grundgesetz der Gleichberechtigung von Mann und Frau werde mit Füssen getreten. Mannschafft ist nur eine von fünf Männerorganisationen, die am 30. Oktober am ersten internationalen Antifeminismus-Treffen teilnehmen werden. Auch die IG geschiedener und getrennt lebender Männer, die Männer menschlich, sozial und juristisch unterstützt, ist dabei, sowie zwei weitere deutsche Männerorganisationen.

 Ins Leben gerufen wurde das Treffen von der IG Antifeminismus. Präsidiert wird diese von SVP-Mann René Kuhn, der einst als "Frauen-Lästerer" für Schlagzeilen sorgte. "Ein grosser Teil der Männer ist mit der heutigen übermässigen Bevorteilung der Frauen und Diskriminierung der Männer nicht mehr einverstanden", sagt Kuhn.

 Für Rosmarie Zapfl, Präsidentin der Frauenorganisation Alliance F, ist das Antifeminismus-Treffen eine "Angstreaktion": "Es gibt inzwischen so viele starke selbstbewusste Frauen. Dies schüchtert viele Männer ein und verleitet sie zu solchen Gegenaktionen."

 Derweil hat das Restaurant Waid, wo das Treffen stattfinden sollte, den Initianten eine Absage erteilt. Laut Kuhn wird die Tagung aber dennoch stattfinden: "Wir lassen uns von Feministen nicht den Mund verbieten."  

Désirée Pomper

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 "Feministinnen sterben bald aus"

 ZÜRICH. Alfredo Stüssi, Präsident der Männerpartei, über den Beginn der Revolution entfremdeter Väter.

 Warum nimmt die Männerpartei am ersten internationalen Antifeminismus-Treffen teil?

 Alfredo Stüssi: Der Feminismus ist seit den 60er-Jahren ausgeartet. Mütter haben das Gefühl, Kinder gehörten nur ihnen, und degradieren Väter zu Zahlungsmaschinen. Das Sorgerecht und die Obhut wird meist den Müttern zugesprochen. Das Bildungssystem bevorzugt Mädchen. Es muss endlich Schluss sein mit der Männerdiskriminierung.

 Initiant der Tagung ist ein SVP-Politiker. Politisieren Sie auf der gleichen Linie?

 Nein, die Männerpartei politisiert in der Mitte. Es muss uns bewusst sein: Männer, die Opfer feministischer Auswüchse werden, gibt es in allen Parteien.

 Sie sagen das Ende der Feminismus-Ära voraus.

 Die neue Frauengeneration ist viel offener und flexibler. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Feministinnen aussterben. Jetzt beginnt die Revolution der entfremdeten Väter.  dp

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PUNK'S NOT DEAD
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Radio Dreyeckland (Freiburg) 16.9.10

Punk bleibt Punk - Eine europäische Bewegung?

Gibt es eine vernetzte Europäische Punk-Szene, wie unterscheiden sich die Lebenswelten von Ost- und Westeuropäischen Punks? Diese Fragen stellt Viktoria Balon an Lucja Romanowska, die Autorin von Fotobuch und Ausstellung
"Euch die Uhren - uns die Zeit: Straßenpunks 1999-2009".
Lucja Romanowska, geboren 1983 in Gdynia, Polen, dann nach Deutschland ausgewandert, hat beinahe 10 Jahre lang die Szene in Deutschland und teilweise in Polen aus nächster Nähe miterlebt.
http://www.freie-radios.net/mp3/20100916-punkbleibt-36063.mp3

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ANTI-ATOM
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Tagesanzeiger 17.9.10

Nagra sucht Empfangsstandort für radioaktiven Abfall

 Während zweier Wochen werden Experten für die Lagerung von radioaktiven Abfällen im Gebiet Nördlich Lägern Feldbegehungen unternehmen. Vor Ort wollen sie einen Augenschein nehmen.

 Von Manuela Moser

 Unterland - Ab nächsten Montag werden Vertreter der Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) das Gebiet Nördlich Lägern besuchen. "Unauffällig und ohne Schriftzüge der Nagra" - wie Heinz Sager, Leiter Kommunikation Nagra, an der gestrigen Pressekonferenz betonte. Vier bis sechs Umweltfachleute und Ingenieure werden vor Ort einen Augenschein über die tatsächlichen Begebenheiten derjenigen Region nehmen, die unter den sechs möglichen Standorten für ein Tiefenlager ist. Die Nagra-Vertreter werden dabei fotografieren, Baugrund und Landschaftsbild einsehen und ihre eigenen Pläne - entworfen am Pult - mit der Realität vergleichen. Es ergäben sich immer andere Eindrücke, so Sager, wenn man tatsächlich im Feld stehe. "Bei den Feldbegehungen werden keine Privatwege betreten", betonte er. Ende dieses Monats werden die Nagra-Vertreter ihre Arbeit abgeschlossen haben.

 Umverpackung in Behälter

 Ziel der Begehungen ist es, Standorte für den Bau von Oberflächenanlagen zu prüfen. Bereits einen Monat nach dem bundesrätlichen Entscheid im Sommer 2011 über die Gebiete, welche im Auswahlverfahren für ein Tiefenlager bleiben, muss die Nagra Vorschläge für Lager an der Oberfläche machen.

 Diese oberirdischen Bauten werden die Empfangsanlagen der künftigen Tiefenlager sein; dort werden die radioaktiven Abfälle entgegengenommen und unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen in Behälter umverpackt. In diesen Behältern werden sie dann mittels eines Tunnels in die Tiefe versenkt. Im Gebiet Lägern Nord - oder einem der andern fünf Standorte der Schweiz - sind zwei Tiefenlager geplant: eines für hoch aktiven (HAA) und eines für mittel- bis schwach radioaktiven Abfall (SMA). Also bräuchte es dementsprechend auch zwei - oder falls sie zusammengelegt werden - eine Oberflächenanlage.

 Ein solcher Bau nimmt fünf bis acht Hektar Land in Anspruch. Vorschriften über den Standort gibt es keine. Er kann siedlungsnah im Industriegebiet genauso wie siedlungsfern versteckt an einem Waldhang zu stehen kommen. "Wichtig ist", so betonte Susanne Haag, Projektleiterin Raumplanung und Umweltverträglichkeit, "dass überall die gleichen Sicherheitsmassstäbe gelten." In einer solchen Empfangsanlage sei weltweit noch nie etwas passiert.

 In der Schweiz wird heute radioaktiver Abfall aus den fünf Kernkraftwerken sowie aus Medizin, Industrie und Forschung bereits an das Zwischenlager in Würenlingen AG geliefert. Laut der Nagra wird die Bevölkerung wegen einer Oberflächenanlage keine Nachteile haben: Es gibt weder Geruchs- noch übermässige Geräuschemissionen. Auch eine Explosion ist undenkbar - hoch radioaktiver Abfall ist nicht brennbar. Zudem sollten die Behälter mit dem Material absolut dicht sein. "Und wenn im unwahrscheinlichen Fall ein Behälter beim Transport doch umfällt und aufspringt", so Sager, "dann spielt das klassische Strahlenszenario: Der austretende Stoff wird sofort abgeschirmt." Er kann nicht bis ins Dorf strahlen.

 "Mit einer Oberflächenanlage erhält eine Gemeinde ein mittelgrosses Unternehmen", unterstreicht Sager die Vorteile. Rund 100 Arbeitsstellen würden geschaffen. Das geplante Besucherzentrum bringt weitere Einnahmen.

 Die betroffenen Gemeinden werden Vorschläge für Standorte bringen können. Da sich im Gegensatz zum Tiefenlager ein oberirdischer Bau an keine harten Kriterien halten muss, ist der Standort flexibler. Er muss auch nicht direkt oberhalb des Tiefenlagers sein, sondern kann im Umkreis von fünf Kilometern gebaut werden. Die Abfälle werden dann über einen schrägen Tunnel in die Tiefe geführt. Gebaut wird eine Oberflächenanlage wegen des langwierigen Verfahrens allerdings frühestens 2040.

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Aargauer Zeitung 17.9.10

Ohne Oberanlage kein Tiefenlager

 Die Nagra trifft im Rahmen der Feldbegehungen in "Nördlich Lägern" keine Vorentscheide

 Die Nagra macht Feldbegehungen in den 6 Regionen, die als Standorte für ein Tiefenlager zur Lagerung radioaktiver Abfälle infrage kommen. Dabei sollen geeignete Standorte für Oberflächenanlagen gefunden werden.

 Andreas Bannwart

 "Mit den Feldbegehungen verifizieren wir, was wir im Büro ausgearbeitet haben", sagt Susanne Haag, Verantwortliche für Raumplanung und Umweltverträglichkeit der Nagra (Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle). Die Nagra hat die Aufgabe, dem Bundesrat konkrete Standorte für zwei Oberflächenanlagen vorzuschlagen. Eine Anlage für hochaktive, eine für mittel- bis schwachaktive Abfälle - oder kombiniert in einer Anlage. Dort würden radioaktive Abfälle von Kastorbehältern in Endlagerbehälter umverpackt und über einen Tunnel ins Tiefenlager geführt. Die Verpackungsanlage hielte dabei einem Flugzeugabsturz stand.

 Gemeinden kommen zu Wort

 In den Feldbegehungen vergleicht die Nagra zusammen mit Ingenieuren und weiteren Fachpersonen ihre Standortpläne mit den Gegebenheiten in den Regionen. Damit vertieft sie ihre Datengrundlage, um diese ab Mitte 2011 den regionalen Interessengruppen als Diskussionsgrundlage vorzulegen. "Ein Oberflächenlager soll technisch umsetzbar und vernünftig sein; wir treffen keine Vorentscheide", sagt Haag. Bei der Standortwahl für eine Oberflächenanlage habe die Gemeinde zudem ein Mitspracherecht, was beim Tiefenlager nicht der Fall sei. Der Standort eines Tiefenlagers werde nicht automatisch auch Standort einer Oberflächenanlage, unabhängig der Tunnellänge. Als Standorte wären brache Industriegegenden und alte Abbaugebiete besonders begünstigt. Auch Waldstücke, Hangfusslagen sowie Siedlungsgrenzen mit genügend Fläche kämen infrage. Zu meiden sind Wohnzonen und Schutzgebiete.

 Begrenztes Sicherheitsrisiko

 Unabhängig vom Standort erfüllt eine Oberflächenanlage überall die gleichen Sicherheitskriterien. Die Verantwortung dafür obliegt dem Eidgenössischen Nuklear-Sicherheitsinspektorat (Ensi). Heinz Sager, Kommunikationsleiter der Nagra, sieht für Anwohner kein besonderes Risiko: "Kastorbehälter sind etwas vom Massivsten, was es gibt." Dies hätten Tests mit Hitze, Druck und Aufschlag gezeigt. Zudem sei hochaktiver Abfall weder brennbar noch könne er explodieren. "Weltweit ist kein Fall bekannt von einem Kastorbehälter, aus dem radioaktive Strahlung ausgetreten ist", führt Sager weiter aus. Selbst im GAU-Fall (grösster anzunehmender Unfall) kann mit erprobten Massnahmen eine Strahlenausbreitung verhindert werden.

 Begehungen im September

 Frühester Baubeginn für ein Tiefenlager ist 2040, erste Abfälle könnten 5 Jahre später eingelagert werden. Ab dann könnte alle 2 Monate ein Transport mit radioaktiven Abfällen bei einer Oberflächenanlage ankommen. Die Begehungen in "Nördlich Lägern" finden vom 20. September bis 1. Oktober statt.

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Zofinger Tagblatt 17.9.10

Nagra beginnt mit Messungen in Riken

 Murgenthal Hochsensible Messstation soll künftig Erdbewegungen im Millimeterbereich aufzeichnen

 Die Nationale Gesellschaft für Radioaktive Abfälle (Nagra) hat in Riken die erste ihrer neuen Messstationen für Erdbewegungen in Betrieb genommen.

 Corinne Wiesmann

 Mitten im Gebiet Tannacker in Riken ragt sie über zwei Meter hoch gegen den Himmel. Der goldene Aufsatz ist schon von Weitem zu sehen. Das Gerüst und der Stromkasten sind in dezentem Grün gehalten, damit sie sich ins Landschaftsbild einfügen. Und dennoch, die neue GNSS-Empfangsstation (Global Navigation Satelite System) der Nagra fällt ins Auge. Auch wegen des schweren Holzzauns, von dem sie umgeben ist. "Die Station in Murgenthal ist die erste unserer neuen Messstationen, die wir in Betrieb nehmen konnten", sagt Walter Gassler, Nagra-Projektleiter, bei einer Begehung vor Ort.

 Sicherheitstechnische Gründe

 Elf solcher Empfangsstationen der Nagra sind in der Nordschweiz und im angrenzenden Deutschland geplant. Sie sollen Erdkrustenbewegungen und Erdkrustenverformungen im Bereich von weniger als einem Millimeter pro Jahr aufzeichnen. Die neuen Stationen ergänzen das bestehende Messnetz, das von Swisstopo (Bundesamt für Landestopografie) bereits heute betrieben wird. "Wir betreiben diese Stationen in erster Linie aus sicherheitstechnischen Gründen", erklärt Walter Gassler. "Wir müssen wissen, wie sich der Untergrund verhält, um damit Aussagen über die Langzeitstabilität der vorgeschlagenen Tiefenlager-Standortgebiete und deren weitere Umgebung zu gewinnen." Die Messungen könnten darüber hinaus aber auch Daten über allgemeine geologische Veränderungen liefern, welche in die Forschung einfliessen würden, so der Projektleiter weiter.

 25 Jahre Betriebszeit

 Die Messstation in Murgenthal steht auf dem Privatgrundstück eines Bauern. Die Nagra zahlt dem Landwirt eine Entschädigung für die Benützung seines Landes. Diese richtete sich nach Massstäben des kantonalen Bauernverbandes. "Es ist aber trotzdem nicht einfach, Eigentümer zu finden, die uns ihr Land zur Verfügung stellen", sagt Gassler. "Umso glücklicher sind wir, dass es hier in Murgenthal geklappt hat. Denn die Bedingungen an diesem Standort sind optimal."

 Vorerst soll die neue GNSS-Empfangsstation in Murgenthal, die keine Strahlungen aussendet wie etwa eine Mobilfunkantenne, für 25 Jahre betrieben werden. "Erste Trendmeldungen über die Aktivitäten im Untergrund werden vermutlich in vier bis fünf Jahren vorliegen", meint Walter Gassler.

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WoZ 16.9.10

Kinder, Leukämie, Akw

 Schwangere, hütet euch vor AKWs!

 Schweizer Atomanlagen geben beträchtliche Mengen Tritium ab, das Wasser radioaktiv macht. Dieses Tritium könnte der Grund sein, weshalb Kinder, die in der Nähe von Atom anlagen leben, häufiger an Leukämie erkranken als andere Kinder. Auch die Strahlen schutzkommission fordert Abklärungen.

 Von Susan Boos

 Ian Fairlies Warnung ist deutlich: Frauen, die ein Kind bekommen möchten, sollten sich von Atomanlagen fernhalten - sonst riskieren sie, dass ihr Kind an Leukämie erkrankt.

 Fairlie lebt in London, ist Chemiker, bezeichnet sich als unabhängiger Berater und gilt als ausgewiesener Nuklearexperte. Ende August weilte er in Basel am Weltkongress der ÄrztInnen gegen Atomkrieg (IPPNW).

 Fairlie liefert eine plausible Erklärung, weshalb Kinder, die in der Nähe von Atomkraftwerken aufwachsen, ein doppelt so hohes Risiko haben, an Leukämie zu erkranken, wie Kinder, die weiter weg leben. Die deutsche Kinderkrebsstudie Kikk hat dies vor zwei Jahren eindeutig belegt. Eine ähnliche Untersuchung, die sogenannte Canupis-Studie, läuft zurzeit in der Schweiz. Sie ist allerdings höchst umstritten, da die Schweiz zu klein ist, um wissenschaftlich relevante Daten zu liefern - die AKW-Seite dürfte die Studie allerdings dazu benützen, zu behaupten, die Meiler seien ungefährlich (siehe WOZ Nr. 48/09).

 Hauptgefahr während der Revision

 Bei der Kikk-Studie konnten die AKW-Betreiber dies nie behaupten, weil die Resultate zu eindeutig waren. Aber trotzdem heisst es, die Leukämiefälle hätten mit den Atomanlagen nichts zu tun, weil diese im Normalbetrieb wenig Radioaktivität abgeben würden.

 "Falsch!", sagt Fairlie im Gespräch mit der WOZ. Der Haupt­übeltäter ist seiner Meinung nach das Tritium. Das ist radioaktiver Wasserstoff, dessen Atome so winzig sind, dass sie durch Beton und Stahl gehen. Tritium entsteht in allen fünf Schweizer Reaktoren, aber auch in den Forschungsanlagen des Paul-Scherrer-Instituts (PSI) nördlich von Baden oder im Verbrennungsofen des Zwischenlagers, das in unmittelbarer Nähe des PSI am Ufer der Aare liegt. Das Unangenehme an Tritium: Es setzt sich in normalen Wassermolekülen gerne an die Stelle von nichtradioaktiven Wasserstoffato men - wodurch das Wasser selbst radioaktiv wird. Nehmen Menschen Tritium durch Essen, Trinken oder Atmen auf, dann baut es der Körper in die Zellen ein.

 "Gefährlich ist es vor allem während der Revision", sagt Fairlie, "einmal im Jahr müssen sie in den Atomkraftwerken den Reaktordeckel öffnen, um die Brennstäbe zu wechseln. In diesem Moment entweicht viel Tritium, denn es gibt keine Möglichkeit, den Stoff zurückzuhalten." Die normale Hintergrundstrahlung in der Umgebungsluft liegt bei einem AKW bei etwa fünf Becquerel pro Liter, sagt Fairlie: "Während der kurzen Spitzenbelastung, wenn der Reaktordeckel geöffnet wird, kann sie fünf Millionen Becquerel betragen, ist also um den Faktor von einer Million erhöht." Hält sich nun eine Frau, die erst kurze Zeit schwanger ist, in diesem Moment in der Nähe des Atomkraftwerks auf und der Wind weht vom AKW in ihre Richtung, kann es für den Embryo riskant werden. "Kurz nach der Befruchtung sind die Zellen am strahlenempfindlichsten, weil sie sich sehr schnell teilen", sagt Fairlie. Diese frühen Schädigungen lösen vermutlich später die Leukämie aus.

 "Es besteht Abklärungsbedarf"

 Einmal im Monat misst das Bundesamt für Gesundheit an verschiedenen Stellen die radioaktive Belastung. Sybille Estier, die für das Mess programm zuständig ist, meinte gegenüber der WOZ: In der Umgebung der AKW könnten sie jeweils keinen Tritium-Anstieg registrieren - wenn aber im Zwischenlager radioaktives Material verbrannt werde, würden sie dies bei ihren Messungen sehen.

 Bei den Atomkraftwerken geht der gröss te Teil des Tritiums über die Abwässer in die Aare respektive den Rhein. Besonders viel lassen Gösgen, Beznau und Leibstadt raus - sie erreichen heute zwischen 15 und 21 Prozent der erlaubten Limiten.

 Wobei diese Limiten sehr willkürlich erscheinen: Das AKW Gösgen darf zum Beispiel 3,5-mal mehr radioaktives Wasser ablassen als das AKW Leibstadt. Würde für Gösgen dieselbe Limite gelten wie für Leibstadt, wäre es schon bald an der Grenze des Erlaubten. Am meisten darf übrigens der Verbrennungsofen in Würenlingen abgeben - und zwar in die Luft, was die Bevölkerung eigentlich alarmieren müsste.

 Die Eidgenössische Kommission für Strahlenschutz und Überwachung (KSR) treibt das radioaktive Wasser ebenfalls um. Im KSR-Jahresbericht heisst es: "Insbesondere wirft das organisch gebundene Tritium einige Fragen bezüglich Toxizität und Mobilität auf."

 André Herrmann, bis vor kurzem Kantonschemiker von Basel-Stadt, ist Präsident der KSR. Er meint, Ian Fairlies These sei nicht abwegig, auch wenn es noch andere mögliche Erklärungen für die erhöhte Leukämierate bei Kindern gebe. "Es besteht in jüngster Zeit tatsächlich ein erhöhtes Interesse an Tritium", auch in der Schweiz gebe es Abklärungsbedarf: "Wir möchten genauer wissen, wo es vorkommt und welche Konsequenzen es haben kann." Herrmann beeilt sich, anzufügen: Was nicht heissen müsse, dass es gefährlich sei, man wolle es einfach aus wissenschaftlichem Interesse wissen. Es gebe zudem in verschiedenen Flüssen Altlas ten aus der Uhrenindustrie (sie verwendete das Material für Leuchtzifferblätter), die man auch untersuchen müsse, um festzustellen, wie viel Tritium in den Flussbetten liege, woher es stamme und ob es in die Nahrungskette gelange.

 Im Ausland ist die Diskussion schon weiter. Im Juli publizierte die französische Strahlenschutzbehörde ASN einen Bericht, der vermutet, das Risiko von Tritium sei bis heute unterschätzt worden - weshalb die ASN eindringlich weitere Forschung verlangt. Eine unabhängige Expertengruppe hat schon 2007 im Auftrag der staatlichen britischen Health Protection Agency eine Untersuchung veröffent licht, die zum Schluss kommt, Tritium sei doppelt so gefährlich wie bislang angenommen, und gefährdet seien vor allem Embryonen.

 Zu hohe Grenzwerte

 Der Präsident der IPPNW Schweiz, der Basler Onkologe Claudio Knüsli, kritisiert denn auch, dass die Strahlenschutzbehörden von Grenzwerten ausgehen, die sich auf einen sogenannten "Referenz-Mann" beziehen. Aufgrund von dessen Grösse, Gewicht und Konstitution wurde hochgerechnet, wie viel radioaktive Belastung ein Mensch angeblich vertragen kann, und daraus hat man dann die Grenzwerte abgeleitet. Diese theoretische Annahme kann niemals einem Embryo gerecht werden, da dieser um ein Vielfaches empfindlicher auf radioaktive Strahlung reagiert als Erwachsene. Deshalb fordert IPPNW, den "Referenz-Mann" durch einen "Referenz-Embryo" zu ersetzen, womit die Strahlenschutzlimiten deutlich gesenkt werden müssten.

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 Kikk und Canupis

 Die deutsche Kinderkrebs-Studie Kikk lieferte folgende Resultate: Kinder, die im Umkreis von fünf Kilometern um ein Atomkraftwerk (AKW) leben, haben im Vergleich zu unbelasteten Kindern ein doppelt so hohes Risiko, an Leukämie zu erkranken; das erhöhte Risiko lässt sich bis zu einem Umkreis von fünfzig Kilometern feststellen, nimmt aber mit wachsender Distanz ab; ganz kleine Kinder sind wesentlich gefährdeter.

 Die Schweizer Kinderkrebsstudie Canupis wurde im Herbst 2008 gestartet, 2011 sollen erste Resultate vorliegen. Die Studie kos tet 840 000 Franken; je 210 000 Franken bezahlen die AKW-BetreiberInnen, den Rest der Bund und die Krebsliga. SB

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20 Minuten 16.9.10

Greenpeace: AKWs schlecht gegen Angriffe geschützt

 BERLIN. Die deutschen Atomkraftwerke sind gemäss Greenpeace durch tragbare Waffensysteme bedroht. Gilt das auch für die Schweizer Anlagen?

 Nach einer Studie der Umweltorganisation sind Atomkraftwerke nicht nur durch gezielte Flugzeugabstürze, sondern auch durch Terroranschläge mit panzerbrechenden Waffen gefährdet. Beim Beschuss mit sehr durchschlagskräftigen tragbaren Waffensystemen könnte es zu einer Kernschmelze und einer Verstrahlung der Umgebung binnen weniger Stunden kommen, erklärte die Organisation in Berlin. Bis zu einem Drittel der Fläche Deutschlands könnte kontaminiert werden.

 Diese Gefahr besteht gemäss Greenpeace Schweiz auch hierzulande. "Die Schweizer Atommeiler sind punkto Bauweise mit den deutschen absolut vergleichbar. Wir müssen also nach dieser Studie davon ausgehen, dass auch unsere AKWs stärker durch terroristische Angriffe bedroht sind als bisher angenommen", so Sprecherin Sibylle Zollinger.

 Greenpeace hatte eine Studie zu einer speziellen panzerbrechenden Waffe erarbeiten lassen, der russischen Panzerabwehrlenkwaffe AT-14 Kornet-E. Sie ist den Angaben zufolge seit 1994 auf dem Markt. Damit seien bis zu einem Meter Stahl und bis zu drei Metern Stahlbeton zu durchschlagen. Die Betonhülle sei bei älteren deutschen Atomkraftwerken jedoch nur 60 Zentimeter bis einen Meter dick, bei neueren 1,80 bis zwei Meter. Greenpeace-Atomexperte Heinz Smital meinte: "Es ist vollkommen ausser Zweifel, dass jeder Reaktor in Deutschland sich mit Zielwaffen zerstören lässt."

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Bund 16.9.10

Die starke Rückkehr der Atomenergie

 "Atomkraft? Nein danke": Der Slogan war gestern. Heute brummt die Atomenergie weltweit. Selbst Länder wie Schweden fordern den Ausstieg vom Ausstieg.

 Alain Zucker

 An der ETH beginnt der Aufschwung langsam. Den ersten Masterstudiengang für Nuklearingenieure haben 11 Kandidaten abgeschlossen, den zweiten 13, und im dritten, der jetzt dann beginnt, könnten es 16 werden. Doch ihre Aussichten, dereinst einen guten Job zu finden, sind ausgezeichnet. Die totgesagte Kernenergie erlebt weltweit eine Renaissance, und weil die Ausbildung von Atomingenieuren in Westeuropa wegen unsicherer Aussichten lange vernachlässigt wurde, sind sie gesuchte Leute.

 Dass Deutschland diese Woche beschlossen hat, die Laufzeiten seiner Atomkraftwerke zu verlängern, ist nur eine Randerscheinung des globalen Atombooms. 59 Atommeiler sind weltweit im Bau, darunter die ersten, die zur dritten Generation gehören, und das Uran effizienter, also mit weniger Abfall, in Strom umwandeln sollen. 500 weitere sind gemäss dem Branchenverband World Nuclear Association in Planung oder vorgesehen und sollen bis 2030 betriebsbereit sein. Die Unternehmensberatung Arthur D. Little erwartet bis 2030 ein jährliches Wachstum von durchschnittlich zehn Prozent bei der Inbetriebnahme neuer Reaktoren - die meisten davon in Schwellenländern wie China, Indien und Russland.

 Aber auch in Westeuropa, wo der Widerstand gegen die Atomkraft eine ganze Generation politisierte, zeichnet sich ein Umdenken ab. Einige der heutigen Kernkraftwerke nähern sich dem Ende ihrer Lebenszeit, und bisher können die erneuerbaren Energien die drohende Stromlücke nicht füllen. Grossbritannien hat deshalb den Bau acht neuer Atommeiler beschlossen, Polen will überhaupt erst einsteigen, und in Schweden und in Italien propagieren die Regierungen den Ausstieg vom Ausstieg.

 "Heute werden mehr Atommeiler gebaut als je zuvor in den vergangenen 20 Jahren", sagt Hans-Holger Rogner von der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA). Die erste Generation wurde vor 40 bis 60 Jahren gebaut, doch seit die zweite Generation in Betrieb ist, blieb die Zahl der Kernkraftwerke stabil - 441 Reaktoren sind es heute. Ihr Anteil an der globalen Stromproduktion liegt bei 15 Prozent. Am höchsten ist er in Westeuropa. Da liegt die Schweiz mit 40 Prozent im vorderen Mittelfeld. Auf Platz eins liegt Frankreich (75%). Schlusslicht ist China, das erst 2 Prozent seiner Elektrizität nuklear gewinnt.

 Womit klar ist, wo das grosse Wachstumspotenzial liegt. Von den 48 neuen Anlagen der vergangenen Dekade stehen 36 in Asien. China allein baut derzeit 24 neue und will den Atomstrom in zehn Jahren verachtfachen. Konkurrenz machen den Asiaten die Russen, die zehn Meiler bauen und den Nuklearanteil beim Strom auf 30 Prozent verdoppeln wollen. "Zu Öl und Gas gibt es nur eine starke Alternative - das ist die Atomenergie", sagt der russische Regierungschef Wladimir Putin.

 Atomenergie als Energieträger der Zukunft? Die World Nuclear Association geht in ihrem Szenario für das laufende Jahrhundert mindestens von einer Verfünffachung der heutigen nuklearen Produktion aus. Doch die Voraussagen der Industrie sind insofern mit Vorsicht zu geniessen, als unklar ist, ob all die Reaktoren, die in Westeuropa in den nächsten Dekaden vom Netz gehen, wirklich ersetzt werden. Das hängt vor allem von den politischen Rahmenbedingungen ab, die zum wichtigsten Risikofaktor geworden sind für die vier grossen Baukonsortien der Branche: Toshiba-Westinghouse, die französische Areva, GE-Hitachi und die russische Rosatom, die mit Siemens kooperiert. Immerhin kosten Planung und Bau eines neuen Reaktors mehrere Milliarden Franken und dauern über zehn Jahre.

 Doch während Atomkraftgegner für Westeuropa und die USA noch immer darauf hoffen können, dass sich der Anteil der Kernkraft verringern wird, lässt die explodierende Energienachfrage Ländern in anderen Weltgegenden keine Wahl. Der globale Elektrizitätsbedarf wird gemäss IAEA bis 2030 um 50 bis 75 Prozent steigen, vornehmlich wegen des Wachstums in den Schwellenländern. Die Kernkraft ist dabei nur einer der Energieträger, die dazu beitragen sollen, dieses Wachstum zu bewältigen - bis heute übrigens in einem viel geringeren Ausmass als die Kohle. Sofern die Schwellenländer überhaupt gewillt sind, etwas gegen den Klimawandel zu tun, setzen sie auf Atomkraft, um ihre Abhängigkeit von der Kohle und damit die C02-Emissionen zu reduzieren.

 Atomkraft als grüne Technologie: Dies muss allen, die sich einst während der Anti-AKW-Proteste an Eisenbahnschienen anketten liessen, als Ironie der Geschichte erscheinen. Doch heute gilt Atomstrom auch bei vielen Finanzanlagen als umweltfreundliche Investition. Und Horst-Michael Prasser, Professor für Kernenergiesysteme an der ETH Zürich, erklärt den Erfolg der Kernenergie unter anderem mit der "Ökobilanz, die unter dem Strich gut ist".

 Vergessen ist heute die Katastrophe von Tschernobyl, als nach einer Kernschmelze weite Teile der heutigen Ukraine, aber auch Weissrusslands und Russlands radioaktiv verseucht wurden. Weil es in etwa 14 000 Erfahrungsjahren nur zu zwei Unfällen mit Zerstörung des Reaktorkerns kam, spricht die Atombranche heute von einem "Restrisiko" - und das ist positiv gemeint. So liefern Sicherheitsanalysen der Hersteller bei Kraftwerken, die heute gebaut werden, Wahrscheinlichkeiten einer Kernschmelze pro Anlage von weniger als ein Mal in einer Million Jahre. Das heisst, dass ein solcher Reaktor mit 99,99-prozentiger Sicherheit keinen Störfall haben sollte. Und wenn, müssten die neuen Technologien die Radioaktivität im Reaktorgebäude einschliessen.

 Reicht das Uran?

 Gleichzeitig tüfteln die Atomforscher an einer neuen Generation von Reaktoren, die frühestens ab 2030 ihren Betrieb aufnehmen können. Sie sollen den Brennstoff effizienter nutzen und vor allem die Mengen der langlebigen Bestandteile im hochaktiven Abfall reduzieren, der in geologischen Tieflagern entsorgt wird (vgl. Beitrag links).

 "Atomkraft? Nein danke!": Der Slogan war gestern. Heute brummt die Atomindustrie - trotz jahrzehntelangen Kampfs westeuropäischer Atomkraftgegner. Ihnen bleibt die Hoffnung, dass sie nochmals gegen ihre Regierungen mobilisieren können, die neuen Gefallen am Atomstrom gefunden haben. Immerhin prophezeien Experten wie der Naturwissenschaftler Daniel B. Botkin, dass dem Boom der Treibstoff ausgehen könnte. Nimmt man nur die geschätzten Uranvorkommen, die man zu den jetzigen Preisen für abbaubar hält, reicht der Vorrat beim heutigen Verbrauch und der heutigen Technologie (die jedoch immer effizienter wird) nur noch 250 Jahre.

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NLZ 16.9.10

Nidwalden

 Verbannt Volk den AKW-Strom?

Oliver Mattmann

 Der Kanton soll spätestens ab 2039 ohne Kernenergie auskommen. Die SP hält dies für machbar. Die Gegner erheben aber im Minimum zwei Mahnfinger.

 Oliver Mattmann

 oliver.mattmann@neue-nz.ch

 Der grosse Nidwaldner Stromversorger, das Elektrizitätswerk (EWN) in Oberdorf, deckt heute den Bedarf der Nidwaldner zu 54 Prozent mit Kernenergie ab. Diese Zahl soll ganz auf null gesenkt werden, und zwar bis spätestens im Jahr 2039. So will es die SP Nidwalden in ihrer Volksinitiative für einen schrittweisen Ausstieg aus der Atomenergie, über die das Volk am 26. September abstimmt.

 Wie stark das Begehren in der Bevölkerung Anklang findet, ist unklar. 296 Stimmberechtigte hatten bei der Unterschriftensammlung die Initiative unterstützt. Auf politischer Ebene erhalten die Sozialdemokraten lediglich von den Grünen Rückendeckung, die grossen Parteien FDP, CVP und SVP haben eine deutliche Nein-Parole herausgegeben.

 Behauptung kontra Behauptung

 Und dennoch: Die Gegner der Initiative scheinen sich ihrer Sache nicht sicher zu sein. Jedenfalls haben sie ein überparteiliches Komitee ins Leben gerufen, um ihre Argumente gegen die Vorlage unters Stimmvolk zu bringen. Und Vertreter des EWN machen bei jeder Gelegenheit - so etwa bei den Parteiversammlungen der CVP und der FDP - mit aller Deutlichkeit beliebt, ein Nein in die Urne zu legen. Andernfalls würde der Strompreis massiv ansteigen und das Elektrizitätswerk Nidwalden mittelfristig in seiner Existenz bedroht. Diese Aussagen decken sich überhaupt nicht mit der Sichtweise der SP. Zwar dürften die Preise generell ansteigen, prognostiziert auch SP-Präsident Beat Ettlin. "Die Behauptung, der Strom werde schlagartig drei- bis viermal teurer, ist aber blosse Polemik." Er ist überzeugt, dass erneuerbare Energien wie zum Beispiel Windstrom laufend neue Marktanteile hinzugewinnen werden. Sie würden für stabile Strompreise sorgen, da es keine Preissteigerungen infolge schwindender Ressourcen gäbe. Demgegenüber hält EWN-Direktor Christian Bircher aber fest: "Es ist bekannt, dass die Uranvorräte für den Betrieb der Kernkraftwerke weltweit für mehr als 150 Jahre reichen. Die Schweizer Kernkraftwerke zählen zu den sichersten und erfolgreichsten der Welt."

 Strategie nicht zukunftsgerichtet

 Die Gegner der Initiative befürchten, dass es für das EWN im liberalisierten Strommarkt schwierig sein wird, sich mit "atomfreiem, aber teurem Strom" zu behaupten. Die SP hält jedoch fest: "Die Strategie des EWN ist nicht zukunftsgerichtet. Es braucht jetzt ein Umdenken in den Köpfen der Verantwortlichen." Anstatt sich an Kernkraftwerken zu beteiligen, müsse eine neue Beteiligungspolitik an Windkraftwerken oder Solarkraftwerken Einzug halten.

 Ob Abstimmungstaktik dahinter- steckt oder nicht: Das EWN hat kürzlich bekannt gegeben, dass man sich an einem Windpark in der Nordsee beteiligen wolle. Zudem seien Projekte für 63 Millionen Franken im Bereich erneuerbarer Energie aufgegleist worden, sagt Direktor Bircher. Trotzdem: "Die Zukunft ohne Kernenergie ist ein Luftschloss", schreibt das Nein-Komitee. Windturbinen, Fotovoltaikanlagen und Kleinkraftwasserwerke könnten einen Beitrag zur Deckung des Strombedarfs erbringen, ein gänzlicher Ersatz für Kernenergie werden sie aber nie sein. Ob dies das Stimmvolk auch so sieht, wird sich am 26. September zeigen.

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NZZ 15.9.10

Atomausstieg im Kleinen

 Nidwaldner stimmen über die Beteiligungs- und Bezugsverhältnisse des kantonalen Elektrizitätswerks ab

 Bis zum nationalen Urnengang über neue AKW dauert es noch mindestens drei Jahre. Schon jetzt stehen aber in mehreren Kantonen Urnengänge zur Kernenergie bevor - nächste Woche in Nidwalden.

 Martin Merki, Stans

 Er ist der einzige Parlamentarier der SP in Nidwalden und sagt: "Unsere Chancen sind intakt." Der 40-jährige Landrat Beat Ettlin hat zusammen mit seiner kleinen Partei und "ähnlich gesinnten Organisationen" 300 Unterschriften für eine Atomausstiegs-Initiative gesammelt, über die am 26. September in Nidwalden abgestimmt wird.

 Wellenberg-Pläne

 Durch die Atomendlager-Geschichte im Wellenberg bekommt das Thema eine besondere Note. 1995 hatte der Kanton ein Endlager mit 52 Prozent Nein abgelehnt. 2002 schmetterte er mit 57 Prozent das Gesuch der Nagra für den Bau eines Sondierstollens ab. Darauf zog sich die Nagra aus dem Engelberger Tal zurück und entsorgte ihre Wellenberg-Pläne - um sie einige Jahre später wieder aufs Tapet zu bringen. "Wer Nein sagt zum Endlager, müsste konsequent sein und auch Nein zur Atomenergie sagen", findet Ettlin, und er hofft, dass ein Teil der Wellenberg-Gegner zu Atomgegnern mutiert.

 Auch national wird die Abstimmung beachtet. Nidwalden wäre bei einem Ja der erste ländliche Kanton, der den Ausstieg aus der Atomenergie beschliessen würde. "Ein Ja hätte Signalwirkung für die ganze Schweiz", sagt Jürg Buri, Präsident der nationalen Allianz "Nein zu neuen AKW". Der Entscheid in Nidwalden werde mit Spannung erwartet. Er läute eine Runde von ähnlich gelagerten Abstimmungen in anderen Kantonen ein: Im kommenden Jahr stehen kantonale Abstimmungen über Rahmenbewilligungsgesuche für neue Atomkraftwerke an, etwa in Bern (siehe Zusatztext).

 In den nächsten 30 Jahren, so die Nidwaldner Initianten, soll der Halbkanton schrittweise aus der Atomenergie aussteigen. Das Elektrizitätswerk, ganz in kantonalem Besitz, müsste dann seine Unterbeteiligung an Gösgen und Leibstadt abstossen, auf den Ankauf von weiteren Kernenergiebeteiligungen und auf den Bezug von Strom aus Kernkraftwerken verzichten. Das EW, sagt dessen Direktor Christian Bircher, würde bei einem Ja "mittelfristig kaputtgehen", weil über 50 Prozent des EW-Stroms aus Atomkraftwerken stammten, im Winter seien es 80 Prozent. Das kleine Bannalp-Werk, seit 1934 in Betrieb, liefere nur einen Anteil von 12 Prozent an die Stromversorgung des Kantons. Der Vergleich mit Obwalden sei deshalb nicht zulässig, weil Obwalden dank dem Lungerer Werk und weiteren Wasserkraftwerken die gesamte Energie in Form von Wasserkraft erbringen könne.

 Geeinte Bürgerliche

 Die Meinungen bei den Parteien sind gemacht. Die FDP hat einstimmig Nein gesagt zur Initiative, die SVP empfiehlt bei einer Gegenstimme ein Nein, und die CVP fasste mit 48 Ja zu 47 Nein bei 10 Enthaltungen ebenfalls die Nein-Parole. Ein Gegenkomitee mit Vertretern der drei Parteien hat sich gebildet, angeführt von Ständerat Paul Niederberger.

 Die Positionierung der bürgerlichen Parteien sei ernüchternd, sagt Ettlin. Grüne und SP sagen Ja zur Initiative. Das Thema kocht auf kleinerer Flamme als das Atommülllager. Es gibt Leserbriefe und einige kleine Inserate zur Initiative, sowohl pro wie contra. Ettlin schätzt, dass beide Lager höchstens 5000 bis 10 000 Franken für ihre Kampagnen einsetzen, was nicht sehr viel sei. Das EW beteilige sich nicht finanziell an der Gegenkampagne, sagt Direktor Christian Bircher. Auf Anfrage nehme er an Veranstaltungen von Parteien und anderen Organisationen teil und äussere seine Meinung.

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 Abstimmungen mit diffusen Wirkungen

 dsc. · Es ist eine erklärte Strategie der AKW-Gegner, nicht bis zur entscheidenden eidgenössischen Abstimmung über die Rahmenbewilligungsgesuche für neue Atomkraftwerke zu warten, sondern die Auseinandersetzung früh in die Kantone und Gemeinden zu tragen, wo auch bürgerliche Politiker bisweilen die Optik der nationalen Versorgung in den Hintergrund stellen und im Rahmen energiepolitischer Kompromisse keinen klaren Widerstand gegen Atomausstiegs-Vorlagen an den Tag legen. Dies war 2008 in der Stadt Zürich zu beobachten. Das Volk stimmte damals gegen neue AKW-Beteiligungen (die bestehenden laufen in den nächsten 40 Jahren aus). Weitere kantonale und städtische Vorstösse verlangen ähnliche langfristige Einschränkungen. So kommen etwa im November in der Stadt St. Gallen mehrere Vorlagen zum Thema Atomstrom und Geothermie vors Volk.

 Mit der Strommarktliberalisierung können aber die Kunden selber den Lieferanten und damit auch die Herkunft ihres Stroms wählen. Die entsprechenden Volksentscheide betreffen also nur die Zukunftsstrategien der kantonalen und kommunalen Elektrizitätswerke, deren weitere Rolle im Strommarkt in vielen Fällen ohnehin unklar ist.

 Eine ebenfalls schwer abzuschätzende Signalwirkung haben die Urnengänge für die kantonalen Stellungnahmen zu den Rahmenbewilligungsgesuchen für neue AKW. In knapp neun Kantonen sind Anfang 2011 dazu Urnengänge zu erwarten. Am spannendsten dürfte die Abstimmung im Kanton Bern sein, die wohl am 13. Februar stattfindet. Denn dort befindet sich mit Mühleberg auch ein möglicher Standort eines neuen AKW. Für das Verfahren des Bundes sind diese Konsultativabstimmungen nicht verbindlich, entscheidend bleibt die eidgenössische Referendumsabstimmung, die nach 2013 zu erwarten ist.

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NLZ 15.9.10

Wird Atomstrom ein Auslaufmodell?

 om. Die Abstimmung weckt im Vorfeld Emotionen. Am 26. September entscheiden die Nidwaldner Stimmberechtigten über die SP-Volksinitiative "Für einen schrittweisen Ausstieg aus der Atomenergie". Die politischen Positionen sind dabei klar bezogen. Nur die Grünen bringen Sympathien für das Begehren der Sozialdemokraten auf, hingegen lehnen FDP, CVP und SVP die Forderung, dass das Elektrizitätswerk Nidwalden (EWN) spätestens ab 2039 gänzlich ohne Atomstrom auskommen soll, klar und deutlich ab.

 "Es braucht ein Umdenken"

 Landrat und Regierungsrat beantragen dem Stimmvolk ebenfalls, die SP-Initiative nicht zu unterstützen. Der Verzicht auf Kernenergie hätte schwer- wiegende Auswirkungen auf die Energieversorgung des Kantons, auf die Volkswirtschaft und auf das EWN-Unternehmen, heisst es in der Abstimmungsbotschaft. Die Initianten erachten den Ausstieg jedoch als machbar und halten fest: "Es braucht jetzt ein Umdenken in den Köpfen der Verantwortlichen."

 Im "Pro und Contra" unserer Zeitung geben wir einem Befürworter und einem Gegner der Vorlage Platz für ihre Argumente. Für die SP nimmt Vorstandsmitglied Thomas Welte Stellung, auf der Seite der Gegner legt Heinz Metz, Vorstandsmitglied der FDP Nidwalden, seine Sichtweise dar.

 Pro

 Der einzige Weg

 Thomas Welte, Vorstand SP Nidwalden

 Der schrittweise Ausstieg aus der Atomenergie ist der einzig vernünftige Weg für die Zukunft. Wir haben es in den vergangenen dreissig Jahren verpasst, die Weichen frühzeitig und entschlossen in Richtung effizientere Nutzung von Energie und massive Förderung erneuerbarer Energien zu stellen. Darum ist es jetzt höchste Zeit, in Nidwalden die Weichen richtig zu stellen. Wie dies vor uns Zürich, Bern, Basel und teilweise Neuenburg bereits beschlossen haben. Nach den Jahren des Stillstands ist jetzt ein energie- und klimapolitischer Massnahmenschub angesagt.

 Wir seien Fantasten,meinen die einen, andere sehen gar unsere Wirtschaft in Gefahr. Am originellsten ist die Aussage, dass mit einem Ausstieg unsere Abhängigkeit vom Ausland zunehmen würde. Tatsächlich ist es so, dass bereits heute die Technologie so weit fortgeschritten ist, dass ein grosser Teil des Atomstroms ersetzt werden könnte. Unsere Initiative verlangt den Ausstieg nicht sofort, sondern erst in 30 Jahren, ist also noch reichlich Zeit. Hätte übrigens Nero damals nicht Rom, sondern ein paar Uranstäbe abgefackelt, müssten wir heute noch die Asche bewachen. Und bezüglich Abhängigkeit vom Ausland: Wir haben das Wissen um Sonnenkollektoren, Fotovoltaik oder auch Wasserkraftwerke zu planen. Einheimisches Gewerbe profitiert so direkt. Wenn wir aber auf Atomkraftwerke setzen, fehlt uns dieses Wissen, ausländische Experten planen und realisieren, und aus Russland wird das aufbereitete Uran geliefert. Nur den Abfall dürfen wir selber behalten. Es gibt übrigens weltweit noch kein funktionierendes Endlager - nur so am Rande.

 Den Anspruch,"eigenen Strom" zu produzieren, wie vom EWN immer wieder proklamiert, ist etwas weit hergeholt. Warum Atomstrom von den AKWs Gösgen und Leibstadt, an denen wir zu einem kleinen Teil beteiligt sind, "eigen", also quasi Nidwaldner Strom sein soll, ist mir nicht klar. Absurd ist es allemal, oder haben Sie schon mal "eigenes" Benzin getankt? Der heutige Strommarkt findet in Europa statt. Auch die Schweiz mischt da kräftig mit, und in Zukunft wird sich das nicht ändern. Im Gegenteil, intelligente Stromnetze werden den Energiefluss noch mehr koordinieren, als dies ohnehin schon der Fall ist. Damit wird noch mehr möglich, was schon begonnen hat: Strom dort zu produzieren, wo es Sinn macht, damit er überall zur Verfügung steht. Darum sollten wir jetzt den richtigen Weg einschlagen, weg von unberechenbaren fremdgebauten Atomkraftwerken hin zu berechenbaren und selber produzierten erneuerbaren Energiequellen. Mit einem Strahlen im Gesicht und nicht auf verstrahltem Boden.

 Contra

 Initiative schadet dem Kanton

 Heinz Metz, Vorstand FDP Nidwalden

 Die Initiative "Ausstieg aus der Kernenergie" schadet dem Kanton Nidwalden. Deshalb empfehle ich, die SP-Initiative abzulehnen. Eine Annahme der Initiative würde zu steigenden Strompreisen führen und die Standortattraktivität des Kantons wesentlich beeinträchtigen. Ich bin überzeugt, dass Nidwalden für eine sichere, wirtschaftliche und umweltfreundliche Stromversorgung neben den erneuerbaren Energien auch weiterhin die zuverlässige Kernenergie braucht.

 Die Stromversorgungim Kanton Nidwalden basiert aus einem Mix von rund 35 Prozent Wasserkraft, 64 Prozent Kernenergie und aus knapp 1 Prozent weiterer erneuerbarer Energien, wie beispielsweise der Solarenergie. Der Kanton Nidwalden hat damit eine CO2-freie, zuverlässige und wirtschaftliche Stromversorgung. Zwar sollen neue Technologien wie Solar-, Wind- oder Biomassenenergie marktgerecht gefördert werden und als Ergänzung einer gesicherten Stromversorgung dienen. Die Kernenergie ist und bleibt aber ein wichtiger Pfeiler, auf den nicht verzichtet werden kann.

 Die kantonseigenen Kraftwerksbeteiligungen sind für eine stabile und günstige Stromversorgung wichtig. Es drohen Versorgungsengpässe, die für unsere Wirtschaft schädlich wären. Die fehlende Kernenergie müsste bei anderen, teureren Kraftwerken beschafft werden. Dies würde zwangsläufig zu höheren Strompreisen für Haushalte, Gewerbe und Industrie führen. Gerechnet wird mit drei- bis fünfmal höheren Strompreisen.

 Die Liberalisierungdes Strommarktes schreitet voran, und unser Elektrizitätswerk (EWN) muss sich in diesem neuen Marktumfeld behaupten. Wir müssen dem EWN den nötigen unternehmerischen Handlungsspielraum geben. Im liberalisierten Strommarkt wäre das EWN mit seinem teuren Strom nicht wettbewerbsfähig, es wäre in erhöhtem Masse von anderen Energieversorgern abhängig und damit als eigenständiges Unternehmen bedroht. Damit stehen die unabhängige kantonale Versorgung sowie rund 70 Arbeitsplätze auf dem Spiel.

 Der Widerstand der Nidwaldner Bevölkerung gegen ein Tiefenlager für radioaktive Abfälle im Wellenberg darf nicht mit einer Ablehnung der Kernenergie gleichgesetzt werden. Zurzeit findet ein breites Auswahlverfahren statt. Dabei ist die spezielle Situation Nidwalden mit den beiden Volksentscheiden von 1995 und 2002 zum Wellenberg zu respektieren. Gleichzeitig gibt es für den Kanton Nidwalden keinen vernünftigen Grund, um in Zukunft auf die wertvolle Kernenergie zu verzichten.