MEDIENSPIEGEL 17.1.11
(Online-Archiv: http://www.reitschule.ch/reitschule/mediengruppe/index.html)

Heute im Medienspiegel:
- Reitschule-Kulturtipps (Norient, Tojo, DS, GH)
- RaBe-Info 14-17.1.11
- Knast: Kritik an Hindelbank-Kritik
- Prozesse: Brigadist verzichtet; Farbe Winterthurer; Farbe ZH
- Obdachlos: Jugendnotschlafstelle BS; Hundehilfe SG
- Alkohol: Ausnüchtern auf eigene Kosten
- Anti-SVP: Ganz Fest gegen die Albisgüetli-Tagung
- Freysinger: Bloc Identitaire + Marine Le Pen
- Sempach: Kein Umzug mehr, dafür Mittelalterfest
- Thor Steinar: "Power Zone" unter Druck
- Ruhe & Ordnung: Frauenfeld will gartenbeizbeleben
- Police CH: Bewaffnung Bahnpolizei umstritten
- Big Brother: US-Observation in Genf; Hotelgäste-Register; 2. Fiche für Jean-Michel Dolivo; Volkszählung
- Big Brother Sport: Schuldzuweisungen
- Squat ZH: Besetzung Tessinerkeller
- Squat BS: Kurzbesetzung Baslerstrasse; Villa Rosenau räumungsbedroht
- Randstand: Gassen-Medizin ZH
- Aufstand: Der kommende Aufstand
- Undercover: Spitzel Mark "Flash" Stone sagt "Sorry"
- Antifa: Antinationale Demo Wien gegen WKR-Ball - SVP mit dabei
- Härtefälle: zu restriktiv
- Sans-Papiers: Gegen Schul-Meldepflicht
- Nothilfe: Sosf-Nothilfekampagne 2011
- Asyl: Statistik 2010; ungenügende medizinische Versorgung
- Ausschaffungen: Rückführungsstopp für TunesierInnen; Kinderwegzug zumutbar
- Migrationsgeschichte: TamilInnenen-Image im Wandel
- Sexwork: Nachtclub-Tänzerinnen FR/GL
- Migration Control: nigerianische MigrantInnen Italien; Grenzlage Griechenland
- Bombenstimmung: Verhaftungs-Räubergeschichten GR; Brandanschlag Bundesstrafgericht; Bombendrohungen CH; Prozess Athen
- Armee gegen Innen: Anarch@s + Umweltkatastrophen
- Anti-WEF: Geheimtreffen Vevey; Polizeikommandanten-Ängste; Demo
- Gaza: Gegen staatliche und bärtige Repression
- Mussolini: Umberto Eco entlarvt gefälsche Tagebücher
- Anti-Atom: Zwischenlager-Skandal BE; Mühleberg; Benken-Schulung; Wirtschaft gespalten; Stilllegungskosten; BKW; Störfall-Training; GAU Lucens 1969; Tourismus; Frick

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REITSCHULE
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Mo 17.01.11
16.00 Uhr  - Grosse Halle  - Ungleichheiten: Ausstellung der Künstlergruppe Stan's Cafe (bis 19.30 h)

Di 18.01.11
16.00 Uhr  - Grosse Halle  - Ungleichheiten: Ausstellung der Künstlergruppe Stan's Cafe (bis 19.30 h)

Mi 19.01.11
16.00 Uhr  - Grosse Halle  - Ungleichheiten: Ausstellung der Künstlergruppe Stan's Cafe (bis 19.30 h)
19.00 Uhr  - SousLePont  - Kantonesische Spezialitäten
19.00 Uhr  - Kino  - Tour de Lorraine: Wem gehört die Erde? Gemeinschaften gegen Rohstoff-Konzerne. Infoabend mit Yvonne Zimmermann (Solifonds) und Stephan Suhner (Arbeitsgruppe Schweiz-Kolumbien). Organisiert von attac bern und MultiWatch.
20.30 Uhr  - Holzwerkstatt  - insubordinations microfestival: DuQtuç (Antoine Läng (Stimme), Vincent Membrez (Minimoog), Lionel Friedli (Schlagzeug), Genf/Biel); Joke Lanz (turntables, Berlin, D) Louis Schild (Bass, Lausanne); Raphaël Ortis (Bass, Genf)

Do 20.01.11
16.00 Uhr  - Grosse Halle  - Ungleichheiten: Ausstellung der Künstlergruppe Stan's Cafe (bis 19.30 h)
20.30 Uhr  - Tojotheater  - Therapie - Nur Idioten begrüssen den Tag mit einem Lächeln. Von Es Huere Cabaret.
21.00 Uhr  - Rössli  - The Big Bang Boogie; One Sentence. Supervisor

Fr 21.01.11
16.00 Uhr  - Grosse Halle  - Ungleichheiten: Ausstellung der Künstlergruppe Stan's Cafe (bis 19.30 h)
20.30 Uhr  - Tojotheater  - Therapie - Nur Idioten begrüssen den Tag mit einem Lächeln. Von Es Huere Cabaret.
22.00 Uhr  - Dachstock  - Wild Wild East: RUDOVOUS (CZ) & DUSA ORCHESTRA (CH), DJ Rane -- Eastern Chanson, Orient Ekspres

Sa 22.01.11
12.00 Uhr  - Grosse Halle  - Ungleichheiten: Ausstellung der Künstlergruppe Stan's Cafe (bis 24.00 h)
17.00 Uhr  -    - Öffentliche Führung durch die Reitschule Treffpunkt grosses Tor
20.00 Uhr  - Kino  - Tour de Lorraine: Water Makes Money - wie private Konzerne aus Wasser Geld machen, D 2010
20.00 Uhr  - Tojotheater  - Tour de Lorraine: Alles ist Nichts ist Alles. Performance in vier Szenen. Konzept: Marina Bolzli, Katja Boller
21.30 Uhr  - Frauenraum  - Tour de Lorraine: Austra (Can); Candelilla (D); Support DJ?s Not_betty & Fernweh
22.00 Uhr  - Kino  - Tour de Lorraine: Voices of Transition, D 2011
22.15 Uhr  - SousLePont  - Tour de Lorraine: Clan Edison -- Folk Rock / Rock
23.00 Uhr  - Tojotheater  - Tour de Lorraine: Disko & DJ Battle - DJs Jane Vayne (Tanzmusik) vs. MC ANLIKER (Lovesongs)
23.30 Uhr  - Kino  - Tour de Lorraine: Pick Wien an, Ö 2008 Kurzfilme
23.30 Uhr  - SousLePont  - Tour de Lorraine: Herr Bitter -- Splatterpop / Discorock
24.00 Uhr  - Kino  - Tour de Lorraine: Street Art Compilation Kurzfilme
22.00 Uhr  - Dachstock  - Tour de Lorraine: DIESLER (Tru Thoughts/UK), DJ's Studer TM & Giggs (bonzzaj.ch)

So 23.01.11
04.30 Uhr  - SousLePont  - Tour de Lorraine: Katerfrühstück
mit Surprise Guest
12.00 Uhr  - Grosse Halle  - Ungleichheiten: Ausstellung der Künstlergruppe Stan's Cafe (bis 18.00 h)

Mo 24.01.11
16.00 Uhr  - Grosse Halle  - Ungleichheiten: Ausstellung der Künstlergruppe Stan's Cafe (bis 19.30 h)

Infos:
http://www.reitschule.ch

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BZ 17.1.11

Erfolg für Filmfestival

 Musikfilm. Zum 2. Mal veranstaltete der Verein Norient ein Musikfilmfestival in verschiedenen Berner Kulturlokalen. Die Dokumentarfilme aus Afrika, Asien und Osteuropa zogen rund 700 Besucher an.

 Die Organisatoren des 2. Norient-Musikfilm-Festivals zeigen sich zufrieden. Vom 12. bis 15. Januar hatten sie im Kino in der Reitschule, im Progr und im Club Bonsoir zu Filmmusikvorstellungen eingeladen. 700 Besucherinnen und Besucher kamen. Die Abende von Donnerstag und Freitag waren ausverkauft. Das Berner Netzwerk hatte auch heuer wieder ein Programm ausgewählter Dokumentarfilme zu alternativer, experimenteller, populärer und neuer Musik in Afrika, Asien und Osteuropa zusammengestellt.

 Spezialgast in Bern war die bulgarische Filmemacherin Adela Peeva. Ihr mehrfach preisgekrönter Dokumentarfilm "Whose Is This Song?" gehört mit zum Besten, was das Genre zu bieten hat. Der Film zeigt die Identitätsdiskussionen und Nationalismen rund um ein von der Türkei bis nach Albanien bekanntes Schlagerlied auf - mal humorvoll, mal schockierend. Beim 2. Norient-Musikfilm-Festival ging es ganz besonders um die komplexen Ver(w)irrungen zwischen Musik, Gesellschaft und Politik. Auch zu sehen waren drei Schweizer Premieren.

 Internationales Netzwerk

 Der international tätige Verein Norient arbeitet seit 2002 interdisziplinär an den Schnittstellen von Musik und Gesellschaft, Journalismus, Wissenschaft und Blog-Kultur. Er ist eine umfassende Vernetzungs- und Vermittlungsplattform: Kernstücke sind das Onlinemagazin "norient.com" und die Norient-Produktionen. Letztere sind aufgegliedert in Norient-Veranstaltungen, das Norient-Künstler-Kollektiv und Norient-Publikationen. Die dritte Ausgabe des Norient-Musikfilm-Festivals findet voraussichtlich vom 12. bis 15. Januar 2012 statt.
 ein

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BZ 15.1.11

Reitschule

 Jazz-Theaterstück im Tojo

 Autorin und Performerin Sandra Künzi hat ihr erstes abendfüllendes Theaterstück geschrieben: "Jazzy" ist ein Werk über alten Jazz, Überfremdungsangst und die Schweiz in den 1930er-Jahren. In Gestalt eines Flüchtlings bricht der Jazz in die Schweiz ein, die von Arbeitslosigkeit und Angst geprägt ist, und erhält in einem abgewrackten Spunten nahe der Grenze Asyl.pd

 Vorstellungen: Sa, 20.30 Uhr + So, 19 Uhr, Tojo Theater Reitschule.

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Bund 15.1.11

Kurzbesprechung "Jazzy - Swing im Stübli" im Tojo

 Jazz und Jodel in der Gaststube

 Die Krise der 1930er-Jahre setzt dem "Löwen" zu. Die verstaubte Gaststube ist leer, die beiden Serviertöchter sitzen gelangweilt herum, Wirtin Nelly zählt das Münz. Leben in die Bude bringt das Zauberwort "Amerika" - weckt auch den immer durstigen weiblichen Stammgast an der Bar aus seiner Lethargie. Von dort kommt sie nämlich, die neue Musik, die auch der Schweiz guttut, die sich wie "äs Iklämmts" im Sandwich zwischen den braunen Nationen befindet.

 Die Idee von Sandra Künzis erstem abendfüllendem Bühnentext ist bestechend. Aus dem angrenzenden Ausland nämlich findet der Jazz den Weg ins Sandwich. In Person eines sympathisch-galanten Musikers (Herwig Ursin) stolpert er ins "Löwen"-Stübli. Die Wirtin (Lilian Naef) freut's zunächst wenig. Nicht der J im Pass des Gastes stört sie, doch so ein weisser "Neger", wie sie ihn nennt, passt ihr ganz und gar nicht. Er aber bleibt und macht Musik.

 Rasch also stehen jazzige Klänge im Mittelpunkt von "Jazzy - Swing im Stübli" (Regie: Dominique Müller). Man lässt sich gerne zum Mitwippen verleiten, die Musik macht Spass. Ragtime und Co. werden solide dargeboten, doch letztlich ist die Story zu wenig dicht, um dem gut einstündigen Theaterabend einen tragfähigen Bogen zu geben. Das Vergnügen verderben kann dieses Manko jedoch nicht, weder den Zuschauenden noch den Akteuren. Denn gespielt wird mit Herzblut. Hinreissend ist die wandelbare Mimik von Lilian Naef, träf sind ihre knappen Sätze, herrlich singt sie die Ode an den "Mann im Haus". Und immer wieder brilliert Sandra Künzi als nicht ganz nüchterner Stammgast mit intelligent-zeitkritischen Monologen, die grossen Fragen der Menschheit werden virtuos mit den kleinen Problemen im "Löwen"-Stübli verquickt. Doch dann geht der Wirtin ein Licht auf. "Sie sind ein Jud?! - Raus!" Schliesslich wolle sie keinen Ärger mit dem Gesetz. Der Spass ist vorbei, aus dem Blues droht eine Katastrophe zu werden. Doch so schnell gibt man nicht auf - und der Abend kommt kurz vor dem Happy End so richtig in Fahrt. Waffen, Bananenröckchen, schwarze Schafe und Absinth werden bunt durcheinandergemischt, und Wirtin Nelly wird aus voller Kehle gepriesen als "Mother of Jodel and Jazz".

 Pia Strickler

 Weitere Vorstellungen am 15. Januar (20.30 Uhr) und am 16. Januar (19 Uhr, im Anschluss Jazzete zum Mitjammen) im Tojo-Theater der Reitschule. Reservation: tojo@reitschule.ch

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kulturstattbern.derbund.ch 14.1.11

Vom vollen Boot und der leeren Beiz

Von Nicolette Kretz am Freitag, den 14. Januar 2011, um 16:03 Uhr

Die legendärsten und besten Premierenfeiern in Bern gibts im Tojo. Das hat eine langjährige, intensive empirische Studie meinerseits ergeben. Es ist möglicherweisePremierenfeier von Jazzy der einzige Ort, wo Leute auch mal nur an die Premierenfeier kommen, unter Umständen - wie gestern einige - auch erst um eins. Absinth und sonstige Brände wurden ausgeschenkt und auf der Bühne griff jeder, der dazu befähigt war, zu Bass, singender Säge, Drumsticks, Mikro oder in die Tasten. Eine logische Konsequenz des Stückes.

"Jazzy" von Sandra Künzi (Regie: Dominique Müller) ist im Grunde eine theatrale Jamsession. Die Story von einem österreichischen Fremdling (Herwig Ursin), der in den nicht gerade vom wirtschaftlichen Erfolg gesegneten "Löie" schneit, dort erst auf wenig Gastfreundlichkeit stösst, dann aber mit seinem frisch importieren Jazz Wirtin Nelly (Lilian Naef), den dauerbesoffenen Stammgast (Sandra Künzi), die Belegschaft (Margrit Rieben und Regula Frei) und letztlich auch den Dorfpolizisten (Dominique Müller) für sich gewinnt, bildet den Rahmen für viel Spass, Musik und Politik.

Ziemlich wild zusammengewürfelt gehts da um die Rolle der Schweiz im Nationalsozialismus, um heutige Überfremdungsängste, um Feminismus, um Börsencrashs und um eine musiktheoretische Aufrollung der Entstehungsgeschichte des Jazz. Das ist recht viel, hat aber mühelos nebeneinander Platz, vor allem weil das ganze einfach fantastisch gespielt ist - im schauspielerischen wie im musikalischen Sinne - und zahlreiche grandiose Highlights enthält: Ursins rasanter Ritt durch die Jazzgeschichte in Theorie und Praxis oder Künzis Version von Josephine Baker. Zum Niederknien!

"Jazzy" läuft noch bis Sonntag im Tojo - am Samstag nochmals mit anschliessender Jamsession.

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20 Minuten 14.1.11

Weltmusik 2.0 im Fokus

 BERN. Tropentechno und südafrikanischer Punk: Das zweite Norient-Festival nimmt den Weltmusik-2.0-Trend mit DJs und Filmen unter die Lupe.

 "Schlachthofbronx verspricht Schweiss an den Wänden und Muskelkater am Morgen danach", so beschreibt der Musikblog 78s.ch die Wirkung des Münchner Duos. Heute kommen die beiden Herren im Rahmen des zweiten Norient-Musikfilm-Festivals ins Berner Bonsoir. Ihr Ding: eine Mischung aus Folklore aus der dritten Welt, aufgepeitscht mit einer gehörigen Portion Elektro-Beats.

 "Im Spannungsfeld zwischen den Rändern dieser Welt sowie den Clubs und Konzertlokalen Europas entstehen Trends", sagt Norient-Organisator Thomas Burkhalter. Das fasziniere ihn.

 Dass dabei viel mehr als nur fröhliche Beats kreiert werden, zeigen vier Festivalfilme. "Fokofpolisiekar" etwa begleitet eine südafrikanischen Punkband, die mit der Apartheid abrechnet. Die Doku "Full Metal Village" zeigt, was im norddeutschen 1800-Seelen-Dörfchen Wacken geschieht, wenn 60 000 Fans an eines der grössten Heavy-Metal-Festivals der Welt strömen. Zu sehen heute und morgen im Kino der Reitschule. 

Pedro Codes

 Fr, 14.1., 23 Uhr, Norient-Clubnacht, Bonsoir.

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BZ 14.1.11

Tanzbarer Afrobeat

 Konzert. Eine Berner Combo beweist, dass die Vermischung von Afrobeat mit Funk und Jazz durchaus funktionieren kann. Heute feiern The Faranas im Dachstock der Reitschule Plattentaufe.

 Heute Abend wird das Tanzbein geschwungen im Dachstock der Reitschule. Garantiert. Denn bei solchen Beats kann niemand still stehen bleiben. The Faranas taufen ihr Album "Who Are You?", das zwar erst im März erscheint, an dieser Stelle aber trotzdem schon gelobt sein soll. Was die Berner Zehnercombo abliefert, ist treibend, abwechslungsreich und nicht in eine Schublade einzuordnen.

 Von Covers zu Eigenem

 Es beginnt 2003. Der Jahrhundertsommer. Neun ganz unterschiedliche Musiker schliessen sich für einen Fela-Kuti-Tribute zusammen. Sie tun dies eigentlich für einen Abend, ein Konzert. Doch der afrikanische Groove macht Spass - dem Publikum und den Musikern. Als Coverband The Felas ziehen die Musiker fortan durchs Land und spielen Stücke des 1997 verstorbenen Nigerianers Fela Kuti.

 Mit dem Senegalesen Mory Samb stösst 2009 einer zur Gruppe, der die traditionellen Griot-Gesänge aus Senegal beherrscht - die Combo beginnt eigene Songs zu schreiben. Das ist der Start der Geschichte von The Faranas, geliehen vom Wort für Foreigner (Fremder), wie es im Pidgin-Englisch Nigerias ausgesprochen wird. "Seit wir unsere eigenen Stücke spielen, geht es nicht mehr um Werktreue, sondern um eine Weiterentwicklung des Afrobeats", sagt der Elektrojazzer Jan Galega Brönnimann.

 Funk und Afrobeat

 Die Band spielt mittlerweile keine Covers mehr, ist aufgetaut und bedient sich ungeniert verschiedener Musikrichtungen. Neben klassischen Afrobeat-Nummern sind The Faranas auch für einige Überraschungen gut - es gibt elektrische und jazzige Einflüsse und funkige Bläserarrangements, die an die besten Zeiten des Schweizer Funks erinnern (mit Daniel "Bean" Bohnenblust am Saxofon und Rich Fonje am Mikrofon sind auch zwei frühere Grand-Mothers-Funck-Musiker mit dabei). Dank Foje und Samb schliesslich verfügt die Band neu über zwei ganz unterschiedliche Sänger - die noch aufgewertet werden durch ein eingängiges Gastspiel der südafrikanischen Rapperin Burni Aman. "Wir vermischen Griot-Gesang, elektronische Klänge, afrikanische Rhythmen und Bläserhymnen, ohne uns an ein Vorbild zu klammern", fasst Brönnimann zusammen. Er selbst habe noch nie in einer so durchmischten Band gespielt.

 Das geht in die Beine, macht Spass und - Lust auf mehr.
 bol

 Konzert: heute, 20.30 Uhr, Dachstock der Reitschule.

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Bund 13.1.11

Bühne "Jazzy"

 Das Brodeln nach Noten

 Eine wahnsinnige Musik aus einer wahnsinnigen Zeit: Sandra Künzis Stück gibt dem alten Jazz eine Bühne.

 Der Grund für Sandra Künzis erstes abendfüllendes Theaterstück war eigentlich eine kleine künstlerische Midlife-Krise. Die 41-Jährige, ein zwischen Musik, Theater, Performance, Literatur und Moderation pendelnder Tausendsassa, fand es mit vierzig nicht mehr altersgemäss, sich in der elektronischen Musik als ewig Jugendliche zu gebärden, und stiess dann auf den Jazz, "etwas Zeitloses, das auch viel mit Freiheit zu tun hat", wie es Künzi umschreibt. Im Speziellen zog es sie zum alten Jazz und hin zu jener Zeit, in der er noch brandneu war: ein faszinierendes Gebräu aus afrikanischen und europäischen Musiktraditionen.

 Diese Begeisterung für den alten Jazz in ein Theaterstück zu giessen, lag für Künzi nahe: "In der Zeit von etwa 1890 bis 1940, als der Jazz gross wurde, brodelte es: Innert weniger Jahre gab es unheimliche technologische Innovationen - die Elektrizität, das Auto, das Radio -, es gab das Ende der Sklaverei und die Rassentrennung, die Goldenen Zwanziger und den Börsencrash, zwei Weltkriege. Im Jazz ist der ganze Wahnsinn dieser Zeit drin. Und das hat natürlich viel dramatisches Potenzial", so Künzi.

 Natürlich spielt Künzi mit ihrem Team, das massgeblich an der Ausformung der Produktion beteiligt war, nicht Harlem oder New Orleans nach. "Das wäre reine Ethno-Romantik." Sondern sie legt die Handlung von "Jazzy" in eine Schweizer Wirtschaft irgendwo an der Grenze, irgendwann in den 30er-Jahren - und nimmt so die damals grassierende Angst vor der Überfremdung mit an Bord: Mit dem Jazz und einem undefinierbaren Flüchtling (Herwig Ursin) prallt das Fremde auf die bodenständige Schweizer Realität. "Jazzy" erzählt eine einfache Geschichte, ist aber vor allem auch ein Abend mit Musik - jener Musik, die einst die Menschen auf der Strasse und im Volk elektrisierte.(reg)

 Tojo-Theater ReitschuleDo, 13. Januar, bis Sa, 15. Januar, 20.30 Uhr. So, 16. Januar, 19 Uhr. Am 13. und 15. Januar mit "Jazzete" im Anschluss, mitjammen erwünscht.

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kulturstattbern.derbund.ch 13.1.11

"Ich bin schon bei der Geburt gestorben"

Von Benedikt Sartorius am Donnerstag, den 13. Januar 2011, um 06:05 Uhr

Traurige Istanbuler Lied- und Tanzmenschen standen am gestrigen Auftaktabend des 2. Norient Musikfilm Festivals in der Turnhalle im Fokus. Via Leinwand gab die Fernsehproduktion "Arabesk - Gossensound und Massenpop" eine Einführung in die Spielart der einst verfemten, aus Anatolien in die Stadt zugezogenen Sänger, die ihren Kummer und auch ihren Wunsch nach einer Veränderung der Orhan GencebayGesellschaft  in kathartisch wirkende Lieder pressten. Der Zuschauer lernte Arabesk-Grossmeister wie Orhan Gencebay oder Müslüm Gürses kennen, sah das Konzertpublikum bei Selbstpeinigungen, erfuhr vom Ausverkauf des Arabesken, der in den Achtzigerjahren mit dem Aufkommen einer Bollywood-ähnlichen Filmindustrie einhergegangen ist, und brannte sich den elenden Kernsatz "Ich bin schon bei der Geburt gestorben" ein.

Im Film war auch der Medienkünstler Serhat Köksal alias 2/5 BZ zu sehen, der den Abend mit der Agitprop-Performance "Arabesque vs Schweizerbesque @ Palaverel Universe" weiterschnipselte. "Arabesk"-Filmspuren tauchten auf, gegengeschnitten mit Staatsbesuchsbildern des türkischen Präsidenten Abdullah Gül letzthin bei Frau Bundespräsident Leuthard, listigen Minarettcollagen und dem WEF-Herr Klaus Schwab, während die Klangspur in den chaotischen Club weiter zog.

Weiter zieht ab heute Donnerstagabend auch das Norient Musikfilmfestival, und zwar in das Kino in der Reitschule, wo bis am Samstag sechs weitere Musikdokus auf dem Programm stehen - unter anderem die Wacken-Hommage "Full Metal Village", die Suche nach dem Super-Muezzin "Muezzin" oder die südafrikanischen Fokofpolisiekar.

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WoZ 13.1.11

Türkische Musik

 Globalisierte Grooves, gesellschaftliche Gräben

 Musik steht in Wechselwirkung mit gesellschaftlichen ­Entwicklungen. In der Türkei, die sich seit hundert Jahren an den Gegensätzen von Ost und West reibt, spiegelt sich der Machtkampf zwischen der Machtelite und den ­säkularen KemalistInnen auch in der Musikszene.

 Von Susanne Schanda

 "Woher kommst du?" Das fragen Einheimische gemeinhin BesucherInnen aus der Fremde. In den Gecekondus, den illegal erstellten Siedlungen an den Rändern von Istanbul, Ankara und Izmir, stellt sich die Frage auch unter den türkischen BewohnerInnen selbst. Kaum jemand in diesen Slums stammt aus der je weiligen Stadt selbst, alle sind sie zugewandert   - sei es aus Anatolien oder der Schwarzmeer region, sei es auf der Flucht vor Armut und Krieg. Wer nicht aus demselben Dorf kommt, wird hier als FremdeR wahr genommen.

 Bei diesen Landflüchtlingen in den Slums an den Rändern der türkischen Grossstädte ist seit den sechziger Jahren Arabesk entstanden, eine Mischung aus arabischem Schlager und türkischer Volksmusik, gesungen voller Herzschmerz und unterlegt mit Streicherarrangements. "Die Texte handeln von Schicksalsergebenheit, Einsamkeit, Schmerz und Verzweiflung, ohne aber klare Aussagen zu haben. Daher konnte jeder seine persönlichen Leiden hineinlesen", sagt Martin Greve, deutscher Musikethnologe und Spezialist für Musik in der Türkei.

 Unmoralische Minibusmusik

 Arabesk war die Musik der einfachen Leute und der aufstrebenden Mittelschicht der Migrant Innen. Sie wurde auf Kassetten verbreitet und oft in den Minibussen gespielt, was ihr auch die Bezeichnung "Minibusmusik" einbrachte. Die intellektuellen Eliten und die KemalistInnen (die AnhängerInnen von Kemal Atatürk, dem Gründer der modernen Türkei) lehnten Arabesk ab, und in den staatlichen Medien war diese Musik jahrelang verboten, weil sie "die Moral der Bevölkerung zersetzt".

 Erst nach 1980 rehabilitierte der damalige Ministerpräsident Turgut Özal Arabesk. Er nutzte die Musik für seine politischen Kampagnen. Arabesk wurde zur eigentlichen Popmusik. "So wurde diese Musik nicht nur kommerziell, sondern auch politisch relevant", erläutert Greve. "Selbst politische Liedermacher liessen sich davon beeinflussen."

 Die Türkei versteht sich seit hundert Jahren als westliches Land. Türkische Musikerinnen und Musiker tauschen sich mit KollegInnen aus aller Welt aus, viele von ihnen studieren in Europa. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wird an den Konservatorien nach europäischen Methoden unterrichtet und musiziert.

 Aus diesen Kreisen der Kunstmusik schlägt der Arabesk-Musik nur Verachtung entgegen. Zumal dieser Musik - die unter der Welle der westlichen Popmusik nicht etwa ertrank, sondern diese vielmehr integrierte - heute auch das Image des Rührseligen, Kitschigen und Rückständigen anhaftet. Erst vor wenigen Monaten hat Fazil Say, international renommierter Komponist und Konzertpianist, mit einer Polemik gegen die Arabesk-Musik eine Debatte losgetreten, die gesellschaftliche und politische Gräben in der Türkei zutage treten lässt. Auf seiner Facebook-Seite nannte Say Arabesk "eine Last für Intellektualität, Modernität, Führungskraft und Kunst" und schrieb: "Ich schäme, schäme, schäme mich für das Arabesk-Proletentum beim türkischen Volk." In einem Zeitungsinterview sagte er später, Arabesk stehe für einen "Geist des Niedergangs".

 Diese Provokation liessen die Arabesk-AnhängerInnen nicht auf sich sitzen. Sie nannten den Musiker "krank" und einen "Faschisten". Fazil Say ist ein überzeugter Anhänger von Staatsgründer Kemal Atatürk und repräsentiert die säkular-kemalistischen Eliten. Seit dem Wahlsieg der religiös-konservativen Regierungspartei AKP von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan im Jahr 2003 verlieren die KemalistInnen immer mehr an Boden. Sie fürchten, dass die anatolische, fromm-konservative Mittelschicht die türkische Republik islamisieren will. Der Musikethnologe Martin Greve relativiert die Bedeutung dieser Debatte. Fazil Say stehe zwar politisch eher links und könne sich auch differenzierter ausdrücken, hier aber komme ein elitäres Überlegenheits gefühl zum Ausdruck: "Ein Konzertpianist wettert gegen eine einfache Unterhaltungsmusik."

 Dass es auch anders geht, zeigt das Beispiel Orhan Pamuk. Dem türkischen Literaturnobelpreisträger ist die Verschmelzung von östlicher Tradition und westlicher Moderne auf faszinierende Weise gelungen. Aufgewachsen in einer säkularen Familie der Istanbuler Oberschicht, die die Türkei als einen Teil Euro pas sah, war ihm die westliche Kultur von Kindheit an vertraut.

 Fundamentalismus auf allen Seiten

 "Religion schien mir lange eine Beschäftigung für arme Leute", sagt Orhan Pamuk im Gespräch. Erst im Alter von 35 Jahren begann er, die östliche und islamische Tradition und Kultur zu erforschen. "Eine traditionelle und daneben auch eine neu erworbene Kultur zu haben, ist notwendig für jede künstlerische Entwicklung", sagt Pamuk. Doch Fundamen talistInnen, die nur eine einzige und einheitliche Kultur gelten lassen wollten, gebe es überall: "Es gibt auch säkulare Fundamentalisten, die nichts ertragen können, was mit Religion, islamischem Mystizismus oder Tradition zu tun hat."

 Tatsächlich aber haben sich die Kulturen in der Türkei längst vermischt. Zu hören ist das in allen Bereichen des türkischen Musiklebens. "Es gibt keine Musik ohne solche Mischungen. Was anscheinend ‹traditionell› ist, ist fast immer ebenso westlich beeinflusst wie alles andere. Nur hört man es oft nicht gleich auf Anhieb", meint Greve.

 Ob man nun den türkischen Rock musiker Erkin Koray nimmt, den jungen Rapper Ceza, die kurdische Sängerin Aynur oder Sezen Aksu, die seit Jahrzehnten erfolgreich Pop mit klassischer türkischer Musik verbindet: Ihre Klangwelten entwickeln sich nicht im Glashaus, sondern im aktiven Austausch mit anderen Strömungen. In der Türkei gibt es sogar Muezzine, die ihren Ruf zum Gebet als Gesang verstehen. Für FundamentalistInnen ist das Gotteslästerung. Aber Fundamentalist Innen gibt es überall.

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 Orientalische Musikfilme

 Im Kino in der Reitschule in Bern sind im Rahmen des Musikfilmfestivals Norient Dokumentarfilme über Musikszenen aus dem orientalischen Raum zu sehen.

 Donnerstag, 13. Januar, 20 Uhr: "Muezzin", Do kumen tarfilm von Sebastian Brames huber (Tür kei/ Österreich 2009). "Taqwacore: The Birth of Punk Islam", Dokumentarfilm von  Omar Majeed (USA/Pakistan 2009).

 Freitag, 14. Januar, 20 Uhr: "Whose Is This Song?", Dokumentarfilm von Adela Peeva (Bulgarien 2003). "Fokofpolisiekar (Fuck-off-Police-Car)", Dokumentarfilm von Brian Little (Südafrika 2009).

 Samstag, 15. Januar, 20 Uhr: "Full Metal Village", Dokumentarfilm von Cho Sung-Hyung (Deutschland 2006). "We Dont't Care about Music Anyway", Dokumentarfilm von Cédric Dupire und Gaspard Kuentz (Frankreich/Japan 2009).

 Reservationen: reservation@norient.com http://www.norient.com

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Bund 13.1.11

Sounds The Faranas

 Fast schon ein bisschen erotisch

 Eine Zehnerschaft Berner Jazz- und Funk-Musiker huldigt dem Afrobeat: The Faranas haben sich von der Fela-Kuti-Coverband zur autarken Combo entwickelt. Ihre Debüt-CD ist ein groovendes Bijou.

 Ane Hebeisen

 Es war für die Musikgeschichte ein Schlüsselmoment, als sich Fela Kuti 1966 mit seinen Freunden Hugh Masekela und Mulatu Astatke in New York traf. Gemeinsam beschloss man, die afrikanische Musik in die Welt tragen zu wollen. Drei Jahre später erfand Fela den Afrobeat, indem er die Sexyness des Funks mit dem Furor afrikanischer Widerstandsmusik paarte und mit einer unbändig rohen Form des Jazz vermengte. Afrobeat war ein kämpferisches Statement gegen die Seuche der Korruption, gegen Machtmissbrauch, Unterdrückung und die Relikte des Kolonialismus. Und während man in den Clubs von London ausgelassen dazu tanzte, arrivierte die Musik auf dem afrikanischen Kontinent zum Soundtrack des Aufstandes.

 Seit Anfang des Jahrtausends feiert der Afrobeat wieder Hochkonjunktur. Zwischen Tokio und Los Angeles schiessen Bands aus dem Boden, die sich diesem rollenden Groove annehmen. Mit den Faranas hat nun auch die Stadt Bern eine eigene heimische Afrobeat-Kapelle. Eine Band, die zwischen 2003 und 2010 unter dem Namen The Felas als Coverband durch die Lande reiste, ohne jedoch den Songs des Afrobeat-Übervaters besonders reizvolle neue Facetten abzutrotzen. Doch nun meldet sich die Formation unter neuem Namen, mit eigenen Stücken und dem mirakulösen Album "Who Are You" zurück. Und auf einmal geht es hier um mehr als um die blosse Werktreue - es geht um nichts weniger als um die Weiterentwicklung des Afrobeats. Der Berner Vibrafonist Dominik Alig, der die Felas 2003 - vorerst nur für ein Konzert - aus dem Boden stampfte, berichtet nicht ohne Stolz von der beachtlichen Entwicklung, welche die 10-köpfige Band hinter sich hat: "Seit dem Entschluss, eigene Songs zu schreiben, wurde eine staunenswerte Eigendynamik in Gang gesetzt", erzählt er. "Jeder bringt sich mit seinem musikalischen Hintergrund in die Band ein, und es wurde bald klar, dass da am Ende kein Afrobeat entsteht, wie man ihn schon öfters zuvor gehört hat."

 Berner Musik-High-Society

 Und gerade weil sich da so allerhand Berner Musikprominenz aus verschiedensten Sparten auf einem Fleck versammelt, bleibt diese Musik über die ganze Spieldauer des Silberlings vielgestaltig und anreizend. Da finden sich die progressiven Klänge des Elektro-Jazzers Jan Brönnimann neben der fast schon erotisch anmutenden Rhythmusgitarre des Grand-Mother's-Funk-Mannes Bernhard Häberlin, da trifft der unendlich groovende Bass von Berns führendem Tieftöner Tonee Schiavano auf die Kalimba von Adrien Oggier oder das - in Afrobeat-Besetzungen eher selten zum Einsatz kommende - Vibrafon von Dominik Alig auf die raffinierte Rhythmusarbeit des Senegal-Berners Mory Samb.

 Immer wieder wird gebührend Platz ausgespart für solistische Vorstösse, und auch am Frontmikrofon tut sich allerhand: Das Hauptproblem der Felas war, dass der Brothertunes-Sänger Rich Fonje - ein begnadeter Soul-Interpret - als Fela-Imitator keine Idealbesetzung war. Im erweiterten Musik-Layout der Faranas ist sein souliges Timbre besser aufgehoben, im Paradestück "Farana" zeigt er auf, dass er durchaus auch aus diesem Soul-Distrikt auszubrechen im Stande ist. Eine nette Ergänzung ist der Einbezug von Mory Samb als Sänger, der Sohn eines Griots setzt überraschende Kontraste, ebenso die südafrikanische Gastsängerin Burni Aman mit ihrem Afrikaans-Sprechgesang.

 "Wir haben erkannt, dass wir als Schweizer Band nie die politische Brisanz und Dringlichkeit der Originale in unserer Musik auffangen können. Deshalb war es so befreiend, an einer ganz eigenen Deutung dieses Sounds zu werkeln", sagt Dominik Alig. Und dieses Unterfangen ist mehr als geglückt. Selten hat ein dermassen aufreizend groovendes Tonwerk ein Berner Studio verlassen, und gerade weil in ebendiesem Studio nicht auf die im Genre übliche Vintage-Ästhetik gesetzt wurde, erstrahlt diese Musik in einem ganz aparten Glanz. Das Werk ist transparent produziert, ohne in einem kunstfeindlichen Chic unterzugehen. Eine durchwegs erfreuliche Sache!

Reitschule DachstockFr, 14. Jan., 20.30 Uhr.

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WoZ 13.1.11

Ausstellung

 Reis aus Birmingham

 Die Künstlergruppe Stan's Cafe aus Birmingham stellt mithilfe von Reiskörnern Statistiken nach. Ein einzelnes Reiskorn steht dabei jeweils für eine Person.

 Bis Ende Januar sind ihre Arbeiten in der Grossen Halle der Reitschule in Bern zu sehen. Mit der Exaktheit passionierter Wissenschaftler Innen wiegen die Künstler den Reis, häufen ihn auf und liefern so visuelle Antworten auf brennende Fragen und erhellende Einsichten in soziale Ungleichheiten. Die unterschiedlichen Grössen der Hügel verleihen der Ausstellung ihre scharfsinnige Brisanz.

 Die Ausstellung steht unter dem Patronat des Cesci-Fördervereins. Sein Anliegen ist es, die indische Sozialbewegung Ekta Parishad in der Schweiz bekannt zu machen. adr

 "Ungleichheiten" in: Bern Grosse Halle in der Reitschule. Sa, 15., bis So, 30. Januar. www.reitschule.ch

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RABE-INFO
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Mo. 17. Januar 2011
http://www.rabe.ch/uploads/tx_mcpodcast/RaBe-_Info_17._Januar_2011.mp3
http://www.rabe.ch/nc/webplayer.html?song_url=uploads/tx_mcpodcast/RaBe-_Info_17._Januar_2011.mp3&song_title=RaBe-%20Info%2017.%20Januar%202011
- Rive Reine Konferenz - ein Geheimtreffen der Wirtschafts- und Politelite am Genfersee
- Kopf der Woche: die bulgarische Filmemacherin Adela Peeva

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Fr. 14. Januar 2011
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- Der viel gelobte Dokumentarfilm "Water Makes Money" im Visier der Grosskonzerne: Der französische Wasserkonzern Veolia klagt wegen Verleumdung
- Wer hat's erfunden? - Ein Lied bewegt die Gemüter auf der ganzen Welt
- Frauenkooperative in Nicaragua: T-Shirts ums Überleben kämpfen

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Do. 13. Januar 2011
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http://www.rabe.ch/nc/webplayer.html?song_url=uploads/tx_mcpodcast/RaBe-_Info_13._Januar_2011.mp3&song_title=###TITLE###
- Warum Transparency International das Urteil im Zürcher Whistleblower-Prozess kritisiert
- Wie sich der Deutsche Journalistenverband für 2 Kollegen einsetzt, die im Iran im Gefängnis sitzen
- Wie der Waffenstillstand der baskischen Terrororganisation ETA zu einer politische Lösung im Baskenland beitragen kann

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KNAST
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BZ 14.1.11

Knastkritik nach Gefühl

 Hindelbank. Die nationale Anti-Folter-Kommission stützt ihre Kritik an der Strafanstalt Hindelbank vor allem auf das Gefühl der eigenen Fachleute und auf die Aussagen der befragten Insassinnen. Dies erklärt Elisabeth Baumgartner, Vizepräsidentin der Kommission, im Interview mit dieser Zeitung. In ihrem am Dienstag veröffentlichten Bericht kritisierte die Kommission die Haftbedingungen im Hochsicherheitstrakt der Anstalt massiv. Der Grad der Isolation komme einer unmenschlichen Behandlung nahe und stehe einer positiven Entwicklung der Insassinnen absolut entgegen. Auch sei das Personal der Anstalt zum Teil ungenügend ausgebildet. Gegen die Vorwürfe wehrte sich die Anstaltsleitung und sagte, die Kommission habe zu wenig genau hingeschaut.as
Seite 13

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Kommission macht aus Gefühlen Fakten

 Strafvollzug. Elisabeth Baumgartner hat als Vizepräsidentin der nationalen Anti-Folter-Kommission die Haftbedingungen in Hindelbank kritisiert. Wie Baumgartner erklärt, fusst diese Kritik weniger auf objektiven Fakten als auf den Aussagen der Insassen sowie auf dem Gefühl der Kommissionsmitglieder.

 Sie kritisieren die Haftbedingungen in Hindelbank. Die Anstaltsleitung sagt dagegen, Sie hätten nicht gut hingeschaut.

 Elisabeth Baumgartner: Das sehe ich anders. Wir waren letzten Juni zwei Tage in Hindelbank und haben mit Insassinnen sowie mit dem Personal gesprochen und uns alles angeschaut.

 Sie bemängeln, dass dem Personal zum Teil die richtige Ausbildung fehle. Die Anstaltsleitung weist den Vorwurf zurück.

 Wir haben dies dort festgestellt, wo Frauen mit psychischen Problemen und zum Teil psychischer oder geistiger Behinderung festgehalten werden. Für solche Personen ist eine Haftanstalt nicht der richtige Ort. Zwar ist die Leitung dieser Abteilung gut qualifiziert. Das Personal hingegen ist - anders als in der Psychiatrie - nicht für die nötige Betreuung ausgebildet. Solche Personen adäquat unterzubringen, ist nicht nur in Hindelbank ein Problem. In der ganzen Schweiz fehlen solche Plätze.

 Sie kritisieren die Isolation im Hochsicherheitstrakt. Die beiden Frauen, die dort aus Sicherheitsgründen in Einzelhaft sind, dürfen jedoch Katzen halten, und auch sonst gehe man auf ihre Bedürfnisse ein, sagt die Anstaltsleitung.

 Eine Katze zu halten, ist sicher gut, aber es ersetzt die zwischenmenschlichen Kontakte nicht. Heute führt ein übersteigertes Sicherheitsbedürfnis dazu, dass man solche Leute einfach wegsperrt. Die Erhöhung des Sicherheitsstandards führt aber zu mehr Isolation im Gefängnis, was sich nachteilig auf die psychischen Störungen dieser Menschen auswirkt und sie zu Zeitbomben macht. Denn die Möglichkeit besteht, dass sie bei guten Prognosen eines Tages aus der Anstalt entlassen werden.

 Bei den Frauen in Einzelhaft handelt es sich um die sogenannte Parkhausmörderin und die Florapark-Mörderin. Sie sollen das Personal immer wieder angreifen. Wie sollen solche Täterinnen verwahrt werden?

 Wir von der Kommission sind nicht die Anwälte dieser Frauen. Aber dass die Therapeutinnen durch Gitterstäbe mit einer der Insassinnen sprechen müssen, ist aus ärztlicher Sicht schlecht. Unser Präsident (Jean-Pierre Restellini, Genfer Arzt und Jurist sowie der Schweizer Vertreter im Anti-Folter-Ausschuss des Europarates, Anm. d. Red.) hat problemlos ohne Gitter mit beiden Frauen gesprochen. Allerdings musste er sie erst beruhigen, weil sie sich ein Gespräch ohne Gitter nicht gewöhnt waren.

 Nochmal: Wie soll man solche Täter verwahren?

 Wir sind sicher, dass dieses Niveau an Isolation nicht nötig ist. Man müsste versuchen, solche Personen in den Normalvollzug zu integrieren, ihnen eine Chance geben.

 Laut Anstaltsleitung sind Lockerungen im Vollzug dann möglich, wenn die Insassinnen Fortschritte in der Therapie machen. Die Parkhausmörderin gilt als nicht therapierbar.

 Es ist sicher immer schwierig, die Gefährlichkeit einzuschätzen und die Sicherheit abzuwägen. Eine Möglichkeit wäre die schrittweise Lockerung des Vollzugs. Gespräche ohne Gitterstäbe könnten den Therapieverlauf allenfalls positiv beeinflussen.

 Sie kritisieren weiter, dass die Betreuung stark auf den konformen Ablauf des Anstaltslebens und auf das Einhalten von Regeln ausgerichtet sei.

 Wie soll eine Strafanstalt, in der hundert Kriminelle einsitzen, sonst geführt werden?

 Das ist schon klar. Wir hatten jedoch im Gespräch mit den Insassinnen den Eindruck, dass dies in Hindelbank sehr rigoros gehandhabt wird und dass den Frauen nicht immer rechtliches Gehör gewährt wird.

 Stützen Sie sich ausschliesslich auf die Aussagen der Insassen?

 Nein, wir sprechen auch mit der Anstaltsleitung und mit dem Personal. Da steht dann halt manchmal Aussage gegen Aussage. Es ist aber klar unsere Aufgabe, den Inhaftierten zuzuhören und ihre Aussagen aufzunehmen. Denn diese Stimmen werden sonst nicht gehört.

 Eine Ex-Insassin von Hindelbank hat sich bei uns gemeldet und die Anstalt sehr gelobt.

 Unser Bericht ist im Grossen und Ganzen ebenfalls positiv, vor allem was den normalen Vollzug betrifft. In den Medien konzentrierte man sich zu stark auf die wenigen Kritikpunkte, die wir betreffend des Hochsicherheitstraktes anbrachten.

 Nach welchen Kriterien beurteilt die Kommission die Anstalten?

 Wir schauen beispielsweise, wie oft gewisse Aussagen gemacht werden. Wenn viele Insassen dasselbe kritisieren, dann ist dies ein Indiz dafür, dass etwas nicht in Ordnung ist. Zudem sind wir erfahrene Fachleute auf verschiedenen Gebieten.

 Im Bericht zu Hindelbank kritisieren Sie, der Grad der Isolation im Hochsicherheitstrakt sei aus menschlicher, medizinischer und rechtlicher Sicht kaum zu rechtfertigen. Worauf stützen Sie diese Aussage?

 Auf das Gefühl und die Erfahrung unseres Präsidenten Jean-Pierre Restellini, der die Frauen dort besucht hat.

 Gibt es keine Kontrollkriterien und Massstäbe, welche die Kommission anwendet?

 Doch. Die Normen von UNO-Konventionen und jene der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie deren Auslegung durch Gerichte. Für unsere Arbeit massgebend sind auch die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze vom Ministerkomitee des Europarates und die Standards des europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter.

 Gegen welche Konventionen verstossen die Haftbedingungen in Hindelbank?

 Der Europäische Ausschuss geht davon aus, dass ein bestimmter Grad von Isolation Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzen kann. Der Ausschuss verlangt mindestens eine Stunde menschlichen Kontakt pro Tag. Bei Kritikpunkten, die die Bedingungen im Hochsicherheitstrakt betreffen, steht Aussage gegen Aussage. Etwa dort, wo es um die Anzahl Stunden pro Woche geht, in denen die Inhaftierten Kontakt zu anderen Leuten haben.

 Dafür formulieren Sie Ihre Kritik aber ziemlich absolut.

 Das Gefühl, das Jean-Pierre Restellini beim Gespräch mit der einen Frau hatte, deckt sich mit deren Aussage, dass sie zu wenig Kontakte habe. Ebenso der emotionale Zustand, in dem er sie vorfand.

 Wie viele und welche Institutionen muss die Kommission pro Jahr kontrollieren?

 In das Mandat der Kommission fallen alle Institutionen, in denen auf behördliche Anordnung oder mit behördlicher Genehmigung ein Freiheitsentzug stattfindet. Wir besuchen also Leute im Fürsorgerischen Freiheitsentzug ebenso wie Untersuchungshäftlinge, Strafgefangene oder Ausländer in Ausschaffungshaft. Zahlenmässig haben wir keine Vorgaben, wir versuchen aber mindestens 16 Institutionen pro Jahr zu kontrollieren. Mehr ist schwierig, weil wir eine Milizkommission mit beschränkten finanziellen Mitteln sind.

 Wie hoch ist Ihr Budget, und wer finanziert Ihre Arbeit?

 Uns stehen jährlich 360 000 Franken zur Verfügung. Damit müssen wir die Kosten für das Sekretariat und die mehrtägigen Besuche decken. Die Finanzierung übernehmen das Bundesamt für Justiz und das Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten.

 Interview: Andrea Sommer

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 UNO-Anti-Folter-Konvention

 Anti-Folter-Kommission Die Juristin Elisabeth Baumgartner (38) ist bei der Friedensstiftung Swisspeace für den Bereich Vergangenheitsarbeit zuständig. Sie ist Vizepräsidentin der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF). Die zwölfköpfige unabhängige Kommission wurde vom Bundesrat im Herbst 2009 für vier Jahre ernannt. Sie hat ihre Arbeit Anfang 2010 aufgenommen. Die Einsetzung der NKVF ist eine Folge des von der Schweiz zuvor ratifizierten internationalen Fakultativprotokolls zur Anti-Folter-Konvention der UNO, die derzeit 147 Staaten unterzeichnet haben. Die NKVF hat diese Woche ihre ersten Berichte zu den im Mai und Juni 2010 durchgeführten Besuchen in der Strafanstalt Hindelbank, im Untersuchungsgefängnis Brig sowie im Ausschaffungszentrum Granges vorgelegt. Die Kommission prüft die Einhaltung sämtlicher Menschenrechtsnormen in Haftanstalten und an anderen Orten des Freiheitsentzuges.asr

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 Das sagen Insassinnen

 Brief einer Ehemaligen A. Z. * war während 15 Monaten bis 2009 in Hindelbank inhaftiert. In einem Brief an die Redaktion reagierte sie auf die am Mittwoch publizierte Kritik der nationalen Anti-Folter-Kommission an der Strafanstalt Hindelbank. Im Brief bezeichnet Z. die Anstalt als "eine sehr grosszügige Anstalt", die sich positiv auswirke. Die Parkhausmörderin soll im Hochsicherheitstrakt ein grosses Zimmer bewohnen und eine Katze halten dürfen. Andere Insassinnen des Hochsicherheitstraktes könnten begleitet von der Anstaltsbibliothek Gebrauch machen und teilweise an internen Kursen teilnehmen. Die Insassinnen im normalen Vollzug arbeiten laut A. Z. in verschiedenen internen Bereichen wie Küche, Töpferei, Stoffwerk, Packwerk, Wäscherei. Für die Arbeit würden sie entlöhnt und könnten einmal pro Woche im Anstaltskiosk einkaufen. Die Frauen dürften zu geregelten Zeiten die Telefonzellen im Haus benutzen. Frei benutzt werden könnten die Aufenthaltsräume, Bad und Dusche sowie Küche, Waschmaschine und Tumbler. "Die Frauen erhalten täglich drei gesunde, abwechslungsreiche Mahlzeiten", so Z. "Für jede Religion wird separat auf Wunsch gekocht." Nach Abklärung dürften die Insassinnen Besuche von Verwandten und Freunden empfangen. Es gäbe noch viele positive Punkte aufzuzählen, so A. Z. "Dass man sich an Regeln halten muss, ist wohl das Minimum, schliesslich verbüsst man dort eine Strafe."

 Eine Insassin der Anstalt meldete sich gestern und bat um Rückruf, weil sie die Haftbedingungen kritisieren wollte. Die Frau war zur vereinbarten Zeit jedoch nicht mehr erreichbar.as

 * Name der Redaktion bekannt

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BZ 13.1.11

Kritik an Kommission

 Anstalt Hindelbank. "Die Kommission hat zu wenig genau hingeschaut." So wehrt sich Marianne Heimoz, Direktorin des Frauengefängnisses Hindelbank, im Interview gegen die massive Kritik, die am Dienstag in einem Bericht der nationalen Anti-Folter-Kommission geäussert wurde. Die Haftbedingungen im Hochsicherheitstrakt seien schon beinahe unmenschlich, schreibt die Kommission. Das hohe Mass an Isolation der inhaftierten Frauen sei weder aus menschlicher noch aus rechtlicher oder medizinischer Sicht zu rechtfertigen. In Hindelbank gebe es keine Isolationshaft, widerspricht Heimoz. Auch könne das Personal relativ gut auf die Bedürfnisse der Insassinnen eingehen. Die beiden Frauen in Einzelhaft beispielsweise könnten je eine Katze halten.as
Seite 14

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"Trotz Einzelhaft gehen wir auf individuelle Bedürfnisse ein"

 HaftbedingungenMarianne Heimoz, Direktorin der Anstalt Hindelbank, wehrt sich gegen die Kritik der nationalen Anti- Folter-Kommission an den Haftbedingungen im Frauengefängnis. Die Zellen in Hindelbank entsprächen der Europäischen Menschenrechtskonvention, und selbst die Insassinnen im Hochsicherheitstrakt hätten täglich verschiedene zwischenmenschliche Kontakte.

 Frau Heimoz, sind die Frauen in Ihrem Hochsicherheitstrakt tatsächlich so gefährlich, oder sind Sie überängstlich?

 Marianne Heimoz: Bis jetzt hatte ich nicht das Gefühl, überängstlich zu sein. Mit den Frauen ist es in unterschiedlichem Masse schon zu gewalttätigen Zwischenfällen gekommen. Das letzte Mal vor wenigen Tagen.

 Was ist passiert?

 Dazu darf ich mich aus Datenschutzgründen nicht äussern.

 Aus Sicht der nationalen Anti-Folter-Kommission ist die Isolation in Ihrem Hochsicherheitstrakt weder aus menschlicher noch aus rechtlicher oder medizinischer Sicht gerechtfertigt.

 Wir haben in Hindelbank keine Isolationshaft. Die Kommission hat zu wenig genau hingeschaut, welche Arbeit das Personal im hoch gesicherten Anstaltsbereich leistet. Der Bericht stützt sich vor allem auf die Aussagen der Frauen.

 Die Parkhausmörderin sagte letzten März vor dem Züricher Obergericht, dass sie sich lebendig begraben fühle, sich die Haut ritze und den Kopf an die Wand schlage, um Schmerzen zu fühlen. Das klingt nach schlimmen Haftbedingungen.

 Eine Qualitätsbeurteilung aufgrund einer einzelnen Aussage ist gefährlich. Aus der Optik der Frauen im Hochsicherheitstrakt kann ich diese Aussagen jedoch verstehen. Sie sind in Einzelhaft, und wir können ihnen aus baulichen Gründen nicht mehr Raum zur Verfügung stellen. Damit ist der Aktionsradius der Insassinnen beschränkt. Im hoch gesicherten Bereich herrschen die schwierigsten Vollzugsbedingungen.

 Wer ordnet den Sicherheitsvollzug an, und wird er regelmässig überprüft?

 Die Einweisung erfolgt über die Einweisungsbehörde des Kantons, in welchem das Delikt begangen wurde. Abklärungen zusammen mit dem forensischen Dienst ergeben das Regime, unter welchem die Frauen aufgenommen werden. Dieses überprüft die Einweisungsbehörde jährlich. Sie entscheidet über Vollzugslockerungen. Wir von der Anstalt haben ein Antragsrecht.

 Wie viele Frauen leben im Hochsicherheitstrakt?

 In der gesicherten Wohngruppe gibt es acht Plätze, die alle besetzt sind. Sechs der Frauen haben mehr oder weniger häufig gesicherten Gruppenkontakt. Wie oft, ist abhängig von Therapiefortschritt und psychischer Befindlichkeit. Wir haben zwei Frauen in Einzelhaft. Über beide gibt es etliche Gutachten. Die Experten kommen zum Schluss, dass die eine Frau nicht therapierbar ist. Die zweite hat nun eine stationäre Massnahme bekommen, weil ihr das Gericht eine Chance geben will. Aber beide Frauen werden psychiatrisch betreut.

 Wie sind die räumlichen Verhältnisse?

 Die Zellengrösse entspricht der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die eine der beiden Frauen in Einzelhaft hat eine 13 Quadratmeter grosse Zelle, jene der anderen Frau ist gegen 20 Quadratmeter gross. Die Arbeitszelle, wo jede die Hälfte des Tages arbeitet, ist etwa 16 Quadratmeter gross. Dazu kommen der Spazierhof und der Besuchsraum. Aber es ist so, die Platzverhältnisse sind sehr eng - auch für unser Personal. In absehbarer Zeit soll unser Oberbau abgerissen und neu gebaut werden - wann es so weit ist, ist noch unklar.

 Wie viele menschliche Kontakte haben die Insassinnen im Hochsicherheitstrakt täglich?

 Sie sehen täglich mehrmals das Betreuungspersonal, die Arbeitsagogin oder eine Lehrkraft - je nach dem, ob sie arbeiten oder eine Schulung machen. Dann schaut unser Pflegepersonal ein- bis zweimal täglich nach den Frauen. Auch die Psychologinnen und Psychiater kommen regelmässig vorbei. Freien Zugang zum Trakt hat der Pfarrer. Zudem haben wir ein Abendgespräch institutionalisiert. Das heisst, vor dem Einschluss in die Zelle haben die Frauen die Möglichkeit, sich eine Viertelstunde mit einer Betreuungsperson zu unterhalten. Den Kontakt zur Aussenwelt haben die Insassinnen durch TV, Radio und Zeitungen. Sie können sich informieren und übrigens auch abstimmen und wählen. Weiter haben wir auch Besuchsabende institutionalisiert, an denen einzelne Frauen teilnehmen und zum Beispiel Gesellschaftsspiele spielen können. Oft lehnen die Frauen dies allerdings ab. Und natürlich gibt es sporadisch auch Besuche von Familienangehörigen. Die Einschränkung besteht vor allem darin, dass die Frauen die Kontakte nicht frei wählen können.

 Gibt es die Möglichkeit interner Lockerungen?

 Ja. Das wichtigste Kriterium hierfür ist der Therapiefortschritt. Wenn die Frauen vertragsfähig sind, also realisieren und anmelden können, wenn die Situation schwierig wird und sie sich in ihre Zelle zurückziehen möchten. Solange dies nicht möglich ist und eine Gefahr für Mitinsassen und Personal besteht, ist eine Lockerung jedoch nicht möglich.

 Müssen im Hochsicherheitstrakt tatsächlich Gespräche durch Gitterstäbe geführt werden?

 Ja, das ist im Sicherheitsvollzug bei den Männern nicht anders. Weil bei uns nur zwei Frauen in Einzelhaft sind, können wir trotzdem relativ stark auf deren individuelle Bedürfnisse eingehen. So ist es den Frauen erlaubt, eine eigene Katze zu halten. Diese haben natürlich Auslauf.

 Inwieweit sind Lockerungen überhaupt möglich für hochgefährliche Täterinnen und Täter?

 Die Gesellschaft verlangt nach Sicherheit und danach, keine Risiken einzugehen. Das lässt wenig Raum für Lockerungen. Was aber unabdingbar ist, ist ein anständiger, respektvoller Umgang mit den Insassinnen. Für meine Mitarbeiter lege ich da die Hand ins Feuer.

 Ein weiterer Vorwurf der Kommission ist, dass Ihr Personal zum Teil keine adäquate Ausbildung habe.

 Die Wohngruppenleiterin des Hochsicherheitstrakts und ihre Stellvertreterin sind Psychologinnen, einige der Betreuenden haben Ausbildungen am Zentrum für Strafvollzugspersonal absolviert. Wir stellen niemanden ohne Berufserfahrung ein. Wir haben im Gesundheitsdienst zudem diplomierte Psychiatriepflegerinnen, diese sind allerdings für die ganze Anstalt da und nicht nur für die Frauen im Hochsicherheitstrakt. Diesen Sommer können wir eine neue Therapiewohngruppe für den stationären Massnahmenvollzug eröffnen, und da werden wir zusätzliches Psychiatriepersonal einsetzen. Den Vorwurf, unsere Mitarbeiter seien nicht adäquat ausgebildet, weise ich von mir.

 Interview: Andrea Sommer

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PROZESSE
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Tagesanzeiger 17.1.11

Ex-Terrorist zieht Urteil nicht weiter

Hohler Stefan

 Zürich/Lausanne - Ein ehemaliges Mitglied der italienischen Roten Brigaden darf nicht nach Zürich zu seinen beiden Kindern ziehen. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts in Bern vom Juli ist rechtskräftig, weil der 54-jährige Italiener den Fall nicht ans Bundesgericht in Lausanne zieht. Dies sagt seine Zürcher Verteidigerin auf Anfrage. Der Mann hatte eine Beschwerde gegen die vom Bundesamt für Polizei verfügte Einreisesperre eingereicht. Der Italiener soll in Zürich enge Beziehungen zur linksautonomen Szene unterhalten und sich nie von den Roten Brigaden distanziert haben, begründete das Bundesverwaltungsgericht seinen Entscheid.

 Der Mann lebte zwischen 1996 und 2002 illegal bei seiner Schweizer Freundin in Zürich. Das Paar hat eine Tochter und einen Sohn. Die Frau starb 2002 an Krebs, die Kinder kamen zu einer Pflegemutter. Der Vater erhielt jedoch die Erlaubnis, jährlich drei- bis viermal für zehn Tage zu seinen Kindern zu reisen. Laut seiner Verteidigerin wird der Mann die Kinder weiterhin besuchen.(hoh)

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Blick am Abend 14.1.11

TATORT

 Gelbe Acrylfarbe an seinen Händen

 Der Richter fragt: "Könnten Sie Ihr Chäppli abziehen? Hätten Sie ein Problem damit?" Der junge Mann hebt seine Kappe. Hervor kommt eine Glatze und ein langer Irokesenzopf. Der Angeklagte Tobias V. (24) ist gepierct an Nase und Unterlippe,vorbestraft wegen Sachbeschädigung, wohnt in einer WG, zu zehnt. Er büezt für 2100 Franken im Monat bei einem Getränkehändler, stottert Schulden über 5000 Franken ab. Ist glücklich liiert. Die Tat geschah im Dezember 2008: Da streifte eine Gruppe von zehn Jugendlichen durch Winterthur. Sie trugen schwarze Kapuzen, und einer von ihnen hatte einen Kübel Farbe dabei. In dieser Winternacht wurden Autos zerkratzt. Und auf einen zerkratzten Mercedes wurde in gelber Acrylfarbe "Container" geschrieben. Die Polizei rückte aus und fand bald eine Gruppe von Linksautonomen; das sind die mit den schwarzen Kapuzen. Es ging unfreundlich zu und her, und die Polizei grift durch. Der Angeklagte landete in Haft. An seinen Händen fand man dieselbe gelbe Acrylfarbe wie auf dem Mercedes, an seinem Handy auch. Auf der Polizeiwache beschallte man ihn mit Marschmusik, erzählt der Verteidiger. Und man verhörte Tobias V.. Er sagte nicht ein Wort, das sei eine Art Ehrenkodex unter den Linksautonomen, erfährt der Richter. Auch vor Gericht schweigt Tobias V., sagt nur: "Ich bin unschuldig". Das sah das Bezirksgericht Winterthur anders. Ein Schuldspruch erging im Juli 2010. Und jetzt, beim Rekurs vor Obergericht, rig gericht, argumentiert der Verteidiger: "Die Farbe könnte ja auch von einem Handschlag kommen." Es gilt: Im Zweifel für den Angeklagten. Die Frage ist nicht: Könnte er es gewesen sein? Die Frage lautet: Kann es sein, dass er es nicht war? Ja. Das kann.

 "Wir sind nicht naiv", sagt der Richter: "Ein Hand schlag mit beiden Händen?" Er lächelt, schüttelt den Kopf und sagt: "Wir sprechen Sie frei." rig

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Indymedia 13.1.11

Communique zur Mobilisierung an den Prozesstermin der Gefang ::

AutorIn : Revolutionärer Aufbau Schweiz: http://www.aufbau.org/index.php?option=com_content&task=view&id=947&Itemid=1     
    
Die öffentliche Mobilisierung an den Prozesstermin der Gefangenen vom 17. Januar 2009 fand heute Morgen statt. Dies, obwohl der Prozess abgesagt wurde, da die Jugendstaatsanwältin Rosmarie Müller sich einen formalen Fehler leistete: Ein Indiz für die Verbissenheit der Staatsanwaltschaft, die durch den Prozess versucht die direkt Beschuldigten und den politischen Widerstand einzuschüchtern.

Ein Muster, welches sich auch heute Morgen weiterzog: Ein Aufgebot der Kantons- und Stadtpolizei Zürich "sicherte" das Bezirksgebäude und führte aus diesem Grund Personenkontrollen und Beschlagnahmungen von politischem Material durch. Damit wurde ein weiteres Mal der politische Charakter des Verfahrens unterstrichen.

An der Mobilisierung wurde eine Erklärung eines Beschuldigten verlesen:

Am 17. Januar wurden wir in einer Nahbereichsfandung nach einem Farbanschlag auf die UBS-Filiale am Paradeplatz festgenommen. Es lag eine beträchtlich örtliche und zeitliche Distanz zwischen dem Ort der Festnahme und dem Paradeplatz - trotzdem wurden wir sofort festgenommen, da einer von uns bereits bei der Polizei als linker Aktivist bekannt war.

Zuerst kamen wir in Polizeihaft in's Provisorische Polizeigefängnis (Propog) in Zürich, welches übrigens gerade vor kurzem für weitere 5 Jahre vom Kantonsrat bewilligt wurde. Und jeder der schon mal im Propog sass weiss, dass die Menschenrechtsorganisationen nicht übertreiben wenn sie von menschensunwürdigen Verhältnissen innerhalb der Gefängnismauern sprechen. Doch an dem wird sich so schnell nichts ändern, da doch der Zweck des Propog gerade darin besteht, den Menschen zu brechen, damit er belastende Aussagen macht.
Später wurde von der Staatsanwaltschaft 2-wöchige Untersuchungshaft verordnet. Dass diese Untersuchungshaft den alleinigen Zweck besass Aussagen aus uns heraus zu pressen, liegt auf der Hand, da wir von Beginn an die Aussage verweigerten und nach dem Ablauf der U-Haft auch keine neuen Beweise aufgetaucht waren!

Obwohl die dilettantische Anklage der Staatsanwaltschaft bereits vor einem Jahr von der Gerichtspräsidentin abgelehnt wurde, da höchstwahrscheinlich ein Freispruch zu erwarten gewesen wäre, versuchte die Staatsanwältin Rosmarie Müller, trotzdem die Anklage durchzuführen.
Dieses dilettantische Vorgehen seitens der Staatsanwaltschaft zeigt deutlich den Versuch die Angeklagten und mit ihnen die gesamte politische Widerstandsbewegung einzuschüchtern und das Kapital zu schützen! So ist es wohl kein Zufall, dass der Prozess nun zwei Jahre nach dem Vorfall genau eine Woche vor der anstehenden WEF-Kampagne angesetzt wurde!

Doch wir lassen uns nicht einschüchtern und wehren uns gegen sämtliche Angriffe der Klassenjustiz!
Wir akzeptieren nicht, dass sich die Handlanger der KapitalistInnen einzelne Jugendliche aussuchen um einzuknasten, währenddessen den Grossbanken Geld in den Arsch gestopft wird und versucht wird kriminelle Grossbanken vor Anklagen aus dem Ausland zu schützen!
Als die erste Anklage scheiterte versuchte die Staatsanwältin Rosmarie Müller mit einer 2. Anklage uns heute vor Gericht zu stellen.
Diese Anklage wurde nun jedoch vor 3 Tagen erneut zurückgewiesen, da die inkompetente Staatsanwältin zum wiederholten Male einen Fehler gemacht hatte.
Die Staatsanwaltschaft scheint sich so stark darauf zu konzentrieren uns zu verurteilen, dass sie nicht bemerkt haben, dass seit dem 1.Januar 2011 die neue Strafprozessordnung gilt. Deshalb ist diese gerichtliche Instanz nun nicht mehr zuständig.

Anstelle des öffentlichen Prozesses wird die Staatsanwaltschaft nun hinter verschlossenen Türen fernab von der Öffentlichkeit einen Strafbefehl ausführen.
Daher ist es jetzt besonders wichtig, dass wir den öffentlichen Druck erhöhen und die dilettantische Arbeitsweise und die politischen Absichten der Staatsanwaltschaft enttarnen und Anklagen!
Was sich hier wie ein lächerlich einstudiertes Theater abgespielt hat ist keineswegs das Produkt einer besonders bösartigen Staatsanwältin oder eines besonders fiesen Polizisten! Nein - dies hier ist das Ergebnis, der sich in der Krise verschärfenden Klassenjustiz, welche jeglichen Widerstand versucht mit bitterster Repression im Keim zu ersticken, um die KapitalistInnen zu schützen wo es nur geht!

Doch dass so viele Menschen heute zu diesem Prozess gekommen sind, trotz der eisigen Kälte und der frühen Morgenstunde, zeigt dass die Solidarität unserer Klasse mit jedem Angriff der herrschenden Klasse stärker wird und die Kraft erlangt in die Offensive zu gehen!
Wenn die Repression versucht uns einzeln zu treffen, einzelne zu isolieren und unter Druck zu setzten, dann ist es die Aufgabe der internationalen Klassensolidarität gemeinsam und kraftvoll zurück zuschlagen und den Kapitalisten und ihren Handlangern einen Faustschlag ins Gesicht zu verpassen!

Eure Solidarität war es, welche uns Kraft gab durchzuhalten als wir hinter den Gefängnismauern sassen und heute hier zu stehen um diesen Prozess zu führen! Unsere Solidarität wird es sein welche die Grundfesten dieses ausbeuterischen Systems erzittern und schliesslich zu Fall bringen werden!
Vielen Dank allen die heute hier stehen oder uns im Vorfeld unterstützt haben!

Die Solidaritätsbewegung, welche nach unserer Verhaftung losbrach war stark und sehr breit. So kamen nicht nur Genossinnen und Genossen seit dem ersten Tag unserer Verhaftung Abend für Abend vor den Knast um uns mit Knallern, Parolen und Feuerwerk zu grüssen. Auch von den Lehrern, den Mitschülern und Kollegen war die konkrete Solidarität spürbar.
Das eindrücklichste Beispiel ist wohl der Gefängniswärter im Bezirksgebäude, der sich mit uns solidarisierte und meinte, dass wir eigentlich eine Medaille verdient hätten, wenn wir das wirklich getan
hätten was uns vorgeworfen wird.
Nochmals herzlichen Dank euch allen: ohne euch alle wären wir nicht so weit gekommen!

Die Solidarität ist eine Waffe - und sie ist unsere Waffe, darum:
nützen wir sie!
Kapitalismus zerschlagen - Solidarität aufbauen!
Hoch die internationale Solidarität!
Freiheit für alle politischen Gefangenen!

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OBDACHLOS
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Basler Zeitung 17.1.11

So haben die Jungen keine guten Vorbilder"

 Junge Frauen fordern eine separate Notschlafstelle für junge Obdachlose

Monika Zech

 Zwei Hauswirtschaftslehrfrauen haben sich für eine Abschlussarbeit mit dem Alltag der Obdachlosen befasst. Und sind zum Schluss gekommen, dass die jungen unter ihnen eine eigene Notunterkunft haben sollten.

 Jasmin Salathe (20) und Aysere Demiri (21) mussten nicht lange überlegen, als sie vergangenen November das Thema für eine ihrer Abschlussarbeiten erfuhren. Es lautete: "Engagement". Sie beide würden sich der Obdachlosen annehmen. Jasmin und Aysere, die sich während ihrer Ausbildung zur "Fachfrau Hauswirtschaft" kennengelernt hatten und seither Freundinnen sind, taten sich schon seit Längerem schwer damit, "dass in einem der reichsten Länder der Welt Menschen auf der Strasse leben", sagt Jasmin.

 Ihr ist auch der Absturz einer ihrer Freundinnen in die Knochen gefahren. "Sie konnte die Wohnung nicht mehr bezahlen, weil ihr Freund ständig Geld von ihr brauchte, das er dann für Drogen ausgab; und als sie auf der Strasse stand, rutschte sie selbst in die Drogenszene ab." Selber schuld, sagen dazu viele, nicht aber die beiden jungen Frauen: "Jeder kann einmal in eine missliche Lage geraten", sagt Aysere, man wisse ja nie… "Jeder und jede, der am Bahnhof rumhängt, schleppt eine traurige Geschichte mit sich rum." Deshalb sollten diejenigen, denen es gut geht, den anderen helfen, sind Aysere und Jasmin überzeugt. Das habe man ihnen im Elternhaus so beigebracht. "Es ist doch auch selbstverständlich, dass wir alten Menschen, die nicht mehr gut auf den Beinen sind, im Tram Platz machen."

 So reagierten denn auch beide Familien positiv auf die Idee ihrer Töchter, sich für Obdachlose zu engagieren. Jasmin und Aysere stürzten sich gleich in die Arbeit, sie recherchierten im Internet, lasen Zeitungsberichte, nahmen Kontakt auf mit dem Verein Schwarzer Peter, der sich um Obdachlose kümmert, sprachen mit Gassenarbeitern - und sie kamen schnell zur Ansicht, dass mehr getan werden müsse für die, die auf der Schattenseite der Gesellschaft leben.

 Nicht abwertend

Logisch, dass die jungen Frauen vor allem das Schicksal gleichaltriger Obdachloser berührt. "Sie haben mehr Chancen, sich wieder aufzurappeln, ihre Situation zu ändern, als die, die schon seit Jahren auf der Gasse leben", ist Aysere überzeugt. "Es ist nicht abwertend gemeint", sagt Jasmin, "aber die Langzeitarbeitslosen sind keine guten Vorbilder für die Jungen." Zudem würden manche der Jungen lieber draussen schlafen als in der Notschlafstelle, wo Ältere sie manchmal anpöbeln.

 Mit einer Petition wollen nun Jasmin und Aysere erreichen, dass die Stadt Basel eine separate Notunterkunft für junge Obdachlose bereitstellt. Rund 150 Unterschriften haben sie inzwischen beisammen, aber sie möchten mehr: "Wenn wir 5000 einreichen könnten", sagt Jasmin, "das wäre super."

 Kanton sagt Nein

Einfach wird das nicht. Zum einen haben die beiden Freundinnen keine Website, wo Sympathisanten ihrer Idee unterschreiben oder selber Unterschriftenbögen runterladen könnten - sie müssen entweder Jasmin und Aysere in Aktion begegnen oder sich beim Verein Schwarzer Peter melden - aber die grösste Schwierigkeit wird sein, die Regierung von ihrem Anliegen zu überzeugen. "Die Idee, für junge Erwachsene eine eigene Notschlafstelle einzurichten, wird vonseiten des Kantons nicht unterstützt", lautete die Antwort auf die Anfrage der BaZ beim Sozialdepartement. Für obdachlose junge Erwachsene könne eine Notschlafstelle keine Lösung sein. Für sie müsse vielmehr so schnell wie möglich nach einer adäquaten Wohnsituation gesucht werden.

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St. Galler Tagblatt 15.1.11

Nicht ohne meinen Hund

 Die nicht bewilligte Verteilung von "Doggy-Bags" an Obdachlose ist bei vielen auf Unverständnis gestossen. Nicht so in der Gassenküche. Zwei Hundehalter erzählen, warum sie sich ohne fremde Hilfe um ihre Vierbeiner kümmern möchten.

Janina Gehrig

 Er sitzt alleine an einem Tisch in der Gassenküche, die Ellbogen aufgestützt, nach vorne gebeugt. Es ist laut, am Nebentisch fallen die Spielwürfel. Als er den Kopf hebt, blicken müde Augen über den Brillenrand, ein Lächeln huscht über sein Gesicht. "Bischi", so werde er genannt. Und alleine sei er nicht. Er zeigt unter die Bank, wo seine zehnjährige Hündin Chipsy liegt.

 "Jeder hat eine Verantwortung"

 Von den "Doggy-Bags", welche die Tierambulanz Thurgau an obdachlose oder bedürftige Hundehalter verteilen wollte (Tagblatt vom 14. Januar), hat Bischi nichts gehört. Dennoch hat er eine klare Meinung dazu: "Ich bin dagegen, dass Hundefutter abgegeben wird. Jeder hat eine gewisse Verantwortung. Mein Hund bekommt zu essen, noch bevor ich für mich Stoff hole."

 Sein Kollege mit dem Übernamen "Ami" setzt sich dazu. Eine dunkelblaue Strickmütze verdeckt das grau melierte Haar, er lächelt verschmitzt. Auch er hat Mühe mit der Geschenkidee, von der er - selbst Hundehalter - hätte profitieren können: "Wenn man Geld für Drogen hat, hat man auch Geld für den Hund", sagt er. Er sei dafür, dass Leuten im Notfall ausgeholfen werde, aber "wer es sich nicht leisten kann, soll sich keinen Hund zutun". Wenn das Geld knapp werde, kaufe er Futter auf Vorrat. Bischi doppelt nach, es sei eine Luxuseinstellung zu denken, wenn es nicht mehr reiche, werde einem sowieso geholfen. Erst einmal hat Ami finanzielle Unterstützung für seine zwölfjährige Hündin Lucy in Anspruch genommen: "Der Tierschutz bezahlte einen Beitrag an die Kastration, nachdem es dreimal Junge gab. Ich war gottefroh darum."

 Eine starke Unterstützung

 Weder an Nahrung noch an tierärztlicher Versorgung mangelt es den Hunden von Bischi und Ami. Und vor allem nicht an Zuneigung. Die Vierbeiner scheinen an erster Stelle zu stehen. Bischi räumt ein: "Ich bin täglich auf der Gasse unterwegs. Natürlich gibt es auch solche, die ihre Hunde nicht gut behandeln." Er selbst müsse sich jedoch von seiner Mutter immer wieder den Vorwurf gefallen lassen, er sorge sich besser um den Hund als um sich selbst. Den Mischling aus einem Husky und einem italienischen Hirtenhund hat der 36-Jährige jemandem weggenommen, der ihn nicht gut behandelte. Seit zehn Jahren begleitet ihn Chipsy "Tag und Nacht und würde keinen Millimeter mehr von mir weichen", ist Bischi überzeugt. "Sie ist eine sehr starke Unterstützung für mich. Gerade, wenn es mir moralisch oder gesundheitlich nicht gut geht." Ami hat seine Hündin auf der Gasse aufgelesen. Jemand hatte sie abgemagert stehen lassen. "Ich weiss nicht, was aus mir geworden wäre ohne sie", meint der 50-Jährige. Das Tier habe ihn auf Trab gehalten. Und vielleicht auch am Leben. Sicher ist, eines ohne Hund, das können sich beide nicht mehr vorstellen. Soziale Beziehungen ersetzten die Tiere nicht unbedingt. Aber "lieber einen Hund an der Seite als einen Kollegen, der mich anlügt", sagt Bischi. Während er erzählt, legt ihm Chipsy immer wieder die Pfote aufs Knie.

 Tiere sind in guter Obhut

 Die Tierhaltung werde für Leute am Rande der Gesellschaft oft zu einer Lebensaufgabe, bestätigt Jürg Niggli, Leiter der Stiftung Suchthilfe. "Generell sind die Tiere in sehr guter Obhut", sagt er. Wenn sich zeige, dass jemand aufgrund seiner Abhängigkeit mit der Tierhaltung überfordert sei, suche man das Gespräch. Notfalls komme es zur Anzeige.

 Das haben weder Bischi noch Ami zu befürchten. "Ich gäbe sie nicht für eine Million her", sagt Ami. Er auch nicht, meint Bischi, "für kein Geld der Welt".

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 Keine Beiträge vom Sozialamt

 Entgegen eines hartnäckigen Gerüchts erhalten Sozialhilfebezüger für ihre Haustiere keine Beiträge vom Sozialamt. "Die Leute kommen selber für die Tiere auf", sagt Patrik Müller, Leiter des städtischen Sozialamtes. Hingegen bezahlt der St. Galler Tierschutzverein aus einem Fond auf Gesuche hin Beiträge an Kastrationen und lebensnotwendige Behandlungen. "In Ausnahmefällen geben wir Futter in Form von Naturalien ab", sagt Erika Bolt von der Meldestelle. (jag)

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Blick am Abend 14.1.11

ST. GALLEN

 "Guerilla-Marketing auf unsere Kosten"

 EMPÖRT

 Die Stapo nervt sich am dreisten Vorgehen der Thurgauer "Doggy-Bag"-Tierschützer.

 thomas .roethlisberger@ringier.ch

 Vor einer guten Woche flatterte der Blick am Abend-Redaktion in St. Gallen ein Mail ins Postfach: Eine Tierschützer-Organisation aus dem Thurgau wolle am St.Galler Bahnhof "Doggy-Bags" mit Futter für Hunde von Obdachlosen verteilen. Wie nett, dachten wir und sprachen mit den Thurgauern.

 "Leider können wir die Aktion nicht durchführen", erfuhren wir am Telefon, "die Polizei will uns keine Bewilligung dafür erteilen."

 Wie gemein, dachten wir und meldeten uns bei der Stadtpolizei. "Wir können keine Bewilligung für eine Aktion auf privatem Grund erteilen", hiess es da, "die hätte bei den SBB eingeholt werden müssen." Zudem: In St.Gallen besteht gar kein Bedürfnis für Gratis-Hundefutter. Wer sich die Versorgung seines Vierbeiners nicht leisten kann, kann sich Futter beim St.Galler Tierschutz holen - gratis. Bei "Doggy-Bags" heisst es jedoch, ihre Aktion sei einmalig in der Schweiz.

 Inzwischen berichteten "Radio Aktuell", das "Tagblatt" und "20 Minuten" von den verhinderten Hunde-Freunden. "Schade, dass man eine Bewilligung braucht, um zu helfen", sagt einer der Tierschützer im heutigen "Tagblatt".

 Bei der Stapo ist man mittlerweile ziemlich genervt. "Wir wollten ihnen sogar helfen," sagt Mediensprecher Benjamin Lütolf heute zu Blick am Abend, "jetzt fallen sie uns medial in den Rücken. Das ist eine Frechheit!"

 Schon bei der ersten Anfrage erklärte die Stapo den "Doggy-Bag"-Leuten, dass nicht sie, sondern die SBB für die Bewilligung zuständig seien. Und sie gab ihnen den Rat, auch andere Institutionen wie die Gassenküche in die Aktion miteinzubeziehen. "Wir haben ihnen sogar einen Parkplatz beim Bahnhof angeboten", berichtet Lütolf.

 Doch stattdessen klagen die Tierfreunde jetzt in den Medien über die Polizei, die kein Herz für Hunde besitze. Lütolf vermutet, dass es den Tierschützern letztlich nicht um die Hunde, sondern um Publicity in eigener Sache ging. "Das ist reines Guerilla-Marketing, ausgetragen auf dem Buckel der Stadtpolizei."

 Die Tierschützer wollen ihre Aktion jetzt in Zürich durchziehen. Für Blick am Abend waren sie heute leider nicht erreichbar.

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St. Galler Tagblatt 14.1.11

Kein Hundeschmaus am Bahnhof
 Gestern wollte die Tierambulanz Thurgau Hilfspakete für Obdachlosen-Hunde verteilen. Die Aktion wurde jedoch nicht bewilligt. Die Pakete kommen jetzt vielleicht Zürcher Hunden zugute.
 
Janina Gehrig

 Ein Hundeschmaus hätte es werden sollen. Die "Doggy-Bags" mit eineinhalb Kilogramm Hundefutter, Nassfutter und Hundeguezli waren bereits vorbereitet. Die Tierambulanz Thurgau wollte sie gestern am Hauptbahnhof St. Gallen an obdachlose Hundehalter abgeben (Tagblatt vom 11. Januar). Doch die geplante Verteilaktion fand nicht statt.

 Keine Bewilligung für Aktion

 "Leider wurde unser Projekt durch die Behörden beendet", sagt Andreas Gähler, Leiter der Tierambulanz Thurgau. Von der Stadtpolizei habe man die Antwort bekommen, das Sozialprojekt "weise kein Bedürfnis auf", da sich auf dem Gemeindegebiet der Stadt kaum obdachlose Personen aufhalten würden. "Diese Begründung ist für uns fragwürdig", sagt Sybille Bruggmann von der Tierambulanz. "Für uns sieht es so aus, als wolle man Randständige vom öffentlichen Raum fernhalten." Dass dort Verteilaktionen nicht bewilligt würden, sei hingegen die Regel, nicht die Ausnahme, sagt Stadtpolizeisprecher Benjamin Lütolf. Im Grunde sei niemand auf die "Doggy-Bags" angewiesen. Denn mittellose Personen wüssten, wohin sie sich bei Problemen wenden könnten: Der Tierschutzverein stelle Naturalien wie Hundefutter zur Verfügung. Im Normalfall sei das aber nicht nötig. "Die Hunde werden meist gut gehalten", so Lütolf. Ausserdem müsse bei solchen Verteilaktionen auch ein kommerzieller Hintergrund in Betracht gezogen werden.

 Guter Zweck oder Werbung?

 Das verneinen die Veranstalter der Aktion vehement: "Die Aktion sollte einem guten Zweck dienen. Werbung zu machen, stand für uns nie im Vordergrund", sagt Gähler. Auch von den SBB erhielt die Tierambulanz eine Absage. Die Begründung: Das Verteilte sei nicht für die Passagiere gedacht. Diese könnten sich von den Hunden bedroht fühlen. Auch in der Gassenküche habe man die "Doggy-Bags" nicht verteilen können. "Unser Ziel ist, die Selbständigkeit der Leute zu fördern", sagt Thomas Spahr von der Gassenküche. Leute, die sich einen Hund halten, würden dazu angehalten, auch für ihn zu sorgen. "Es ist schade, dass man eine Bewilligung braucht, um zu helfen", sagt Gähler. Man kläre jetzt ab, ob die Aktion in Zürich stattfinden könne.

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20 Minuten 14.1.11

Keine Hilfspakete für die Hunde von Randständigen

 ST. GALLEN. Am Bahnhof St. Gallen hätten gestern morgen "Doggybags" an randständige Hundehalter verteilt werden sollen. Die Aktion fand aber nicht statt - die Bewilligung war nicht erteilt worden.

 Gestern Morgen warteten mehrere Passanten auf die "Doggybags" der Tierambulanz Thurgau. Doch sie harrten vergebens, die Aktion wurde im letzten Moment abgeblasen. "Ich bin enttäuscht. Das wäre eine super Sache gewesen", sagt eine Frau, die einen Sack abholen wollte. Die Tierambulanz musste die Aktion abblasen, weil ihr die Polizei die Benützung des öffentlichen Raums verwehrte. "Wir können nicht jedem Geschäft eine Bewilligung erteilen", sagt Stapo-Sprecher Benjamin Lütolf. Zudem halten sich laut Polizei kaum obdachlose Personen in St. Gallen auf - daher weise die Stadt kein Bedürfnis für das Sozialprojekt auf.

 Das versteht man bei der Tierambulanz Thurgau nicht: "Wir hätten ja schnell gesehen, wenn kein Bedürfnis da gewesen wäre", sagt Leiter Andreas Gähler. Bis im Frühling hatte die Tierambulanz jeden Donnerstag Säcke mit Hundefutter und Decken verteilen wollen. Das Futter stammt ausschliesslich von Spendern. St. Gallen wäre laut Gähler die erste Schweizer Stadt mit einem solchen Projekt gewesen. Für ihn war die investierte Arbeit nicht umsonst: "St. Gallen ist für uns zwar gestorben, doch die Sozialwerke von Pfarrer Sieber in Zürich haben ihr Interesse angekündigt."  

Simon Städeli

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ALKOHOL
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NLZ 15.1.11

Ausnüchtern auf eigene Kosten

 Kanton

Bert Schnüriger

 Wer im Vollrausch von der Polizei aufgegriffen wird, kann auf Kantonskosten ausnüchtern. Wie lange noch?

 Bert Schnüriger

 bert.schnueriger@schwyzerzeitung.ch

 Die CVP-Fraktion im Schwyzer Kantonsrat fordert eine Praxisänderung der Schwyzer Polizei: Sie soll jenen Personen jeweils eine Rechnung stellen, die in einer Zelle des Sicherheitsstützpunkts in Biberbrugg ausgenüchtert werden mussten. Die Kantonsräte Marianne Betschart aus Ibach und Adrian Dummermuth aus Goldau fordern dies in einem Postulat, das soeben bei der Staatskanzlei eingereicht wurde. Sie bitten den Regierungsrat, "die nötigen Massnahmen in die Wege zu leiten, damit in Zukunft eine Ausnüchterung in Biberbrugg auf Kosten des Verursachers geht".

 Übernachtung in Biberbrugg

 Heute sammelt die Polizei regelmässig Personen ein, die im Vollrausch pöbeln, randalieren oder stockbetrunken am Boden liegen. Diese Leute werden jeweils in den Sicherheitsstützpunkt Biberbrugg und dort in eine videoüberwachte und vandalensichere Ausnüchterungszelle gebracht. Im Jahr 2008 übernachteten 28 Personen in Polizeigewahrsam, 2009 waren es 21 Personen, die meisten zur Ausnüchterung", steht im Postulat.

 950 Franken pro Nacht

 So läuft dies auch im Nachbarkanton Zürich. Dort allerdings werden die Kosten für die Ausnüchterung vollständig auf die Benutzer abgewälzt (siehe Box). "Wer nach dem nächtlichen Aufenthalt wieder auf den eigenen Beinen stehen kann und entlassen wird, zahlt für das Ausnüchterungslogis 950 Franken in bar oder mit der Kreditkarte", schreiben die beiden CVP-Kantonsräte. Laut der Stadtpolizei Zürich habe die Ausnüchterung auf eigene Kosten auch eine präventive und abschreckende Wirkung: "Die Gäste kommen selten ein zweites oder drittes Mal."

 Noch teurer wird die Sache, wenn ein Betrunkener die medizinische Notversorgung in einem Spital beanspruchen muss. In jenem Fall allerdings zahlt die Krankenkasse. "Im Jahr 2009 wurden diesbezüglich im Spital Schwyz 35 Personen stationär behandelt", steht im parlamentarischen Vorstoss. "Ein Fall kostete durchschnittlich 4300 Franken." In diesen Fällen müsste allerdings das Krankenversicherungsgesetz des Bundes geändert werden, damit diese Kosten den Verursachern weiterverrechnet werden könnten. Laut Betschart und Dummermuth allerdings ist dazu bereits ein Vorstoss im Nationalrat hängig.

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In Zürich läuft ein Pilotversuch

 Ausnüchterung

 kwi/red. Seit 2010 ist in Zürich die Zentrale Ausnüchterungsstelle (ZAS) im Zellentrakt der Regionalwache City offen. Dort werden Leute mit einem Rausch (Alkohol oder andere Drogen), die von der Polizei in Gewahrsam genommen worden sind, unter medizinischer Betreuung ausgenüchtert. Ziel ist es, die Spitäler und die Regionalwachen der Polizei zu entlasten. Das bisherige Konzept habe sich im Betrieb "sehr gut bewährt". Die Kosten für das noch bis März laufende nationale Pilotprojekt betragen 950 000 Franken. Eine Einweisung kostet rund 1600 Franken. Davon werden den Klienten je nach Aufenthaltsdauer bis zu 950 Franken in Rechnung gestellt. Randalieren sie oder verschmutzen sie eine Zelle, kommen Reparatur- und Reinigungskosten dazu.

 Ein Problem ist die schlechte Zahlungsmoral: Nach sechs Monaten Betrieb waren erst 90 000 von 250 000 Franken, die in Rechnung gestellt worden waren, bezahlt.

 Im Kanton Luzern hat sich die Regierung zu einem ähnlichen Vorstoss positiv geäussert.

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ANTI-SVP
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Indymedia 13.1.11

Ganz Fest gegen die Albisgüetlitagung

AutorIn : Süneliuntergang         

Auf vielseitigen Wunsch hier noch Plakat und Flyer von der Aktion gegen die Albisgüetlitagung zum Selberausdrucken.     
http://ch.indymedia.org/media/2011/01//79603.pdf

Am 21. Januar wird die SVP im Zürcher Albisgüetli ihre alljährliche Parteitagung durchführen. Die Albisgüetli-Tagung ist die wichtigste Zeremonie der rechtspopulistischen Partei, da werden Märsche gespielt und politische Selbstbeweihräucherung abgehalten. Fredi Heer wird da sein und selbstverständlich SVP-Obermufti Christoph Blocher, und auch Micheline Calmy-Rey ist sich nicht zu schade. Wir haben nicht vor, einfach zuzuschauen, wie die rechte Propaganda immer mehr an Boden gewinnt! Wir werden da hochgehn und etwas Lärm veranstalten gegen die unerträgliche rechte Hetze. Mit Konzert, Reden und evt. Disco.
Mit der Ausschaffungsinitiative ist es der SVP gelungen, das politische Klima ein weiteres Stück nach Rechts zu rücken. Die riesigen Geldmengen, welche diese stinkreiche Partei immer wieder in solche Hetzkampagnen hineinbuttert, lassen keinen Zweifel zu: Hier sind mächtige Interessen im Spiel. Die SVP betreibt eine aggressive Klassenpolitik von oben: Sie peitscht massive Sparprogramme durch, macht die Steuerpolitik der Reichen und und bekämpft mit ihren rassistischen Kampagnen die letzten Reste gesellschaftlicher Solidarität.
Es reicht aber nicht, das Übel einfach bei der SVP zu suchen. Sie ist nur eine unter vielen Kräften im derzeitigen Rechtsruck, und dieser wiederum geschieht auf dem Boden der aktuellen Ausbeutungsverhältnisse. In ihrer Krise dringt die kapitalistische Verwertung immer gewaltsamer in alle Lebensbereiche vor und holt das Letzte aus den natürlichen und menschlichen Ressourcen heraus. Das bedeutet einen umfassenden Angriff auf die Lebensverhältnisse proletarischer Menschen: Immer mieser werden die Jobs, immer brutaler die Arbeitsmarktkonkurrenz, immer prekärer die sozialen Absicherungen. Mit solchen Angriffen verbinden sich aber auch Ideologische Offensiven: Ein abstruser konservativer Wertekanon, die Anrufung von Leistungsmoral und nationaler Zugehörigkeit, die Feindseligkeit gegen MigrantInnen, Arbeitslose und IV-BezügerInnen; das ist das ideale Klima für die Demontage sozialer Errungenschaften.
Gegen all dies wehren wir uns. Runter mit den Schweizerfahnen, sie verstellen nur den Blick auf die sozialen Verhältnisse. Kämpfen wir gemeinsam gegen die kapitalistischen Zumutungen und die rassistische Politik der SVP.
Auf zum Albisgüetli, die rechten Stimmungsmacher sollen sich nicht ungestört abfeiern!


Besammlung: Freitag, 21. Januar 2011, 18.00 Uhr, Strassenverkehrsamt Zürich

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FREYSINGER
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WoZ 13.1.11

Und Ausserdem

 Freysinger und die Wurst

 Von Helen Brügger

 Oskar Freysinger ist ein Held. Einer, der dem Tod unerschrocken ins Auge schaut, wenn er ihm begegnet. So etwa beim Pariser Treffen der rechtsextremen "Identitaires", an deren Seite der SVP-Nationalrat im Dezember zum Kampf gegen die "Islamisierung Europas" aufrief. Am Eingang zum Versammlungssaal konfiszierten die Veranstalter ein "langes spitzes Messer, typisch zum Töten", wie Freysinger auf YouTube kommentiert. Eine grausliche Klingenwaffe, die ohne jeden Zweifel für seinen Bauch bestimmt war. Trotzdem liess sich der furchtlose Nationalrat als Antiminarettheld feiern. Und fuhr in sein trautes Wallis zurück, wo er Radio Rhône über den Beinahemord informierte.

 Die Zeitung "Le Temps" wollte mehr wissen und kontaktierte den Präsidenten des Bloc identitaire, Fabrice Robert. Der erzählt eine andere Geschichte: Ein den Organisatoren bekannter älterer Mann sei mit einem kleinen Küchenmesser in der Hosentasche erschienen, mit dem er seine Pausenwurst schneiden wollte. Das Messer sei gerade in dem Moment eingezogen worden, als Freysinger, begleitet von sechs Bodyguards der Veranstalter, auftauchte. Mit Roberts Aussage konfrontiert, hält Freysinger an der Version eines "Messers von zehn Zentimetern Länge" fest und gibt der Zeitung die Natelnummer eines Leibwächters weiter. In dessen Version ist das Messer noch länger, die Klinge habe "zehn bis zwölf Zentimeter" gemessen. Ein "älteres Individuum" habe es fallen lassen, als es sich dem Saal näherte, wo Freysinger Bücher signierte. Ist das suspekte "Individuum" der Polizei angezeigt oder zumindest befragt worden? Der Bodyguard weiss es, immer gemäss "Le Temps", nicht mehr.

 Doch unterdessen muss es zwischen Freysinger und Robert um die Wurst gegangen sein. Mit der Leibwächterversion konfrontiert, bezeichnet Robert seine eigene als "vielleicht ein wenig voreilig". Und weil es keine definitive, übereinstimmende Version gibt, werden wir nie wissen, in welcher Todesgefahr unser braver Oskar Freysinger, die Wahllokomotive der Westschweizer SVP für den kommenden Herbst, schwebte. Denn jedes Heldenepos hat ein Ende. Nur die Wurst hat zwei.

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Le Temps 13.1.11

L'UDC à la pointe des "blocs identitaires"?

François Cherix

 L'époque où Christoph Blocher et les siens évitaient de s'afficher avec les avec les extrêmes droites européennes est révolue. L'UDC a rejoint un nouvel agglomérat de forces populistes. Une réalité inquiétante, et lourde de conséquences pour la Suisse, affirme le politologue François Cherix

 Surprise, au lendemain de la votation instaurant l'expulsion automatique des criminels étrangers, les compliments admiratifs et répétés de Marine Le Pen n'ont nullement dérangé l'UDC. Au contraire, badinant à la Radio suisse romande avec la représentante du Front national, Oskar Freysinger a souligné les liens fraternels unissant "les partis identitaires" européens. Mieux, n'hésitant pas à prêcher hors de son fief, le conseiller national s'est fait ovationner à Paris, en fustigeant "la religion du multiculturalisme" lors d'un meeting anti-islam. Manifestant un prosélytisme similaire et pour le moins désinhibé, une motion signée par 28 membres de l'UDC, dont le président du parti, veut permettre aux régions limitrophes d'entrer dans la Confédération. Dans un même élan, les nationalistes suisses s'expriment hors de leur patrie, qu'ils rêvent au passage d'agrandir, et revendiquent désormais leur parenté avec les "blocs identitaires" étrangers. Changement de paradigme, ce dépassement du cadre helvétique mérite d'être interrogé.

 Jusqu'alors, Christoph Blocher et les siens s'étaient toujours gardé d'afficher leurs liens avec les extrêmes droites européennes. Certes, l'examen des programmes montrait combien les thèses de l'UDC, du FN français, ou encore du FPÖ autrichien, se ressemblent; en outre, certains élus ne se privaient pas d'arpenter discrètement les congrès xénophobes du continent. Mais ces cousinages restaient invisibles et, à l'inverse, les contacts officiels avec des leaders sulfureux étaient soigneusement évités. D'une part, il s'agissait de ne pas brusquer trop ouvertement les restes du vieux parti agrarien, dont Christoph Blocher avait effectué la captation. D'autre part, la nature même de l'idéologie nationaliste imposait de construire un mouvement totalement suisse, protégé d'influences étrangères susceptibles d'altérer sa pureté. Enfin et surtout, le maintien de cloisons étanches avec les extrêmes droites voisines permettait de développer des propositions stigmatisantes, tout en se présentant comme un parti propre, refusant les dérives racistes. Ainsi, des milliers de citoyens ont suivi l'UDC, persuadés que la démarche de Christoph Blocher, citoyen respectable, n'avait rien de comparable avec celle d'un Jean-Marie Le Pen, tribun méprisable.

 Cette séquence paraît s'achever. Pour l'UDC, il n'est plus nécessaire de feindre. A l'intérieur, la mue est terminée; le vieux parti agrarien a disparu au profit d'un mouvement conduit par un chef et focalisé sur les thèmes que l'on sait. A l'extérieur, mithridatisée, l'opinion ne s'émeut plus de ses affiches, ni de ses provocations; simultanément, le style plus moderne et plus policé de Marine Le Pen contribue à la rendre fréquentable. En fait, un renversement des légitimations du nationalisme suisse semble se dessiner: celle générée par son isolement perd de son utilité, alors que celle tirée d'une banalisation par l'étranger devient féconde. Autrement dit, à ceux qui ont osé voter UDC parce qu'elle se distinguait des extrêmes droites européennes pourraient succéder ceux qui la rejoignent puisque tant d'autres ailleurs saluent son action.

 Confortant cette hypothèse, l'attitude du Front national organise un jeu semblable sur la scène française. En portant régulièrement aux nues le principe de l'initiative populaire, comme le montre Le Temps du 7 janvier, Marine Le Pen tente de donner la caution du peuple suisse à ses idées. Premiers fruits de cette stratégie, nombre de commentaires sur les sites des médias hexagonaux notent qu'elle ne saurait être dangereuse, puisqu'elle se borne à préconiser ce que la Suisse, modèle de pondération démocratique, a déjà décidé. Nous sommes donc peut-être en train d'assister à un nouvel agglomérat de forces identitaires qui se copient et s'épaulent, espérant tirer leur respectabilité de leurs ressemblances. Certes, une ligue supranationale de nationalistes s'apparente à la création de "douaniers sans frontières"; mais son non-sens ne la rend pas moins redoutable; au contraire, les mouvements en question ont toujours progressé à l'abri de leurs contradictions. Ainsi, prétextant sauvegarder les valeurs européennes ou la dignité des peuples, ils travaillent chaque jour à briser les cultures, les lois et l'Union qui les incarnent. De même, pervertissant la notion d'identité, ils remplacent le "connais-toi toi-même" socratique, prémisse à l'acceptation d'autrui, par un "mentons-nous les uns aux autres", arsenal de stéréotypes réducteurs visant le rejet de la différence.

 Pour les partis classiques et les gouvernements, ces alliances souples et décomplexées entre des droites dures relookées, mais toujours aussi xénophobes, posent des défis considérables. D'abord, ils doivent trouver des réponses efficaces à l'intérieur d'Etats dont les marges de manœuvre se sont rétrécies. De surcroît, ils sont tenus de dépasser les contextes locaux pour élaborer un discours et des projets communs à l'échelle du continent. Comme l'indique le philosophe Jürgen Habemas dans Le Monde du 3 janvier, "ce dont nous avons besoin en Europe, c'est d'une classe politique revitalisée, qui surmonte son propre défaitisme avec un peu plus de perspectives, de résolution et d'esprit de coopération".

 Pour la Suisse, l'activisme hors frontières de l'UDC et les louanges des populistes étrangers pose un problème spécifique. Depuis toujours, le succès de la Confédération doit beaucoup à sa discrétion, celle de ses banquiers, de sa diplomatie précautionneuse et d'une gouvernance à bas bruit. Pour qui souhaite bénéficier du grand marché européen sans prendre sa carte de membre, tout en préservant des particularismes lucratifs, mieux vaut se faufiler entre les règles sans trop se faire remarquer.

 Or, en promenant à Paris une torche enflammée sur des nappes de misères, de frustrations ou de racismes larvés, un Oskar Freysinger complique ouvertement les équations déjà difficiles des démocraties voisines. Si cet esprit missionnaire se développe, la Suisse risque d'ajouter à son image d'égoïste silencieuse celle d'activiste nuisible. Pire, si les droits populaires deviennent la bannière de Marine Le Pen, ils perdront leurs vertus aux yeux du monde; et, circonstance aggravante, le peuple entier sera touché par ce désamour, puisque c'est lui qui prend des décisions qui, faute de règles adéquates, peuvent blesser les droits fondamentaux. Pour la Suisse, il est donc temps de se demander à la pointe de quel combat elle entend se profiler. Celui des blocs identitaires? Ou celui des Etats responsables? Dans ce contexte, les piques récurrentes de Doris Leuthard contre l'UE, analysées dans Le Temps du 8 janvier, sont révélatrices du climat fédéral. Au lieu d'une réflexion sur les nationalismes qui cisaillent l'Europe, un opportunisme électoral se déploie, sourire aux lèvres, laissant la définition du rôle de la Suisse aux bons soins des circonstances.

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SEMPACH
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Wilisauer Bote 14.1.11

Kein Umzug mehr zum Schlachtgelände

 Gedenkfeier Sempach | Neues Programm soll breite Bevölkerung ansprechen

 Zum 625. Mal jährt sich die Schlacht bei Sempach. Zum Jubiläum soll das Angebot der Gedenkfeier ausgebaut werden. Das neue Konzept will mehr Besucher anziehen. Und es soll extremistische Gruppen fernhalten.

 von David Koller

 "Die Schlachtfeier war kein öffentlicher Gedenkanlass mehr", sagte Regierungspräsident Marcel Schwerzmann am Mittwoch an einer Medienorientierung. "Einige Dutzend geladene Gäste und ein paar Hundert Besucher" seien kein würdiger Anlass für einen Kanton mit fast 400 000 Einwohnern. Nicht explizit ging er in seinem Eintrittsreferat auf die rechtsextremen Kreise ein. Diese nutzten in den vergangenen Jahren die Schlachtfeier für einen Aufmarsch und verliehen ihr damit eine überaus zwiespältige Note.

 Mit dem soll jetzt Schluss sein. Ein überarbeitetes Konzept richtet sich an eine breite Bevölkerungsschicht, das Rahmenprogramm verteilt sich neu auf mehrere Tage (siehe Kasten).

 Verstärkter Fokus auf neue Geschichtsforschung

 Die Schlacht bei Sempach fand am 9. Juli 1386 statt. Sie jährt sich heuer zum 625. Mal. Auch das war mit ein Grund, der Feier ein überarbeitetes Gewand zu geben. An seiner ersten Sitzung im neuen Jahr hat der Regierungsrat dieses genehmigt. Es besteht aus drei zentralen Elementen. Einerseits aus dem Forum Geschichte. "Dieses bringt einer breiten Bevölkerung neuere wissenschaftliche Erkenntnisse näher", sagte Staatsschreiber Markus Hodel. Er - selber Historiker - war als Projektverantwortlicher für das neue Konzept zuständig.

 Zweites Element ist die Jugenddebatte vom 2. Juli. Sie soll die politische Partizipation fördern und richtet sich ausdrücklich an verschiedene Gruppierungen: "Unabhängig von Bildungsstand und Nationalität", so Hodel. Dritter Bestandteil ist der eigentliche Gedenktag. Er findet dieses Jahr am Sonntag, 3. Juli, statt. Die Feier enthält unter anderem einen ökumenischen Gottesdienst. Ferner offerieren die Stadt Sempach und der Kanton Luzern das Morgenbrot: So wie seinerzeit die Soldaten vor ihrem Gang zur Schlacht können sich die Besucherinnen und Besucher mit einem Happen stärken.

 "Weniger attraktiv für Rechtsextreme"

 Und was geschieht mit den Rechtsextremen? Lässt sich nur mit einem geänderten Programm der Aufmarsch von Neonazis verhindern? "Eine Analyse der Kantonspolizei ist zum Schluss gekommen, dass die Feier für sie weniger attraktiv sein wird", sagte Markus Hodel.

 Vor allem aber werde auf den bisherigen Umzug hinauf aufs Schlachtgelände verzichtet. Gerade dieser bot besagten Kreisen eine Plattform, sich zu präsentieren. "Der Verzicht ist politisch umstritten", so Hodel. "Aber die Regierung steht dahinter."

 Insbesondere rechte Kreise wollen am Marsch festhalten. In einer Medienmitteilung kritisierte die Junge SVP das Konzept denn auch postwendend. Es kreiere einen "farblosen Multi-Kulti-Anlass", einen Kniefall vor "Linksextremen, welche die friedliche Feier durch ihr antidemokratisches Auftreten zerstören wollen".

 Fakt ist, dass bislang der Präsenz der Rechtsextremen viel Aufmerksamkeit zufiel. Dies führte schliesslich zu Gegendemonstrationen von linken Gruppierungen. "Auch mit dem neuen Konzept kann der Aufmarsch von Rechtsextremen nicht ausgeschlossen werden", sagte Marcel Schwerzmann. Allerdings wird mit der angestrebten, deutlich grösseren Besucherzahl deren allfällige Anwesenheit wohl eher zur Randerscheinung werden.

 Mittelalterfest und viel Musik

 Das Konzept entstand in enger Zusammenarbeit zwischen der Stadt Sempach und dem Kanton. Weil die Anlässe neu an verschiedenen Tagen stattfinden, können Terminkollisionen umgangen werden. Auf den Samstag, 25. Juni, organisiert die Stadt Sempach den traditionellen Hellebardenlauf, das Sempacherschiessen und das Städtlifest. Zur selben Zeit geht im Kantonshauptort das "Luzerner Fest" über die Bühne. Es würde wohl viele Gäste strittig machen.

 Viele Besucher indes dürfte das Mittelalterfest am Gedenksonntag anziehen. "Es soll die Epoche nicht glorifizieren", so Sempachs Stadtpräsident Franz Schwegler, "sondern nur dokumentieren, wie man damals lebte."

 Ein weiterer wichtiger Bestandteil ist die Musik. So spielen einerseits am Wochenende der Jugenddebatte an einem Open Air unterhalb der Schlachtkapelle Bands aus dem Kanton Luzern. Andererseits finden vom Mittwoch, 22., bis Samstag, 25. Juni, auf einer Seebühne bei der Festhalle Konzerte statt. Quasi als Bonus seien dabei im Hintergrund "die schönsten Sonnenuntergänge des Kantons zu sehen", so Markus Hodel.

 Das neue Programm bietet somit einiges, was fortan anstelle von fahnenschwingenden Extremisten in Erinnerung bleiben könnte.

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 Programm der 625-Jahr-Feier

 Aus Anlass des 625. Jahrestags soll die Region Sempach für geschichtlich interessierte Besucher attraktiver werden. So ist vorgesehen, wichtige historische Gebäude zu beschriften. Auf dem Schlachtgelände werden ferner zukünftig Tafeln über das Geschehen informieren. Zudem entstehen an der Strasse Stelen, die auf die geschichtsträchtige Stätte aufmerksam machen. Auch auf der Autobahn soll ein Hinweisschild angebracht werden.

 Programm im Überblick: 7. Juni: Forum Geschichte; 14. Juni: Forum Geschichte; 22. bis 25. Juni: Musik auf der Seebühne; 25. Juni: Hellebardenlauf, Sempacherschiessen, Städtlifest; 28. Juni: Forum Geschichte; 1. und 2. Juli: Open Air bei Schlachtkapelle; 2. Juli: Jugenddebatte; 3. Juli: Gedenktag, Morgenbrot, Gottesdienst, Festakt, Mittelalterfest. dk

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NLZ 13.1.11

Der Umzug ist definitiv Geschichte

 Schlachtjahrzeit

Regula Bättig

 Vor 625 Jahren fand die Schlacht bei Sempach statt. Das wird gross gefeiert - doch marschiert wird nicht mehr.

 "Wir wissen, dass der Verzicht auf den Umzug politisch umstritten ist", sagt Staatsschreiber Markus Hodel. Dennoch hat der Kanton Luzern entschieden, den Marsch vom Städtli Sempach zum Schlachtfeld nicht mehr durchzuführen. Man wolle rechtsnationalen Kreisen diese Plattform nicht mehr bieten, so Hodel anlässlich der gestrigen Medieninformation. Dass sich die Szenen vergangener Jahre, die national für Aufsehen sorgten, nicht wiederholen, könne man aber nicht absolut ausschliessen. Die Polizei sei aber bei der Konzeption des Anlasses involviert gewesen. "Und sie wird die Situation im Vorfeld im Auge behalten und allenfalls nötige Massnahmen ergreifen."

 Programm für breite Kreise

 Das von der Regierung verabschiedete Konzept für die Feierlichkeiten zum Gedenken an die Schlacht bei Sempach von 1386 unterscheidet sich auch sonst nicht von der im November präsentierten Grobskizze. Zentral bleiben:

 Das Forum Geschichte: Neuere Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft über das Ereignis werden vermittelt.

 Die Jugenddebatte: Jugendliche diskutieren über für sie wichtige Themen.

 Die Musikplattform: Junge Bands präsentieren sich auf der Bühne am See, Open Air auf dem Schlachtfeld am Vorabend der Jugenddebatte.

 Der Gedenktag: Gottesdienst, Morgebrot und Mittelalterfest am 3. Juli.

 Traditionelle Anlässe:Hellebardenlauf, Sempacherschiessen und Städtlifest am 25. Juni.

 "Wir sind überzeugt, dass wir mit diesem Programm breite Kreise der Bevölkerung ansprechen", sagt Hodel.

 Doch nicht nur die möglichst breite Akzeptanz ist dem Kanton und der Stadt Sempach wichtig: Die Feier soll auch eine Ausstrahlung auf die ganze Schweiz haben. "Der Anlass soll jedoch nicht zum Sechseläuten des Kantons Luzern werden", betont Regierungspräsident Marcel Schwerzmann. Sicher seien Gäste aus anderen Kantonen wie bis anhin eingeladen. "Aber es ist nicht unser Ziel, möglichst viele Bundesräte und Regierungsvertreter hier zu versammeln."

 Hinweistafeln und Wegweiser

 Die Feierlichkeiten werden rund 330 000 Franken kosten. Hinzu kommen als einmalige Investition 56 000 Franken für die Renovation des Morgenstöcklis und die Beschriftung der Schlacht. "Bisher gab es im Umfeld des Schlachtfelds kaum Informationen", erklärt Hodel. Auch ist die historische Stätte kaum durch Wegweiser erschlossen worden.

 Die Erfahrungen dieses Jahres sollen ausgewertet werden. "Anschliessend wird entschieden, welche Elemente für künftige Gedenkfeiern übernommen werden", sagt Schwerzmann. Klar ist: So aufwendig wie das 625-Jahr-Jubiläum werden die nächsten Feiern nicht mehr.

 Regula Bättig

 regula.baettig@luzernerzeitung.ch

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NZZ 13.1.11

Luzern schafft traditionelle Schlachtfeier ab

 Verzicht auf Umzug soll in Sempach die Extremisten abhalten

 Die Luzerner Regierung macht Ernst mit einer verkleinerten Schlachtfeier in Sempach. Sie findet auch nicht mehr auf dem ehemaligen Schlachtfeld statt. Damit soll der medienwirksame Auftritt von Rechtsextremen vermieden werden.

Martin Merki, Luzern

 Die traditionelle Schlachtjahrzeit von Sempach, bei der Ende Juni oder Anfang Juli jeweils des Treffens zwischen eidgenössischen Truppen und einem habsburgischen Reiterheer von 1386 gedacht wird, gehört wohl endgültig der Vergangenheit an: Die Luzerner Regierung verzichtet bei der Jubiläums-Gedenkfeier 2011 - der 625. Schlachtjahrzeit - auf einen Marsch der mehreren hundert Teilnehmer in historischen Kostümen auf das ehemalige Schlachtfeld ob Sempach, sie will nichts mehr wissen von Reden beim Winkelriedstein, und sie streicht weitere Punkte am historischen Ort, so die Musikeinlagen, das Verlesen des Sempacherbriefes und den Volksapéro als gut genutztes Begegnungsangebot.

 Amputierte Feier

 Stattdessen soll die eigentliche Gedenkfeier nur noch stark verkleinert oder amputiert abgehalten werden. Sie soll aus einem Gottesdienst in der Sempacher Stadtkirche und einem gemeinsamen, von Sempach und dem Kanton offerierten Morgenessen, dem sogenannten Morgenbrot, bestehen. Im Festakt in der Kirche hält gemäss Konzept "eine bedeutende Persönlichkeit eine Rede mit historischem Bezug". Die neuen Ideen haben am Mittwochmorgen Regierungspräsident Marcel Schwerzmann und Staatsschreiber Markus Hodel vorgestellt. Die Luzerner Regierung hofft, dass die Feier mit dem Verzicht auf den Umzug zum Schlachtgelände für den Aufmarsch von Rechtsextremen unattraktiv wird. Deren Präsenz hat in den letzten Jahren zugenommen. Vor zwei Jahren kam es am Rand der Feier zu bedrohlichen Szenen, als mehr als 200 Rechtsextreme aufmarschierten und die Polizei eine Pistole, zwei als Hosengurt getarnte Töffketten und einen Schlagstock fand. Die Luzerner Jungsozialisten führten eine bewilligte Gegendemonstration durch, in der auch Vermummte waren. Konfrontationen konnten durch ein starkes Polizeiaufgebot vermieden werden. Der Einsatz für die Sicherheit kostete vor zwei Jahren 300 000 Franken, fast so viel wie für die neue Jubiläumsfeier budgetiert sind, 330 000 Franken.

 Kritische Stimmen

 Die neue Feier erntete bereits im letzten Sommer bei bürgerlichen Politikern Kritik, als die Eckpunkte bekannt waren. Die SVP sprach von einer Multikulti-Veranstaltung und einem Kniefall vor vermummten Demonstranten. Richtig anfreunden damit konnten sich auch CVP und FDP nicht. Es sei "klar, dass einige Änderungen der Veranstaltungen nötig sind, um Extremisten von links bis rechts vom Anlass fernzuhalten", schrieb die CVP. Die SP begrüsste das neue Konzept, weil damit der Entwicklung hin zu einer rechtsradikalen Ersatzveranstaltung für das Rütli der Riegel geschoben werde.

 Um die verkleinerte Gedenkfeier, die am Sonntag, 3. Juli, vorgesehen ist - und die damit nicht mehr mit dem Altstadtfest in Luzern zusammenfällt -, sollen verschiedene Anlässe gruppiert werden. Als Ersatz für den Umzug soll ein Mittelalterfest stattfinden. Am Vortag ist eine Jugenddebatte geplant. Traditionelle Anlässe wie der Hellebardenlauf und das Sempacherschiessen finden eine Woche früher statt.

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Zofinger Tagblatt 13.1.11

Kein Fussmarsch mehr aufs Schlachtfeld

kurt blum

 Luzern/Sempach/Zofingen Am 9. Juli jährt sich zum 625. Mal die Schlacht bei Sempach. Diesem Ereignis soll gedacht werden - doch nicht mehr nach dem bisherigen Muster der Schlachtjahrzeiten, wie die Luzerner Regierung gestern informierte. So wird auf den Umzug vom Städtchen auf das Schlachtfeld verzichtet.

 Die Luzerner Kantonsregierung hat gestern das Detailkonzept für die Sempacher Jubiläums-Gedenkfeier 2011 vorgestellt. Sie will die bestehenden und bewährten lokalen Anlässe mit neuen, publikumsgerechten Veranstaltungsformen zu einer Feier für die gesamte Luzerner Bevölkerung verbinden. Als kantonale Hauptelemente vorgesehen sind ein Forum Geschichte, eine Jugend-Debatte, der eigentliche Gedenktag am Sonntag, 3. Juli, sowie eine Luzerner Musikplattform. Auf den Umzug vom Städtchen zum Schlachtgelände wird aus Sicherheitsgründen verzichtet. Die bisherigen, traditionsreichen Anlässe Hellebardenlauf, Sempacherschiessen und Städtlifest finden eine Woche vorher statt. Sie gehören gemäss Regierungsrat nicht zu den vom Kanton organisierten Veranstaltungen, werden aber mit diesen koordiniert.

 Aus Anlass des 625-Jahr-Jubiläums der Schlachtjahrzeit wird ausserdem das Schlachtgelände informativ beschriftet und das Morgenbrotstöckli renoviert. Nach Abschluss der diversen Anlässe erfolgt der Entscheid, welche Elemente für die Feiern der Folgejahre übernommen werden, betonte die kantonale Exekutive.

 Auch Niklaus Thut fiel

 Am 9. Juli 1386 kam es bei Sempach zur bedeutungsvollen Schlacht in der jungen Eidgenossenschaft, bei welcher die Schweizer das österreichische Heer von Herzog Leopold III. besiegten. Dieser starb auf der Walstatt wie auch der auf der "Feindseite" kämpfende Zofinger Schultheiss Niklaus Thut. Seither erinnert man sich Jahr für Jahr um den 9. Juli herum an das geschichtsträchtige Ereignis. In den letzten Jahrzehnten lief dieses Gedenken - auch Schlachtjahrzeit genannt - in etwa nach dem gleichen Schema ab. Jahrzeitgottesdienst in der Pfarrkirche Sempach, Festzug durch das Städtchen hinauf auf das Schlachtfeld, wo die eigentliche Gedenkfeier abgehalten wurde. Im Mittelpunkt standen dabei das Verlesen des Sempacher Schlachtbriefs sowie die Festansprache, in der Regel gehalten von einer national bekannten Persönlichkeit. Nach einem Umtrunk zog man zurück ins Städtchen zum freundschaftlichen Beisammensein zwischen "Sieger und Besiegten". Weil befürchtet wurde, die Sempacher Schlachtfeier werde mehr und mehr zu einem Tummelfeld von Links- und Rechtsradikalen, wurde im letzten Jahr erstmals auf einen üblichen Gedenkanlass verzichtet und lediglich eine "Schlachtfeier light" abgehalten - mit dem Versprechen der Regierung, im Jahr 2011 wieder mit einer "richtigen" Feier aufzuwarten. Nun liegt das Programm vor - das zweifellos noch für einigen Gesprächsstoff sorgen wird, so vor allem die Tatsache, dass nichts mehr auf dem Schlachtfeld - dem eigentlichen bisherigen Mittelpunkt - durchgeführt wird, dafür erhalten ein "Forum Geschichte" und eine "Jugend-Debatte" Platz.

 Die Regierung hatte die Neukonzeption der Gedenkfeier im Frühjahr 2010 in Auftrag gegeben. Als Projektziele gab sie vor: Präsentation des Kantons als traditionsreiches, lebendiges und zukunftsorientiertes Staatswesen; hohe Akzeptanz des Anlasses; Ausstrahlung auf die ganze Schweiz; Minimierung der Sicherheitsrisiken; durchgängige Organisation sowie Nutzung der Gedenkfeier für die Kommunikation langfristig angelegter Strategien des Kantons.

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 Niklaus Thut: Zofingen weiter dabei?

 1986 war nicht nur das Jahr der 600. Wiederkehr der Schlacht bei Sempach, sondern auch die 600. Wiederkehr der ehrenvollen Rettung des Zofinger Fähnleins durch Schultheiss Niklaus Thut. Grund genug, um vor 25 Jahren ein Altstadtfest steigen zu lassen, in dessen Vordergrund ein Festspiel stand. Gleichzeitig wurde die Stadtkompanie Schultheiss Niklaus Thut ins Leben gerufen, die am 5. Juli 1986 in Sempach den einstigen Feind repräsentierte - und unter anderem von Bundespräsident Alphons Egli höchstpersönlich begrüsst wurde. Mit dem Gedenkjahr 1986 ging die Stadtkompanie nicht unter, sondern organisierte sich als Traditionsgruppe, die seither Jahr für Jahr als Gast an der Sempacher Schlachtjahrzeit teilnahm und auch Repräsentationsaufgaben erfüllte, neben einem internen frohen Kompanieleben. Nun stellt sich die Frage: Geht man dieses Jahr nach Sempach oder nicht? Mit dem Verzicht auf den Umzug und auf die Feier auf dem Schlachtfeld fallen wesentliche "Stadtkompanie-Elemente" dahin. Die Frage ist offen - die Beantwortung dürfte aber auch Konsequenzen für die Zukunft der Stadtkompanie haben. (KBZ)

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Kommentar

 Unbegreiflicher Kniefall

Kurt Blum

 Faktum ist, dass es am 9. Juli 1386 die Schlacht bei Sempach gegeben hat, und Faktum ist ebenfalls, dass das Resultat von grundlegender Bedeutung für die Zukunft der damals noch jungen Eidgenossenschaft war. Ob Arnold von Winkelried den Seinen tatsächlich eine Gasse gebahnt und ob Schultheiss Niklaus Thut das Zofinger Fähnlein wirklich in heroischer Form gerettet hat oder nicht (jedenfalls kam es zusammen mit seinem Leichnam nach Hause zurück), ist dabei nicht von grundlegender Bedeutung. Aber immerhin sind es "schöne Geschichten". Es gibt jedoch auch im Jahr 2011 keinen einzigen treffenden Grund, wieso man sich nicht an das erinnern soll, was in der Folge die weitere Entwicklung der Schweiz nachhaltig prägte.

 Die Sempacher Schlachtjahrzeit war Jahr für Jahr eine gesunde Mischung zwischen sachlicher Darstellung der Geschichte und dem gefühlsmässigen Erleben von "Sempacher Bildern" à la Winkelried und Thut. Sofern man weder die sachliche Geschichtsschreibung noch die gefühlsmässigen "Sempacher Bilder" bis zum Exzess treibt, kann dagegen nichts Ernsthaftes eingeworfen werden. In Sempach wurde das gesunde Augenmass noch nie verloren. Dass Links-Radikale und Rechts-Radikale in den letzten Jahren meinten, das Jahr 1386 für sich vereinnahmen zu können, war wohl eine unschöne Erscheinung (sofern sie überhaupt von jemandem - ausser von den Medien - bemerkt wurde), aber bestimmt kein Grund, um vor diesen Kreisen zu kapitulieren. Genau dies aber hat nun die Luzerner Regierung leider getan! So wird auf die beiden wichtigsten Elemente verzichtet: auf den Umzug und auf die Feier auf dem Schlachtfeld.

 Nichts gegen neue Aktivitäten - aber solche Events können auch ohne Schlacht bei Sempach jahraus und jahrein durchgeführt werden. Das Jahr 1386 verdient aber auch 625 Jahre später mehr als bloss einige "Dutzend-Events".

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20 Minuten 13.1.11

Rechtsextreme an Feier unerwünscht

 SEMPACH. Dank einem neuen Konzept soll die Sempacher Schlachtfeier für Rechtsextreme unattraktiv werden. Ob diese dem Anlass fernbleiben, ist jedoch völlig offen.

 Am 3. Juli jährt sich die Schlacht von Sempach zum 625. Mal. Die Jubiläumsgedenkfeier wird dieses Jahr komplett neu daherkommen und soll ein Fest für das ganze Volk werden. Grund: In den letzten Jahren sorgten Aufmärsche von Rechtsextremen für Schlagzeilen - letztes Jahr waren auch linke Parteien und Vermummte an einer Gegendemo vor Ort. Davon hat der Kanton genug und deshalb den bei Rechtsextremen beliebten Gedenkmarsch aus dem Programm gestrichen.

 Trotzdem: "Ob die Rechtsextremen der Gedenkfeier fernbleiben werden, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden", so der Projektverantwortliche Markus Hodel. Doch das neue Programm sei so ausgearbeitet, dass es für diese Kreise nicht mehr attraktiv sei. Neu wird es dieses Jahr Konzerte direkt am Sempachersee sowie eine Jugend-Debatte und ein Forum für Geschichte geben.

 Die neue Form der Gedenkfeier kommt bei den Parteien unterschiedlich an. "Dieser geplante Multikulti-Anlass ist ein weiterer Meilenstein im systematischen Ausverkauf der Heimat", wettert JSVP-Parteipräsident Anian Liebrand. Der Luzerner Juso-Grossstadtrat David Roth begrüsst dagegen den Wegfall des umstrittenen Gedenkmarsches: "Das ist zwar ein verspätetes, aber deutliches Zeichen gegen Rechtsextremismus."  

Martin Erdmann

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THOR STEINAR
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Basler Zeitung 14.1.11

Machtkampf um Klamotten

 Im Konflikt um die Kleidermarke Thor Steinar sind die Fronten verhärtet

 David Weber

 Die Anschläge von Linksextremen auf den Laden Power Zone halten an. Die Betreiber denken nicht daran, die umstrittene Kleidermarke Thor Steinar aus dem Sortiment zu nehmen. Die Folge ist ein Machtkampf mit grossem Gewaltpotenzial.

 Die Basler Staatsanwaltschaft ist ratlos. Sie kann die Urheber der Anschläge auf den Laden Power Zone Basel an der Feldbergstrasse gleich bei der Johanniterbrücke nicht fassen. Sicher scheint nur, dass die Täter aus dem linksextremen, antifaschistischen Milieu stammen. Diese hatten es seit der Eröffnung im September auf das Geschäft abgesehen. Zuerst warnten Flugblätter vor "Nazis in der Nachbarschaft", dann wurden die Schaufenster verschmiert. Ende Oktober deponierten Unbekannte einen Brandsatz vor dem Geschäft. Ende Dezember wurde zweimal das Schaufenster eingeschlagen, einmal mit einer Schleuder.

 Der Konflikt entzündet sich an einer Kleidermarke, welche die Ladenbesitzer im Sortiment haben: Thor Steinar. Diese ist bei Rechtsextremen beliebt und gilt laut Verfassungsschutz des deutschen Bundeslands Brandenburg als Erkennungsmerkmal der Neonazi-Szene. Der Verkauf der Kleider ist nicht verboten, weder in Deutschland noch in der Schweiz. Darauf berufen sich die Power-Zone-Besitzer. "Ob Rechtsradikale diese Kleider tragen, interessiert uns nicht", sagt Lorenzo Zanolari. "Wir verkaufen, was gut läuft." Sie würden nichts Illegales tun.

 Thor Steinar ist nur eine von vielen Kleidermarken von Power Zone, und nicht die meistverkaufte. Trotzdem kommt es für Zanolari nicht infrage, diese Marke aus dem Sortiment zu nehmen. Es geht ums Prinzip. "Von diesen Kriminellen lasse ich mich sicher nicht unterkriegen", sagt Zanolari. Er habe in seinem ganzen Leben noch nie vor jemandem gekuscht, sagt der 50-Jährige, der seit 30 Jahren Kampfsport betreibt. Auf die Einschüchterungsversuche reagiert Zanolari mit Härte und Trotz. Je grösser der Widerstand, desto grösser seine Lust, das Thor-Steinar-Angebot auszubauen. Trotz dieser Provokation sagt er: "Ich möchte nicht Öl ins Feuer giessen." Er fordert, dass die Polizei den Tätern endlich das Handwerk legt.

 Nicht der erste Konflikt

Eine heisse Spur hat die Staatsanwaltschaft aber nicht, wie Sprecher Markus Melzl sagt. Natürlich dürften die Täter aus dem linken Spektrum kommen. Für eine strafrechtliche Verfolgung bräuchten sie aber konkrete Indizien gegen bestimmte Personen. Die Gegenseite zeigt sich ebenso unnachgiebig. "Stoppt Thor Steinar", heisst es auf schwarz-weissen Plakaten, die an manchen Orten im Kleinbasel hängen. Und: "Wer Naziprodukte verkauft, verbreitet nationalsozialistische Propaganda." Aussagen, die Zanolari als "Rufschädigung" bezeichnet. Auch wird die Entfernung einer weiteren Marke, Pro Violence, gefordert. Die Stossrichtung ist klar: Der Laden muss weg.

 Einer, der mit den Ladenbesitzern sowie mit der mutmasslichen Täterschaft Kontakt hat, ist Samuel Althof von der Fachstelle Extremismus- und Gewaltprävention. Die Täterschaft ortet er bei den autonomen Antifa-Gruppen aus Basel, dem Elsass und Südbaden, welche vernetzt seien.

 "Die Linksextremen werden ihre Positionen nicht aufgeben", sagt er und verweist auf ähnliche Fälle in Deutschland und auch in Basel, zum Beispiel vor fünf Jahren: Damals hatte Mikail Gör in seinem MIG-Shop auf der Lyss ebenfalls Thor-Steinar-Kleider verkauft. Nach Gewaltaufrufen der Antifaschistischen Aktion Basel auf Flugblättern und im Internet hat Gör seinen Laden aus Angst vor Anschlägen wieder geschlossen.

 Ungewiss

Nun wiederholt sich die Geschichte. Nur zeigen sich die Besitzer des Power-Zone-Ladens so unnachgiebig wie die Linksextremen. In dieser Situation der verhärteten Fronten sieht Althof nur einen Ausweg - auch wenn er betont, dass die Ladenbetreiber nichts Illegales täten: Power Zone müsse die Thor-Steinar-Produkte aus dem Sortiment nehmen. Ob dies zu einer Beruhigung reichen würde, ist ungewiss. Es besteht aber laut Althof die Möglichkeit, dass der Rückhalt für gewaltsame Aktionen im linksextremen Lager kleiner würde.

 Nach einer Einigung sieht es allerdings nicht aus. "Beide Gruppen haben sich auf einen Machtkampf eingelassen", beschreibt Althof die Situation. Nachgeben will keiner. "Machen wir uns keine Illusionen, das Gewaltpotenzial ist sehr hoch", sagt Althof und verweist auf mögliche Folgen für die Umgebung des Ladens. So befinden sich in den Stockwerken über dem Geschäft Wohnungen.

 "Risiko einer Eskalation"

Die Eigentümer des Hauses stärken Power Zone den Rücken. Cyril Welti von der Stamm & Co. Immobilien AG: "Solange keine illegalen Aktivitäten im Mietobjekt passieren, gibt es keinen Grund, das Mietverhältnis mit den Ladenbesitzern aufzulösen." Welti spricht von "angenehmen Mietern", Beschwerden von anderen Hausbewohnern habe es keine gegeben. Kontaktiert wurde Welti allerdings von den Ladengegnern, von einer Telefonkabine aus, und als "Nazi" beschimpft. Aber sie würden sich nicht dem Druck von Extremisten beugen.

 "Der Konflikt birgt das Risiko einer Eskalation", wenn die Angreifer zu stärkeren Mittel greifen, sagt Melzl. Deshalb müssten die Täter gefasst werden, bevor sie Leben gefährden würden, fordert Zanolari. Aber auch er trägt nichts zur Deeskalation bei.

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 Thor-Steinar-Logos

 Nordische Mythologie. 2004 kam in Deutschland die Bekleidungsmarke Thor Steinar juristisch unter Druck. Der Grund war die Ähnlichkeit ihres Logos mit Symbolen verbotener Organisationen des Nationalsozialismus. Das Logo vereinigt die Tiwaz- und die Siegrune. Runen sind alte germanische Schriftzeichen. Die Tiwaz-Rune steht in der nordischen Mythologie für Kampf und Aktion. Aufgrund des Rechtsstreits wurde 2005 ein neues Logo geschaffen. Auch dieses Logo beruht auf einer Rune, die aber im Nationalsozialismus keine Verwendung fand. 2009 wurde die Marke von einem arabischen Investor gekauft.  daw

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RUHE & ORDNUNG
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St. Galler Tagblatt 13.1.11

Mit Gartenbeiz gegen Randständige

 Politiker monierten, der Bahnhof Frauenfeld lade nicht zum Verweilen ein. Das sei mit ein Grund für die Gewaltprobleme. Dass Belebung auch Sicherheit bedeutet, zeigt ein Beispiel aus Zürich.

Thomas Ammann

 Frauenfeld. Sybille Kaufmann sagte es in unserer Zeitung deutlich: "Der Bahnhof Frauenfeld zieht vor allem Hänger an." Für die SP-Kantonsrätin ist der "Betonklotz" Bahnhof kein Ort, der zum Verweilen einlädt. "Es fehlen Sitzgelegenheiten, es hat kaum Grünanlagen oder eine Gartenbeiz, wo etwas getrunken werden kann.

 Mitverantwortlich für die Gestaltung des öffentlichen Raums in Frauenfeld ist die Raumplanung des Amts für Hochbau. Deren Leiter heisst Heinz Egli. "Der Bahnhof ist einer der schönsten Orte in Frauenfeld. Er zeugt von städtebaulicher Qualität", sagt Egli. Er kann der Kritik der Sozialdemokratin Kaufmann wenig abgewinnen. "Wieso Grünflächen? Der Bahnhofplatz ist eine Drehscheibe für den öffentlichen Verkehr. So entschied das Volk damals." Praktisch jeder Quadratmeter des Platzes werde durch die Frauenfeld-Wil-Bahn, die Stadtbusse und Postautos sowie den Taxibetrieb genutzt. "Auf die wenigen freien Stellen setzen wir in der wärmeren Zeit jeweils Topfpflanzen."

 Gute Beleuchtung zieht Leute an

 Für die Forderung nach einer Gartenbeiz hat der Raumplaner zwar Verständnis, sagt aber klar: "Die Initiative liegt hier bei den Privaten. Wir haben mit dem Blumenstein und dem Bahnhofbuffet zwei Restaurants am Bahnhof. Wir unterstützen gerne weitere Restaurants, falls diese eine Gartenwirtschaft eröffnen wollen."

 Noch dieses Jahr wird sich die Raumplanung im Zusammenhang mit der Neugestaltung der Rheinstrasse auch Überlegungen zu Optimierungen auf dem Bahnhofplatz machen. Ideen zur Optimierung hätte Matthias Gredig, Abteilungsleiter Ortsplanung beim Kanton Thurgau. "Um die Eintönigkeit aufzubrechen, könnte man an gewissen Orten Pflastersteine verlegen oder kleine Inseln erstellen", sagt Gredig. Ein weiteres Gestaltungselement sei das Licht. "Es gibt kühleres oder wärmeres Licht. Eine gute Beleuchtung zieht die Leute an, trägt zur Belebung bei."

 Polizeiwache beim Treffpunkt

 Dass eine Belebung des Bahnhofs auch zu mehr Sicherheit beiträgt, zeigen andere Städte. Der Bahnhof Stadelhofen in Zürich war ein bekannter Treffpunkt für Randständige. Im Frühjahr 2005 eröffnete die Stadt dort eine Gartenbeiz - "um mehr normales Leben auf den Platz zu bringen", wie sie damals mitteilte.

 Am Bonner Hauptbahnhof errichtete die Polizei eine Anlaufstelle für Randständige - direkt neben deren Treffpunkt. Beide "Belebungs"-Massnahmen sorgten für wesentlich mehr Sicherheit und Sauberkeit. Auch für Frauenfeld ein gangbarer Weg?

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POLICE CH
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Basler Zeitung 15.1.11

Gesetz über bewaffnete Bahnpolizei lässt auf sich warten

 Kontroverse dauert an - Polizeikommandanten und die Eisenbahngewerkschaft sind strikte dafür, SBB und BLS dagegen

 Der Entscheid, ob die Bahnpolizei nebst Pfefferspray und Schlagstock auch eine Waffe tragen darf, wird frühestens im Herbst fallen. Wegen fehlender Auswertungen.

 Weil die Bewaffnung von Bahnpolizisten und der Zugriff auf das Fahndungssystem Ripol in der Vernehmlassung umstritten waren, verzögern sich Gesetz und Verordnung über die Bahnpolizei. Sie können offenbar nicht wie vorgesehen im Frühjahr, sondern erst in der zweiten Jahreshälfte in Kraft treten.

 Die Sprecherin des Bundesamts für Verkehr (BAV), Florence Pictet, bestätigte einen entsprechenden Bericht der "Neuen Zürcher Zeitung" vom Freitag. Es handle sich um ein "heikles Thema", zu dem nun eine "realistische und tragbare Lösung" gefunden werden müsse. Das BAV wertet derzeit die Resultate der Vernehmlassung aus.

 Wann das Gesetz und die Verordnung über die Sicherheitsorgane in Transportunternehmen im öffentlichen Verkehr in Kraft treten, entscheidet der Bundesrat. Das Parlament hatte ihm die Aufgabe übertragen, die umstrittene Frage der Bewaffnung auf Verordnungsstufe zu regeln. Die Vernehmlassung lief Ende November 2010 ab.

 Die Meinungen von Transportunternehmen und Polizei gingen dabei meilenweit auseinander. Während beispielsweise SBB und BLS den Vorschlag begrüssten, die Transportpolizei nicht mit Waffen auszurüsten, forderten die kantonalen Polizeidirektoren, die Polizeikommandanten, die Polizeibeamten und die Eisenbahngewerkschaft Feuerwaffen für Bahnpolizisten. Auch die Gewerkschaft des Verkehrspersonals SEV unterstützt die Bewaffnung der Transportpolizei. Ebenfalls kontrovers beurteilt wurde der Zugriff der Transportpolizei auf das Fahndungssystem Ripol.

 Diese Frage muss laut BAV-Sprecherin Pictet "vertieft überprüft" werden.  SDA

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Newsnetz 14.1.11

Schusswaffen für die Bahnpolizisten?

blu

 Die SBB haben ein neues Sicherheitssystem. Ob die Transportpolizisten Waffen tragen sollen, ist aber noch umstritten. Denn die Gefährdung Unbeteiligter in engen Zügen ist hoch.

 Zwar haben die SBB seit Anfang Jahr ein neues Sicherheitssystem. Doch das Gesetz dazu tritt frühestens Mitte Jahr in Kraft, wie die "NZZ" berichtet. Noch seien nicht alle Punkte geklärt. Umstritten ist die Frage der Bewaffnung der Transportpolizei sowie deren Zugriff auf Fahndungssysteme der staatlichen Polizei. Dies förderte die Vernehmlassung zutage.

 Während die kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren der Meinung sind, das Kommando der Transportpolizei solle selber über eine Ausrüstung mit Schusswaffen entscheiden, geben sich die SBB und der Branchenverband öffentlicher Verkehr zurückhaltend. Sie wollen auf Schusswaffen verzichten, möchten es aber dem Bundesrat überlassen, bei erhöhter Bedrohung Waffen punktuell einzusetzen.

 Schusswaffen in Deutschland

 Umstritten ist laut dem "NZZ"-Beitrag die Bewaffnung der Bahnpolizisten im Hinblick auf einen möglichen Einsatz in Zügen, wo der Raum eng und das Risiko einer Gefährdung von Unbeteiligten hoch ist. So kennt zum Beispiel Deutschland eine Bestimmung über den Einsatz von Schusswaffen durch Bahnpolizisten, wonach deren Einsatz verboten ist, wenn dadurch "erkennbar Unbeteiligte mit hoher Wahrscheinlichkeit gefährdet werden". In Deutschland sind die Bundespolizisten, die in Zügen für Recht und Ordnung sorgen, mit Schusswaffen ausgerüstet.

 Umstritten beim neuen Schweizer Bahnpolizeigesetz sei auch, ob die Transportpolizei Zugriff auf das Fahndungssystem der Polizeikorps erhalten sollen. Die SBB haben als Träger der Transportpolizei Zugriff auf das zentrale System Ripol beantragt, die Justiz- und Polizeidirektoren lehnen dies ab.

 Gesetz nach langem Ringen verabschiedet

 Das neue Gesetz über den Sicherheitsdienst der Transportunternehmen wurde 2010 nach langjährigem Ringen vom Parlament beschlossen. Das System basiert auf drei Pfeilern: dem Korps der Transportpolizisten, dem Sicherheitspersonal von Securitrans, das der Transportpolizei unterstellt ist, und auf dem Objektschutz, welcher der Securitrans übertragen ist.

 Weil das neue Gesetz noch nicht per Anfang 2011 in Kraft getreten ist, bildet das Bahnpolizeigesetz von 1878 weiterhin Grundlage der Tätigkeit von Polizei und Sicherheitsdiensten im öffentlichen Verkehr. Dieses hält fest, jede Bahngesellschaft habe zu bestimmen, welche ihrer Angestellten zur Ausübung der bahnpolizeilichen Tätigkeiten berechtigt seien.

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NZZ 14.1.11

An Fahndungssystem und Waffe scheiden sich die Geister

 Nach langer Genese verzögert sich auch die Inkraftsetzung des Bahnpolizeigesetzes

 Die SBB als Trägerschaft der neuen Transportpolizei möchten Zugriff auf das Fahndungssystem der Polizeikorps, die kantonalen Polizeidirektoren sind dagegen. Kontrovers bleibt auch die Frage, ob Transportpolizisten Schusswaffen tragen sollen.

 Paul Schneeberger

 Auf Anfang 2011 haben die SBB ihre Sicherheitsorgane gemäss den Grundsätzen des 2010 nach langjährigem Ringen vom Parlament beschlossenen Gesetzes über den Sicherheitsdienst der Transportunternehmen neu aufgestellt. Abgesehen von den in der Prävention tätigen Bediensteten basiert dieser auf drei Pfeilern: Erstens auf einem in die SBB integrierten Korps von staatlich vereidigten Transportpolizisten. Zweitens auf Sicherheitspersonal der Securitas, das der Transportpolizei unterstellt ist, selber aber über keine hoheitlichen Kompetenzen verfügt. Und drittens auf einem Objektschutz. Dieser ist der Securitrans übertragen worden, jener Tochtergesellschaft von SBB und Securitas, die bis anhin das Personal für den Sicherheitsdienst in den Zügen stellte.

 Unterschiedliche Lösungen

 Eigentlich hätte das neue Gesetz ebenfalls Anfang 2011 in Kraft treten sollen. Dem war aber nicht so, und so bildet weiterhin das Bahnpolizeigesetz von 1878 die Basis der Tätigkeit von Polizei und Sicherheitsdiensten im öffentlichen Verkehr. Dieses hält lapidar fest, jede Bahngesellschaft habe festzulegen, welche ihrer Angestellten zur Ausübung der bahnpolizeilichen Tätigkeiten berechtigt seien. Gemäss dem Bundesamt für Verkehr verzögert sich die Inkraftsetzung des neuen Gesetzes um mindestens ein halbes Jahr, weil die konkretisierende Verordnung noch nicht fertig formuliert ist.

 In der Vernehmlassung zu diesem nachgeordneten Erlass zeigte sich, dass die Art der Bewaffnung der Transportpolizei umstritten ist. Kontrovers ist auch ihr Zugriff auf das zentrale Fahndungssystem der Polizeikorps (Ripol). Während die SBB als Trägerschaft der Transportpolizei den Antrag gestellt haben, Zugang dazu zu erhalten, lehnt die Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren das ab.

 Bei der Bewaffnung wird das im Verordnungsentwurf nicht vorgesehene Tragen von Schusswaffen unterschiedlich beurteilt. Dies insbesondere, was ihren möglichen Einsatz in Zügen angeht, wo der Raum eng ist und das Risiko einer Gefährdung Unbeteiligter hoch. Während die Justiz- und Polizeidirektoren der Meinung sind, der Entscheid über die Ausrüstung mit Schusswaffen sei dem Kommando der Transportpolizei zu überlassen, geben sich die SBB und der Branchenverband öffentlicher Verkehr zurückhaltend. Sie favorisieren einen Verzicht auf das Mitführen von Schusswaffen, möchten es aber dem Bundesrat überlassen, bei erhöhter Bedrohung darauf zurückzukommen.

 Beide Konflikte resultieren grundsätzlich daraus, dass die Transportpolizei ungeachtet der Vereidigung ihrer Angehörigen durch den Staat nicht unmittelbares staatliches Organ, sondern Bestandteil eines Transportunternehmens ist. Gemäss dem Willen des Gesetzgebers könnten neben den SBB auch andere Betriebe des öffentlichen Verkehrs solche Truppen aufbauen. Dieser Grundsatz, der auf der politischen Absicht basiert, mit einer Transportpolizei durch die Hintertür weder eine eidgenössische noch eine private Polizei zu schaffen, ist nur so lange unproblematisch, als Transportunternehmen mehrheitlich in schweizerischem staatlichem Besitz sind.

 Bis anhin wurde neben der Transportpolizei der SBB, deren Dienste gegen Entschädigung auch von anderen Unternehmen in Anspruch genommen werden können, keine zweite solche Polizeiorganisation aufgestellt. Für das Gebiet des Zürcher Verkehrsverbundes (ZVV) haben die SBB mit den übrigen konzessionierten Unternehmen einen entsprechenden Vertrag abgeschlossen. Der ZVV als Besteller und Financier des öffentlichen Verkehrs im Kanton Zürich wiederum hat mit den SBB Leistungsumfang und Finanzierung der Sicherheitsorganisation vereinbart. Die zweitgrösste Bahn, BLS, beschränkt sich auf einen eigenen Sicherheitsdienst; bei Bedarf fordert dieser Unterstützung durch die Kantonspolizeikorps an.

 Schusswaffen in Deutschland

 Klarer als hierzulande sind die Verhältnisse in Deutschland. Dort wurde die heutige Trennung zwischen Polizei- und Sicherheitsaufgaben im öffentlichen Verkehr 1992 etabliert. Seither obliegt der Polizeidienst dem aus dem Bundesgrenzschutz hervorgegangenen unmittelbaren staatlichen Organ der Bundespolizei, die nachgelagerten Sicherheitsaufgaben sind Sache von Sicherheitsdiensten der Transportunternehmen. Bundespolizisten, die in deutschen Zügen für Recht und Ordnung sorgen, sind auch mit Schusswaffen ausgerüstet.

 Beschränkt wird deren Einsatz durch die gesetzliche Bestimmung in Deutschland, wonach der Einsatz von Schusswaffen für Polizisten verboten ist, wenn dadurch "erkennbar Unbeteiligte mit hoher Wahrscheinlichkeit gefährdet werden". Dem Bundespolizei-Präsidium in Potsdam ist bis anhin kein Einsatz polizeilicher Schusswaffen in deutschen Zügen bekannt. Klar geregelt ist in Deutschland auch die Finanzierung. Für die hoheitliche Tätigkeit der Bundespolizei in öffentlichen Verkehrsmitteln kommen die Steuerzahler auf, für die nachgeordneten Sicherheitsdienste die Transportunternehmen.

 In der Schweiz ist dies komplexer. Die Aufwendungen für die SBB-Transportpolizei schlagen mit rund 30 Millionen Franken pro Jahr zu Buche. 40 Prozent davon trägt der Bund über Abgeltungen für die Infrastruktur, 40 Prozent übernehmen die Kantone durch Abgeltungen für den Regionalverkehr, und 20 Prozent tragen die SBB. Diese Aufwendungen haben sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Insgesamt geben die Bundesbahnen jährlich 60 Millionen für die Personensicherheit aus.

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BIG BROTHER
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Tagesanzeiger 17.1.11

USA sollen ein Konzept für legale Überwachung vorlegen

 Erweist sich der Spionageverdacht als begründet, sollen sich die USA zum Schweizer Recht bekennen.Polizisten müssten überprüfen, ob sich die Amerikaner daran hielten, fordert Christoph Mörgeli.

 Von David Schaffner, Bern

 Anschläge auf Botschaften der USA haben immer wieder die Welt erschüttert: Im August 1998 starben bei zwei fast zeitgleichen Attentaten in Tansania und Kenia 224 Menschen. Im Herbst 2008 kam es im Jemen und in der Türkei zu Angriffen auf US-Einrichtungen mit mehreren Toten. In Wien gelang es der österreichischen Polizei in letzter Minute, am 2. Oktober 2007 die Explosion einer Rucksackbombe zu verhindern.

 Die Schweizer Aussenpolitiker zeigen Verständnis für das Sicherheitsbedürfnis der Amerikaner und reagieren dennoch empört auf die Meldung, dass die Schweizer Behörden wegen Verdachts auf illegale Überwachungstätigkeiten der Amerikaner in der Schweiz eine Untersuchung eröffnet haben. "Jedes Land bemüht sich auf dem Territorium seiner Botschaften um möglichst grosse Sicherheit", erklärt SVP-Nationalrat Ulrich Schlüer. "Überwachungstätigkeiten ausserhalb des Botschaftsgeländes hingegen gelten als unerlaubter Nachrichtendienst und verstossen gegen das Völkerrecht."

 Genügt der Botschaftsschutz?

 Schlüer und der grüne Nationalrat Josef Lang haben bereits früher beobachtet, "dass die USA offenkundig Mühe damit haben, die rechtsstaatlichen Regeln anderer Länder zu akzeptieren", wie Schlüer sagt. Lang erinnert an die Affären um die CIA-Überflüge und die angeblichen Atomschmuggler Tinner (siehe Box): "In beiden Fällen haben die USA keinen Respekt vor unserer Souveränität gezeigt." Lang ist über den Verdacht auf unerlaubten Nachrichtendienst nicht verwundert: "Wir bezahlen den Preis dafür, dass wir uns gegenüber den USA bisher unterwürfig verhalten haben." Die nun eingeleitete Untersuchung wertet Lang indes als Chance: "Es ist bereits ein Fortschritt, dass die Schweiz verdächtigen Hinweisen nachgeht und die Sache nicht einfach versanden lässt."

 CVP-Nationalrätin Kathy Riklin spricht ebenfalls davon, dass "die Schweiz auf Druck immer wieder die Forderungen der USA geschluckt" habe. Sie räumt aber ein, dass in der Bewachung ausländischer Botschaften durch Schweizer Behörden nicht immer alles zum Besten gestanden habe: "Die Untersuchung muss der Frage nachgehen, ob die Schweiz im Botschaftsschutz genügend Qualität angeboten hat. In der Vergangenheit haben wir in diesem Bereich viel Geld gespart."

 Schlüer betont, "dass die Schweiz völkerrechtlich dazu verpflichtet ist, den ausländischen Botschaften ausreichenden Schutz zu gewährleisten". Er ist überzeugt, dass die Armee, die sich heute Aufgaben im Botschaftsschutz mit den Kantonen teile, diesen Schutz nicht gewähren könne: "Botschaftsschutz ist klassische Polizeiaufgabe", so Schlüer.

 Sein Parteikollege Christoph Mörgeli sieht ebenfalls Handlungsbedarf bei der Bewachung durch die Schweizer Behörden. Zudem verlangt er eine Erklärung der USA: "Erhärtet sich der Verdacht, muss der US-Botschafter darlegen, wie er die Botschaft künftig bewachen lässt, ohne schweizerisches Recht zu verletzen." Polizisten sollen danach mit regelmässigen Kontrollgängen überwachen, ob sich die USA daran halten.

 Bundesrat sagte bereits Nein

 Welches Ausmass die allfälligen amerikanischen Tätigkeiten in der Schweiz annahmen und ob sie noch andauern, ist unklar. Ein Sprecher des Justizdepartements (EJPD) sagte lediglich: "Im vergangenen Herbst gab es im Nachgang zu Berichten aus Norwegen und Schweden Hinweise darauf, dass die US-Mission in Genf ein Observationserkennungsprogramm unterhält. Die Schweiz hat daraufhin sofort bei den entsprechenden US-Aussenstellen interveniert." In Oslo hat die US-Botschaft laut Medienberichten 15 bis 20 Überwachungsspezialisten eingesetzt, ohne die norwegische Regierung darüber zu informieren.

 In der Schweiz ersuchten die US-Botschaft in Bern und die US-Mission in Genf in den Jahren 2006 und 2007 um eine Bewilligung für ein Überwachungsprogramm. "Ende August 2007 lehnte der Bundesrat die beiden US-Gesuche ab, mangels gesetzlicher oder staatsvertraglicher Grundlage", so der EJPD-Sprecher. Die Schweiz habe nun die Einstellung allfälliger Aktivitäten gefordert.

 Laut der "SonntagsZeitung" sollen die Amerikaner die Umgebung der Botschaft in Bern ebenfalls überwacht haben. Meldungen über verdächtige Personen hätten sie in der Datenbank Security Incident Management Analysis System eingetragen. Laut einer Wikileaks-Depesche wurde der Ex-Pressesprecher der Genfer Moschee 2005 observiert und steht seither in der Datenbank.

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 Konflikte mit den USA

 Rechtsstaat strapaziert

 Der Umgang der amerikanischen Behörden mit der Schweiz hat immer wieder zu rechtsstaatlichen Konflikten geführt. So liess der Bundesrat Akten über den Fall der mutmasslichen Atomschmuggler-Familie Tinner vernichten - wohl auf Druck der USA. Die Akten fehlen nun für die juristische Aufarbeitung. Vor der Aktenvernichtung hatte der amerikanische Geheimdienst CIA illegal das Haus der Tinners in der Schweiz durchsucht.

 In einem anderen Fall sammelten die USA bei Schweizer Baufirmen, die vor dem Golfkrieg im Irak tätig gewesen waren, Bunkerpläne ein. Viel zu reden gaben die CIA-Überflüge über das Territorium der Schweiz und andere europäische Länder. Das Europaparlament verurteilte die Verschleppung mutmasslicher Terroristen später "als illegales und systematisches Instrument" der USA im Kampf gegen den Terrorismus.

 Im Jahr 2006 berichtete der "Blick" über illegale Tätigkeiten eines mutmasslichen CIA-Agenten in Bern. Der Bundesrat lehnte später jedoch eine Strafverfolgung ab.(dav)

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Kommentar USA-Korrespondent Martin Kilian über vermutete Geheimaktionen der Amerikaner in der Schweiz.

 Überrascht das noch jemanden?

Martin Kilian

 Die Aufregung ist gross: Die Schweizer Behörden vermuten, dass sich die Vereinigten Staaten in Genf illegal, weil gegen den Willen der Schweiz, gegen Terroranschläge geschützt hätten. Die Amerikaner, so heisst es, hätten in Genf wie schon zuvor in Schweden und Norwegen ein Observations-Erkennungs-Programm betrieben, welches das Umfeld der US-Mission in Genf beobachten sollte.

 Na und? Wer bitte will davon überrascht sein? Dass das Sicherheitsbedürfnis der Weltmacht seit 9/11 ins Unermessliche gestiegen ist, legt nicht nur der mittlerweile grotesk aufgeblähte Apparat von Nachrichtendiensten und Mitarbeitern des Washingtoner Heimatschutzministeriums nahe. Auch die zusehends rigoroseren Kontrollen für Reisende in die USA belegen das amerikanische Bemühen, ein möglichst engmaschiges Netz zur Terrorismusabwehr zu knüpfen und dabei im Zweifelsfall internationale Vereinbarungen wie auch verfassungsmässig verbriefte Rechte amerikanischer Staatsbürger zu missachten.

 Die Rechte eines Gastlandes, in diesem Fall der Schweiz, werden offensichtlich ebenfalls missachtet, wenn dies dem Schutz amerikanischer Interessen und Diplomaten dient. Berner Dienststellen mögen sich darüber aufregen, dass in Genf observiert wurde, obwohl die Schweiz 2007 ein explizites Verbot derartiger Ausspähungsmethoden aussprach - überraschen aber sollte das amerikanische Vorgehen niemanden. Immerhin ist im Zuge der Wikileaks-Enthüllungen publik geworden, dass US-Diplomaten im Auftrag amerikanischer Dienste sogar das New Yorker UNO-Personal ausspionieren sollten.

 Und wer hätte schon vergessen, wie umfassend die elektronische US-Aufklärung im Vorfeld des Irak-Krieges 2003 die UNO-Missionen anderer Nationen in New York observierte und ausspähte? Falls die Weltmacht in Genf illegal Aufklärung betrieb, reihte sich diese Brüskierung der Schweiz in eine lange Kette von Vorfällen ein, bei denen sich Washington über internationale Auflagen und Verpflichtungen hinwegsetzte.

 Einzig überraschend an diesem Vorgang ist, dass Schweizer Beamte und Politiker überrascht reagieren. Guten Morgen auch!

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Sonntag 16.1.11

Schweizer Nachrichtendienst ermittelt gegen US-Botschaft

 Die Behörden haben Hinweise, dass amerikanische Sicherheitsagenten in der Schweiz illegal Passanten beschattet und Daten beschafft haben

 Bern Die Schweizer Behörden ermitteln gegen Verantwortliche der US-Botschaft wegen eines illegalen Überwachungsprogramms. Passanten sollen illegal observiert und fichiert worden sein.

 Guido Balmer, Sprecher von Justizministerin Simonetta Sommaruga, bestätigt die Untersuchung: Im Justiz-, Aussen- und Verteidigungsdepartement werde eingehend geprüft, "ob die Grenzen des Gesetzes überschritten wurden". Mit der Untersuchung beauftragt ist laut Informationen, die der SonntagsZeitung vorliegen, die Spionageabwehr des Nachrichtendienstes des Bundes (NDB).

 Ermittelt wird im Zusammenhang mit einem Programm, das die US-Regierung seit dem Jahr 2000 weltweit in zahlreichen US-Vertretungen etabliert hat. Laut einem US-Parlamentsdokument liegt der Schwerpunkt des "Surveillance Detection Program" (Observationserkennungsprogramm) auf verdeckten Massnahmen, mit denen rund um US-Einrichtungen nach möglichen Angreifern gefahndet wird. Berichte über Verdächtige und Vorfälle werden in einer Datenbank des US-Aussenministeriums gespeichert. Dort werden sie mit dem Ziel ausgewertet, Vorgehen und Netzwerke von möglichen Angreifern zu eruieren.

 Laut einer Beschreibung dieses "Security Incident Management Analysis System" (Simas) vom Januar 2010 sind im System auch Daten von lokalen Polizeikorps enthalten. Die Daten, heisst es im Papier, würden mit dem amerikanischen Geheimdienst CIA, der Polizeibehörde FBI und dem US-Staatsschutz ausgetauscht.

 "Im vergangenen Herbst gab es Hinweise darauf, dass die US-Mission in Genf ein Observationserkennungsprogramm unterhält", sagt Justizsprecher Balmer. Die Schweiz habe danach bei den US-Behörden interveniert. Ende 2010 liess sich der Geheimdienstausschuss des Parlaments über die Aktivitäten der Amerikaner informieren, wie deren Präsident Claude Janiak bestätigt.

 Laut Zeuge gab es illegale Observationen auch in Bern

 Brisant ist, dass der Bundesrat im August 2007 einen Antrag der US-Behörden abgelehnt hat, ein solches Programm einzuführen. Bestätigen sich die Hinweise der Behörden, setzten die USA ihr Vorhaben trotz deutlichem Nein fort. Hinweise darauf, dass das Programm in der Schweiz schon vor der Anfrage 2007 etabliert war, gibt eine Wikileaks-Depesche, die vergangene Woche von der norwegische Zeitung "Aftenposten" publizierte wurde. Laut dieser wurde der ehemalige Pressesprecher der Genfer Moschee 2005 observiert und steht seither als Eintrag Nummer 78017 in der Simas-Datenbank.

 Ein Botschaftsschützer behauptet zudem gegenüber der SonntagsZeitung, dass ein solches Programm mindestens bis vor einigen Jahren auch in Bern betrieben wurde. US-Sicherheitsleute seien illegal im Botschaftsquartier patrouilliert, und Stadtpolizisten, Militärs und die Angestellten eines privaten Sicherheitsdienstleisters hätten die Personendaten von kontrollierten Passanten teils direkt dem Botschaftspersonal übergeben. Die involvierten Stellen bei Bund und Kanton bestätigen diese Darstellung nicht. Erhärtet sich der Sachverhalt, machen sich die Betroffenen schuldig, unerlaubte Handlungen für einen fremden Staat begangen zu haben.  

Martin Stoll

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NZZ am Sonntag 16.1.11

Bundesrat protestiert bei den USA wegen Schnüffeleien

 Bund hat Hinweise auf illegales Überwachungssystem in der Schweiz

 Die US-Mission in Genf soll sich mit illegalen Methoden geschützt haben - obwohl der Bundesrat dies verboten hat.

 Heidi Gmür, Lukas Häuptli

 Im Jahr 2007 hat der Bundesrat ein Gesuch der USA abgelehnt, ihre Botschaften in Bern und Genf mit einem sogenannten Observations-Erkennungs-Programm gegen Terroranschläge zu schützen. Nun gehen die Bundesbehörden davon aus, dass die USA das System trotzdem eingesetzt haben. Im letzten Herbst "gab es Hinweise darauf, dass die US-Mission in Genf ein Observations-Erkennungs-Programm unterhält", bestätigt ein Sprecher des Justiz- und Polizeidepartements.

 Die Schweiz habe daraufhin "sofort bei den entsprechenden US-Aussenstellen interveniert" und "die Einstellung allfälliger Aktivitäten gefordert", sagt der Sprecher weiter. Derzeit seien das Justiz-, das Verteidigungs- und das Aussendepartement dabei, die Situation in Genf "eingehend zu prüfen". Die US-Botschaft in Bern betont derweil, dass die USA die Schweizer Gesetze "vollumfänglich respektieren".

 Worum es sich beim Surveillance Detection Program konkret handelt, ist unklar. Im November 2010 wurde aber bekannt, dass die USA in Oslo seit zehn Jahren 15 bis 20 Überwachungs-Spezialisten als Surveillance Detection Unit eingesetzt haben. Die norwegische Regierung wusste davon nichts.

 Geheimdienstaktivitäten der USA in der Schweiz haben schon früher für Schlagzeilen gesorgt. 2006 berichtete der "Blick" etwa über illegale Tätigkeiten eines mutmasslichen Agenten des Geheimdienstes CIA in Bern. Der Bundesrat lehnte eine Ermächtigung zur Strafverfolgung später jedoch ab.

 Just im Jahr 2006 hatten die USA die Schweiz kritisiert, sie kooperiere bei der Terrorbekämpfung zu wenig. Das geht aus einer Depesche der US-Botschaft in Bern hervor, die Wikileaks am Dienstag veröffentlicht hat.

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USA unter Spionageverdacht

 Die Schweiz hat Hinweise auf ein illegales Überwachungssystem der USA in Genf

 Die Schweizer Behörden prüfen, ob die USA in Genf ein illegales Programm zur Erkennung von Observationen betreiben. Der Bundesrat hatte dies den Amerikanern explizit untersagt.

 Heidi Gmür

 Schützt sich die US-Mission in Genf mit illegalen Methoden vor Terroranschlägen? Das vermuten zumindest die Bundesbehörden. Konkret: "Im Nachgang zu Berichten aus Norwegen und Schweden gab es im letzten Herbst Hinweise darauf, dass die Genfer US-Mission ein Observations-Erkennungs-Programm (Surveillance Detection Program) unterhält", schreibt Guido Balmer, Sprecher des Justiz- und Polizeidepartements (EJPD), auf Anfrage. Ein System also, das dazu dient, eine Observation und damit eine mögliche Bedrohung der Botschaft zu erkennen. Ob es sich dabei primär um ein technisches System oder um eine eigentliche Einsatzeinheit handelt, ist unklar.

 Laut Balmer hat die Schweiz "sofort bei den entsprechenden US-Aussenstellen interveniert und die Einstellung allfälliger Aktivitäten gefordert".

 Bundesrat lehnte US-Gesuch ab

 Die Intervention sei "rabiat" ausgefallen, sagt eine Quelle in einem anderen Departement. Wohl deshalb, weil die Schweiz den Amerikanern den Einsatz solcher Programme 2007 explizit untersagt hatte. Wie erst jetzt publik wird, hatten die US-Botschaft in Bern und die US-Mission in Genf in den Jahren 2006 und 2007 die Schweiz nämlich offiziell um eine Bewilligung für Observations-Erkennungs-Programme ersucht. Eine Bewilligung ist nötig, weil solche Programme laut Balmer unter "Handlungen für einen fremden Staat" gemäss Strafgesetzbuch fallen, "sofern sie über die unmittelbare Umgebung einer Botschaft hinausgehen".

 Ende August 2007 lehnte der Bundesrat die beiden US-Gesuche aber ab - "mangels gesetzlicher und staatsvertraglicher Grundlage". Dieser Entscheid, so Balmer, sei der US-Botschaft damals auch mitgeteilt worden. Derzeit "wird die Situation in Genf eingehend geprüft". Die US-Botschaft in Bern will "keine Details von Sicherheitsarrangements kommentieren". Botschaftssprecher Alex Daniels betont aber, dass "die USA die Schweizer Gesetze vollumfänglich respektieren und dass es die Politik der USA ist, in Übereinstimmung mit dem anwendbaren lokalen Recht zu sein". Spezifische Details der Sicherheit würden auf Regierungsebene diskutiert.

 Mutmasslich illegale Spionageaktivitäten der USA haben in Skandinavien bereits im November für Schlagzeilen gesorgt. Ein norwegischer Fernsehsender hatte unter anderem berichtet, dass die USA seit zehn Jahren in Oslo eine Observations- und Erkennungs-Einheit (Surveillance Detection Unit) betrieben. 15 bis 20 Spezialisten würden in dieser Einheit arbeiten. Der Justizminister leitete eine Untersuchung ein.

 Hinweis in Wikileaks-Dokument

 Ein Hinweis, dass die USA auch in der Schweiz ähnliche und allenfalls illegale Aktivitäten entfaltet haben, findet sich auch in einer von Wikileaks publizierten Depesche der US-Mission in Genf. Die norwegische Zeitung "Aftenposten" hat letzte Woche über die Depesche berichtet, die "Tribune de Genève" griff die Meldung anschliessend auf. Demnach hat ein Surveillance-Detection-Techniker der US-Mission in Genf bereits im Oktober 2005 ein Paar beobachtet, das sich in Sichtnähe der Mission aufgehalten hatte. Das Paar geriet vorübergehend quasi unter Terrorverdacht. Beim Mann handelt es sich um den in Genf bekannten muslimischen Intellektuellen Hafid Ouardiri. Die US-Mission hat den "Zwischenfall" laut der Depesche in einer Datenbank abgespeichert.

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 Terror-Gefahr: Kritik der USA an der Schweiz

 Die USA haben 2006 bemängelt, die Schweiz kooperiere bei der Terrorbekämpfung zu wenig. Das zeigt eine von Wikileaks veröffentlichte Depesche.

 Lukas Häuptli

 Die Kritik der USA an der Schweiz geht aus einer Depesche hervor, die Pamela Willeford, die ehemalige US-Botschafterin in Bern, 2006 verfasst hatte und die das Internetportal Wikileaks am letzten Dienstag veröffentlichte.

 Bei der Terrorbekämpfung seien die Schweizer Strafverfolgungsbehörden noch immer nicht willens, sich gegenüber den USA zu öffnen, hielt Willeford in der Depesche fest, die sie an Robert Mueller, den Direktor der US-Bundespolizei FBI, schickte und die als vertraulich klassifiziert war. Und: "Die Stimmung zeigt sich am besten an einer Aussage von Justizminister Christoph Blocher gegenüber der Botschafterin. Blocher sagte: Die Schweiz wird sich um die Schweiz kümmern, und die USA können sich um den Rest der Welt kümmern." Der Schweizer Inlandgeheimdienst sei am wenigsten kooperativ, schrieb Willeford in der Depesche. Kooperativer sei der Auslandnachrichtendienst.

 Daneben kritisierte Willeford, dass Schweizer Parlamentarier und Medien ihr Augenmerk viel eher auf angebliche Fehler der US-Regierung bei der Terrorbekämpfung richteten als auf die Terrorgefahr selbst.

 Allerdings wies die US-Botschafterin auch darauf hin, dass die Schweiz mit den USA ein Anti-Terror-Abkommen geschlossen und alle Uno-Konventionen zur Terrorbekämpfung unterzeichnet habe. Zudem hätten die Schweizer Behörden eine eigene Liste mit 44 Personen oder Firmen erstellt, "die mit internationalem Terrorismus (al-Kaida)" verbunden seien. Aufgrund der Uno-Konventionen und der eigenen Liste hatte die Schweiz bis Anfang 2006 total 82 Bankkonten mit 34 Millionen Franken blockiert, wie es in der Depesche heisst. Schliesslich habe der Bundesanwalt weitere 41 Konten mit 34 Millionen Franken wegen Terror-Verdachts eingefroren.

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Zentralschweiz am Sonntag 16.1.11

Sollen Hotelgäste überprüft werden?

 Die Luzerner Polizei überprüft regelmässig Daten von Hotelgästen, um Kriminelle zu finden. Der kantonale Datenbeauftragte hat davon nichts gewusst.

 Beat Hensler,

 Kommandant

 Luzerner Polizei

 Pro

 Seit mindestens 1910 müssen die Luzerner Hoteliers eine Gästekontrolle führen und diese der Polizei zur Verfügung stellen. So regelt es auch das heutige Gastgewerbegesetz, weshalb jeder Hotelgast einen Meldeschein ausfüllen muss. Bis in die Achtzigerjahre gingen die Beamten mit den Fahndungsbüchern von Hotel zu Hotel. Seither hat die Polizei auf die elektronische Überprüfung umgestellt. Statt Fahndungsbücher gibt es die automatisierte Fahndungsdatenbank, die Meldescheine werden elektronisch eingelesen, und die Polizisten können sich den Gang von Hotel zu Hotel sparen.

 An diesem Vorgehen hat sich bis vor wenigen Tagen niemand gestört. Es handelt sich um ein erfolgreiches und effizientes Fahndungsmittel, das nicht erst seit dem Beitritt zu Schengen immer wieder zur Festnahme von Verbrechern führt und in allen Kantonen mit wenigen Unterschieden angewandt wird. So stammt zum Beispiel ein entscheidender Hinweis zur Aufklärung des brutalen Banküberfalls auf die Raiffeisenbank in Luzern vom Juni 2010 aus diesem Verfahren. Jährlich rund 300 Treffer ergeben die 300 000 Überprüfungen. Ähnliche Methoden kennt auch das Ausland, sodass es dank der Meldepflicht und der Aufbewahrung der elektronischen Meldescheine immer wieder gelingt, den Weg von gesuchten Schwerverbrechern, zum Beispiel von Terroristen, zu verfolgen.

 Weil die Ermittlungen oft mehrere Jahre dauern, müssen die Meldescheine längere Zeit aufbewahrt werden. Die Luzerner Polizei hat die Aufbewahrungsfrist auf 5 Jahre festgelegt. Die gleiche Aufbewahrungsdauer gilt in Absprache mit dem Datenschutzbeauftragten für andere, vergleichbare Daten. Offenbar stören sich nun viele daran, dass die Meldescheine mit dem automatisierten Fahndungsregister abgeglichen werden. Ohne Grund landet aber niemand im Fahndungsregister.

 Im Interesse der Sicherheit unseres Landes ist es von grossem Interesse, polizeilich gesuchte Personen rasch zu finden. Rund 100 zur Verhaftung ausgeschriebene Personen können so jährlich aufgespürt werden. Allzu restriktive Beschränkungen der Polizeiarbeit könnten dazu führen, dass der Datenschutz zum Täterschutz wird, und das ist sicher nicht im Interesse der unbescholtenen Bürgerinnen und Bürger.

 Silvana Beeler Gehrer, Kantonsrätin, SP-Fraktionschefin

 Contra

 Die Luzerner Polizei überprüfe Daten von Schweizer Hotelgästen systematisch und ohne genügend präzise gesetzliche Grundlage. Das sagt der Datenschützer Amédéo Wermelinger. Diese Aussage schreckt mich auf, weil es den Prinzipien unseres Rechtsstaates zuwider- läuft. Ich möchte nicht, dass die Polizei ohne klare Rechtsgrundlage persönliche Daten beschafft, verarbeitet und aufbewahrt. Ich wusste, dass sich die Polizei die Daten der Hotelgäste beschafft, bin aber davon ausgegangen, dass die Daten nach der Überprüfung vernichtet werden. Nicht im Traum wäre mir eingefallen, dass solch persönliche Daten fünf Jahre aufbewahrt werden.

 Eigentlich muss man sich fragen, weshalb sich der Datenschützer nicht schon früher mit dem Thema befasst hat. Spätestens mit Annahme des Schengen-Dublin-Abkommens durch das Schweizer Volk im Jahr 2005 hätte sich eine Überprüfung der Praxis bei der Luzerner Polizei aufgedrängt. Im gesetzlichen Auftrag des Datenschützers steht nämlich, dass er im Voraus Bearbeitungsmethoden kontrolliert, welche die Persönlichkeit einer grösseren Anzahl von Personen verletzen könnten. In diesem Sinne ist es eigentlich egal, ob die Polizei eine Praxisänderung plant oder nicht und ob sie dazu den Datenschützer um Mithilfe bittet oder nicht: Er hat die Kompetenz und den Auftrag, Abläufe jederzeit zu prüfen.

 Nun lautet aber die Frage nicht, ob der Datenschützer seine Aufgaben pflichtgemäss erfüllt hat, sondern ob die Polizei weiterhin Daten von Hotelgästen prüfen soll. Mittlerweile wurde die Zahl von 882 445 überprüften Personen und einem Dutzend Festnahmen auf 300 000 überprüfte Schweizer bei 300 Fahndungstreffern im Jahr 2009 präzisiert. Man kann geteilter Meinung darüber sein, ob eine Trefferquote von 0,1 Prozent die ungenügende gesetzliche Grundlage rechtfertigt. Ich meine nein; sie rechtfertigt die Überprüfung nicht. Das stürzt mich in ein Dilemma, denn ich will, dass die Polizei ihre Aufgaben pflichtgemäss erfüllt. Das bedeutet, dass schleunigst die gesetzlichen Grundlagen geprüft werden müssen. Die kantonalen Datenschützer müssen gemeinsam Position beziehen und Vorschläge machen für eine bundesweite Lösung. Und bitte ohne Kantönligeist, denn der stiftet nur Verwirrung und kostet.

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NLZ 14.1.11

Schärli: "Ich war nicht informiert"

 Datenschutz

Interview Barbara Inglin

 Im Kanton Luzern werden Hotelgäste systematisch kontrolliert. Die Justizdirektorin wusste von nichts - und fordert jetzt eine nationale Lösung.

 Interview Barbara Inglin

 barbara.inglin@luzernerzeitung.ch

 Das Vorgehen der Luzerner Polizei ist fragwürdig: Sie sammelt die Daten sämtlicher Hotelgäste im Kanton ein und gibt sie in ein nationales Fahndungssystem ein - notabene ohne dass ein Verdacht gegen die kontrollierten Personen vorliegt (Ausgaben vom 11. und 12. Januar). Die Daten bleiben danach für fünf Jahre im System der Luzerner Polizei gespeichert. Laut dem kantonalen Datenschützer Amédéo Wermelinger gibt es "keine genügend präzise gesetzliche Grundlage" für dieses Vorgehen.

 Yvonne Schärli, wussten Sie als Vorsteherin des Justiz- und Sicherheitsdepartements von diesem Vorgehen?

 Yvonne Schärli: Als Hotelgast habe ich schon zahlreiche Meldezettel ausgefüllt und somit Kenntnis davon, dass es ein System der Hotelkontrolle in der Schweiz und auch in andern Ländern gibt. Über die genaue Praxis der polizeilichen Hotelkontrolle in Luzern wurde ich bis dato nicht informiert.

 Wie kommt es, dass Sie als Justizdirektorin nichts davon wussten?

 Schärli: Die Überprüfung der Meldescheine der Hotelgäste gehört im Kanton Luzern sicher seit spätestens 1958 zu den Aufgaben der Polizei. Die Thematik wurde bei der letzten Revision des Ablaufs im Jahre 2000 von der Polizei mit dem damaligen Datenschutzbeauftragten abgesprochen. Ich gehe davon aus, dass das Vorgehen damals für in Ordnung befunden wurde. Da es seit meinem Amtsantritt im Jahr 2003 weder von Gästen noch von Hoteliers, noch von der Politik je zu Beschwerden gekommen ist, gab es für die Polizei offensichtlich keine Veranlassung, mich explizit zu informieren.

 Der jetzige kantonale Datenschützer kritisiert, dass mit diesem Vorgehen Hotelgäste unter Generalverdacht gestellt werden. Teilen Sie diese Meinung?

 Schärli: Ich kann diese Frage erst dann seriös beantworten, wenn die Überprüfung abgeschlossen ist und die Ergebnisse vorliegen.

 Zurzeit wird die Datenerfassung und -überprüfung von Hotelgästen überarbeitet. Ist dabei auch der systematische Abgleich mit dem Fahndungssystem, ohne Verdachtsmoment, ein Thema?

 Schärli: Die Polizei ist aus Kreisen der Hoteliers gebeten worden, den administrativen Ablauf zu vereinfachen und ein neues EDV-Programm einzusetzen. Dabei geht es aber nur um die Weitergabe der Meldescheine und nicht um den Grundsatz des Abgleichs ohne Verdachtsmoment. Wenn sich herausstellen würde, dass der Abgleich ohne Verdachtsmoment nun nicht mehr statthaft wäre, würde dieser Punkt auch unter Einbezug des Datenschutzbeauftragten neu beurteilt und angepasst.

 Werden Sie dies nun prüfen?

 Schärli: Ja, wir werden die Praxis in Zusammenarbeit mit dem Datenschutzbeauftragten überprüfen.

 Wie soll die Polizei künftig mit den Daten von Hotelgästen umgehen? Der Zürcher Datenschützer etwa schlägt vor, dass nur noch aufgrund bestimmter Kriterien, wie bestimmte Personengruppen oder Orte, geprüft werden sollen.

 Schärli: Ich bin der Auffassung, dass sich die kantonalen Datenschutzbeauftragten einig werden sollten, wie die Thematik vom rechtlichen Gesichtspunkt her gelöst werden kann. Ich erachte es nicht als zielgerichtet, wenn nun jeder Kanton das System von Grund auf überprüft und allenfalls Anpassungen vornimmt. Es sollte doch möglich sein, dass wir eine einheitliche Praxis festlegen können.

 Werden Sie sich für eine nationale Lösung einsetzen?

 Schärli: Ich meine, hier sind zuerst einmal die Datenschützer gefordert.

 Bis eine Gesetzesänderung beschlossen ist, dauert es in der Regel mehrere Jahre. Wie wird der Kanton Luzern in der Zwischenzeit mit den Daten von Hotelgästen umgehen?

 Schärli: Die Praxis kann jederzeit angepasst werden. Allerdings schreibt das Schengener Durchführungsübereinkommen sinngemäss vor, dass für Zwecke der Gefahrenabwehr, der Strafverfolgung oder der Aufklärung des Schicksals von Vermissten oder Unfallopfern in Beherbergungsbetrieben Meldezettel ausgefüllt werden müssen. Sobald die Ergebnisse der Überprüfung vorliegen, nehmen wir - so weit erforderlich - Anpassungen der Praxis vor.

 Laut Bundesamt für Statistik logieren jährlich rund 800 000 Gäste im Kanton Luzern. Dem gegenüber stehen laut Angaben der Polizei ein Dutzend Festnahmen. Sind diese Zahlen verhältnismässig?

 Schärli: Laut Angaben der Luzerner Polizei werden jährlich rund 300 000 Reisende erfasst und nicht 800 000. Im Jahr 2009 resultierten gestützt auf diese Überprüfung rund 300 Fahndungstreffer.

 Wie kommt es zu dieser Differenz?

 Schärli: Sie ergibt sich daraus, dass nur Einzelreisende erfasst werden. Bei den Gruppenreisenden geht die Polizei davon aus, dass diese bereits in anderen Kantonen oder zum Schengenraum zählenden Ländern überprüft worden sind. Die von der Medienstelle erwähnten Treffer sind konkrete Festnahmen, die im Kanton Luzern vorgenommen wurden. Darüber hinaus gibt es bei den von mir erwähnten 300 Fahndungstreffern eine ganze Reihe von weniger gravierenden Delikten. So konnten etwa Personen, die mit einer Einreisesperre belegt sind, aufgegriffen werden.

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La Liberté 14.1.11

Pour Jean-Michel Dolivo, une fiche peut en cacher une autre

 Big Brother - Le Vaudois a découvert l'existence d'un 2e rapport sur son engagement politique. Confédération et canton se renvoient la balle.
 
Michaël Rodriguez

 C'est une fiche dont ni la Confédération, ni le canton de Vaud ne veut assumer la responsabilité. Le militant vaudois Jean-Michel Dolivo a appris l'existence d'un deuxième rapport établi par la police cantonale sur son engagement politique. En décembre dernier, le Service de renseignement de la Confédération (SRC) disait n'en détenir qu'un seul (notre édition du 22 décembre). Face à l'apparition d'un nouveau document, la Confédération et le canton se renvoient la balle. Jean-Michel Dolivo avait été fiché pour avoir organisé une manifestation contre la venue de Christoph Blocher en septembre 2007 au Comptoir suisse, à Lausanne. Il apparaissait dans la base de données fédérale ISIS comme organisateur d'une manifestation violente, alors même qu'il avait lancé un appel au calme pour tenter de stopper les débordements survenus à l'issue du défilé. Cette fiche, qui se basait sur un rapport de la Police cantonale vaudoise, a été effacée depuis lors.

 Rebondissement

 A la fin du mois de décembre, pourtant, l'affaire rebondit. Jean-Michel Dolivo entreprend une démarche auprès de la police cantonale pour savoir si elle a gardé une trace des informations transmises au SRC. Réponse du commandant, Jacques Antenen: "Je vous informe que la police cantonale détient deux copies de rapports vous concernant." Mais le chef de la police vaudoise refuse de lui donner accès à ces documents, au motif qu'ils étaient destinés à la Confédération et que c'est à elle de répondre à sa demande.

 Pour Jean-Michel Dolivo, la conclusion s'impose: il a été fiché deux fois dans ISIS et non pas une. Mais le SRC dément. Il a bel et bien reçu un second rapport de la police cantonale, mais ne l'a enregistré "dans aucune banque de données", écrit-il il y a quelques jours au militant de SolidaritéS. Il n'en aurait pas conservé de copie. La balle est donc à nouveau dans le camp vaudois.

 Cantons en eaux troubles

 Aucune autorité ne semble pour l'instant disposée à assumer la responsabilité du second rapport. Cela en dit long sur les défaillances du contrôle des fiches. Cela montre aussi l'urgence de faire de l'ordre dans les activités de renseignement des polices cantonales, qui n'ont jamais été sous le feu des projecteurs.

 Outre le système fédéral ISIS, auquel elles ont accès, certaines polices de sûreté cantonales ont leur propre base de données pour surveiller les personnes jugées menaçantes pour la sécurité de l'Etat. C'est le cas notamment dans les cantons de Genève et Vaud. La Police cantonale fribourgeoise affirme quant à elle ne pas exploiter de tel fichier.

 La banque de données vaudoise ne repose sur aucune base légale spécifique, et son existence n'était pas connue du parlement. Genève n'a pas non plus de loi cantonale à cet effet, et juge que la loi fédérale sur le maintien de la sûreté intérieure (LMSI) suffit. "Une loi cantonale n'est pas nécessaire", affirme Hana Sultan Warnier, secrétaire générale adjointe du Département genevois de la sécurité, de la police et de l'environnement.

 Tel n'est pas l'avis de Jean-Philippe Walter, préposé fédéral suppléant à la protection des données. Pour lui, il faut bel et bien une loi cantonale pour légitimer et créer un système d'information cantonal. "Le traitement de données personnelles doit toujours reposer sur une base légale. C'est ce que dit aussi la jurisprudence du Tribunal fédéral." Un sim- ple règlement ne suffit pas. "Il faut une loi votée par le parlement et soumise au référendum", estime Jean-Philippe Walter.

 L'œil de Berne

 Les cantons qui ont leur propre banque de données informatique ont en outre l'obligation légale de soumettre un règlement d'exploitation à la Confédération. "La grande majorité des cantons ont soit confirmé qu'ils n'avaient pas de banque de données propre, soit déposé une demande d'autorisation", indique un porte-parole du SRC en réponse à nos questions. La Confédération attend encore des réponses de quelques cantons. "Les éventuels retardataires seront rappelés à l'ordre." le courrier

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grundrechte.ch 11.1.11

Volkszählung 2010

11. Januar 2011

Registererhebung und ergänzende Stichprobenumfrage

Das Sekretariat von grundrechte.ch wird momentan mit Anfragen zur aktuellen Volkszählung überhäuft. Wir stellen deshalb Informationen und unsere Sicht zur Verfügung:

Die erste eidgenössische Volkszählung erfolgte im März 1850 unter der Leitung von Bundesrat Stefano Franscini. Neben der Erhebung der Bevölkerungszahl wurde nach Geschlecht, Alter, Zivilstand, Beruf, Gewerbe und Konfession der Einwohner gefragt. Zwischen 1860 und 2000 fand alle zehn Jahre jeweils im Dezember eine Volkszählung statt.

1970 und 1980 wurde die Volkszählung, damals noch jeweils eine Vollerhebung, von diversen Personen und Personengruppen boykottiert. Nach einer öffentlichen Androhung von Bussen und der Ansetzung einer Nachfrist gab es dann für Verweigerer eine Busse. Der Umstand, dass das Strafwesen an die Kantone delegiert wurde, führte dazu, dass in einzelnen Kantonen keine Sanktionen ausgesprochen wurden. Die Fichenaffäre 1990 hat gezeigt, dass ein gesundes Misstrauen gegenüber dem Staat durchaus angebracht und auch erwünscht ist.

Die aktuelle Zählung entspringt einer Verordnung der EU. Nachem ein erster Entwurf wegen zu detaillierten Fragen, u. a. zu Behinderungen und Religion, vom EU-Parlament 2007 zurückgewiesen wurde, kam die Verordnung 2008 mit einem abgespeckten Fragekatalog, u. a. keine Fragen zur Religion mehr, durch. In dieser Verordnung werden auch die Registererhebung und ergänzende Stichprobenumfragen postuliert.

In Deutschland gab es zur Volkszählung 2011 massive Proteste und eine Sammelklage beim Verfassungsgerichtshof, welche aber abgewiesen wurde. Kritisiert wurden vor allem die umfassende Erhebung aus allen verfügbaren Registen, z. B. auch von Arbeitsämtern, die fehlende resp. ungenügende Anonymisierung (Datensätze können noch für 4 Jahre einer bestimmten Person zugeordnet werden) und die Frage nach der Religion. Die letzte Frage wurde allerdings aufgrund der Kritik im Zensus 2011 als freiwillig deklariert.

Im Vergleich zu Deutschland werden in der Schweiz nur Daten aus Sammlungen, welche in Art. 2 des Registerharmonisierungsgesetzes aufgeführt sind, sowie dem eidgenössischen Wohnungs- und Gebäuderegister erhoben. Daten der Arbeitslosenkassen und Sozialämter fliessen nicht in die Registererhebung ein.

Nach der Erfassung werden alle Fragebogen vernichtet und die Daten so anonymisiert, dass ab sofort kein Rückschluss von einem Datensatz auf die entsprechende Person mehr möglich ist.

Die Frage nach der Religion stützt sich auf Art. 1 Abs. 2 lit. g des Bundesgesetzes über die eidgenössische Volkszählung. Trotz der gesetzlichen Grundlage setzt grundrechte.ch hier ein Fragezeichen. Aktuell gibt es weltweit schwelende und akute Religionskonflikte, welche auch zu Flüchtlingsströmen führen. Die Unlust, die Religion bekannt zu geben, ist nachvollziehbar. Auf der anderen Seite entsteht aus der Kenntnis der Religion kein zwingender Nutzen, weil der Staat nicht für die Bereitstellung der notwendigen Infrastruktur verantwortlich ist, im Gegensatz etwa zu Verkehrswegen.

Die Frage nach der Religion kann nach Ansicht von grundrechte.ch aus obigen Gründen offen gelassen werden. Mitglieder von Landeskirchen dürften aber bereits in den Einwohnerregistern vermerkt sein und ohnehin durch die Registererhebung erfasst werden. Gemäss Art. 15 der Verordnung über die eidgenössische Volkszählung kann gemahnt und mit einer Gebühr belegt werden, wer die Auskunftspflicht verletzt.

* Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Juli 2008 über Volks- und Wohnungszählungen
http://grundrechte.ch/2011/Verordnung_EU_2008.pdf
* Bürgerrechtler klagen gegen Volkszählung
http://grundrechte.ch/2011/Gegen_Zensus.pdf
* Registerharmonisierungsgesetz
http://grundrechte.ch/2011/Registerharmonisierungsgesetz.pdf
* Bundesgesetz über die eidgenössische Volkszählung
http://grundrechte.ch/2011/Volkszaehlungsgesetz.pdf
* Verordnung über die eidgenössische Volkszählung
http://grundrechte.ch/2011/Volkszaehlungsverordnung.pdf

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grundrechte.ch 8.1.11

Polizei schnüffelt in Hotels

8. Januar 2011

Im Kanton Zürich werden Hotelgäste systematisch mit Ripol und SIS überprüft

Im Kanton Zürich sammelt die Polizei in allen Hotels täglich die Daten der Gäste ein und überprüft sie mit den Fahndungssystemen Ripol und SIS. Anschliessend werden die Gästedaten aufbewahrt und stehen den Ermittlern während zehn Jahren für Recherchen zur Aufklärung von Delikten oder für die Eruierung von vermissten Personen zur Verfügung.

Laut Bruno Baeriswyl, dem kantonalen Datenschutzbeauftragten, werfen diese polizeilichen Überprüfungen rechtliche Probleme auf. Denn: Etwa 50 Prozent der Gästedaten werden heute nach Angaben der Kantonspolizei nicht mehr in Papierform erfasst, sondern auf elektronischem Weg übermittelt. Bei der Polizei werden die Daten sodann automatisch mit den Fahndungssystemen abgeglichen, was einer systematischen Überprüfung gleichkommt.

Anders in Basel: Seit dem 1. Januar 2011 müssen die Hoteliers nicht mehr automatisch die Identität ihrer Hotelgäste an die Polizei weiterleiten. Mit der provisorischen Aufhebung dieser Praxis reagiert die Basler Kantonspolizei auf eine Beanstandung des kantonalen Datenschutzbeauftragten. "Wir haben festgestellt, dass eine automatisierte Kontrolle im Schengener Durchführungsabkommen nicht vorgesehen ist".

In vielen Kantonen, so in Bern, Solothurn und Aargau, werden Daten von Hotelgästen schon länger nicht mehr systematisch gespeichert.

* Wie die Polizei in Hotels auf Verbrecherjagd geht
http://grundrechte.ch/2011/Tagi_07012011.pdf
* Polizei hat in Hotels ausgeschnüffelt
http://grundrechte.ch/2011/BZ_08012011.pdf

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BIG BROTHER SPORT
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NLZ 13.1.11

"Echte Fans randalieren nicht"

 Sachseln

Primus Camenzind

 Gewalt an Fussballspielen ist Realität. Der Sachsler FCL-Fan Peter Spichtig kennt die Schuldigen.

 Primus Camenzind

 primus.camenzind@obwaldnerzeitung.ch

 Sein Fussballerherz schlug schon immer blau-weiss. Lange noch bevor Peter Spichtig vor neun Jahren Präsident des FCL-Fanclubs Pilatusblick wurde, pilgerte er auf die Allmend an die Heimspiele des FC Luzern. "Heute habe ich im Umfeld des FCL und seiner nahezu zehn Fanclubs viele Kontakte. Ich spüre durch mein Engagement in diesen Kreisen Anerkennung", sagt der 44-jährige SP-Kantonsrat aus Sachseln, "und das kann meiner Fanarbeit nicht schaden", meint er.

 Bereits Fortschritte erzielt

 "Ein leidiges Thema", erklärt Peter Spichtig, wenn er an die steigenden Kosten für die Sicherheit an publikumsträchtigen Fussballspielen denkt (siehe Kasten). Er gehört seit bald drei Jahren dem Vorstand der Fanarbeit Luzern an und ist damit zusammen mit Vertretern der Stadt, des Kantons, der Polizei und des FC Luzern für die strategische Führung der Fanarbeit verantwortlich. "Ich bin allerdings überzeugt, dass wir in den letzten beiden Jahren zusammen mit zwei professionellen Fanarbeitern in präventiver Hinsicht bereits erfreuliche Fortschritte erzielt haben und auch weiterhin erzielen werden." Spichtig, hauptberuflich Gewerkschaftssekretär, setzt nicht ausschliesslich auf Prävention. "Sie kann Repression nicht vollständig ersetzen, und da sie zugleich einen Sensibilisierungsprozess beinhaltet, zeigt sie ihre Wirkung nicht von heute auf morgen", räumt er ein.

 Wenn die Öffentlichkeit - "und damit meine ich auch die Presse" - immer wieder von "randalierenden Fans" spreche, sei das ein Widerspruch in sich. "Echte Fans - und das ist die überwältigende Mehrheit der Menschen in den Stadien - randalieren nicht", bekräftigt Peter Spichtig.

 Mangelnde Werte

 Der Vater zweier ebenfalls fussballspielenden Buben wehrt sich ausserdem dagegen, dass für grundlegende gesellschaftliche Probleme und deren Auswirkungen der Fussball allein verantwortlich sein soll. "Schauen Sie doch, wohin sich zum Teil Anstand, Respekt und menschlicher Umgang in Politik, Wirtschaft und der Medienwelt entwickelt haben. Man darf sich deshalb nicht wundern, dass junge Menschen mangels Vorbilder und echter Werte den Fussball als Ventil brauchen und da Energie ablassen."

 Fanarbeit hat sich etabliert

 Verstärkte Polizeiaufgebote und durchdachte Sicherheitskonzepte seien nur ein Teil der Sicherheit an Fussballspielen. "Fanarbeit erfordert Zivilcourage und eine konsequente persönliche Grundhaltung", betont Spichtig. Besonders bei Spielen mit erhöhtem Sicherheitsrisiko sei der frühzeitige Dialog zwischen der Polizei und den professionellen Fanarbeitern notwendig. "So kann viel Gewaltpotenzial im Ansatz erkannt und ohne übermässige Polizeieinsätze in Grenzen gehalten werden."

 Fanarbeit sei in Luzern und anderswo noch vor wenigen Jahren belächelt worden, erzählt Peter Spichtig. "Inzwischen sind Vorurteile gegenüber dem, was wir tun, weitgehend verschwunden." Spichtig hält fest, dass in der Schweiz professionelle Fanarbeit nur in den Fussballclubs von Basel, Bern, Luzern und St. Gallen geleistet werde. Für Spichtig ist zudem wesentlich, wie es um die gegenseitige Wertschätzung zwischen Fans und Club steht. Der echte Fan halte schliesslich zu seinem Club, er unterstütze diesen unabhängig von Tabellensituation und Wetterbedingungen am Spieltag. Die Tatsache, dass Fans im Stadion leidenschaftlich und deshalb hin und wieder wenig objektiv sind, was den Spielverlauf betrifft, findet Peter Spichtig - solange sie sich friedlich verhalten - nicht störend. "Das gehört zum Fussball."

 Chaoten hätten im Fanclub Pilatusblick und in den anderen Luzerner Fanclubs nichts zu suchen, bekräftigt er. "Ich persönlich toleriere keine primitiven Fluchtiraden oder Schmährufe. Da kann ich im Fansektor links und rechts von mir schon mal klar und bestimmt werden."

 Erinnerung an den Petardenwurf

 Immer wieder macht Peter Spichtig im Gespräch mit FCL-Anhängern deutlich, dass der Einsatz von Feuerwerk, Wurfgeschossen, Knallkörper nicht zu einem Fussballspiel gehört. Er ist sich allerdings bewusst, dass solche Aktionen trotz Polizeieinsatz und Fanarbeit auch in Zukunft nicht völlig zu unterbinden sein werden.

 "Als eindrückliches Beispiel dient mir der Petardenwurf im Barrage-Spiel Luzern - Lugano vom 13. Juni 2009." Ein "hirnamputierter" Chaot, so Spichtig, habe damals fast erreicht, dass der Schiedsrichter das Spiel abgebrochen, damit Luzern in die Challenge League verbannt und 13 000 Fans ins Elend gestürzt habe. Peter Spichtig: "Der getroffene Linienrichter leidet übrigens noch heute und wahrscheinlich sein Leben lang an Tinnitus (Störung der Nervenzellen des Gehörs)."

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 Polizeieinsätze verteuern sich

 Fussball cam. "Ausserhalb des Fussballstadions hat die Polizei das Gewaltmonopol", stellt Peter Spichtig fest. Trotzdem setzt er sich für Polizeiaufgebote ein, die "der Situation angepasst" sind. Die Polizei soll keinesfalls Gewalt provozieren, unterstreicht der Sachsler. Wie auch immer, der entsprechende Aufwand für die Zukunft ist inzwischen definiert. Der FC Luzern wird sich stärker an den Kosten der Polizeieinsätze für seine Heimspiele beteiligen müssen. Darauf haben sich der Club, die Polizei und die Stadt Luzern geeinigt.

 FCL zahlt mehr

 Die neue Vereinbarung sieht vor, dass für ein Spiel maximal 24 Polizisten als Service public unentgeltlich zur Verfügung gestellt werden. Für zusätzliches Personal hat der FC Luzern ab 2011 für 18 Meisterschafts-Heimspiele pauschal 570 000 Franken zu bezahlen. Die bisherige Beteiligung an den Polizeikosten lag bei 240 000 Franken.

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SQUAT ZH
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20 Minuten 17.1.11

Hausbesetzung dauert weiter an

 ZÜRICH. Die Gebäude an der Neufrankengasse 16 waren auch gestern noch besetzt. Die Architektin Vera Gloor sagt auf Anfrage, der Wirt des einstigen Tessinerkellers habe noch bis spätestens Ende Januar Zeit, seine Lokalitäten zu räumen. "Sobald er damit fertig ist, wird abgerissen", so Gloor. "Wenn die Besetzer dann noch dort sind, muss ich die polizeiliche Räumung veranlassen." Noch diesen Frühling will Gloor die Bewilligung für einen Neubau mit "bezahlbarem Wohnraum" beantragen. Entstehen sollen 22 Wohnungen, deren Mietzins laut Gloor zwischen 1000 und 1200 Franken betragen wird.

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Tagesanzeiger 15.1.11

Ein Bett am Gleisfeld - Aktivisten besetzen den Tessinerkeller

 Die Architektin will das Gebäude rasch abbrechen: Der Platz wird gebraucht.

 Von Mario Stäuble

 Zürich - Vera Gloor ist erstaunt: Die Architektin kommt gerade von einer Besprechung mit den Hausbesetzern zurück, die sich in der Liegenschaft Neufrankengasse 16 im Kreis 4 einquartiert haben. Gloor plant dort - am Standort des ehemaligen Restaurants Tessinerkeller - einen Neubau. "Die Besetzer haben das Gebäude gewissermassen auf Vorrat in Beschlag genommen", sagt sie. Sie seien einfach eingezogen, ohne sich vorher darüber zu informieren, was an der Neufrankengasse gebaut werden solle. Sie hätten sich von falschen Tatsachen leiten lassen.

 Die Besetzer protestieren gemäss einem am Donnerstag veröffentlichten Communiqué gegen "Abriss auf Vorrat, Abriss für Parkplätze, Abriss für teuren Wohnraum." Laut Gloor gehe es beim geplanten Gebäude jedoch nicht darum, Wohnraum "für die Reichen" zu schaffen. Vielmehr seien pro Etage fünf Kleinwohnungen mit je einer Gemeinschaftsküche vorgesehen - sogenannte Clusterwohnungen. Die Mietzinse würden "moderat" ausfallen.

 Ungünstiger Zeitpunkt

 Am Donnerstagabend sei sie noch am Ort gewesen, um die weitere Planung zu besprechen, sagt Gloor weiter. Nur eine Stunde nachdem sie das Areal verlassen habe, sei die Nachricht gekommen, dass die Liegenschaft besetzt sei. "In Zürich muss man bei einem leer stehenden Haus immer damit rechnen, dass es besetzt wird, aber der Zeitpunkt ist jetzt wirklich sehr ungünstig." Gloor hat die Abbruchbewilligung bereits in der Tasche. Zwar soll nicht sofort mit dem Neubau begonnen werden, aber die SBB benötigen die Parzelle als Bauplatz für ihr eigenes Projekt an der Neufrankengasse. Direkt an den Gleisen wollen sie bis 2012 ein Gebäude mit 28 Wohnungen errichten lassen.

 Möglicherweise ist die Besetzung nur von kurzer Dauer: Einer der Hausbesetzer wollte gestern gegenüber dem TA zum Treffen mit Gloor zwar keine Stellung nehmen, sagte aber: "Wir werden die Sache heute Abend besprechen, wenn alle wieder beisammen sind. Im Moment ist vieles unklar. Vielleicht sind wir schon bald wieder weg."

 Die Hausbesetzer greifen Gloor zudem auf persönlicher Ebene an. Von den Bahngleisen her gut sichtbar hängt ein Banner mit dem Schriftzug "Zugloorreich" am Schutzzaun. Einerseits eine Spitze gegen die Architektin, andererseits auch eine Hommage an den legendären "Zureich"-Schriftzug, der einst auf der anderen Seite des Gleisfelds prangte (siehe Box). Gloor nimmt die Stichelei gelassen: "Ja, ich habe am Zaun etwas gesehen. Das werden wir wohl abhängen müssen." Die SBB stört das Plakat nicht weiter: "Offenbar sind die SBB eine starke Marke", stellt Mediensprecher Daniele Pallecchi fest. Vorerst werde man nichts unternehmen.

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 Wohlgroth-Besetzung

 Wortspiele haben Tradition

 Das Spiel mit der verfälschten Bahnhoftafel ist nicht neu: Schon in den frühen Neunzigerjahren malten die damaligen Besetzer des Wohlgroth-Areals den Schriftzug "Zureich" prominent an eine Fabrikwand - komplett mit SBB-Logo, gut sichtbar vom Gleisfeld aus. Eigentlich hatte die Oerlikon-Bührle Immobilien AG auf dem Gelände der Wohlgroth AG eine grosse Überbauung mit Büros und Wohnungen geplant. Weil der Neubau politisch umstritten war, liess die Abbruchbewilligung jedoch auf sich warten. Eine Gruppe von Aktivisten sah ihre Chance und besetzte die Liegenschaft im Mai 1991. Zeitweise wohnten über 100 Personen in der Fabrik und den nebenstehenden Häusern. Auch ein Kino, ein Konzertlokal, eine Bar und einen Bewegungsraum gab es. Im November 1993 fand die Besetzung ein abruptes Ende: Die Polizei räumte das Gelände in einem Grosseinsatz -unterstützt von Anti-Terror-Einheiten und einem Hubschrauber.(ms)

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tagesanzeiger.ch 13.1.11

Ehemalige Bombay-Bar im Kreis 4 besetzt

jak

Besetzer belagern die ehemalige Bombay-Bar an der Neufrankengasse. Sie wehren sich gegen den Abriss des Gebäudes.

 Die Stadtpolizei Zürich hat gegenüber "Radio 24" die Besetzung der ehemaligen Bombay-Bar bestätigt. Ob der Liegenschaftsbesitzer das Gebäude räumen lasse, sei noch unklar. Wie die Besetzer in einer Mitteilung schreiben, wehren sie sich gegen den Abriss des Gebäudes an der Neufrankengasse.

 Die ehemalige Bombay-Bar soll noch im Januar zusammen mit dem Tessinerkeller abgerissen werden. Für die nächsten zwei Jahre soll der freiwerdende Platz der SBB als Baustellenzubringer dienen. Danach soll ein Mehrfamilienhaus entstehen.

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SQUAT BS
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Basler Zeitung 17.1.11

Besetztes Haus freiwillig geräumt

 Allschwil. Am Freitagabend um 22.30 Uhr hat eine Gruppe Jugendlicher eine Liegenschaft an der Baslerstrasse 159 besetzt. Die Besetzer konnten am Samstagmorgen aber durch die Polizei dazu bewegt werden, das Haus freiwillig wieder zu verlassen, wie die Baselbieter Polizei mitteilt. Die Hausbesitzerin verzichtet auf die Stellung eines Strafantrags. Das Gebäude sei besetzt worden, weil es seit Jahren leer stehe, teilten die Besetzer nach der erfolglosen Aktion mit.

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20 Minuten 17.1.11

Haus in Allschwil kurzzeitig besetzt

 ALLSCHWIL. Eine Gruppe von Hausbesetzern wollte am Freitagabend ein leer stehendes Haus an der Baslerstrasse 159 besetzen. Auf Veranlassung des Besitzers wurde die Polizei aufgeboten, die die Besetzer aufforderte, das Haus zu verlassen. Die Gruppe aus der linksautonomen Szene leistete der Aufforderung sogleich Folge. "Sonst hätten wir das Haus geräumt", sagt Polizeisprecher Rolf Wirz. Im Dezember letzten Jahres hatte die gleiche Gruppe die Villa Wettstein in Basel besetzt, bis die Polizei aufgeboten wurde. In einem Communiqué verurteilen sie die Praxis der Behörden, "die Nutzung von leer stehenden Räumlichkeiten um jeden Preis zu verhindern".  lha

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Sonntag 16.1.11

Hausbesetzung dauerte nur kurz an

 Nur für kurze Zeit ist am Freitagabend ein Haus an der Baslerstrasse in Allschwil besetzt worden. Die Polizei habe die jugendlichen Besetzer am Samstagmorgen dazu bewegen können, die Liegenschaft freiwillig wieder zu verlassen. Die Hausbesitzerin verzichte daher auf eine Strafanzeige. Das Haus sei besetzt worden, weil es bereits seit langem leer stehe, teilten die Besetzer gestern mit. Seit Jahren würden Freiräume verschwinden und stattdessen Büroflächen und Luxuswohnungen entstehen. Es fehle in der Region an bezahlbarem Wohn- und Freiraum. (bz)

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Indymedia 15.1.11

Baslerstrasse 159 in Allschwil erfolglos besetzt ::

AutorIn : BesetzerInnen: http://www.baslerstrasse.ch.vu     

Bitte entschuldigt, dass es so lange gedauert hat. Wir konnten uns nach der Wettsteinvilla einfach nicht auf das nächste Haus einigen, es gibt zuviele ungenutzte Räumlichkeiten. Doch wir hatten uns entschieden:

Wir besetzten die Baslerstrasse 159 in Allschwil.     
    
Das Gebäude steht bereits seit langem leer. Im Jahr 2007 gab es den letzten Besetzungsversuch. Seither hat sich mit dem Haus nichts getan - wunderbarer Wohnraum steht jahrelang ungenutzt da, wer ihn nutzen will, wird mit Polizeigewalt verjagt.

Wir wiederholen uns:
Seit Jahren verschwinden Freiräume und stattdessen schiessen Büroflächen und luxuriöse und individualisierte Wohnüberbauungen für die erwünschten "neuen Steuerzahler" und zugunsten der "sozialen Stadtaufwertung" aus dem Boden. Während 80 000 m2 Büroflächen leerstehen, fehlt es in der Region an bezahlbarem Wohnraum und selbstbestimmtem Freiraum für Jung und Alt.

Aus diesen Gründen nahmen wir uns das Haus an der Baslerstrasse 159. Wir wollten die Räume mit unseren Ideen füllen, einen Raum für die Entstehung einer autonomen Schule, einen Ort für Diskussionen, Film, Konzerte, selbstbestimmten Wohnraum und Platz für "Niedrigkultur".

Wir verurteilen die Praxis der Behörden, die Nutzung von leerstehenden Räumlichkeiten um jeden Preis zu verhindern.


Die (ehemaligen) BewohnerInnen der Baslerstrasse 159

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Basellandschaftliche Zeitung 14.1.11

 Der Villa Rosenau droht die Räumung

 Hausbesetzung Der Stadtkanton will die Parzelle der Villa Rosenau vom Bund zurückkaufen

Yen Duong

 Die Tage der seit rund sieben Jahren besetzten Villa Rosenau sind wohl gezählt. Das Basler Bau- und Verkehrsdepartement (BVD) will die insgesamt 4300 Quadratmeter grosse Parzelle an der Neudorfstrasse im St. Johann definitiv vom Bund zurückkaufen. "Wir möchten Grund und Boden im Laufe dieses Jahres übernehmen. Es handelt sich immerhin um eine wertvolle Parzelle, die bestens erschlossen ist und sich in der Nähe des Flughafens befindet", bestätigt Roger Reinauer, Leiter des Tiefbauamts.

 Grund für die beabsichtigte Einkaufstour ist eine Aufforderung des Bundesamts für Strassen (Astra) vom letzten Herbst: Der Kanton wird gebeten, die Anteile des Bundes an der Parzelle zurückzuerwerben. Die ehemalige Bauleitungsbaracke und heutige Villa Rosenau sowie das Land in der Industrie- und Gewerbezone gehören zu 65 Prozent dem Astra (die bz berichtete). Die Parzelle wurde anno 1993 im Zuge des Baus der Nordtangente von der Einwohnergemeinde abgekauft. Da die Nordtangente inzwischen fertig gebaut ist, kann das Astra mit dem Boden nichts mehr anfangen - der Kanton indes schon.

 Nicht sofort raus

 "Falls der Regierungsrat sich dazu entschliesst, den Bund abzufinden, könnte der Boden von der Verwaltung oder vom Gewerbe genutzt werden", meint Reinauer. Es ist laut dem Kantonsingenieur unwahrscheinlich, dass die Parzelle bei einem Rückkauf längerfristig den Besetzern überlassen wird - am Schluss muss allerdings die Politik entscheiden. Die Höhe des Kaufpreises möchte Reinauer nicht genau nennen - er beläuft sich aber voraussichtlich auf eine "einstellige Millionenhöhe". Ziel sei es, der Regierung im Frühjahr einen Bericht für den Rückkauf vorzulegen. "Dar- aus ergibt sich aber nicht, dass die Besetzer dann sofort raus müssen. Bis ein Projekt für die Parzelle entwickelt werden kann, dauert es mindestens zwei Jahre - vorab geschieht also gar nichts", sagt Reinauer weiter.

 In den letzten Jahren versuchte das BVD mehrmals, die Villa Rosenau zu räumen. Da der Boden grösstenteils dem Bund gehörte und sich keine Neunutzung abzeichnete, kam es allerdings nie so weit. Dies sehr zum Ärger der SVP - die Linken hingegen möchten die Villa Rosenau stehen lassen.

 Besetzung geniesst Sympathien

 Die Hausbesetzer leben seit September 2004 gratis im Gebäude. Sie zahlen lediglich für das Wasser, Strom und die Nutzung des Grundstückes. Wie viel, ist unklar. Zuletzt sorgte das einstige Sozialwohnungsgebäude für Schlagzeilen, als Linksautonome an einem Konzert den Basler Stadtentwickler Thomas Kessler angriffen.

 Die Hausbesetzer werden zudem verdächtigt, für die beiden Saubannerzüge vom letzten Mai in der Innenstadt verantwortlich zu sein. Trotzdem: Bei vielen Baslern geniesst die Villa Rosenau Sympathien. Bei einer Räumung der Villa ist der Aufschrei programmiert.

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RANDSTAND
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Landbote 17.1.11

Zwischen Medizin und Sozialhilfe

 Claudia Mäder

 Zürich. Das Ambulatorium Kanonengasse im Zürcher Kreis 4 bietet randständigen Personen medizinische Versorgung - aber nicht nur: Auch sozialarbeiterische Mittel gehören zur gesamtheitlichen Behandlungsmethode dieser städtischen Einrichtung.

 Mitten in der Stadt kümmert sich eine Stelle um die Gesundheit jener Leute, die an den Rändern der Gesellschaft leben: Auf zwei Stöcken ist im Zeughaus ein Ambulatorium eingerichtet, das als Walk-in-Praxis für Menschen konzipiert ist, denen der Weg zum "normalen" Arzt durch verschiedenste Hindernisse verstellt ist.

 Hervorgegangen aus dem "Krankenzimmer für Obdachlose", das 1986 zur medizinischen Versorgung von Drogenabhängigen eröffnet worden war, wird das Ambulatorium zwar noch immer stark von Süchtigen frequentiert. Grundsätzlich, sagt Bruno Flura von den medizinisch-sozialen Diensten, seien heute aber weniger die Drogen als die Tendenz zu sozialer Verelendung und Vereinsamung der gemeinsame Nenner der Patienten: "Es sind die ‹klassischen Gassenleute›, die durchs Hörensagen oder vermittelt über Sozialstellen hierherfinden, wo jeder Anrecht auf ein Arztgespräch hat."

 Behandelt werden von den Ärzten an der Kanonengasse folglich nicht nur Leiden, die sich aus Suchterkrankungen ergeben, sondern auch allerlei normale Hausarztfälle. "Wir leisten die Grundversorgung und nehmen kleinere chirurgische Eingriffe vor", sagt Ulrich Erlinger, Vizedirektor des Stadtärztlichen Diensts, der die Ärzte des Ambulatoriums stellt.

 Auch psychische Probleme

 Die Praxis im Zeughaus konkurrenziere aber nicht mit den Hausärzten, erklärt Flura. Vielmehr versorge es Menschen, deren Behandlung anderswo als unrentabel gelte, oder denen eine Unfähigkeit zur Kooperation normale Arztbesuche verunmögliche. Viele der Randständigen seien nicht in der Lage, vereinbarte Arzttermine einzuhalten; und manche scheitern bereits am Betreten eines Behandlungsraums: Er sei schon mit Lampe und Abstrichmaterial in den Innenhof gegangen, um in den Hals eines Patienten zu blicken, der ausserstande war, ins Haus reinzukommen, berichtet Erlinger und fügt an: "Die meisten, die das Ambulatorium fürs Körperliche aufsuchen, haben auch ein gröberes psychisches Problem."

 Weil sich die Fälle hier häufig als vielschichtige Problemkomplexe entpuppen, ist die Verabreichung von Medizin im Ambulatorium nur ein Teil einer umfassenderen Behandlung: "Wir haben einen sozial-medizinischen Auftrag und versuchen deshalb, Gesamtpakete zu schnüren", sagt Flura, der sich im Betrieb um das Case Management kümmert. Für Leute, die ihre verworrenen finanziellen, sozialen und gesundheitlichen Probleme nicht mehr entflechten können, wird hier nach Lösungen gesucht, wobei der Fokus auf Fragen des Krankenversicherungsschutzes liegt.

 Rund die Hälfte aller Erstpatienten haben laut Flura Probleme mit der Krankenkasse. Für diese gleist er in Zusammenarbeit mit den Sozialämtern alles Nötige auf, um den Versicherungsschutz wiederherzustellen und die Patienten sozial möglichst so weit zu integrieren, dass sie letztlich fit fürs normale Gesundheitssystem werden: "Unser Ziel wäre es, die Leute irgendwann in die medizinische Regelversorgung entlassen zu können."

 Gynäkologie und mehr

 Medizinfälle zur sozialhelferischen Weiterbearbeitung erhält Flura auch aus dem zweiten Stock des Ambulatoriums, wo eine gynäkologische Sprechstunde eingerichtet ist, die nebst frauenärztlichen Diensten von Juckreizbehandlungen bis zu Schwangerschaftsabbrüchen auch Aufklärungs- und Beratungsgespräche anbietet. Prostituierte und Sexworkerinnen machen hier das Gros der Patientinnen aus - und weil die gynäkologischen Behandlungen wenn gewünscht anonym bezogen und bar bezahlt werden können, ist die Schwelle zur Ärztin hier auch für illegale und papierlose Frauen niedriger als anderswo.

 Aus rund 60 Ländern stammen die Patientinnen. Doch sprachliche Schwierigkeiten hinderten sie nicht daran, sexuelle Themen und Risiken klar und deutlich anzusprechen, sagt Grazia Aurora, die als Pflegefachfrau bei Gesprächen zwischen Patientin und Ärztin als Dolmetscherin fungiert. "Mit den gängigen Sprachen kommen wir sehr weit, und für Exotischeres, etwa Ungarisch oder Thai, können wir Übersetzerinnen von anderen Frauenstellen beiziehen."

 Ohnehin ist die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen wichtiger Bestandteil von Auroras Arbeit. Die Vernetzung mit einer Einrichtung am Sihlquai nutzt sie beispielsweise, um die Prostituierten vor Ort aufzuklären und auf das Angebot im Zeughaus hinzuweisen. Und trifft sie dort auf Frauen, die sich vor dem Gang zur Ärztin fürchten, begleitet sie diese persönlich zur Praxis oder wenn nötig bis ins Spital. - Auch im Frauentrakt des Ambulatoriums geht die Behandlung weit über die medizinische Therapie hinaus.

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 9114 BEHANDLUNGEN AN 365 TAGEN

 Das Ambulatorium Kanonengasse gehört als medizinisch-soziale Einrichtung den städtischen Gesundheitsdiensten an und operiert mit einem jährlichen Budget von rund 3,5 Millionen. Die Praxis kann ohne Voranmeldung an 365 Tagen aufgesucht werden. Auf diese Weise sind 2009 1190 Patienten mit insgesamt 9114 Be handlungen versorgt worden. Steigend ist die Nachfrage speziell beim gynäkologischen Dienst, der 1560 Behandlungen verzeichnete. (cm)

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AUFSTAND
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Radio Corax (Halle) 15.1.11

"Der kommende Aufstand” - Gespräch mit Daniel Kulla

Vor über drei Jahren erschien in Frankreich ein knapp 100 Seiten langer Text: "Der kommende Aufstand". Als Autorengruppe tritt dabei ein Kollektiv auf, das zusammen mit dem Text recht bald Gegenstand medialen Interesses und staatlichen Zugriffs wurde: Die mutmaßlichen Autoren wurden in Anwendung von Anti-Terror-Gesetzgebung von Spezialeinheiten verhaftet und sahen sich Drohungen von mehr als zehn Jahren Haft gegenüber. Bald griff auch der US-amerikanische Fernsehagitator Glenn Beck das Büchlein auf und präsentierte es seinem Publikum als avantgardistisches Beispiel einer aufständischen Gewaltwelle, die sich international seit einiger Zeit sammeln würde.
Mittlerweile ist der Text auch hierzulande zugänglich und wird diskutiert. Radio Corax sprach mit Daniel Kulla über Inhalt und Rezeption des Manifests.
http://www.freie-radios.net/mp3/20110115-derkommend-38463.mp3
http://www.freie-radios.net/portal/streaming.php?id=38463

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WoZ 13.1.11

"Der kommende Aufstand"

 Revolte ist noch kein Programm

 Zehn Jahre nach den Protesten in Davos und Genua wird ein anonymes französisches Buch heiss diskutiert. Könnte es als Anleitung für eine neue Bewegung dienen?

 Von Bettina Dyttrich

 Vor zehn Jahren war das Wort "Wutbürger" noch nicht erfunden. Aber Wut war genug da in jenem Januar, als die Polizei vor dem World Economic Forum (Wef) Davos abriegelte. Einheimische mussten stundenlang warten, NGO-VertreterInnen wurden durchsucht, sogar einige Wef-TeilnehmerInnen blieben stecken. Die DemonstrantInnen, die aus dem Burgund und der Toskana, aus Hamburg und Wien angereist waren, kamen sowieso nicht durch. Zur Demo in Davos schafften es nur einige gut verkleidete SkifahrerInnen. Der Rest blockierte in Landquart die Autobahn, anschliessend gab es Krawalle in Zürich. Dafür hatte sogar die Boulevardpresse ein gewisses Verständnis: Der "Blick" schrieb von "Polizeiputsch".

 Nach den konsumfixierten neunziger Jahren schien es um die Jahrtausendwende plötzlich wieder möglich, über Politik zu sprechen. Über globale Gerechtigkeit zum Beispiel. Vielleicht, so die Hoffnung, liesse sich die Globalisierung der Wirtschaft mit einer Globalisierung des Widerstands bekämpfen.

 Karawanen quer durch Europa

 Und heute? In Italien demonstrieren sie gegen Silvio Berlusconi, in Britannien gegen Bildungsabbau, in Deutschland gegen ein überdimensioniertes Bahnhofsprojekt, in Griechenland gegen alles. Nur in der Schweiz ist es ruhig, aber sie ist schliesslich auch, wie der Philosophieprofessor Oliver Marchart kürzlich zu "Tages-Anzeiger/Newsnetz" sagte, "mit den neoliberalen Veränderungen lange Jahre sehr gut gefahren". Es ist eine Ironie der Geschichte: Heute ist zwar alles noch ein bisschen globalisierter als vor zehn Jahren, die griechischen Renten hängen von Deutschland und die deutsche Konjunktur von China ab - aber die Proteste sind wieder national geworden. Was wohl einfach daran liegt, dass es überall so viel gibt, wogegen man sich wehren muss.

 Was zurzeit von Protest zu Protest reist, sind nicht Menschen, sondern ein Buch: "L'insurrection qui vient", 2007 anonym in Frankreich veröffentlicht, via Internet international verbreitet. Geschrieben wurde es also noch vor der Finanzkrise. Berühmt ist das Buch geworden, weil die französische Regierung es mit Sabotageakten an TGV-Linien in Verbindung brachte und darum vor zwei Jahren neun Personen verhaften liess. Der als Autor verdächtigte Julien Coupat blieb mehr als ein halbes Jahr in Haft (siehe "40 Exemplare Aufstand", WOZ Nr. 8/09). Vergangenen Herbst erschien "Der kommende Aufstand" in der Hamburger Edition Nautilus auf Deutsch und löste heftige Diskussionen in deutschen Feuilletons aus.

 Ein halbes Jahr nach dem "Polizeiputsch" von Davos durchquerten unzählige Velo-, Bus- und Eisenbahnkarawanen Europa, um in Genua gegen den G8-Gipfel zu protestieren. Es waren lange Abenteuerreisen, in deren Verlauf sogar Häuser als Zwischenstützpunkte besetzt wurden. 300 000 Menschen kamen nach Genua. Die Demonstrationen und Blockadeversuche dauerten drei Tage. Polizisten verletzten viele DemonstrantInnen schwer und quälten Verhaftete im Gefängnis Bolzaneto. Während einer Strassenschlacht erschoss ein Carabiniere den jungen Aktivisten Carlo Giuliani.

 "Die Gegenwart ist ausweglos"

 Das "unsichtbare Komitee" wird auch dabei gewesen sein. Die anonymen Autoren beziehen sich zwar stärker auf die Unruhen in den französischen Banlieues von 2005. Es ist aber unwahrscheinlich, dass sie selber daran beteiligt waren. Das Buch ist ebenso sehr ein Echo auf die Antiglobalisierungsbewegung.

 "Unter welchem Blickwinkel man sie auch betrachtet, die Gegenwart ist ausweglos." "Der kommende Aufstand" beginnt mit einer düsteren Beschreibung des heutigen Alltags in Frankreich. "Bis dahin hab ichs im Griff. Die Selbstsuche, meinen Blog, meine Wohnung, den neusten Schwachsinn, der gerade Mode ist, die Paar-, die Sexgeschichten   … was man an Prothesen braucht, um ein Ich aufrechtzuerhalten!" - "Die Arbeit hat restlos über alle anderen Arten zu existieren triumphiert, genau in der Zeit, als die Arbeiter überflüssig geworden sind." Der Staat ist vor allem präsent in Klatschgeschichten über seine "Eliten". Und in der Polizei. Der Raum ist zu einer riesigen Agglomeration geworden, aber "gerade weil ihr Verschwinden sich vollendet, wird die Stadt jetzt als Geschichte fetischisiert."

 Es ist ein radikal subjektiver Text, und manchmal trifft diese Subjektivität den Punkt: "Man hat unsere Väter angestellt, um diese Welt zu zerstören, jetzt will man uns an ihrem Wiederaufbau arbeiten lassen, und dass dieser dazu noch rentabel sei." - "Um die Uniformität der Umgebung zu überleben, ist die einzige Option, sich unaufhörlich seine innere Welt zu rekonstruieren wie ein Kind, das überall die gleiche Hütte wieder aufbauen würde." Empfindsam und verloren wirken sie, wie manche FlugblattautorInnen der Achtzigerbewegung in Zürich: "Das soziale Verhalten besteht jetzt aus tausend kleinen Nischen", wo man "damit beschäftigt ist, zusammen zu zittern".

 Aber Subjektivität wird auch schnell entlarvend. Zum Beispiel dort, wo die Autoren eine halbe Seite lang aufzählen, wer "den Westen" repräsentiere: vom GI im Irak über den verirrten Touristen in der Mongolei bis zum "Spanier, dem die politische Freiheit scheissegal ist, seitdem man ihm die sexuelle Freiheit versprochen hat". Alle Erwähnten sind männlich, haben entweder einen Beruf oder eine Nationalität - bis auf "die junge Frau, die ihr Glück in Klamotten, Typen und Feuchtigkeitscremes sucht". Nur ein Detail?

 Richtig problematisch wird es dort, wo es um den Aufstand geht. Die poetische Sprache ist sehr hilfreich, um Widersprüche zu verstecken: Sie lehnen alle Organisationen ab - "Das Versprechen, das in der Begegnung enthalten ist, wird sich nur ausserhalb der Organisation und notwendigerweise gegen sie verwirklichen können" -, aber schwärmen davon, wie gut organisiert die Selbsthilfe in New Orleans nach dem Hurrikan Katrina gewesen sei. Sie schnöden über die "Milieus" "mit ihren flexiblen Strukturen, ihrem Tratsch und ihren informellen Hierarchien", aber verklären zugleich "die Kommune", die diese Probleme scheinbar nicht hat. Sie schreiben: "Die Macht konzentriert sich nicht mehr an einem Punkt der Welt, sie ist diese Welt selbst." Obwohl drei Seiten weiter vorne steht: "Wenn die Macht im Rinnstein liegt, genügt es, sie niederzu treten."

 Ja, gegen Ende des Buches wird die Sprache richtig hässlich. "Verführerisch schön" ("Süddeutsche Zeitung") ist da gar nichts mehr   - ausser für Kriegsgurgeln. Das Buch erwähnt dauernd revolutionäre Situationen, am liebsten die Pariser Kommune von 1871, fragt aber nie danach, warum sie scheiterten. "Für einen Aufstand ist die Frage, wie er sich unumkehrbar machen kann", heisst es zwar. Das sei erreicht, "wenn man gleichzeitig die Autoritäten und das Bedürfnis nach Autorität, gleichzeitig den Besitz und den Geschmack am Besitztum, gleichzeitig jede Hegemonie und den Wunsch nach Hegemonie besiegt hat". Wie das gehen soll und ob es überhaupt möglich ist, daran wird kein Gedanke verschwendet.

 Schön ist der Bürgerkrieg

 Auf der letzten Seite skizzieren die Autoren dann ihren Traum vom Aufstand. Da erschiesst ein Manager seine Kollegen, eine Kaserne wird niedergebrannt, und "Listen, die die persönlichen Adressen aller Polizisten und Gendarmen sowie der Angestellten der Gefängnisverwaltung enthalten, sind gerade durchgesickert" - eine Aufforderung zur Selbstjustiz. Gleichzeitig herrscht friedliches Treiben: "Grössere Menschenaufläufe auf den Boulevards diskutieren ernsthaft", und "in die alte Bar-mit-Kramladen bringt man den Überschuss, den man produziert, und besorgt sich, was man braucht". So stellt sich der westeuropäische Revoluzzer also den Ausnahmezustand vor: Die Guten sind immer noch nett zueinander, wenn die Gewalt beginnt, und alle wissen ganz genau, wer die Bösen sind.

 Die Rezensenten der deutschen linken Zeitungen prangerten vor allem die Demokratiefeindlichkeit des Buches an. Da heisst es: "Entscheiden ist nur in Notsituationen lebensnotwendig, in denen die Ausübung der Demokratie sowieso gefährdet ist. Für den Rest der Zeit ist der ‹demokratische Charakter des Beschlussfassungsprozesses› nur für Fanatiker der Prozedur ein Problem."

 Das sind tatsächlich grausliche Sätze. Aber den direkten Bezug zu Martin Heidegger und zum Nazi-Juristen Carl Schmitt, den "taz"- und "Jungle World"-Autor Johannes Thumfart hier sieht, gibt es nicht. Überhaupt ist der Text nicht an Deutschland orientiert. Der französischsprachige Raum hat seine eigene Tradition von romantischen Revolutionären: vom Dichter Lautréamont bis zu den Surrealisten und Situationisten (beides fast reine Männerklubs). Die situationistische Sehnsucht nach der Revolte prägte den Pariser Mai 68 mit. In seinem "Handbuch der Lebenskunst für die junge Generation" (1967) schrieb der belgische Situationist Raoul Vaneigem Sätze, die aus "Der kommende Aufstand" stammen könnten: "Keine vergeblichen Streitereien, keine müssigen Diskussionen, kein Kolloquium, kein Forum, keine Woche für marxistisches Denken! Wenn du zuschlagen musst, um dich wirklich zu befreien, schlage zu, um zu töten!"

 Action, los jetzt!

 Auch wenn es die Verfasser wohl nicht beabsichtigten: Wie Vaneigem, Jean Genet oder André Breton lässt sich "Der kommende Aufstand" als Literatur lesen. Viele tun das auch. Ein begeisterter deutscher Blogger schreibt: "Kein Film kann so schnell sein wie der innere Monolog, der dir aus diesem Text entgegenspringt. Er rückt der Welt auf den Leib wie ein Irrer, der den ärztlichen Befund seiner Verrücktheit als Lizenz begrüsst."

 "Der kommende Aufstand" hat versucht, aus der romantischen Revolte ein politisches Programm zu machen - und damit gezeigt, wie wenig sie als solches taugt.

 Beim Schreiben über Demokratie dachte das "unsichtbare Komitee" wohl weniger an Staaten und Parlamente als an Vollversammlungen. Etwa an die langen Diskussionen rund um die Gipfelproteste, die Versuche, möglichst alle einzubinden. Das "unsichtbare Komitee" vertritt die Arroganz jener, die diese Versuche verachteten: Hört auf zu schwafeln, Action, los jetzt!

 In einem neueren Communiqué heisst es: "Die Bullen, die Gewerkschaften und andere informelle Bürokratien brauchten nicht mehr als drei Jahre, um die kurzlebige ‹Antiglobalisierungsbewegung› zu entschärfen. Sie zu kontrollieren. Sie in verschiedene ‹Kampfgebiete› zu trennen, jedes so profitabel wie steril." Wie das zu verhindern gewesen wäre, schreiben sie nicht. Dass es die Bewegung heute nicht mehr gibt, hat viele Gründe (siehe "Die grosse, nützliche Illusion", WOZ Nr. 29/08). Mehr Militanz hätte jedenfalls nichts verbessert: Direkte Konfrontationen gewinnt immer die Polizei.

 Eine andere Welt bleibt nötig. Aber dieses Buch hilft da nicht weiter.

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Antifa-Medienzentrum Dortmund 12.1.11

Der kommende Aufstand

In den letzten Jahren ist in Frankreich eine Reihe von Texten entstanden, die das Genre des politischen Manifests neu beleben. Ohne Copyright und ohne namentliche Nennung einer Autorin sind dort Texte entstanden, die auf Interesse stoßen, die über das sprechen, was uns auf den Nägeln brennt.

Nachdem wir im September den Text "Aufruf" http://www.freie-radios.net/portal/content.php?id=36667 für das Radio eingesprochen haben, folgt nun der Text "Der kommende Aufstand".
http://de.indymedia.org/2010/07/286487.shtml

Wir sind nicht die Übersetzerinnen und auch nicht die Verfasserinnen. Wir sind die Sprecherinnen und haben eine deutsche Übersetzung gewählt, die frei im Internet zugänglich ist. Den "Kommenden Aufstand" und weitere Texte findet ihr im Internet unter http://www.bloom0101.org

Reflektionen zum "Kommenden Aufstand" gibt es vom Freien Sender Kombinat in Hamburg.
http://www.freie-radios.net/portal/content.php?id=38217

Was wir aber noch sagen wollen und sagen müssen ist, dass es wichtig ist, von Anfang bis zum Ende zuzuhören. Erst so wird verständlich, worum es in diesem Text geht. Der Text ruft zu einer umfassenden Kommunisierung und einer Selbstorganisierung des Lebens auf. Im letzten Kapitel heißt es sinngemäß: Unsere Stärke die Wirtschaft zu blockieren muss sich an unserem Niveau der Selbstorganisierung messen lassen.


1. Teil: Vorwort, Aus welcher Sicht, 1. bis 3. Kreis (Hauptteil)  
http://www.freie-radios.net/mp3/20110112-derkommende-38403.mp3
http://www.freie-radios.net/portal/streaming.php?id=38403
Länge 53:39 Minuten

2. Teil: 4. bis 7. Kreis
http://www.freie-radios.net/mp3/20110112-derkommende-38404.mp3
http://www.freie-radios.net/portal/streaming.php?id=38404
Länge 60:32 Minuten

3. Teil: Auf gehts, Sich finden, Sich organisieren, Aufstand
http://www.freie-radios.net/mp3/20110112-derkommende-38405.mp3
http://www.freie-radios.net/portal/streaming.php?id=38405
Länge 56:37 Minuten

Skript     Teil 1
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01:22 - Vorwort der Übersetzerinnen
08:36 - Aus welcher Sicht
15:36 - 1. Kreis
25:32 - 2. Kreis
37:33 - 3. Kreis

Teil 2
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00:00 - 4. Kreis
15:24 - 5. Kreis
28:55 - 6. Kreis
45:33 - 7. Kreis

Teil 3
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00:00 - Auf gehts
02:30 - Sich finden
11:05 - Sich organisieren
31:45 - Aufstand

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UNDERCOVER
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Spiegel 17.1.11

POLIZEI

 Ein Cop außer Kontrolle

Polizei: Wie ein verdeckter Ermittler von Scotland Yard linke Gruppen in Deutschland unterwanderte

Medick, Veit Rosenbach, Marcel

 Ein verdeckter Ermittler aus England unterwanderte auch deutsche linke Gruppen - angeblich als Agent provocateur.

 Seinen Freunden erzählte Mark Stone, er sei "freiberuflicher Kletterer", und sie glaubten die Legende nur zu gern. Mit seinen langen Haaren sah der 41-Jährige den "Huber-Brüdern" aus Bayern tatsächlich ähnlich, den Stars der Kletterszene. Und Freunde hatte der sportliche Brite mit den großflächigen Tattoos viele: Europaweit hatte er ein Netzwerk an Vertrauten aufgebaut.

 Der vermeintliche Kletterer Stone heißt allerdings Mark Kennedy und war Polizist. Er arbeitete seit 1994 für Scotland Yard.

 Im Auftrag einer Spezialeinheit infiltrierte er jahrelang linke und linksradikale Gruppen, mit falschem Ausweis und Führerschein bereiste er dafür mehr als 20 Länder. Der Undercover-Mann war ein Aktivposten der militanten Protestbewegung Europas: Er blockierte Züge, hängte in waghalsigen Kletteraktionen Banner an Kräne und Kraftwerke - und stiftete Gesinnungsgenossen möglicherweise sogar zu militanten Aktionen an. Besonders gern war er in Deutschland, wie mehrere Aktivisten berichten, im Vorfeld und während des G-8-Gipfels in Heiligendamm.

 Nun herrscht Aufruhr in der linken Szene, der Fall hat die politische Ebene erreicht. "Das ist eindeutig ein Fall für das Parlamentarische Kontrollgremium und den Innenausschuss", sagt der Grünen-Abgeordnete Hans-Christian Ströbele. "Die Bundesregierung muss offenlegen, ob Kennedy möglicherweise als Agent provocateur in Deutschland Straftaten begangen oder initiiert hat." Wenn das stimme, müsse er vor Gericht gestellt werden: "Das deutsche Recht gilt auch für britische Agenten." Andrej Hunko, Abgeordneter der Linkspartei, spricht von einer "ausufernden Praxis grenzüberschreitender polizeilicher Spitzeleinsätze" und will eine neue Anfrage an die Bundesregierung stellen. Auf eine erste hatte er nur ausweichende Antworten bekommen.

 Bekannt wurde die Spitzelgeschichte, als die Staatsanwaltschaft im britischen Nottingham vorige Woche die Anklage gegen sechs Aktivisten fallenließ - um die Tarnung von Kennedy nicht preiszugeben. Doch der "Guardian" enthüllte den Zusammenhang: Kennedy alias Stone hatte die Protestaktion in Ratcliffe, die den sechs Angeklagten zur Last gelegt wurde, maßgeblich organisiert. In der Szene war das Doppelleben des Maulwurfs schon seit Oktober 2010 ein Thema, als Aktivisten Kennedys echten Ausweis in die Hände bekamen. Der Mann ist mittlerweile untergetaucht.

 Der Fall wirft ein Schlaglicht auf eine europaweite Entwicklung, zu der die Bundesregierung beigetragen hat. 2007, während der EU-Ratspräsidentschaft, forcierten die Deutschen die klandestinen Kooperationen. Begründung: Die Legenden ausländischer Undercover-Ermittler seien glaubwürdiger und schwieriger zu überprüfen als die einheimischer Kollegen.

 Kennedys Umtriebe sind besonders heikel, denn er beschränkte sich offenkundig nicht aufs Schnüffeln: Er mobilisierte Aktivisten für militante Einsätze. Zudem agierte er offenbar als "Romeo" und unterhielt sexuelle Kontakte zu mehreren Frauen aus der Szene, darunter in Berlin.

 Für den ebenfalls in der Hauptstadt lebendenden US-Amerikaner Jason Kirkpatrick war die Enttarnung des Mannes "ein Schock". Der ehemalige grüne Vizebürgermeister der kalifornischen Kleinstadt Arcata kennt Kennedy seit 2004, als sie vor dem G-8-Gipfel im schottischen Gleneagles eine "Infotour" durch Irland machten. "Mark hat die Fährtickets bezahlt, uns in seinem Auto chauffiert und besaß damals schon ein Notebook mit einem Internet-Stick", berichtet Kirkpatrick. Wann immer Kennedy nach Berlin kam, habe er ihn gesehen. Und das war häufig der Fall, besonders im Vorfeld des G-8-Gipfels von Heiligendamm 2007.

 Mindestens zweimal, so Kirkpatrick, habe Kennedy in Deutschland an Vorbereitungstreffen des "Dissent"-Netzwerks teilgenommen, eines Zusammenschlusses autonomer Gruppen. Auch während des Gipfels an der Ostseeküste sei der britische Spitzel vor Ort gewesen.

 Kennedys Einsatz rund um Heiligendamm wirft Fragen auf: War er Teil einer deutsch-britischen Polizeikooperation? Oder handelten die Briten hierzulande auf eigene Faust? Die deutschen Sicherheitsbehörden hatten sich im Vorfeld des Gipfels aus Angst vor militanten Aktionen eng mit europäischen Partnerbehörden abgestimmt. Das Bundeskriminalamt (BKA) durchsuchte seinerzeit 40 Objekte in Deutschland. Der Bundesgerichtshof erklärte das Vorgehen später für rechtswidrig. Flossen auch Erkenntnisse des britischen Szene-Spitzels in das Ermittlungsverfahren ein?

 "Mark war eindeutig ein Agent provocateur", behauptet Jason Kirkpatrick. "Ich bin sicher, er hat die Vorbereitungstreffen für Heiligendamm mitgeschnitten." Kirkpatrick sagt, seine eigenen Aussagen auf den Dissent-Treffen hätten sich später in deutschen Polizeiunterlagen wiedergefunden. In einem Fall habe Kennedy ihm angeboten, er könne britische Freunde herbeiholen, die die antifaschistischen Gruppen in ihrem Kampf gegen deutsche Rechtsextremisten unterstützen würden. Der irische Aktivist Mark Malone erinnert sich, dass Kennedy auch bei der MayDay-Demonstration in Dublin 2004 zu den Aufwieglern gezählt habe. Er sei einer derjenigen gewesen, die dazu aufgerufen hätten, Polizeisperren zu durchbrechen.

 Das BKA möchte den Vorgang nicht kommentieren, beim Innenministerium von Mecklenburg-Vorpommern hieß es, zu verdeckten polizeilichen Maßnahmen würden "aus einsatztaktischen Erwägungen" grundsätzlich keine Angaben gemacht. Ein hoher Sicherheitsbeamter erklärt, es sei kaum möglich, Informationen ausländischer Behörden auf einzelne Quellen und deren Arbeit zurückzuführen: "Wenn Erkenntnisse zu uns gelangen, dann nur in allgemeiner Form."

 Kirkpatrick will auch von einigen Gelegenheiten wissen, bei denen der Scotland-Yard-Mann Staatsgeld für die linksradikale Sache einsetzte: So habe es geheime Treffen in Kennedys Wohnung im britischen Nottingham gegeben, um Blockaden abzusprechen und zu organisieren. Kennedy habe die Aktivisten nicht nur mit seinem eigenen Kleinlaster transportiert, sondern zusätzliche Fahrzeuge angemietet. Zudem habe der Polizist Trainingscamps geleitet, etwa in Island. "Er hat ihnen unter anderem beigebracht, sich so an Fahrzeuge und Gebäude zu ketten, dass die Polizei sie nicht entfernen konnte", behauptet Kirkpatrick.

 Aus heutiger Sicht gebe es einiges, was misstrauisch hätte machen können: Da sei die Bandbreite von Kennedys Interessen gewesen, die von der Klimabewegung über die Antifa-Arbeit bis zum Tierschutz reichten. Auch seine schier unerschöpflichen finanziellen Mittel hätten ihn zu einem gefragten Mann gemacht. Zudem sei Mark einfach ein netter Typ gewesen, mit einer ausgeprägten Leidenschaft für Drum'n'Bass-Musik. "Er ist ein exzellenter DJ und hat uns gebeten, für ihn in Berlin einen Gig zu organisieren", so Kirkpatrick. Kennedys doppeldeutiger Künstlername: DJ Escape.

 Doch irgendwann halfen die Ausflüchte nicht mehr. Im April 2009 organisierte Kennedy die Besetzung eines E.on-Kohlekraftwerks in Ratcliffe-on-Soar. Kurz vor der Aktion schlugen seine Polizeikollegen zu und nahmen 114 Aktivisten fest. Alle engagierten denselben Anwalt, nur Kennedy nicht. Das fanden die Kombattanten verdächtig, "Kommissar Stone" nannten ihn erste Zweifler. Im Frühjahr 2010 quittierte Kennedy angeblich den Polizeidienst, er blieb aber in der Szene aktiv. Er gründete zwei Firmen, wohl um seine Expertise zu nutzen und sich Unternehmen als Sicherheitsberater anzudienen. Als Mitstreiter einige Monate später per Zufall seinen echten Pass fanden, war es mit seiner Tarnung vorbei. Sechs enge Freunde stellten ihn am 21. Oktober in seiner Wohnung zur Rede. Er gestand, brach in Tränen aus - und verschwand ins Ausland.

 Einstigen Weggefährten gegenüber hat er inzwischen beteuert, er hasse sich dafür, so viele Menschen betrogen zu haben. Zudem ließ er eine Undercover-Kollegin auffliegen und bot dem Verteidiger der Ratcliffe-Aktivisten an, in deren Sinne auszusagen. Scotland Yard schickte vorige Woche Beamte los, um den "wild gewordenen" Ex-Ermittler, dessen Einsatz die britischen Steuerzahler bis zu zwei Millionen britische Pfund gekostet haben soll, zur Räson zu bringen.

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WoZ 13.1.11

Britannien

 Ein Spitzel sagt "Sorry"

 "Ich hasse mich selber, ich habe so viele Leute betrogen. Es tut mir leid." Das sagte Mark Kennedy, ein ehemaliger Polizeispitzel, am Telefon zu einem Journalisten des britischen Fernsehsenders BBC. Kennedy hatte während sieben Jahren für die Metropolitan Police britische UmweltaktivistInnen ausspioniert. Inzwischen hat Kennedy, der heute nicht mehr für die Polizei arbeitet, für seine Reue den Tatbeweis erbracht. Ein Prozess gegen sechs Umweltaktivisten ist am Montag gescheitert, weil er ankündigte, die Aktivisten durch seine Aussage zu entlasten. Den sechs war vorgeworfen worden, im April 2009 die Besetzung des Kohlekraftwerks Ratcliffe-on-Soar in der Nähe von Nottinghamshire geplant zu haben mit der Absicht, es für mehrere Tage stillzulegen.

 Als Mark "Flash" Stone nahm Kennedy an Dutzenden von Demonstrationen teil, reis te zu AktivistInnentreffen in 22 Länder, organisierte Besetzungsaktionen, Blockaden und kletterte etwa auf den Turm des Öl- und Kohlekraftwerks Didcot, um dort ein Banner mit der Aufschrift "Climate Crime" zu entrollen. "Flash" gelang es, in den inneren Kreis der sogenannten Climate-Camp-AktivistInnen vorzudringen, die mit direkten Aktionen seit mehreren Jahren gegen die klimaschädigende Wirkung der Kohlekraftwerke kämpfen.

 "Flash" war auch eine zentrale Figur bei der Vorbereitung der Besetzung des Kohlekraftwerks Ratcliffe-on-Soar. In der Nacht vor der geplanten Besetzung verhaftete die Polizei jedoch die 114 potenziellen BesetzerInnen, die sich in einer nahen Schule versammelt hatten, darunter auch Kennedy. Im Oktober 2010 flog er schliesslich auf, als AktivistInnen zufällig seine echten Ausweispapiere in die Hände fielen. Er verschwand von der Bildfläche, blieb aber offensichtlich von den Zielen der UmweltaktivistInnen beeindruckt. In Britannien wird derweil über den teuren Einsatz von Polizeispitzeln diskutiert, die nicht nur Informationen sammeln, sondern auch selber aktiv werden. ds

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ANTIFA
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Indymedia 13.1.11

Antinationale Demo zum WKR-Ball 2011 ::

AutorIn : antifa reisen         

Am 28.01.11 ist es wieder soweit: Das vierte Jahr Proteste gegen den Ball des Wiener Korporationsrings (WKR) steht bevor! Durch die antifaschistischen Proteste der letzten Jahre wurde der WKR-Ball aus der medialen Grabesruhe gehievt. Auch dieses Jahr werden die rund zwanzig lokalen Burschenschaften des WKR ihr Tanzbein für die von allen Seiten "bedrohte deutsche Kultur" schwingen. Es trifft sich die Creme de la Creme der österreichischen wie auch europäischen Rechten, in einem der repräsentativsten Gebäude der Alpenrepublik - der Wiener Hofburg.     

Die Burschenschaften des WKR haben sich in der Vergangenheit stets darum bemüht eine Scharnierfunktion zwischen FPÖ und offenen Neonazismus einzunehmen. Äußerungen und Einladungen, so an die Öffentlichkeit gedrungen, basierten immer auf antisemitischen, rassistischen und NS-verharmlosenden Ideologiefragmenten. Nicht weniger ekelhaft ist ihre Männerbündelei und ihr sexistisches Gesellschaftsbild. Frauen ist grundsätzlich der Beitritt zu den Verbindungen verboten, als Begleitung wird ihnen ein sexistisches Rollenbild zugeschrieben.

Dieses Jahr wollen wir die Genoss_innen in Österreich aber nicht alleine gegen das rechte Burschenevent demonstrieren lassen und rufen dazu auf gemeinsam am 28.01 nach Wien zu fahren.

Hoch die antinationale Solidarität! Auf nach Wien!

Alle wichtigen Infos sowie Aufrufe und Material findet ihr unter:

http://nowkr.at
bzw.
http://anbw.blogsport.eu



Der Aufruf des antinationalen Bündnis Wien:

Am 28.01.11 ist es wieder soweit: Das vierte Jahr Proteste gegen den Ball des Wiener Korporationsrings (WKR) steht bevor! Durch die antifaschistischen Proteste der letzten Jahre wurde der WKR-Ball aus der medialen Grabesruhe gehievt. Auch dieses Jahr werden die rund zwanzig lokalen Burschenschaften des WKR ihr Tanzbein für die von allen Seiten "bedrohte deutsche Kultur" schwingen. Es trifft sich die Creme de la Creme der österreichischen wie auch europäischen Rechten, in einem der repräsentativsten Gebäude der Alpenrepublik - der Wiener Hofburg.

Die Burschenschaften des WKR haben sich in der Vergangenheit stets darum bemüht eine Scharnierfunktion zwischen FPÖ und offenen Neonazismus einzunehmen. Äußerungen und Einladungen, so an die Öffentlichkeit gedrungen, basierten immer auf antisemitischen, rassistischen und NS-verharmlosenden Ideologiefragmenten. Nicht weniger ekelhaft ist ihre Männerbündelei und ihr sexistisches Gesellschaftsbild. Frauen ist grundsätzlich der Beitritt zu den Verbindungen verboten, als Begleitung wird ihnen ein sexistisches Rollenbild zugeschrieben.

Die Nation als Garant für das Hervorbringen von Scheiße!

Fühlen sich die bürgerlichen Parteien zwar darum bemüht sich vom Treiben der Deutschnationalen zu distanzieren, war es doch der antifaschistische Protest im letzten Jahr der in einer polizeilichen Prügelorgie endete. Dass die politische Intention dieser Aktion jedoch von den Großparteien ausging, ist ein offenes Geheimnis. Weitere staatliche Repressionen gegen linke Strukturen oder die staatliche Abschiebungsmaschinerie finden zwar bei den völkischen Freaks oder der FPÖ begeisterten Beifall, gehen aber zumeist von Strukturen aus, die von SPÖ und ÖVP bestimmt sind.
Auch in anderen gesellschaftlichen Konfliktlagen zeigt sich das deutschnationale Gesellschaftsbild nicht als hegemoniales für die österreichischen Staatsbürger*innen. Die Herzen der meisten Österreicher*innen entzünden sich weniger an Schwarz-Rot-Gold als an Rot-Weiß-Rot. Im Gegensatz zu den Burschis: In ihrem Fall ist das vorgestellte Kollektiv deutschnational. Das bedeutet ihre Identifikation gilt dem gesamten "deutschen Sprach- und Kulturraum". Ihr Nationalismus ist also der Form nach ein anderer als der der Rot-Weiß-Rot-Fans. Beiden Nationalismen gemeinsam ist aber, dass sie identitätsstiftend sind, also eine Idee von Heimat und Zugehörigkeit vermitteln und somit alle, die nicht zur vorgestellten Nation gehören, prinzipiell ausgeschlossen werden.
Und dieser Ausschluss führt zu Abschiebungen von Menschen, denen auch im neuen Jahr nicht zum Feiern zu Mute sein wird. Zahlreiche antirassistische Interventionen, wie die im Fall des Ousmane Camara, zeigen auf was in Österreich System hat: Menschen werden eingesperrt, ihrer Freiheit beraubt und jegliche Auskunft wird ihnen verweigert. Ihr "Verbrechen" ist die Tatsache, dass sie keine Verwertbarkeit für die Nation darstellen. Aber auch linke Aktivist*innen passen nicht so recht in die harmonische Alpenidylle, wie der §278a Prozess oder die staatliche Repression gegen Personen, die angeblich eine Mülltonne in Brand gesetzt haben sollen, zeigt. Dem lächerlichen Feuerlein, für das Personen Monate lang eingesperrt wurden, lag im Übrigen das Anliegen zu Grunde, ein Zeichen gegen den AMS-Terror gegenüber Arbeitslosen zu setzen. Auch das "multikulturelle" Wien ist darum bemüht die Möglichkeit von Wagenplätzen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verhindern.

Wir sind nicht in der Stimmung zum Feiern! Die Scheiße geht in diesem Jahr ungehindert weiter. Burschenschafter sind schon ekelhaft genug. Sie sind als Steigerung und Zuspitzung bürgerlicher Wertvorstellungen zu verstehen - also der "guten" Mitte. Und diese "Mitte" garantiert auch in diesem Jahr staatliche Abschiebungen, Repression, Sparpakete und kapitalistischen Leistungs- und Konkurrenzwahn.

Gegen all das wollen wir dieses Jahr auf die Straße gehen! Wir lassen uns unser Recht auf Demonstrationen nicht nehmen! Mit dem Einsatz für eine befreite Gesellschaft möchten wir den Kampf gegen Burschenschafter unnötig machen. Für ein Leben jenseits von Staat, Nation und Kapital!

Nie wieder Heimat, Volk und Vaterland!
Gegen Abschiebungen, Repression und Leistungsterror!
Gegen jeden (Deutsch-)Nationalismus, gegen Österreich und seine Fans!     

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 :: 2 Inhaltliche Ergänzungen :     > Ergänze diesen Artikel (.onion )

Ein Video der NoWKR Proteste 2010
13.01.2011 07:07  
http://www.youtube.com/watch?v=XPIAtsSQXSo

AutorIn: antifa reisen

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Auch die SVP

13.01.2011 10:25  

2009 war neben deutschen, russischen, schwedischen und spanischen Rechtsextremisten mit Walter Wobmann auch ein Repräsentant der SVP Burschenschafts-Ball vertreten. [1] Wobmann, einer der Mitinitianten der Anti-Minarett-Initiative, ist einer der dezidiertesten Rechtsausleger in der Partei. Besipielhaft seine Äusserungen im "Club" des Schweizer Fernsehens nach der gewonnen Abstimmung über die besagte Initiative, als liberale und linke Kreise ihre Verfassungsmässigkeit in Frage stellten:
"1534000 Personen in diesem Land haben Ja gesagt. Und wie Sie sich nun äussern, Herr Kreis, das ist eine Ohrfeige für diese Personen. Und das kann wohl nicht sein, und da muss ich sagen, wenn Sie auf dieser Schiene weiterfahren, dann gute Nacht, aber dann gewinnen WIR eine zweite Abstimmung noch viel deutlicher, und dann kommt ganz eine andere Bewegung (...), eine ganz andere Volksbewegung. Ich habe gar keine Angst [vor ihr], das muss ich ganz klar sagen. (...) Jetzt ist eine Bewegung im Gange gewesen, gerade von jungen Personen. Man wollte das nicht wahrhaben, man hat es in den Medien verschwiegen - das ist aber egal - es ist wichtig, das es passiert ist. Viele Leute, vor allem junge, haben gesagt, diese Entwicklung, diese schleichende Islamisierung, (...) nicht die Religion, aber die politische Komponente davon, wollen wir in diesem Land nicht." [2]

Dabei kann Wobmann auf einige Unterstützung in der SVP zählen. Neben dem ehemaligen Neonazi Dominique Baettig, der auch heute noch über gute Kontakte ins rechtsextreme Lager verfügt [3], und dem Rimuss-Besitzer Emil Rahm, Antisemit und Verschwörungstheoretiker [4], sind es v.a. Ulrich Schlüer und Oskar Freysinger, die mit ausländischen Rechtsextremisten gut vernetzt sind. Schlüer, ein Urgestein des Nationalkonservativismus in der Schweiz, war schon bei der ns-affinen Münchner Burschenschaft zu Besuch, wo er im Rahmen der sog. "Bogenhausener Gespräche" über Demokratie und Unabhängigkeit der Schweiz referieren durfte. [5] Der charismatische Freysinger trat vor einem Monat bei einer Anti-Islam-Konferenz in Paris auf - als eigentlicher Star des Anlasses. [6] Daneben ist er zusammen mit dem holländischen Rechtspopulisten Geert Wilders und weiteren Personen mit dem Aufbau einer Art Internationalen der Islamgegner in Europa beschäftigt. [7] Und auch wenn er abstreitet, über Kontakte zu Pro-NRW zu verfügen, in deren Reihen sich zahlreiche ehemalige NPD- und DVU-Funktionäre tummeln [7], zeugt das höchstens von einem extrem schlechten Gedächtnis: Noch im März 2010 richtete der Walliser SVP-Politiker höchstpersönlich eine Grussbotschaft ("liebe abendländische Freunde") an einen Anti-Minarett-Kongress der neu gegründeten Partei. [8]

[1] s.  http://www.gruene.at/uploads/media/FPOE_und_Eurorechte_und_WKR_Ball_2009-1.pdf
[2]  http://www.youtube.com/watch?v=co2nyEqYAbY [7:58 - 8:56]
[3] s.  http://www.woz.ch/artikel/rss/18705.html
[4] s. Frischknecht, Jürg et. al., Die unheimlichen Patrioten: Politische Reaktion in der Schweiz: Ein aktuelles Handbuch, Zürich 1987, S. 414-418.
[5] s.  http://www.brandserver.de/danubia/Upload/up/Referentenliste.pdf
[6] s.  http://www.youtube.com/watch?v=jp6RgkNpNbk
[7] s.  http://www.youtube.com/watch?v=_BrsSHjK5Bc
[8] s.  http://www.youtube.com/watch?v=COiF5oYWCok. Zu beachten das Logo des Kongresses.


AutorIn: !

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HÄRTEFÄLLE
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NZZ 15.1.11

Härtefallgesuche "restriktiv" beurteilt
 
Organisationen enttäuscht

 vö. · Die Sans-Papiers-Anlaufstelle, die Freiplatzaktion und das Solidaritätsnetz Zürich sind enttäuscht über die Zahlen, welche die kantonale Härtefallkommission diese Woche publiziert hat (12. 1. 11). Die Kommission und Regierungsrat Hollenstein hätten die Härtefallgesuche sehr restriktiv beurteilt, schreiben die Organisationen in einer Medienmitteilung. Bei 16 der insgesamt 70 negativen Beurteilungen des Migrationsamts gab die Kommission eine positive Empfehlung ab. Der Sicherheitsdirektor folgte ihr in 8 Fällen.

 Laut den Organisationen, die über die Hälfte der von der Kommission behandelten Dossiers kennen, hat es die Härtefallkommission verpasst, sich für das Schicksal von sehr gut integrierten, abgewiesenen Asylsuchenden einzusetzen, die zudem die Kriterien des Bundes für Härtefälle erfüllten. Damit entstehe der Verdacht, dass es sich bei der Härtefallkommission bloss um ein politisches Feigenblatt handle. Die Organisationen halten ausserdem die Argumentation in den jeweiligen Empfehlungen für durchwegs intransparent.

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Tagesanzeiger 14.1.11

Nachrichten Härtefallkommission

 Anlaufstelle für Sans-Papiers übt scharfe Kritik

 Zürich - Die Härtefallkommission (HFK) und Sicherheitsdirektor Hans Hollenstein (CVP) beurteilen die Härtefallgesuche "sehr restriktiv": Dieses Fazit ziehen Linkskreise um die Sans-Papiers-Anlaufstelle Zürich. Am Dienstag wurde bekannt, dass die HFK seit ihrem Start im November 2009 total 81 Fälle beurteilt hat; als Härtefall wurde jeder fünfte Fall anerkannt. Die Anlaufstelle nennt die HFK in einer Mitteilung ein "politisches Feigenblatt". Der Kanton Zürich weigere sich nach wie vor, "gut integrierte abgewiesene Asylsuchende zu regularisieren". In der Kritik steht auch Hollenstein, weil er nur die Hälfte der von der Kommission empfohlenen Gesuche gutgeheissen habe.(sth)

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SANS-PAPIERS
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NLZ 14.1.11

Lehrer lehnen Meldepflicht ab

 Sans-Papiers

 Lehrer sollen Kinder von Sans-Papiers verpfeifen: Das lässt der Bundesrat prüfen. DEmpörung unter Politikern und Lehrern ist gross.

 Kari Kälin

 kari.kaelin@luzernerzeitung.ch

 Bis Ende Jahr muss das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJDP) abklären, ob Schulen verpflichtet werden sollen, Kinder von Sans-Papiers den kantonalen Ausländerbehörden zu melden. Gemäss "Le Matin Dimanche" fasste Justizministerin Simonetta Sommaruga diesen Auftrag, nachdem ein anderes Mitglied der Landesregierung in der Sitzung vom 22. Dezember 2010 einen entsprechenden Antrag gestellt hatte.

 Unterrichten statt verpfeifen

 Dominique Föllmi, ehemals Genfer Regierungsrat (CVP), ist ein Kämpfer der ersten Stunde für die Rechte von Kindern von Sans-Papiers. Umso mehr ist er jetzt empört über das Vorhaben des Bundesrates: "Ich verstehe, dass Lösungen für das Problem der Sans-Papiers gesucht werden müssen. Aber die Kinder dürfen nicht als Geisel genommen werden. Das ist unmenschlich und inakzeptabel", sagt Föllmi. Lehrer müssten die Kinder unterrichten und sie nicht verpfeifen. Föllmi hat deshalb den Genfer CVP-Nationalrat Luc Barthassat eingespannt, "um für das in der Verfassung und der UNO-Kinderrechtskonvention garantierte Recht der Kinder auf Bildung zu kämpfen". Barthassat setzte sich erfolgreich dafür ein, dass jugendliche Sans-Papiers in der Schweiz eine Berufslehre absolvieren dürfen. Demnächst wird er CVP-Präsident Christophe Darbellay kontaktieren. "Ich bin überzeugt, dass die CVP sich gegen diese unmenschliche Idee zur Wehr setzt", sagt der ehemalige Regierungsrat Föllmi.

 Lustenberger für Meldepflicht

 Ganz anders sieht dies der Luzerner CVP-Nationalrat Ruedi Lustenberger: "Wenn die Schulen Kinder von Sans-Papiers nicht den Ausländerbehörden melden, besteht Handlungsbedarf, damit diese Meldung auch tatsächlich erfolgt." Föllmi hingegen kann diese Position seines Parteikollegen nicht verstehen: "Das wird noch zu reden geben." In der Tat sind parteiinterne Diskussionen programmiert. CVP-Generalsekretär Tim Frey hat zwar nichts dagegen, wenn der Bundesrat diese Frage prüft. Aber eine offizielle Position dazu haben die Christdemokraten noch nicht formuliert. Frey findet, dass Lehrer primär unterrichten und nicht Polizisten spielen sollten. Und: "Im Vordergrund steht das Wohl des Kindes." Gemäss Parteiprogramm spricht die CVP den Sans-Papiers das Recht auf Aufenthalt zwar ab, aber "Härtefälle sollen von Bund und Kanton im Einzelfall geprüft werden". Für Föllmi ist klar, welche Schlüsse die CVP aus ihren eigenen Leitlinien zu ziehen hat: "Dem Denunziantentum an Schulen muss meine Partei eine klare Absage erteilen."

 Lehrer sind skeptisch

 Wenig Lust, Kindern von Sans-Papiers aufzuspüren, scheinen die Lehrer in der Schweiz zu haben. "Sie können ihren Bildungs- und Erziehungsauftrag nur dann wahrnehmen, wenn ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis zwischen Lernenden und Lehrenden vorhanden ist", sagt Beat W. Zemp, Präsident des Schweizer Lehrerverbandes. Er befürchtet, dass eine Meldepflicht die Eltern von Sans-Papiers dazu verleiten könnte, ihre Kinder nicht mehr zur Schule zu schicken, sondern sie zu verstecken.

 Skeptisch wegen Datenschutz

 Zudem wüssten Lehrer meistens gar nicht, ob Kinder von Sans-Papiers in ihren Klassen sitzen. "Sie müssten also von allen Kindern zuerst verlangen, dass sie ihren Personalausweis oder ein Familienbüchlein usw. in die Schule mitbringen, um zu überprüfen, wer keine Papiere hat. Ob das überhaupt aus datenschutzrechtlicher Sicht zulässig wäre, müsste überprüft werden", sagt Zemp.

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 3000 Kindern geholfen

 Dominique Föllmi kä. Der ehemalige Genfer Regierungsrat Dominique Föllmi (CVP, 72) hat sich bereits 1986 für Kinder von Sans-Papiers eingesetzt. Ein 11-jähriges Mädchen, dessen Eltern in die Türkei ausgeschafft worden waren, wurde damals von Freunden der Familie in der Schweiz versteckt. Dominique Föllmi erfuhr vom Schicksal des Mädchens und begleitete es nach den Ferien höchstpersönlich zum Schulhaus. Es konnte das Schuljahr abschliessen. Bundesrat Arnold Koller rüffelte ihn. Dennoch sorgte Föllmi dafür, dass zwischen 1986 bis 1989 3000 illegal anwesende Kinder von Saisoniers die Schule besuchen konnten. Schliesslich empfahl die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren im Jahr 1991, alle in der Schweiz lebenden fremdsprachigen Kinder unabhängig vom Aufenthaltsstatus in die Schule zu integrieren.

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NOTHILFE
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sosf.ch 17.1.11

Veranstaltungsangebot: Nothilfekampagne 2011 / Sosf vor Ort

Sosf vor Ort | Nothilfekampagne 2011

Liebe SympathisantInnen von Solidarité sans frontières,

Anfang Februar startet die gemeinsame Kampagne von Amnesty International, Solidarité sans frontières, der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und der Schweizerischen Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht zum Thema Nothilfe.

Die Nothilfe ist eigentlich ein Grundrecht. Seit der Verschärfung des Asylgesetzes und der Ausweitung des Sozialhilfestopps von 2008 wird sie aber primär als Mittel zur Zermürbung missbraucht. Innerhalb des Nothilfe-Regimes zu überleben bedeutet für die Betroffenen vor allem Folgendes: extreme soziale Isolation, Aussetzung gegenüber gezielter Schikane, eine menschenunwürdige Behandlung sowie ein Dahinvegetieren in künstlich geschaffenem Elend. Die aktuelle Kampagne fordert nun eine radikale Abkehr vom gescheiterten Nothilfe-Regime und möchte die breite Bevölkerung vordergründig vor allem über Realitäten aufklären.

Alle Infos unter http://www.nothilfe-kampagne.ch ab Februar abrufbar

Im Rahmen dieser Sensibilisierungskampagne bietet Solidarité sans frontières thematische Infoveranstaltungen an, welche über die unhaltbaren Zustände für Betroffene im Nothilfe-System informieren. Die Infoveranstaltungen beinhalten Folgendes:

Gesamtdauer der Veranstaltung: ca. zwei Stunden

- Einführung | Thematischer Kurzeinstieg ins Thema (5-10 min)
- Filmvorführung "Dokumentation Nothilfe" von a-films (25min)
- Referat zum Thema "Leben im Nothilfe-Regime" (ca. 30-40 min)
- Diskussion | Erfahrungsbericht


- Die Erfahrungsberichte sind auf Deutsch, Französisch oder Englisch.
- Film: variierende Originalsprache mit D/E/F Untertiteln
- Der Referatsteil ist bisher leider nur auf Deutsch verfügbar.

Die Veranstaltung wird von einer oder zwei Personen abgehalten. Je nach explizitem Wunsch und aufgrund der personellen Verfügbarkeit wird jeweils eine vom Nothilfe-Regime direkt betroffene Person anwesend sein.

Die Veranstaltungen werden von Anfang Februar bis Ende Juni von Solidarité sans frontières angeboten und sind für den Veranstalter kostenlos. Grundsätzlich sind bei Terminanfragen keine Einschränkungen gegeben. Bei Interesse bitte melden unter:

Solidarité sans frontières
Tel. : 0313110770
sekretariat@sosf.ch

Die Nothilfe-Veranstaltungen gliedern sich in das Konzept "Sosf vor Ort!" ein, unter welchem wir auch andere thematische Felder behandeln. Mehr zu diesem Angebot hier.  

Wir freuen uns über jede Möglichkeit vorbeizukommen!

Herzlichen Dank

Moreno Casasola
Generalsekretär Solidarité sans frontières

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ASYL
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20min.ch 17.1.11

Asylstatistik: Nigerianer stellen die meisten Gesuche

 In der Schweiz haben 2010 etwas weniger Menschen ein Asylgesuch gestellt als ein Jahr zuvor. Gegen Jahresende haben die Anträge aber deutlich zugenommen.

Balz Bruppacher

 15 567 Personen haben im letzten Jahr in der Schweiz um Asyl ersucht, wie den im Internet veröffentlichten Zahlen des Bundesamts für Migration (BFM) zu entnehmen ist. Das sind 438 oder 2,7 Prozent weniger als 2009. Im letzten Quartal 2010 ist die Zahl der Asylgesuche gegenüber dem Vorquartal hingegen um 12 Prozent gestiegen. Der längerfristige Vergleich zeigt, dass sich die Zahl der Asylgesuche in den Jahren 2005 bis 2007 auf einem tiefen Niveau von rund 11 000 Anträgen pro Jahr bewegt hatte. 2008 erfolgte ein sprunghafter Anstieg auf 16 608 Gesuche. Seither kam es zu einem leichten Rückgang.

 Wie schon im Vorjahr stammten die meisten Asylgesuche aus Nigeria, und zwar 1969 oder zehn Prozent mehr als 2009. An zweiter Stelle liegen die Gesuche aus Eritrea mit 1799. Um mehr als die Hälfte (58 Prozent) auf 910 zugenommen haben die Anträge von serbischen Asylbewerbern. Sie liegen damit an vierter Stelle nur knapp hinter den Gesuchen aus Sri Lanka. Das Ende des Bürgerkriegs führte zu einem Rückgang der Anträge um einen Drittel auf noch 939 Gesuche. Um mehr als zehn Prozent rückläufig war auch die Zahl der Asylbewerber aus dem Kosovo und aus Afghanistan.

 3449 Menschen sind 2010 von der Schweiz als Flüchtlinge anerkannt worden. Die Zahl der Asylgewährungen hat damit im Vorjahresvergleich um fast einen Drittel (31,5 Prozent) zugenommen. Die Anerkennungsquote stieg von 16,3 auf 17,7 Prozent. Unter Anwendung der Härtefallregelung wurden 2942 Gesuche gutgeheissen - fünf Prozent weniger als 2009. Insgesamt leben 25 285 anerkannte Flüchtlinge in der Schweiz; das sind sieben Prozent mehr als 2009.

 Ende 2010 waren noch 36 788 Personen im Asylprozess. Das entspricht einem Rückgang von neun Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Davon waren 23 471 vorläufig Aufgenommene. Bei 12 915 Asylbewerbern waren die Verfahren Ende Jahr noch hängig; das sind ein Viertel weniger als Ende 2009.

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Landbote 17.1.11

Asylsuchende nicht genügend behandelt

Seraina Kobler

 Zürich. Asylsuchende in der Schweiz gehen doppelt so viel zum Arzt wie die restliche Bevölkerung, dennoch werden psychische Probleme oft nicht erkannt. Dies sagt eine aktuelle Studie der Universität Zürich.

Flüchtlinge und Asylsuchende leiden oft unter gesundheitlichen Problemen und psychischen Schwierigkeiten. Das ist schon aus früheren Untersuchungen bekannt. Die Gründe für die Störungen seien vielfältig, heisst es in einer aktuellen Studie der Universität Zürich: Traumatisierung durch Krieg und Vertreibung, Armut oder fehlende Zukunftsperspektiven. Dennoch gibt es nur wenige Studien, die den Gesundheitszustand von Asylsuchenden tatsächlich untersuchen. Aus diesem Grund hat das Kantonsspital Zürich zusammen mit dem Bundesamt für Migration eine Untersuchung an erwachsenen Asylsuchenden vorgenommen.

 Problem: Sprachbarriere

 Es wurden 78 Personen zufällig ausgesucht. Darunter befanden sich 21 Frauen. Von dieser Gruppe litten 41 Prozent an einer psychischen Störung. Oft wurden sogar verschiedene Erkrankungen gleichzeitig diagnostiziert. Die durchschnittlich beanspruchte Krankenkassenleistung lag 1,8 Mal höher als bei vergleichbarer Schweizer Wohnbevölkerung.

 Obwohl die Studie bei 41 Prozent der Untersuchten eine psychische Störung diagnostizierte, erhielten nur wenige in diesem Zeitraum auch eine entsprechende Behandlung. "Offenbar werden die Asylsuchenden nur selten wegen spezifisch psychischer Störungen behandelt", interpretiert Thomas Meier vom Universitätsspital Zürich die Ergebnisse. Er hat die Studie mit durchgeführt. Die psychischen Störungen würden entweder nicht erkannt oder sie könnten nicht adäquat behandelt werden. "Für beides sind mit grosser Wahrscheinlichkeit Sprachbarrieren die entscheidende Ursache", erklärt Meier. Könnten doch die Hausärzte selten mit qualifizierten Dolmetschern zusammenarbeiten. Dies scheitere oft an den Kosten, welche von den Krankenkassen nicht übernommen würden.

 Vorsorge wäre nötig

 Bei Asylsuchenden fehle es oft an anderen Kostenträgern und die spezifische Therapie scheitere an den Verständigungsproblemen, heisst es in der Studie. Dabei wäre gerade hier eine frühzeitige Vorsorgeuntersuchung sinnvoll. Meier: "Damit könnten die betroffenen Personen rasch behandelt und Kosten infolge Fehlversorgung vermieden werden."

 Das Bundesamt für Gesundheit hat nun auf die Studie reagiert und bietet neu einen Telefonübersetzungsdienst für Asylsuchende an. Damit soll das interkulturelle Übersetzen im Gesundheitsbereich gefördert werden. Wenn eine kommunikative Notsituation entstehe, könne über das Telefon Hilfe angefordert werden. Der Telefonhilfedienst soll voraussichtlich ab April 2011 in Betrieb genommen werden. Er nimmt an allen Wochentagen rund um die Uhr Anrufe aus der ganzen Schweiz entgegen und vermittelt geeignete Übersetzer/innen für eine telefonische Übersetzung. Der Telefondolmetscherdienst wird in den Amtssprachen (Deutsch, Französisch und Italienisch) angeboten, ebenso wie in zahlreichen weiteren Sprachen.

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AUSSCHAFFUNGEN
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20min.ch 17.1.11

Rückführungsstopp: Tunesier werden nicht ausgeschafft

 Das Bundesamt für Migration reagiert auf die angespannte Lage in Tunesien. Vorläufig werden keine abgewiesenen tunesischen Asylbewerber mehr zurückgeführt.

Balz Bruppacher

 Rückführungsstopp für abgewiesene tunesische Asylbewerber: "Angesichts der aktuellen Situation werden bis auf weiteres keine Entscheide mit Wegweisung nach Tunesien gefällt", erklärte der Sprecher des Bundesamts für Migration (BFM), Michael Glauser, auf Anfrage von 20 Minuten Online. Zwangsrückführungen würden momentan ebenfalls nicht durchgeführt.

 Zurzeit haben gemäss Glauser 120 Menschen aus Tunesien keine Aufenthaltsberechtigung in der Schweiz. Davon hätten 52 Personen erfolglos ein Asylverfahren durchlaufen.

 358 Menschen aus Tunesien haben letztes Jahr in der Schweiz ein Asylgesuch eingereicht. Das sind 75 Prozent mehr als 2009. Der Blick auf die monatlichen Zahlen zeigt, dass im Oktober und November am meisten Asylanträge aus Tunesien gestellt wurden, nämlich je gut 50.

 Die Schweiz führte letztes Jahr 19 zwangsweise Rückschaffungen nach Tunesien durch, wie der BFM-Sprecher weiter erklärte. 13 Personen reisten freiwillig nach Tunesien aus.

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NLZ 13.1.11

Wegzug ins Ausland für Kinder zumutbar
 
Bundesgericht

Urs-Peter Inderbitzin

 Ein Bosnier wurde aus der Schweiz ausgewiesen. Auch für die Kinder ist ein Wegzug zumutbar.

 Kindern von Ausländern ist es zuzumuten, in ihr Heimatland zurückzukehren, wenn ihr Vater die Aufenthaltsbewilligung verliert. Das Bundesgericht vertritt in einem neuen Urteil eine härtere Gangart gegen kriminelle Ausländer.

 Im konkreten Fall hatte das Bundesgericht den Fall einer fünfköpfigen Familie aus Bosnien-Herzegowina zu beurteilen, die seit rund 18 Jahren in der Agglomeration Luzern lebt. Die beiden jüngeren der drei Kinder im Alter von 19, 16 und 11 Jahren sind in der Schweiz geboren. Vor drei Jahren lehnte es das Amt für Migration des Kantons Luzern ab, der Familie die Niederlassungsbewilligung zu erteilen. Mehr noch: Weil der Vater mehrmals verurteilt worden war, unter anderem wegen Körperverletzung, wies das Amt den Vater aus der Schweiz aus. Die Mutter und die drei Kinder jedoch behielten ihre Aufenthaltsbewilligung.

 Familie auseinandergerissen?

 Nach dem Luzerner Verwaltungsgericht hat nun auch das Bundesgericht das rigorose Vorgehen des Migrationsamtes geschützt. Die Familie hatte in Lausanne insbesondere geltend gemacht, durch die Wegweisung des Vaters werde die Familie auseinandergerissen, was gegen den in der Europäischen Menschenrechtskonvention garantierten Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens verstosse. Den drei Kindern sei es nicht zuzumuten, in ihr eigentliches Heimatland zurückzukehren, wo sie aber nicht aufgewachsen sind.

 Dieses Argument überzeugte das Bundesgericht aber nicht. Denn im Allgemeinen würden Ausländer einen Wechsel von Kindern im gleichen Alter von einem Land in das andere "regelmässig als möglich und zumutbar erachten, wenn es sich um die Übersiedlung aus dem Heimatland in die Schweiz handelt". Und dies selbst dann, wenn sich die Kinder nicht in einer hiesigen Landessprache verständigen könnten. Daher erscheint dem Bundesgericht auch eine umgekehrte Umsiedlung als zumutbar, wenn nicht erschwerende Umstände bestehen. Solche erkannte das Bundesgericht in diesem Fall aber nicht; sie wurden von der Familie auch nicht geltend gemacht. Das Bundesgericht hält es für zumutbar, dass die Kinder das Familienleben in ihrer Heimat führen, falls sie mit ihrem Vater zusammenwohnen wollen.

 Urs-Peter Inderbitzin
 kanton@luzernerzeitung.ch

Urteil: Das Bundesgerichtsurteil finden Sie unter http://jumpcgi.bger.ch/cgi-bin/JumpCGI?id=16.12.2010_2C_426/2010

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MIGRATIONSGESCHICHTE
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Basler Zeitung 14.1.11

Gehasst, geliebt, geduldet

 Tamilen galten einst als Gefahr, dann wurden sie idealisiert - jetzt sieht man sie nüchterner

Martin Furrer

 Der Schlag der Bundeskriminalpolizei gegen Exponenten der tamilischen Befreiungstiger rückt eine einst prominente Ausländergruppe erneut ins Rampenlicht: die Tamilen. Sie haben Schweizer Asylgeschichte geschrieben.

 Die Tamilen sind wieder da, zurück in den Schlagzeilen - als Bedrohung für die innere Sicherheit des Landes, als Gefahr für sri-lankische Bürger in der Schweiz. Kürzlich wurden in zehn Kantonen Mitglieder aus dem Umfeld der Guerillaorganisation Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) festgenommen. Die Bundesanwaltschaft wirft ihnen Zugehörigkeit zu einer kriminellen Organisation und Erpressung von Landsleuten vor (BaZ von gestern).

 Täter

Angehörige einer Ausländergruppe rücken damit erneut ins Blickfeld der Eidgenossenschaft, die sich in den Achtzigerjahren mit den Immigranten aus dem Inselstaat im Indischen Ozean schwergetan hat. "Das Tamilen-Problem wächst den Behörden über den Kopf", erklärte der "Blick" 1984. In den Flüchtlingen sah man vor allem Messerhelden, Frauenschänder, Dealer - Täter. Das Boulevardblatt produzierte Titel wie: "Tamilen demolierten Flüchtlingsheim", "Heroin im Asylantenheim" oder "Polizei holte Tamilen mit 50 gefälschten Pässen aus dem Zug". Es klagte: "Arme Schweizer müssen raus - Tamilen brauchen ihre Wohnung." Und kam zum Schluss: "Die Schweiz will die Tamilen nicht."

 Die dunkelhäutigen Menschen waren ungebetene Gäste, die den Frieden störten in der Schweiz. Um des Problems Herr zu werden, setzte der Bundesrat im März 1986 mit Peter Arbenz den ersten Delegierten für das Flüchtlingswesen ein. Der bemühte sich, die Asylbewerber so schnell wie möglich wieder loszuwerden - gegen den 1987 einsetzenden Protest der Landeskirchen, von CVP und Evangelischer Volkspartei und einiger Medien.

 "Jetzt", kommentierte beispielsweise die Basler Zeitung damals, "wird Widerstand zur Pflicht." Tatsächlich wuchs dieser Widerstand gegen die Bemühungen der Bundesbehörden, die Tamilen loszuwerden, zunehmend. Nachdem der Bundesrat 1994 einen Rückkehrvertrag mit der Regierung in Colombo ausgearbeitet und beschlossen hatte, 12 500 tamilische Asylbewerber ausser Landes zu schaffen, begehrte das Volk auf.

 Der Abt des Klosters Mariastein erklärte, es sei "ein grosses Unglück, fast schon eine Katastrophe", wenn der tamilische Küchengehilfe des Klosters ausreisen müsse. Im Baselbieter Dorf Zeglingen sammelte die Bevölkerung zum Schutz des in der Dorfbeiz beschäftigten Tamilen Unterschriften. Der Schweizerische Wirteverband gab zu bedenken: "Wir brauchen diese freundlichen Leute!" Die Tamilen seien "wegen ihrer Wesensart beliebt".

 Opfer

Der "Blick" sah in ihnen jetzt nicht mehr Täter, sondern Opfer. "Skins prügelten Tamilen halb tot", klagte das Blatt im Februar 1994. Als der Bundesrat erneut Ausschaffungen plante, lobte es: "Die angsteinflössenden Menschen von gestern haben sich beim Kennenlernen über die Jahre hinweg als sanft, arbeitsam und integrationswillig entpuppt." Im März 2000 war das Klima in der Bevölkerung sogar so gut, dass der Bundesrat in einer humanitären Aktion einigen Tausend Tamilen, deren Asylgesuch seit Jahren hängig gewesen war, ein dauerndes Bleiberecht gewähren konnte.

 Probleme

Doch ein paar Jahre später zeigten sich erste Risse im Bild der Ausländer, die helvetische Tugenden wie Fleiss, Pünktlichkeit und Disziplin verinnerlicht zu haben schienen. Eine Studie des Bundesamtes für Migration kam 2007 zum Schluss, dass die Tamilen gesellschaftlich und kulturell nicht so gut integriert seien wie vermutet. Es zeigte sich, dass Tamilen ähnliche Verhaltensweisen haben wie viele Schweizer auch: "Frustrationen (...) führen bisweilen zu Alkoholismus, Gewalt in der Ehe, Verschuldung und Verständigungsproblemen innerhalb der Familie."

 Die Tamilen, einst wurden sie gehasst, dann geliebt, heute sind sie gut geduldet - und sehen sich sogar literarisch geadelt. Die Hauptfigur im vorletzten Roman des Bestsellerautors Martin Suter ist ein Koch. Sie heisst Maravan - ein Asylbewerber aus Sri Lanka.

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SEXWORK
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sf.tv 13.1.11

Freiburg und Glarus verweigern Nachtclub-Tänzerinnen Bewilligungen

sf/fasc

 Seit Anfang Jahr erteilen die Kantone Freiburg und Glarus keine Arbeitsbewilligungen mehr für Tänzerinnen aus Nicht-EU-Staaten. Die Frauen würden in die Prostitution gedrängt und ausgebeutet. Gegen das reglementarische Flickwerk regt sich nun Widerstand.

 Es sind vor allem Frauen aus der Ukraine und der Dominikanischen Republik, die in den Cabarets tanzen. Für maximal acht Monate am Stück dürfen die Tänzerinnen aus so genannten Drittstaaten in der Schweiz legal arbeiten. Prostitution und Animation zum Alkohol-Konsum sind ausdrücklich nicht erlaubt.

 Polizei kann nicht verdeckt ermitteln

 Doch die Realität sei eine ganz andere, sagt der Freiburger Justizdirektor Erwin Jutzet (SP) gegenüber "10vor10": "Das ist ein heuchlerischer Status. Da wird gesagt, das seien Artistinnen, Tänzerinnen. In Tat und Wahrheit ist das eine Ausbeutung. Sie werden ganz klar für Prostitution missbraucht. Sie müssen zu möglichst viel Alkohol-Konsum animieren und selber trinken. Der Status gibt ihnen vordergründing das Recht, dass sie legal hier sind und sich wehren können. Aber das ist ein Schein".

 Freiburg gibt Tänzerinnen aus Nicht-EU-Staaten daher keine Arbeitsbewilligung mehr. Das bedeutet faktisch das Aus für die Nachtclubs. Denn Frauen aus dem EU-Raum arbeiten kaum in diesen Etablissements.

 Die Polizei überprüft regelmässig die Arbeitsbedingungen in den Cabarets. Die Nachtclub-Betreiber müssen den Tänzerinnen einen Mindestlohn von 2300 Franken zahlen. Doch die Fahnder vermuten, dass vielen Frauen weniger bezahlt wird, um sie so in die Prostitution zu drängen. Die Polizei sehe allerdings kaum hinter die Kulissen, sagt Marco Cortesi von der Stadtpolizei Zürich: "Grundsätzlich sind unsere Detektive darauf angewiesen, dass das, was die Frauen ihnen erzählen, auch stimmt. Da haben wir manchmal ein Fragezeichen. Um richtig zu ermitteln, müsste ein Polizist verdeckt arbeiten können. Das ist nicht möglich."

 Bund muss handeln

 Mit Freiburg und Glarus sind es nun schon zwölf Kantone, die keine Cabaret-Tänzerinnen mehr aus so genannten Drittstaaten zulassen. Jetzt müsse der Bund handeln, sagt der Freiburger Justizdirektor Erwin Jutzet im "10vor10"-Interview: "Wir fordern konkret eine saubere Lösung auf Bundesebene. Dieses Flickwerk, das wir in 26 Kantonen haben, kann es ja nicht sein. Dass es in einem Kanton erlaubt ist und im anderen nicht."

 Der Bund will die Bewilligungspraxis nun überprüfen. Gegenüber "10vor10" bestätigte das Bundesamt für Migration, in den nächsten Monaten zu entscheiden, ob Cabaret-Tänzerinnen schweizweit nicht mehr erlaubt werden sollen.

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MIGRATION CONTROL
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NZZ 14.1.11

Reise in die Hölle und zurück

 Trauriges Schicksal nigerianischer Migrantinnen in Italien

 Viele junge Nigerianerinnen verlassen ihr Land mit der Hoffnung auf ein besseres Leben in Italien. Stattdessen sind sie bereits bei Reisebeginn in den Fängen der Frauenhändler. Nach ihrer Ankunft werden die Frauen zur Prostitution gezwungen.

 Romina Spina, Rom

 Auf einer Nebenstrasse zum Meer bei Ostia, unweit von Rom, wartet Pamela am frühen Nachmittag auf den nächsten Kunden. In einem hübschen Kleid steht sie am Strassenrand und bewegt ihren Kopf bald nach links, bald nach rechts, als wäre sie kurz davor, auf die andere Strassenseite zu wechseln. Die zierliche Nigerianerin hat roten Lippenstift aufgetragen, auch ihre Augen sind stark geschminkt. Ein Auto der gemeinnützigen Organisation Magliana 80 hält an, Pamela erkennt die drei Insassinnen und lächelt sie freundlich an. Sie beginnen, miteinander zu plaudern. Die Mitarbeiterinnen geben Pamela eine Handvoll Kondome, fragen auch nach, ob sie neulich für einen Kontrollbesuch im Spital gewesen sei. Dann drücken sie ihr Kärtchen und Prospekte in verschiedenen Sprachen in die Hand. Auf diese Weise versuchen die Helferinnen Migrantinnen, die als Prostituierte arbeiten, über ihre Rechte in Italien aufzuklären. Denn sie wissen genau, dass im Umfeld der Mädchen solche Informationen nicht erhältlich sind.

 Warten auf die Abschiebung

 Sie sei heute als Einzige hier, erzählt Pamela den Frauen von Magliana 80 nach einer Weile. Am vergangenen Wochenende habe es eine grossangelegte Razzia gegeben. Danach sei es oft so, dass die jungen Frauen, die meistens aus Afrika, aber teilweise auch aus Osteuropa und Südamerika kommen, ihrem üblichen Arbeitsplatz fernblieben - aus Angst, die Polizei könnte wiederkommen und sie ins Ausschaffungszentrum von Ponte Galeria bei Rom schleppen. Dort warten jene Migrantinnen und Migranten, die den Behörden keinen Ausweis oder keine gültige Aufenthaltsbewilligung vorweisen konnten, auf ihr Schicksal. Sie bleiben in Ponte Galeria, bis sie identifiziert und allenfalls ausgewiesen werden können. In Italien gibt es 13 solche Ausschaffungszentren, Ponte Galeria ist mit einer Kapazität von rund 360 Plätzen das grösste. Die Aufenthaltsdauer hängt davon ab, wie rasch jemand identifiziert werden kann. Ausländerinnen und Ausländer können aber bis zu sechs Monate in einem solchen Zentrum verbringen.

 Für viele nigerianische Migrantinnen wird Ponte Galeria zur Endstation einer langen Reise. Die Geschichten der jungen Frauen, die hier ängstlich auf die Zukunft warten, sind bedrückend. Um sich erzählen zu lassen, wie sie nach Italien gekommen sind, muss das Vertrauen der Mädchen gewonnen werden. Die Mitarbeiterinnen von Be Free, einer gemeinnützigen Frauenorganisation, die innerhalb des Ausschaffungszentrums Unterstützungsarbeit leistet, haben mit den Migrantinnen über Monate Gespräche geführt. Das Bild, welches aus den vielen Erzählungen entstanden ist, bestätigt die schlimmsten Befürchtungen. Die meisten Migrantinnen aus Afrika, die in Ponte Galeria landen, sind in ihrer Heimat einem Menschenhändlerring zum Opfer gefallen. Kriminelle Gruppen rekrutieren einheimische Mädchen nach genauen Kriterien und locken sie nach Italien, wo sie später als Zwangsprostituierte ausgebeutet werden. Von ihrem Schicksal wissen die jungen Frauen vor Reiseantritt nichts.

 Auch Isoke konnte nicht erahnen, dass sie eines Tages am Strassenrand auf den nächsten Kunden warten würde, als man ihr vor zehn Jahren anbot, in Europa als Verkäuferin zu arbeiten. Die damals 21-jährige Nigerianerin wollte ihr Glück versuchen, auch um ihre Mutter und ihre sieben Geschwis ter finanziell unterstützen zu können, nachdem ihr Vater die Familie verlassen hatte. Heute lebt sie mit einem italienischen Mann zusammen und setzt sich für jene Migrantinnen ein, die einen Weg aus der Prostitution suchen. Denn niemand sei an deren Geschichten interessiert, beklagt sie. Man wolle nicht wahrnehmen, dass sie in Italien als Sklavinnen leben müssten.

 In der Region um Isokes Heimatort Benin City, südlich der Hafenstadt Lagos, florieren die Geschäfte jener Agenturen, die Reisen für junge Frauen nach Europa anbieten. Laut Statistiken der Uno ist Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung oder Zwangsarbeit zusammen mit Waffenhandel eine der wichtigsten Einnahmequellen der kriminellen Organisationen weltweit; nur Drogenhandel ist lukrativer.

 In Afrika sind die Opfer meistens jene Mädchen, die aus einem benachteiligten Milieu stammen. Manchmal handelt es sich um Waisenkinder, in den letzten Jahren sind es vermehrt Analphabetinnen, die mit dem Versprechen einer Arbeitsstelle nach Europa gelockt werden. Die Familien der Mädchen sind mit der Reise einverstanden, denn sie sehen, wie andere Familien in der Nachbarschaft Geld von ihren Töchtern aus Europa erhalten. Nicht selten sind Menschenhändler Familienmitglieder oder Vertrauenspersonen.

 Hohe Schulden

 Laut den Erzählungen in Ponte Galeria bringen die nigerianischen Mädchen in vielen Fällen eine grauenhafte Fahrt durch die Wüste hinter sich. Ständig sind sie der Gewalt und dem sexuellen Missbrauch durch ihre Begleiter ausgesetzt. Die Reise nach Nordafrika - teilweise auch zu Fuss - kann Wochen dauern. Bevor es von Libyen oder Marokko Richtung Europa weitergeht, merken die Frauen, dass ihnen die Kosten für die Fahrt nicht umsonst von ihren Begleitern abgenommen wurden. Bereits in nordafrikanischen Bordellen werden sie zur Prostitution gezwungen, um einen Bruchteil des hohen Schuldenbetrages zurückzuzahlen. Manchmal auch über Wochen, Monate oder Jahre.

 Andere, wie Isoke, verschulden sich stattdessen zu Hause in der Gewissheit, das Geld bald zurückgeben zu können, und steigen in ein Flugzeug nach Paris oder London. Von dort aus reisen sie nach Italien weiter. Die nigerianische Mafia organisiert gefälschte Ausweispapiere und sorgt dafür, dass die Frauen in Afrika sowie in Europa bei Grenz- oder Passkontrollen von korrupten Beamten durchgelassen werden. "Es ist eine Reise, die unser Leben für immer verändert und uns keine Möglichkeit gibt zurückzukehren", erzählt Isoke. Die meisten Mädchen in Nigeria schwören vor der Abfahrt bei einem Voodoo-Ritual, ihre Schulden für die Reise bis auf den letzten Cent zurückzuzahlen.

 Nach ihrer Ankunft in Italien werden die Migrantinnen oftmals bei einer sogenannten Maman untergebracht. Ursprünglich kam auch diese Frau als junges Opfer der Menschenhändler nach Europa, auch sie musste sich prostituieren. Nach einem jahrelangen Überlebenskampf auf der Strasse wird aus dem Opfer eine Ausbeuterin. Die Maman bringt aus ihrer Heimat eine Anzahl Mädchen nach Europa, die als Prostituierte für sie arbeiten. Sie nimmt Kontakt zu den Händlern auf, sucht sich die Mädchen aus, bezahlt die Kriminellen für die Reise und klärt die Frauen nach ihrer Ankunft über die Arbeit auf der Strasse auf. Wie Isoke erzählt, ist das für viele Mädchen die erste Erfahrung mit Gewalt, weil man eine solche Gnadenlosigkeit von einer anderen Frau nicht erwarte. Oft ist die Maman auch eine Freundin der eigenen Familie.

 Die Mädchen werden in der Regel schon wenige Tage nach ihrer Ankunft auf die Strasse gezwungen, damit sie beginnen können, ihre Schulden zurückzuzahlen. Diese Summen gehen meist von 30 000 bis 60 000 Euro. Nebst den Verdiensten der Mädchen verlangt die Maman auch Geld für die Miete, die Nebenkosten, den Unterhalt und die Kleider. Selbst ihren "Joint", den Strassenabschnitt, wo die Mädchen auf die Kunden warten, müssen sie bezahlen. Im Monat kann dieser je nach Standort bis zu 300 Euro kosten. So kann es sein, dass die bereits hohen Schulden weiter nach oben klettern.

 Die Maman entscheidet

 In Italien entscheidet die Maman über jeden Aspekt des Lebens der jungen Frauen. Sie warnt beispielsweise davor, Einkäufe in italienischen Geschäften zu tätigen. Die Mädchen kaufen dann in kleinen Läden fast ausschliesslich Produkte aus Afrika ein, die von Chinesen importiert werden und teuer sind. "Sie leben in Europa, aber es ist so, als wären sie immer noch in Afrika", sagt Isoke. Diese kulturelle Segregation soll verhindern, dass sich die Migrantinnen über ihre Lage und über eine mögliche Flucht Gedanken machen können. Auch darf es nicht zu Solidarität zwischen den Mädchen kommen, weil sie sich dann gegen die Maman zusammenschliessen könnten. In der Regel ist die Angst zu gross und das Vertrauen zu den Mitmenschen zu gering, um Freundschaften zu schliessen. Den Mädchen wird eingeredet, dass ihre einzige Sorge die Arbeit sein müsse.

 Verdienen sie einmal weniger als erwartet, werden sie von der Maman oder einem Zuhälter geschlagen. Selbst wenn sie verletzt werden, wollen sie sich danach nicht von einem Arzt untersuchen lassen, weil sie fürchten, dass die Polizei benachrichtigt werden könnte. Gehorchen die jungen Frauen der Maman nicht, wird ihnen mit Gewalt gegen die Familie in Afrika gedroht. So werden die Migrantinnen - unter ihnen auch viele Minderjährige - unter Kontrolle gehal ten. Weil die Mädchen sehr gläubig sind, wird ein Afrikaner engagiert, der sich als Priester ausgibt. Die Anweisungen dieses Mannes sind mit den Ausbeutern abgesprochen. So trauen sich nur wenige Mädchen, einen Ausweg zu suchen.

 Wer dennoch rebelliert, wird gefoltert oder umgebracht. Laut einer jüngst veröffentlichten Studie sollen in den letzten zehn Jahren rund 500 nigerianische Prostituierte getötet worden sein. Die jungen Frauen müssen ständig um ihr Leben fürchten. Auch, weil sie das schwächste Glied der Gesellschaft sind. "Wir sind Frauen, wir sind Schwarze, wir haben keine Aufenthaltsbewilligung, wir haben keine Rechte", fasst Isoke zusammen. Sie seien also das perfekte Ventil für jeden Gewaltausbruch. Sei es die Maman, seien es die Freunde der Maman oder die Freier. Nicht einmal die afrikanischen Arbeiter, die auf süditalienischen Feldern für wenige Euro ausgebeutet werden, hätten Mitleid mit ihnen. Wie Isoke erzählt, kommt es oft dazu, dass sie aus lauter Wut und Frust über die eigene Situation die Migrantinnen vergewaltigten.

 Angst vor Vergeltung

 Einen Ausweg zu finden, ist für viele Frauen schwierig, gerade dann, wenn sie nicht wie in Isokes Fall einen italienischen Mann an ihrer Seite haben. In Italien sieht das Gesetz zwar vor, dass Opfer von Menschenhändlern eine Aufenthaltsbewilligung beantragen können. Dafür müssen die Frauen jedoch ihre Ausbeuter anzeigen. Danach werden sie in eine geschützte Unterkunft gebracht und bis zum Prozess von Anwälten, Psychologen und Sozialarbeitern unterstützt. Nur wenige nigerianische Migrantinnen trauen sich jedoch, Anzeige zu erstatten, weil die Angst vor Vergeltungsmassnahmen gross ist. Isoke wurde beinahe zu Tode geprügelt, als ihre Maman erfuhr, dass sie Beratungsstellen um Hilfe gebeten hatte. Nachdem sie aus dem Koma erwacht war, wurde sie nicht von gemeinnützigen Organisationen, sondern von ihrem Lebenspartner so lange unterstützt, bis sie eine Arbeitsbewilligung erhielt.

 Trotz ihrer aussichtslosen Lage suchen viele Mädchen die italienischen Beratungsstellen kein einziges Mal auf. Nebst dem hohen Risiko, von ihren Ausbeutern erwischt zu werden, wollen die Frauen um jeden Preis verhindern, dass sie zur Identifikation und Ausweisung in ein Ausschaffungszentrum kommen. In Ponte Galeria erzählt eine junge Nigerianerin, wie sie dort hingeführt wurde. Es sei nicht wie in den meisten anderen Fällen nach einer Strassenrazzia gewesen, sondern nachdem sie die Polizeikräfte um Hilfe bei einem Angriff gebeten hatte. Anstatt das Mädchen in Schutz zu nehmen, haben sie die Polizisten von Neapel nach Ponte Galeria gebracht.

 Das Leben im Ausschaffungszentrum ist hart. Nicht nur, weil man in der Ungewissheit lebt, was morgen sein wird. Im vergangenen Jahr kam es vor allem in Ponte Galeria häufig zu Gewaltausbrüchen. Monatelang herrschte Ausnahmezustand, immer wieder traten Migrantinnen und Migranten in den Hungerstreik. Es gab zahlreiche Selbstmordversuche, im Frühjahr wurde bei einer Brandstiftung ein Teil der Anlage zerstört. In den Zimmern dürfen keine scharfen Gegenstände gehalten werden - nicht einmal eine Nagelschere. Viele leiden unter Depressionen und versuchen, sich Verletzungen zuzufügen.

 Für die Frauen ist dieses Klima kaum auszuhalten. Sie erzählen, wie sie sich jeden Tag etwas anderes ausdenken müssten, um nicht durchzudrehen. Für die meisten Mädchen sei es wie das Ende eines grossen Traumes, erzählen zwei Psychologinnen, die im Zentrum arbeiten - des Traumes, der Misere im eigenen Land zu entgehen und in Europa ein besseres Leben zu führen. Für diesen Traum hätten sie Schulden gemacht, Schläge kassiert, Folterungen geduldet, ihren Körper auf der Strasse verkauft. Dies alles vergebens gemacht zu haben, sei schwer zu akzeptieren.

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 Immer mehr minderjährige Opfer

 Romina Spina (rsp)

 rsp. Rom · Die Zahl der Migrantinnen, die in ihrem Heimatland einem Menschenhändlerring zum Opfer fallen und in Italien zur Prostitution gezwungen werden, ist in den letzten Jahren gestiegen. Offizielle Statistiken gibt es nicht, da die jungen Frauen entweder auf illegale Weise ins Land einreisen oder nach ihrer Ankunft ihr Touristenvisum ablaufen lassen. Verschiedene Hilfswerke schätzen jedoch, dass in Italien gegenwärtig zwischen 19 000 und 26 000 Migrantinnen sexuell ausgebeutet werden. Unter ihnen sind die Nigerianerinnen am stärksten vertreten. Laut Daten aus dem Jahr 2008 stammen zwischen 7800 und 10 000 sexuell ausgebeutete Frauen aus diesem afrikanischen Land. Jüngst hat die nigerianische Botschaft in Rom bestätigt, dass im Laufe von zehn Jahren rund 20 000 Nigerianerinnen in Italien von Menschenhändlern sexuell ausgebeutet worden seien.

 In diesem Zusammenhang konnte in den letzten Jahren ein markanter Anstieg minderjähriger Opfer beobachtet werden. Die Mädchen sind im Schnitt zwischen 15 und 18 Jahre alt. Laut verschie denen Studien ist das Durchschnittsalter in letzter Zeit gesunken. Die Mädchen stammen ausschliesslich aus ärmeren familiären Verhältnissen. In den meisten Fällen ist es die Maman, die sich ausdrücklich Minderjährige wünscht, da sie unerfahrener und verletzlicher sind.

 Laut der Internationalen Organisation für Migration sind seit 2008 vermehrt potenzielle Opfer der Menschenhändler aus Afrika in Italien eingereist. Die Frauen stammen ausser aus Nigeria oft auch aus Ghana und den Ländern des Maghreb.

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WoZ 13.1.11

Griechenland

 Grenzzaun und schwimmende Auffanglager

 Vergangenes Jahr registrierte Griechenland 128 000 illegal eingereiste Flüchtlinge - die höchste Zahl in der EU. Weil die Auffanglager hoffnungslos überfüllt sind, will die Regierung nun prüfen, ob sie zwei Schiffe mieten soll, auf denen je tausend Flüchtlinge untergebracht werden können. Laut griechischen Medien wollen RegierungsvertreterInnen in den nächs ten Tagen in die Niederlande reisen - die Niederlande benutzen gemäss der Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) bereits seit 2007 Schiffe als Gefängnisse.

 Zusätzlich sollen papierlose Migrant In nen auch in alten Armeequartieren untergebracht werden, gab Christos Papoutsis, Minis ter für öffentliche Sicherheit, bekannt. "Täglich kommen zwischen 200 und 300 MigrantInnen in Griechenland an", sagte Papoutsis kürzlich.

 Ein Grossteil der Papierlosen gelangt über die türkische Grenze ins Land. Die Regierung plant deshalb den Bau eines 12,5 Kilometer langen Zauns im Nordosten des Landes. Menschenrechtsorganisationen und Gewerkschaften haben für den 15. Januar zu einer Demonstration gegen den vorgesehenen Grenzzaun aufgerufen. "Dadurch wird auch jenen Flüchtlingen der Zugang verwehrt, die wirklich internationalen Schutz brauchen", sagt Petros Constantinou von der Sozialistischen Arbeiterpartei.

 Bereits Mitte Dezember hatte AI einen Gesetzesentwurf kritisiert, der es der griechischen Regierung erleichtert, Papierlose in Auffanglagern festzuhalten und schneller auszuschaffen. sw

http://www.borderline-europe.de

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NZZ 13.1.11

Umstrittene Pläne zum Bau eines Grenzzauns

 Athen will den Strom von Migranten an der Landgrenze zur Türkei eindämmen

 Griechenlands Probleme mit den illegal eingereisten Migranten werden immer grösser. An einem Krisengipfel wurden Massnahmen beschlossen. Geplant ist auch ein Grenzzaun.

 Elisa Hübel, Athen

 Im vergangenen Jahr sind etwa 128 000 Migranten illegal nach Griechenland gekommen. Bis 2009 waren die meisten von ihnen über griechische Inseln in der Ägäis ins Land gelangt. Nachdem dort Experten der EU-Grenzschutzagentur Frontex zum Einsatz gekommen waren, verlagerte sich der Schwerpunkt an die türkisch-griechische Landgrenze, wo täglich bis zu 400 Migranten nach Griechenland kamen. Im November wurden hier 175 Frontex-Grenzschützer stationiert. Seither konnte der Zustrom um 42,6 Prozent reduziert werden. Doch das Mandat der Helfer aus dem Ausland läuft am 3. März aus.

 Gegner und Befürworter

 Griechenland will aus diesem Grund an einem besonders schwierig zu bewachenden Abschnitt, wo der Fluss Evros nicht die Grenze bildet, sondern direkt durch türkisches Territorium fliesst, einen 12,6 Kilometer langen Grenzzaun errichten. Diese bis zu zehn Meter hohe Konstruktion soll die Immigranten nach Wunsch seiner Planer künftig davon abhalten, über die Landgrenze nach Griechenland zu kommen. Alle 500 Meter sollen Wärmebildkameras installiert werden, die verdächtige Bewegungen melden. Das Projekt, das bis jetzt nur auf dem Papier steht, hat nicht nur im Ausland viele Gegner, sondern auch in Griechenland. Am Samstag findet in der Hauptstadt Athen ein Protestmarsch gegen den vier Millionen Euro teuren Hightech-Zaun statt.

 Einer, der sich hingegen klar für den Grenzzaun ausspricht, ist der griechisch-orthodoxe Metropolit der Hafenstadt Thessaloniki, Anthimos. Ginge es nach ihm, müssten weitere solche Hindernisse entlang der griechisch-türkischen Grenze errichtet werden, nämlich "überall da, wo Immigranten aus aller Welt zu uns kommen".

 Dabei fürchtet der Gottesmann vor allem die daraus resultierende wachsende Zahl muslimischer Bürger. Laut dem Geistlichen sollen in Athen 700 000 Muslime ansässig sein. Dass diese - obschon von staatlicher Seite immer wieder versprochen - noch immer keine eigene Moschee haben und ihre Gottesdienste in behelfsmässigen Räumen abhalten müssen, ist eine weitere Facette der Einwanderungsproblematik in Griechenland. Offiziell bekennen sich 98 Prozent der Bevölkerung zum griechisch-orthodoxen Glauben; die griechisch-orthodoxe Kirche ist faktisch Staatskirche. Die illegal eingewanderten Migranten, die es in die griechischen Städte schaffen, fristen ihr Dasein im besten Fall mit Gelegenheitsjobs. Viele rutschen auch in die Klein- oder Drogenkriminalität oder in die Prostitution ab.

 In der Hauptstadt sind die Probleme inzwischen so gross geworden, dass die Politiker zum Handeln gezwungen sind. An einem Krisengipfel einigten sich in der vergangenen Woche Minister und Kommunalpolitiker darauf, künftig konsequent gegen die Ghettoisierung ganzer Stadtteile und gegen die daraus resultierenden Probleme vorzugehen. Beschlossen wurde auch die Verbesserung der Verpflegung der Bedürftigen.

 Neue Auffanglager

 Um die Fragen der Unterbringung der Immigranten zu lösen, sollen ehemalige Kasernen umfunktioniert werden. In den letzten Tagen wurde sogar der Plan bekannt, dass eventuell für die Sicherheitsverwahrung Spezialschiffe aus den Niederlanden gemietet werden könn ten. Insgesamt sollen bis zu 15 neue Auffanglager entstehen. Die Ausgaben zur Realisierung dieser Pläne bis zum Jahre 2013 werden vorerst auf 250 Millionen Euro veranschlagt. Entsprechende Gesetzentwürfe will die Regierung Papandreou bis zum März vorlegen. Bereits vor einigen Tagen war eine Gesetzesnovelle zur Gründung einer neuen Asylbehörde im Parlament eingebracht worden.

 Der für den Schutz der Bürger zuständige Minister Christos Papoutsis setzte sich in jüngster Zeit immer wieder für eine konsequente Ausschaffungspolitik ein. Die Asylpolitik ist ein grosses Problem, Griechenland ist überfordert: Etwa 50 000 Asylanträge sind nicht bearbeitet; in der Praxis wird nicht einmal ein Prozent der eingereichten Anträge genehmigt.

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La Liberté 13.1.11

Contre l'immigration vers l'europe.

Des barrières qui ne règlent rien

 De Grèce en Israël, des barrières vont s'ériger cette année pour stopper l'immigration clandestine. Une conséquence des politiques européenne, en la matière, qui montrent ainsi leurs limites à court terme.
 
Eric L'Helgoualc'h

 Le 31 décembre dernier, le gouvernement grec faisait part de son intention de construire, à la frontière terrestre avec la Turquie, un mur de barbelés destiné à empêcher les incursions de migrants. Quelques semaines plus tôt, Israël inaugurait dans le Sinaï l'édification d'une barrière censée mettre un terme à une immigration africaine en plein essor.

 Ces deux événements s'inscrivent dans une tendance, née dans le sillage du 11 septembre, qui voit les pays les plus prospères se barricader contre les arrivées d'étrangers. Qu'il s'agisse de réfugiés ou de migrants "économiques", venus chercher la richesse là où elle se trouve. Le symbole le plus spectaculaire de ce grand mouvement protectionniste reste le mur bardé de hautes technologies érigé par les Etats-Unis à leur frontière avec le Mexique, sous l'ère Bush.

 Référence américaine

 En annonçant le lancement de son grand chantier, Christos Papoutsis, ministre grec de la Protection du citoyen, s'est d'ailleurs explicitement référé à la barrière américaine. En 2010, plus de 30 000 immigrés irréguliers ont été interceptés sur les rives de l'Evros, en Thrace. La Grèce estime que 128 000 personnes aurait pénétré en Europe par son territoire en 2010.

 Elles sont venues s'ajouter aux quelque 300 000 sans-papiers déjà présents dans le pays, selon l'estimation minimale (certains parlent de 2 millions). Dans certains quartiers d'Athènes, des comités de quartier appuyés par des groupuscules ultranationalistes s'affrontent régulièrement à des groupes de migrants soutenus par des militants d'extrême gauche. Pour Christos Papoutsis, la situation est devenue critique. Au point qu'il a fallu se résoudre à envisager la construction d'une barrière à la frontière d'un pays candidat à l'Union européenne.

 Le problème israélien

 En Israël, ce sont 35 000 migrants africains qui ont franchi la frontière avec l'Egypte au cours des quatre dernières années. D'après les associations de défense des droits de l'homme, la plupart sont des réfugiés fuyant la guerre civile au Soudan et le régime dictatorial d'Erythrée. Pour des raisons historiques évidentes, les Israéliens sont partagés entre la compassion envers ces victimes de persécutions et la peur d'une invasion. Benyamin Netanyahou a choisi, non sans arrière-pensées électorales, de présenter l'affaire sous l'angle de la menace: "Cette vague grossit et menace l'emploi des Israéliens. Elle change le visage de l'Etat d'Israël et nous devons l'arrêter."

 En plus de la barrière, le premier ministre a annoncé l'installation dans la Néguev d'un camp de réfugiés pouvant accueillir 10 000 personnes. Anticipant sans doute les parallèles douteux que ne manquera pas d'inspirer cette décision, le gouvernement israélien a pris soin de préciser que dans ce camp, les migrants seraient nourris, logés, en échange de quoi ils auraient interdiction de travailler.

 Des politiques parallèles

 L'autre point commun entre ces deux événements, c'est qu'on peut y voir une conséquence des politiques menées depuis dix ans par certains pays membres de l'Union européenne pour juguler les flux migratoires. Confrontées aux débarquements réguliers de migrants, l'Espagne et l'Italie ont renforcé la surveillance de leur littoral, en recourant pour cela à des moyens quasi militaires et en nouant des accords de coopération avec les pays de départ, sans être regardants sur leur respect des droits de l'homme.

 Les côtes andalouses, les Canaries et Lampedusa ont ainsi été rendues à la délectation des touristes. Mais en obstruant progressivement les portes d'entrée vers l'Europe, les gouvernements concernés n'ont pas mis fin à l'immigration: ils n'ont fait qu'en déplacer les routes. Avec pour conséquence de prolonger l'errance de plusieurs milliers de migrants qui parcourent l'Afrique en quête d'une rampe de lancement vers l'Europe.

 Immense "jeu de taquin"

 La lutte contre l'immigration irrégulière a fini par ressembler à un gigantesque jeu de taquin à l'échelle du bassin méditerranéen. Désormais, c'est en Israël et en Grèce que la partie se joue. En novembre dernier, 80 Erythréens furent pris en otage par des trafiquants à la frontière israélo-égyptienne. Ils étaient partis de Tripoli pour rallier l'Etat hébreu. Pour les spécialistes des mouvements migratoires, cette information prouve une chose: que l'obstruction de la voie de passage entre la Libye et l'Italie à partir de mai 2009, résultat de l'accord controversé entre Rome et le régime de Kadhafi a poussé un certain nombre de réfugiés à se rabattre vers Israël.

 En Grèce, la plupart des migrants viennent du Pakistan, d'Afghanistan, d'Irak ou d'Iran. Pour ces filières, le report s'est fait à l'échelle locale, entre les îles de la mer Egée et la frontière terrestre avec la Turquie, où le trafic a explosé en 2010. A tel point que Frontex, l'agence européenne de surveillance des frontières, y a dépêché récemment un contingent de 175 hommes pour épauler la police grecque.

 Passer par la Bulgarie?

 Sur place, les experts européens ont mesuré une forte proportion de Maghrébins parmi les migrants interceptés. Ils l'expliquent par l'ouverture de vols low cost entre leur pays et la Turquie. Les "harragas" ne peuvent plus traverser la Méditerranée en bateau, ils prennent donc des chemins de traverse.

 Rien ne porte à croire que le nombre de migrants diminuera à l'avenir. La partie de taquin devrait donc se poursuivre. On parle déjà d'un détournement des flux vers la Bulgarie, en attendant la Roumanie. Un facteur qui explique peut-être, à la marge, la décision récente de retarder l'accession de ces deux pays à l'espace Schengen.

 En théorie, ce jeu ne prendra fin que lorsque l'ensemble du pourtour européen aura été bouclé. Mais combien de milliards d'euros faudra-t-il à la très lucrative industrie de la sécurité pour se donner l'illusion d'y parvenir? Et enfin, que vont devenir les réfugiés? Autant de questions qui, en toute logique, devraient faire l'objet d'un débat européen en 2011. Rue89

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 Rien ne porte à croire que le nombre de migrants diminuera à l'avenir...

 La Turquie en ligne de mire

 La volonté de la Turquie de prendre part sérieusement au contrôle des frontières a toujours été sujette à caution. Le pays y est pourtant tenu par ses engagements européens. Mais certains l'accusent à demi-mots de laisser filer ces milliers d'étrangers qui, après tout, ne font que traverser son territoire. Lors d'une visite en Grèce l'été dernier, Jacques Barrot, alors en charge du portefeuille des Affaires intérieures à la Commission, est allé jusqu'à évoquer des "complicités" entre passeurs et autorités locales. Ekrem Gülen, responsable de la police d'Edirne, refuse ces procès d'intention. Et l'officier turc de présenter un graphique: en 2007, plus de 18 000 personnes ont été interceptées avant d'avoir atteint la Grèce. Mais pour les huit premiers mois de 2010, la courbe atteint péniblement les 5600 unités... EL

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 La Grèce rejette les reproches de l'UE

 Face aux critiques, le ministre grec en charge de l'Immigration s'en est pris récemment à "l'hypocrisie" de certains Etats européens hostiles à son projet d'ériger une clôture à sa frontière turque pour empêcher l'immigration clandestine. "Dénoncer la Grèce pour défaut de sécurisation de sa frontière selon les règles Schengen, et en même temps nous critiquer parce qu'on tente de renforcer la surveillance à nos frontières, c'est de l'hypocrisie", a déclaré Christos Papoutsis. Il a rappelé que la Grèce réclamait la révision des règles européennes concernant les migrations, baptisées Dublin II, qui limitent les procédures d'asile au pays d'entrée.

 Athènes veut ériger une clôture sur un tronçon de sa frontière avec la Turquie long de 12,5 km. Le projet qui suscite des critiques en Grèce et des réserves en Europe, prévoit également des caméras thermiques et des patrouilles renforcées. Le gouvernement envisage de restaurer d'anciennes bases militaires pour créer des centres de rétention temporaires pour migrants. Athènes souhaite que l'Europe partage une part du fardeau: "Nous sommes le seul point d'entrée", a indiqué la vice-ministre du Travail Anna Dalara. "Ces malheureux doivent être répartis." La réglementation européenne en matière d'immigration, connue sous le nom de Dublin II, restreint les possibilités de demande d'asile dans le seul premier pays d'arrivée.

 Depuis des années, les organisations de droits de l'homme critiquent le traitement inapproprié réservé aux populations fuyant des conflits en Afrique, au Proche-Orient et dans le sous-continent indien. Les candidats à l'immigration et demandeurs d'asile s'entassent dans des centres de détention ou des cellules de police surpeuplés et en mauvais état. La plupart sont libérés avec un ordre de quitter le territoire. Certains tentent alors de passer illégalement dans d'autres pays mais une majorité finit à la rue, sans ressource et proie facile pour les groupes criminels. AFP

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BOMBEN-STIMMUNG
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Indymedia 17.1.11

Im Bezug auf eine Verhaftung in Griechenland ::

AutorIn : AutorIn         

Offener Brief von Philip und Pepe Mayer über die Speichelleckereien und Veröffentlichungen einiger Papageien des Staates über unsere Schwester.     

Es wird ein grosses Spiel auf dem Rücken unserer Schwester und unserer Familie gespielt. Mit der Verhandlung der Angeklagten wegen Beteiligung an der Organisation "Verschwörung der Feuerzellen", die bald stattfindet, und der Explosion am Verwaltungsgerichtsgebäude, die im Bezug auf Verhaftungen unbeantwortet bleibt, wurde vom Staat der Versuch erwartet einen "grossen Fisch" zu fangen. Und wenn er das nicht schafft, bastelt er sich eben einen, damit er verlorenes Prestige wiedererlangt und seine Stärke unter Beweis stellen kann.

Daher sahen bestimmte Journalisten, Agenten der Autorität, die Möglichkeit basierend auf der zufälligen Übereinstimmung der Namen unserer Mutter und eines mutmasslichen Mitglieds der RAF, Barbara Meyer, eine filmreife Geschichte mit mutmasslichen Verbindungen von internationalen und inländischen Gruppen zu erfinden. Sie erreichten einen derartigen Punkt der Lächerlichkeit, dass sie Namen von gesuchten Mitgliedern der RAF der 80er wiederveröffentlichten und andere pikante Geschichten servierten, um die terrorisierte Öffentlichkeit zufriedenzustellen. Dazu wurde unsere Mutter als gesuchte und verschwundene Terroristin dargestellt, während sie im Moment in Wirklichkeit zusammen mit uns, ihrer Familie, in Griechenland lebt. Unserem Vater Wolfgang wurde durch ihre Hände ein schlimmeres Schicksal zuteil: Sie änderten nicht nur seinen Namen, nein, sie erklärten auch, dass er vor Jahren bei einer Schiesserei mit Bullen in Österreich getötet worden sei! Sehr schockierend für einen Musiktherapeuten, der gesund und munter in Deutschland lebt und arbeitet…

Weil sie anscheinend ein Glas mit jemandem der 4 kürzlich wegen angeblicher Brandanschläge in Thessaloniki Festgenommenen getrunken hatte, wurde unsere Schwester durch diese Mythen und aufgrund ihres ‘terroristischen' Stammbaums zum Mitglied einer kriminellen Organisation geweiht und dazu aufgefordert zu bezeugen.

Unsere Schwester ist wie wir keine Terroristin, sondern eine Anarchistin - eine sehr schwerwiegende Entscheidung in einer Welt von Herrschenden. Wir fordern, dass dieses schäbige Spiel, das auf dem Rücken unserer Schwester und unserer Familie gespielt wird, sofort beendet wird und wir warnen all jene, die daran Teil haben, dass wir ihnen dereinst gegenüberstehen werden. Und lasst uns eines nicht vergessen:

Die Staaten sind die einzigen Terroristen.

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sf.tv 17.1.11

Brandanschlag gegen Bundesstrafgericht Bellinzona

 Am Eingang des Bundesstrafgerichts in Bellinzona (TI) ist in der Nacht ein Brand gelegt worden. Auf eine Wand wurde in Italienisch der Slogan "Brennt die Gerichte nieder - Nieder mit dem Staat" gesprayt.

sda/fasc

 Tatverdächtige wurden bisher nicht gefunden. Verletzt wurde niemand. Der Brand war gegen 2 Uhr ausgebrochen, wie die Polizei mitteilte. Betroffen war ein Gebäude, in dem sich Büros des Bundesstrafgerichts und der Swisscom befinden. Zwei Frauen, die dort arbeiteten, konnten das Gebäude unverletzt verlassen.

 Erinnerungen an Camenisch

 Die Feuerwehr löschte den Brand rasch. In Mitleidenschaft gezogen wurden der Haupteingang des Gebäudes und dessen Umgebung. Am Brandort wurden nach Angaben der Polizei Spraydosen gefunden. Auf eine Wand war in Italienisch der Slogan "Brennt die Gerichte nieder - Nieder mit dem Staat" gesprayt worden. "Unterzeichnet" war die Botschaft mit dem von Anarchisten verwendeten eingekreisten "A", wie die Polizei mitteilte.

 Die polizeilichen Ermittlungen konzentrieren sich denn auch auf diese Kreise. Das so genannte Anarchisten-A wurde im Tessin in der Vergangenheit vor allem im Zusammenhang mit Parolen zugunsten des Bündners Marco Camenisch verwendet.

 Verdächtiger Koffer in Lugano gesprengt

 Der so genannte "Öko-Terrorist" hatte vor allem in den 80er-Jahren von sich reden gemacht. In Italien war er wegen Sprengstoffanschlägen gegen Strommasten zu 12 Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Nach seiner Auslieferung an die Schweiz wurde ihm 2007 in Zürich der Prozess gemacht, weil er im Dezember 1989 einen Grenzwächter erschossen haben soll. Er wurde zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Der heute 58-Jährige verbüsst die Strafe im Kanton Zürich.

 Im Zentrum Luganos sorgte am Vormittag beim italienischen Konsulat ausserdem ein herrenloser Koffer für Aufregung. Die Umgebung wurde abgesperrt und der Koffer gesprengt. Er war leer.

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Newsnetz 17.1.11

Brandanschlag auf Bundesstrafgericht

sda / miw

 Unbekannte haben in der Nacht auf heute vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona ein Feuer gelegt. Hinter der Tat stecken vermutlich Anarchisten.

 Am Eingang eines Gebäudes des Bundesstrafgerichts in Bellinzona ist in der Nacht ein Brand gelegt worden. Laut der Tessiner Kantonspolizei war das Feuer rasch unter Kontrolle. Tatverdächtige wurden bisher nicht gefunden. Verletzt wurde niemand.

 Am Brandort wurden nach Angaben der Polizei Spraydosen gefunden. Auf die Wand war auf Italienisch die Nachricht "Feuer den Gerichten - Schlagen wir den Staat nieder" gesprayt. Unterzeichnet war sie mit dem eingekreisten "A" der Anarchisten, wie die Polizei auf Anfrage der Nachrichtenagentur SDA mitteilte.

 Zwei Frauen evakuiert

 Der Brand war in der Nacht gegen 2 Uhr ausgebrochen, wie die Polizei mitteilte. Betroffen war ein Gebäude, in dem sich Büros des Bundesstrafgerichts befinden. Zwei Frauen, die in dem Gebäude arbeiteten, konnten dieses unverletzt verlassen.

 Die Feuerwehr löschte den Brand rasch. In Mitleidenschaft gezogen wurden der Haupteingang des Gebäudes und dessen Umgebung. In dem Haus befinden sich die Regionaldirektion der Swisscom und Büros des Bundesstrafgerichts.

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Zentralschweiz am Sonntag 16.1.11

Nachrichtendienst schaltet sich ein

Jürg Auf der Maur

 In den vergangenen Tagen gab es in der Schweiz gleich mehrere Bombendrohungen. Nun hat sich auch der Bund in die Ermittlungen eingeschaltet.

 Jürg Auf der Maur

 juerg.aufdermaur@zentralschweizamsonntag.ch

 "Wir nehmen die Bombenalarme sehr ernst, denn die Gefährdung könnte gewaltig sein." Das sagt Verteidigungsminister Ueli Maurer am Rand der SVP-Versammlung gestern in Emmen gegenüber der "Zentralschweiz am Sonntag". Grundsätzlich sind für die Aufklärung der Fehlalarme der vergangenen Tage in Genf, Solothurn, Wallis und Zürich die jeweiligen Kantonspolizeikorps zuständig - allenfalls verstärkt durch die Bundespolizei.

 Verteidigungsminister Ueli Maurer macht aber klar, dass nicht nur diese Organisationen derzeit an der Arbeit sind, um Licht ins Dunkel zu bringen. Auch der ihm unterstellte Nachrichtendienst sei eingeschaltet worden. In welche Richtungen die Abklärungen laufen, wollte und konnte Maurer gestern allerdings nicht weiter kommentieren. Maurer sagte nur so viel: "Es geht darum, abzuklären, was die Motive hinter den Fehlalarmen waren und wo allenfalls weitere Alarme ausgelöst werden könnten." Im Moment sei die ganze Angelegenheit aber höchst vertraulich.

 Polizei tappt im Dunkeln

 Offenbar gestalten sich die Abklärungen weit komplizierter als erhofft. So einfach wie beim Anschlag auf die Schweizer Botschaft in Rom kurz vor Weihnachten, als sich unmittelbar nach der Explosion einer Paketbombe eine Anarchistengruppe verantwortlich bekannte, ist es bei den Fehlalarmen dieser Woche nicht. Im Moment könne nichts zur Täterschaft gesagt werden, auch nicht, ob Verbindungen zum Attentat in Rom bestehen. "Wenn wir das könnten, wären wir mit unseren Abklärungen schon viel weiter", betont Ueli Maurer. Hintergrund von Maurers Sorgen sind zahlreiche Bombendrohungen, die diese Woche in der Schweiz eingegangen sind. Bei allen stellte sich heraus, dass es Fehlalarme waren. Die letzten beiden Bombendrohungen gingen am Freitag in Zürich ein. Am Hauptbahnhof musste ein Zwischengeschoss abgeriegelt werden. Der Bahnverkehr wurde jedoch nicht behindert. Auch im Ringier-Verlagshaus im Zürcher Seefeld war eine Bombendrohung eingegangen. Das Gebäude wurde vorübergehend evakuiert.

 Betroffen war auch die Fluggesellschaft Swiss. Am 6. Januar konnte wegen einer anonymen Drohung ein Airbus A321 der Swiss in Istanbul nicht planmässig starten. Türkische Bombenexperten fanden in der Maschine jedoch nichts. Zum Zeitpunkt des Bombenalarms befanden sich keine Passagiere an Bord der Maschine.

 Angst wegen WEF

 Die Nervosität bei den Verantwortlichen vom Bund ist nicht zuletzt deshalb so gross, weil in Davos Ende Januar das Weltwirtschaftsforum (WEF) mit zahlreichen Spitzenkräften aus Politik, Wirtschaft und Armee beginnt. Die Bündner Kantonspolizei sieht Paketbomben als eine mögliche Gefahr für das WEF, wie der Bündner Kommandant Beat Eberle gestern in einem Interview mit der "Südostschweiz" ausführte.

 Es sei auffallend, so Beat Eberle, dass erstmals seit langer Zeit zwei Schweizer Botschaften in Athen und Rom mit Paketbomben angegriffen worden seien. Es gebe also Gruppen, welche die Schweiz als Zielscheibe verwenden. Es gelte zu verhindern, dass jemand auf die Idee komme, in Davos zu attackieren. "Wir hoffen das Beste, bereiten uns aber auf das Schlimmste vor", erklärte Eberle. "Völkerrechtlich höchst brisante Personen werden in Graubünden sein, es darf auf gar keinen Fall etwas schiefgehen."

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sf.tv 16.1.11

Polizei in Athen vereitelt Terroranschläge

dpa/weis

 Die griechische Polizei hat nach eigenen Angaben eine Reihe vermutlich unmittelbar bevorstehender Terroranschläge vereitelt. Ermittler entdeckten bei vier bereits am Donnerstag festgenommenen mutmasslichen Terroristen nun Waffen. Sie fanden zudem einen Laptop, auf dem sich ein vorab formuliertes Bekennerschreiber befand.

 Ausserdem seien Listen sichergestellt worden, die Namen von Richtern, Skizzen verschiedener Athener Stadtteile und Orte mit Polizeistationen enthielten, teilte die Polizei in Athen mit.

 Prozess in Hochsicherheitsgefängnis

 Die Polizei geht davon aus, dass die Tatverdächtigen noch vor dem Prozess gegen Angehörige der "Verschwörung der Feuerzellen" einen oder mehrere spektakuläre Anschläge verüben wollten. 13 mutmassliche Mitglieder der Untergrundorganisation müssen sich von Montag an in einem Hochsicherheitsgefängnis in der Nähe von Athen vor Gericht verantworten.

 Die Gruppe hatte in den vergangenen zwei Jahren mehrere Bombenanschläge verübt. Mitglieder stehen auch in dem Verdacht, eine Reihe von Briefbomben an europäische Politiker geschickt zu haben. Eine dieser Bomben landete auch im Kanzleramt. Weitere Prozesse gegen andere Mitglieder der Organisation sollen in den kommenden Monaten beginnen.

 Radikale linksgerichtete oder anarchistische Gruppen

 Nach der Verhaftung der vier Tatverdächtigen am Donnerstag hatten Beamte der griechischen Antiterroreinheit am Freitag auch eine 27-jährige Deutsche im Athener Stadtteil Perissos festgenommen. Sie soll Verbindungen den vier mutmasslichen Terroristen gehabt haben.

 Der Rechtsanwalt der Deutschen sagte dem griechischen Nachrichtenportal "in.gr", seine Mandantin gehöre zwar der anarchistischen Szene an, sie habe aber nichts mit Terrorismus zu tun.

 Radikale linksgerichtete oder anarchistische Gruppen verüben des Öfteren Anschläge in Athen und anderen griechischen Städten.

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ARMEE GEGEN INNEN
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NLZ 15.1.11

Gefahren und Hoffnungsschimmer
 Zug

Martin Mühlebach

 Ist die Sicherheit unseres Landes gewährleistet? Korpskommandant André Blattmann, Chef der Armee, spricht Klartext.

 Rund 200 Offiziere und eine stattliche Anzahl politischer Würdenträger nahmen am Donnerstagabend im Casino Zug an der GV der Offiziersgesellschaft des Kantons Zug (OGZ) teil. Ihr Präsident, Major Daniel Gruber, wickelte die Traktanden - die alle einstimmig angenommen wurden - speditiv ab. Die Jahresrechnung 2010 weist einen Gewinn von 322 Franken auf; für 2011 wird ein Verlust von 1800 Franken budgetiert. Hauptmann Philippe Egli tritt aus dem Vorstand der OGZ aus, der ansonsten in unveränderter Besetzung mit grossem Applaus für eine weitere Amtsperiode bestätigt wurde.

 Der Zuger Landammann, Regierungsrat Matthias Michel, nahm zum Armeebericht 2010 Stellung und betonte: "Die Kantone sind der Meinung, dass wir eine Armee brauchen, die ihre Aufträge im Sinne der Bevölkerung erfüllt." Sicherheit könne aber nicht einfach über Finanzen und Armeebestände definiert werden. Es gelte, eine ausgewogene Bedrohungsanalyse zu erstellen.

 Nationale Versicherungsprämie

 Korpskommandant André Blattmann, Chef der Armee, nahm dazu Stellung unter dem Titel "Armee auf dem Weg der Ehrlichkeit". Der Wert der Sicherheit werde heute leider kaum mehr thematisiert, obwohl er eine ungestörte Entwicklung von Gesellschaft, Staat und Wirtschaft ermögliche. Die Sicherheit in unserem Land sei eine der Grundlagen der Erfolgsstory Schweiz; die Armee sei gewissermassen deren Versicherung, und die Ausgaben der Armee seien sozusagen die nationale Versicherungsprämie.

 Als aktuelle Bedrohungen und Gefahren für unser Land bezeichnete Blattmann "negative wirtschaftliche Entwicklungen, neu gebildete anarchistische Gruppierungen, die Perspektivlosigkeit der Jugend, die Auswanderung gut ausgebildeter Arbeitskräfte und die langfristigen Auswirkungen der Finanzkrise." Weitere Gefahrenherde seien der weltweite Terrorismus, die möglichen Flüchtlingsströme, der Kampf um Ressourcen, die zunehmenden Umweltkatastrophen, die Überbevölkerung der Erde und die Cyber Warfare, deren Gefahren uns erst langsam bewusst würden. Schützen, helfen, kämpfen sei von der Armee zu gewährleisten.

 Silberstreifen am Horizont

 Der Armeebericht 2010 gebe präzis und quantitativ darüber Aufschluss, was die Armee mit welchen Mitteln und in welcher Zeit zu leisten im Stande sein müsse. "Aber", so Blattmann, "mit einem Ausgabenplafond von 4,4 Milliarden Franken und 80 000 AdA Sollbestand ist dieses Leistungsprofil nicht zu haben. ‹S Weggli und s Foifi› gibt es auch bei der Armee nicht." Es nütze nichts, über zu wenig Geld zu jammern, aber die Tatsachen dürften nicht ignoriert werden. "Weitere Einsparungen werden einschneidende Wirkungen auf das Leistungsprofil der Armee haben und nicht ohne bedeutende wirtschaftliche Konsequenzen bleiben", warnt André Blattmann. Der Auftrag des Bundesrates bleibe bestehen, derweil der Tatbeweis für unsere Sicherheit seitens des Parlaments noch ausstehe. Aber es würden sich Silberstreifen am Horizont abzeichnen, und dafür sei er dankbar. Das Milizprinzip und die Wehrpflicht stünden jedenfalls nicht zur Debatte.

 Blattmann dankte der OGZ für ihre Unterstützung und ihr Engagement zugunsten der Armee und sagte: "Wer sich für unsere Armee einsetzt, setzt sich für unser Land ein." Die irreführende Waffeninitiative sei abzulehnen. Der lang anhaltende Applaus bestätigte, dass Blattmanns Ausführungen bei der Versammlung auf uneingeschränkte Zustimmung stiessen.

 Martin Mühlebach

 redaktion@zugerzeitung.ch

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ANTI-WEF
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Blick am Abend 17.1.11

Geheimtreffen in Vevey

 ELITE

 Heute treffen sich die Mächtigsten des Landes. Aber niemand weiss, was sie besprechen.

 Geheimes Gemauschel der Mächtigen unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Oder: Lockerer Austausch der Entscheidungsträger über die Zukunft der Schweiz - so oder so kann man das Treffen sehen, dass heute Abend unter dem Namen Rive-Reine zum wiederholten Mal stattfindet. Teilnehmen sollen Leader der Schweizer Top-Unternehmen (Banken, Versicherungen, Industrie), Vertreter der Verbände, die wichtigsten Politiker sowie Bundesräte.

 Wer aber heute ab 16 Uhr in Vevey, dem Hauptsitz von Nestlé, tatsächlich eintrifft, ist Geheimsache. Keine Auskunft über den Terminkalender der Bundesräte, ist zum Beispiel die Antwort aus Bern. "Es ist ein sehr wichtiges Treffen. Ein Teilnehmer erklärte mir, es sei wie ein Wef nur für die Schweiz", sagt Viktor Parma, Autor des Buches "Machtgier", in dem er sich mit Rive-Reine auseinandersetzt. Parma stört, dass das Treffen intransparent ist und nicht einmal kommuniziert wird, wer teilnehme. "Nestlé als Gastgeber sagt: Gegen aus sen sagen wir nichts."

 Aber hat das Rive-Reine Einfluss auf die Schweizer Politik? 2003, so weiss Parma, sind am Rive-Reine Weichen gestellt worden für die Schweizer Politik gegenüber der EU (Bilaterale). "Das passiert nicht über formelle Entscheide, sondern man hört Vorträge und trifft sich zum Nachtessen", sagt Parma. "Da sitzen dann heute vielleicht Eveline Widmer-Schlumpf und Oswald Grübel zusammen und sprechen über den starken Franken."

 Man kann das Meinungsaustausch oder Gemauschel nennen. mip

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Tagesanzeiger 17.1.11

Das geheime Klassentreffen

 An der Rive-Reine-Konferenz treffen sich heute die Topmanager mit den Spitzen der Politik.

 Von Constantin Seibt

 Heute Montag, gegen 14 Uhr, verlassen die drei Dutzend wichtigsten Schweizer Topmanager ihre Konzernzentralen. Sie steigen in eine Limousine oder einen Helikopter und begeben sich auf eine Reise, die so regelmässig stattfindet wie die Wanderung der Lachse.

 Ihr gemeinsames Ziel ist der Genfersee. Dort beginnt, Punkt 16.30 Uhr, im sechsten Stock der Nestlé-Zentrale in Vevey das exklusivste Treffen der Schweiz: die Rive-Reine-Konferenz. Neben den handverlesenen Konzernchefs kommen zwei Bundesräte, zwei Priester (als Stammgast Abt Martin Werlen) und die Spitzen der Bundesratsparteien. Viel mehr weiss man nicht: Teilnehmerliste und Traktanden gelten als geheim.

 Spass muss nicht sein

 Die Einladung gilt selbst für gestandene Industrielle als Ehre. "Es ist der Beweis, dass man dazugehört. Und dass man bei den Grossbanken in Gnade steht", sagt ein Topberater, der drei Konzernchefs bei der Vorbereitung beriet. "Leute wie der verstorbene Hayek wurden nie eingeladen - er galt als zu rebellisch." So sei auch nicht der Gastgeber, Nestlé-Chef Peter Brabeck, für die Teilnehmerliste zuständig, sondern der Ex-Bundesrat, Ex-Nestlé-Verwaltungsrat und jetzige UBS-Präsident Kaspar Villiger.

 Dabei sei die Einladung keine nur erfreuliche Sache: "Es ist ein Klassentreffen, sicher. Aber bei meinen Klienten habe ich nicht den geringsten Spassfaktor festgestellt. Es dominiert der Stress, einen guten Eindruck zu hinterlassen." Das Problem sei, sich nicht zu blamieren. Man müsse zum Tagungsthema "mindestens eine kluge Bemerkung" machen und dann abends an der Bar bei den "lockeren Gesprächen" punkten.

 Und so studieren die Konzernchefs auf dem Rücksitz von Limousine oder Helikopter sorgfältig erarbeitete Dossiers. Darin stehen die klugen Bemerkungen zum offiziellen Thema. Und eine Liste der Dinge, die man in der Bar von den anderen Topshots geschäftlich erreichen will. Im letzten Jahr interessierte vor allem die Abwehr von Abzockerinitiative und Boni-Steuern. Ein Jahr zuvor, mitten in der Finanzkrise, hiess das offizielle Thema harmlos "Identität der Schweiz". Doch die Sensation des Nachmittags war ein Angriff von Nationalbankpräsident Philipp Hildebrand auf UBS-Chef Marcel Ospel. Hildebrand nannte erstmals eine tödliche Zahl: dass die UBS mit nur 1,5 Prozent Eigenkapital spekuliert hatte. Ospel wehrte sich bleich, müde, aufgedunsen und erschien nicht mehr zum Abendessen. Kurz darauf trat er zurück.

 "Stalinistische Geheimhaltung"

 Dieses Jahr studieren die anreisenden Chefs Dossiers zum Thema "Demografie": Statistiken zu Migration und Alterung. Als Experte ist der Hamburger Professor Rainer Münz eingeladen. Moderator ist wie immer Gerhard Schwarz, früher Wirtschaftschef der NZZ, heute Chef von Avenir Suisse. Das Thema ist politisch brisant. Da die Grosskonzerne an tiefen Steuern und günstigen Arbeitskräften interessiert sind, sind ihre Ziele klar: Minimierung der Sozialwerke und Maximierung der Einwanderung. Das sorgt links wie rechts für Ärger.

 Wie viel Macht hat die Rive-Reine-Konferenz in Sachen Politik? Beteiligte sprechen von "lockerem Gedankenaustausch ohne direkte Folgen". Überprüfbar ist das nicht. Denn es gibt kein Protokoll, keine Presse, dafür "eine fast stalinistische Geheimhaltung" (so der Berater). Die Rive-Reine-Konferenz gibt es seit 1975. Bis 2007 erschien in der Presse nicht eine Zeile darüber. Erst im letzten Jahr protestierte das Anti-WEF-Forum Public Eye gegen den "intransparenten Filz". Ihr Sprecher Oliver Classen sagt heute: "Rive-Reine ist das nationale WEF: ein Zeichen der Dominanz der Wirtschaft über die Politik. Auf Geheiss von Nestlé kommen selbst Bundesräte. Und legen weder Volk, Parlament noch Medien Rechenschaft ab."

 Die wenigen eingeladenen Politiker sehen das anders. CVP-Präsident Christophe Darbellay etwa sagt: "Die Chefs von Konzernen und Parteien an einem Tisch: Das ist sehr schweizerisch! Kein Land hat so direkte Beziehungen zwischen Politik und Wirtschaft." Die Geheimhaltung sei dabei kein Problem, sagt SVP-Fraktionschef Caspar Baader: "Man muss nicht alles breitschlagen. Mit der Frau diskutiert man auch nicht in der Öffentlichkeit."

 Zögernde Kritik äusserte nur die Fraktionschefin der SP, Ursula Wyss: Die Geheimhaltung halte sie für etwas "Undemokratisches und Anrüchiges". Ob jemand von der SP an der Konferenz erscheine, sei noch unklar.

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Südostschweiz 15.1.11

"Bereiten uns auf das Schlimmste vor"

 Die Bündner Kantonspolizei befürchtet Angriffe mit Paketbomben aufs WEF. Das sagt der neue Polizeikommandant Beat Eberle.

 Chur. - Die Sicherheitsverantwortlichen des Davoser WEF rechnen damit, dass in Davos Paketbomben eingesetzt werden könnten. Wie der neue Bündner Polizeikommandant Beat Eberle im Interview mit der "Südostschweiz" sagt, ist es auffallend, dass erstmals seit langer Zeit zwei Schweizer Botschaften in Athen und Rom angegriffen wurden.

 Befürchtet wird offenbar auch ein möglicher Angriff auf ausländische Staatschefs. In deren Heimatländern seien solche Angriffe wegen der dortigen rigiden Sicherheitsvorkehrungen kaum möglich, so Eberle. Es gelte darum zu verhindern, dass jemand auf die Idee komme, stattdessen in Davos anzugreifen. "Wir hoffen zwar das Beste, bereiten uns aber auf das Schlimmste vor." Seite 5

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"Das WEF macht mich nicht nervös"

 Beat Eberle, der neue Bündner Polizeikommandant, sieht Paketbomben als eine mögliche Gefahr für das WEF in Davos, das in zehn Tagen beginnt. Man hoffe zwar auf das Beste, bereite sich aber auf den schlimmsten Fall vor.

 Mit Beat Eberle sprach Reto Furter

 Herr Eberle, Sie sind seit gut zwei Wochen Bündner Polizeikommandant. Wie geht es Ihnen?

 Beat Eberle: Mir geht es immer noch gut, danke. Ich habe ja auch keinen Scherbenhaufen übernommen, sondern eine sehr gut organisierte Polizei, die mit beiden Beinen in der Erledigung und Umsetzung der vielen Aufträge steht. Dazu gehört natürlich der grosse Sicherheitsauftrag beim WEF.

 Kaum im Amt, steht bei Ihnen schon das WEF vor der Tür. Eine ruhige Einarbeitungszeit haben Sie jedenfalls nicht in Graubünden.

 Es gibt heute vermutlich keine Führungspositionen mehr, wo man sich in aller Ruhe einarbeiten kann. In der Privatwirtschaft ist das auch nicht anders.

 Sind Sie nervös wegen des Grossmanövers in Davos?

 Nein. Überhaupt nicht.

 So etwas haben Sie vermutlich noch nie geleitet, wie die meisten Polizeikommandanten in der Schweiz.

 Sie haben recht: Einen solchen Polizeieinsatz mit vielen Leuten, einem komplexen Dispositiv und einem anspruchsvollen Setting habe ich noch nie geleitet. Völkerrechtlich betrachtet höchst brisante Personen werden in Graubünden sein, es darf auf gar keinen Fall etwas schief gehen.

 Herr Gadaffi soll kommen.

 Vielleicht. Ich habe auch schon anderes gehört, aber man weiss es nicht. Was den Polizeieinsatz betrifft, wäre sein Besuch sicherlich anspruchsvoll. Ich war aber Kommandant der friedensfördernden Auslandeinsätze der Armee mit der Gesamtverantwortung für bis zu 700 Leute in 17 Ländern, in Krisengebieten, verteilt über 15 Zeitzonen, im Einsatz, in der Ausbildung und im Aufbau. Das war auch nicht ohne, das war auch komplex. Das WEF macht mich deshalb nicht nervös. Mein Stabschef Marcel Suter ist zudem zum neunten Mal am WEF dabei, er hat alles im Griff und ist sehr souverän.

 Und wenn doch etwas schief geht?

 Dann bin ich als Kommandant gefordert. Bei einem Ereignis, das wir nicht planen können, bei Demonstrationen oder bei einem Anschlag nimmt natürlich der Druck auf uns stark zu. Ich will jetzt aber nicht den Teufel an die Wand malen.

 Das wäre ein schlechtes Omen für Ihren Amtsbeginn.

 Das wäre kein Omen, sondern eine Herausforderung. Es wäre Pech, wenn ich zu Beginn einen solchen Challenge bewältigen müsste - aber ich könnte ihn vielleicht ja auch gut bewältigen. Dafür bin ich als Polizeikommandant schliesslich bezahlt.

 Wie viele Polizisten rund um das WEF im Einsatz stehen, werden Sie vermutlich nicht verraten.

 Das ist eine jener Informationen, mit denen man nicht hausieren geht. Die Gegenseite ist aufmerksam und interessiert an allen möglichen Informationen, um unsere Sicherheitsbemühungen umgehen zu können. Diesen Gefallen wollen wir der Gegenseite lieber nicht machen.

 Diese Gegenseite scheint ziemlich fassbar zu sein, wenn Sie so darüber reden.

 Das interpretieren Sie so. Ich kann Ihnen sagen, wen wir zur Gegenseite zählen. Aber wie die Gegenseite auftreten wird, wie sehr sie sich mobilisiert, ob sie harmlos sein wird oder eben nicht, das wissen wir nicht. Das können Leute sein, welche gegen die Globalisierung antreten.

 "Wir bereiten uns auf das Schlimmste vor"

 Oder gegen die Polizei selbst.

 Ja, ja, natürlich. Damit können wir umgehen, das erwarten wir auch. Aber es kommen wohl etwa 100 völkerrechtlich geschützte Personen nach Davos, die in ihren Heimatländern wahrscheinlich fast nicht angreifbar sind. Oder versuchen Sie mal in Russland einen Staatschef anzugreifen - das ist nicht so einfach, wenn Sie die Sicherheitsvorkehrungen in Moskau berücksichtigen. Aber es könnte natürlich jemand auf die Idee kommen, dass ein solcher Staatschef in der Schweiz leichter angreifbar sei als in seinem Heimatland. Solche Angriffe gilt es auch zu verhindern. Es gibt viele mögliche Szenarien. Die Gegenseite ist keine homogene Gruppe. Wir hoffen einfach das Beste und bereiten uns auf das Schlimmste vor.

 Ihre Polizisten sind also einsatzbereit? Fit? Trainiert?

 Ja. Trainiert und fit sind sie sowieso, jetzt müssen sie sich einfach im Dispositiv noch zurechtfinden.

 Nur auf den alljährlichen Röteli beim WEF werden die Polizisten wohl erstmals verzichten müssen?

 Eigentlich ist es eine Unverschämtheit, dass man einem erwachsenen Mann nicht zugesteht, irgendwann im Lauf eines Tages einen Röteli trinken zu dürfen. Eigentlich ist das für alle lächerlich. Aber wenn die Medien derart Freude daran finden, alles zu skandalisieren, nehmen sie halt auch Einfluss auf das Verhalten von Erwachsenen. Wir wollen den Medien kein solches billiges Pulver liefern, wir verzichten deshalb auf den Röteli.

 Was, wenn in Davos doch jemand aufs neue Jahr anstösst und sich einen Schluck genehmigt?

 Dann werde ich mich als disziplinarischer Vorgesetzter mit diesem Fall befassen.

 Sie erwähnen das Gefahrenpotenzial für den russischen Präsidenten, und dennoch: Ist der grosse Aufwand, den man zur Absicherung des WEF in Davos betreibt, auch gerechtfertigt?

 Ja. Man kann ja nicht unterscheiden, wen man schützen will und wen nicht. Man kann nur den Anlass als Ganzes schützen. Insofern ist es natürlich gerechtfertigt. Die Gegenseite sucht vor allem die Medienpräsenz, jeder Erfolg gerät in die Weltmedien. Das kann schnell geschehen, denn die Weltmedien berichten darüber, wenn in Davos völkerrechtlich geschützte Personen angegriffen würden. Möglicherweise passiert nichts, aber man darf das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Es wäre grobfahrlässig zu meinen, Angriffe gebe es nur im Ausland.

 Wie schätzen Sie denn die aktuelle Bedrohungslage in Davos ein?

 Etwa gleich wie in den Vorjahren. Ein Einzeltäter kann dennoch immer eingreifen, das kann man nicht voraussehen. Also muss man darauf vorbereitet sein.

 Haben Sie konkrete Hinweise, dass etwas passieren könnte?

 Auffallend ist, dass erstmals seit langer Zeit zwei Schweizer Botschaften in Athen und Rom mit Paketbomben angegriffen wurden. Es gibt also Gruppen, welche die Schweiz als Zielscheibe verwenden. So etwas könnte in unserer Analyse also weiter vorne stehen als auch schon. Dann beobachten wir natürlich eine grosse Zahl von Internetseiten, um zu sehen, wer ein Interesse daran haben könnte, das WEF auf welche Art zu stören. Wir haben schon eine Vorstellung davon, worauf wir uns in diesem Jahr speziell vorbereiten müssen.

 Nämlich?

 Das will ich nicht preisgeben. Wenn die Gegenseite weiss, was wir über sie wissen, hilft ihnen das. Das wollen wir nicht, also lassen wir sie im Dunkeln.

 Die Gefährdung ist vermutlich nicht im abgeriegelten Davos am höchsten, sondern auf dem Weg dorthin, also zwischen dem Flughafen Zürich und Davos.

 Das ist möglich, ja. In Davos ist es unangenehm, einen Angriff zu starten. Demonstranten in Davos haben schlechte Karten: Wenn sie mit Wasserwerfern konfrontiert werden, haben sie keine Möglichkeit, sich zu retablieren. Es ist im Januar zu kalt in Davos. Demonstrationen finden deshalb oftmals an anderen Orten statt.

 Gefährlich sind die Autobahnen.

 Nicht nur. Der ganze Verschiebungsweg ist gefährlich, ob zu Lande oder zu Luft. Wenn ein Einzeltäter angreifen will, kann man das zwischen Zürich und Davos nie ganz verhindern, das ist unmöglich. Einzelne können irgendeine Wirkung entfalten, das ist so, und sei es nur, weil die Medien auf die Täter aufmerksam werden.

 Einzeltäter scheinen Ihnen mehr Probleme zu bereiten als Gruppen.

 Vielleicht, ja. Einzeltäter sind zwar nicht kontrollierbar, aber Einzeltäter schaffen es auch nicht, uns grosse Probleme zu bereiten, wirklich grosse. Dieses Risiko können wir tragen. Grosse Probleme hingegen könnten uns Organisationen bereiten, aber mit unserer Vorbereitung kann nicht viel passieren. Wir sind ziemlich wasserdicht, behaupte ich. Mit dem Restrisiko müssen wir umgehen, wie übrigens die Gäste am WEF auch.

 In diesem Jahr sollen ja, wie man lesen konnte, auch jene Limousinen mit einer Busse belegt werden, die mit laufendem Motor auf den Davoser Trottoirs parken.

 Das mag sein, ja. Das ist nicht mein Kerngebiet.

 Man könnte diese Wagen auch abschleppen. Wenn ich dort parke, würde mir das als einfachem Einwohner ja möglicherweise passieren.

 Wenn Sie dort illegal parken würden, kann ich mir das gut vorstellen. Aber der Limousinenservice hat einen anderen Zweck.

 Gelegentlich wird gesagt, die Polizei messe in solchen Situationen mit verschiedenen Ellen. Die Mächtigen könnten sowieso machen, was ihnen passt, heisst es dann.

 Das ist halt typisch schweizerisch. Das WEF hat ja schliesslich auch noch einen Zweck. Wenn man die WEF-Teilnehmer, die einen Zweck zu erfüllen versuchen, nachhaltig verärgern will, kann man die Limousinen abschleppen. Wir haben aber das Ziel und die Aufgabe, die Sicherheit dieses Anlasses zu garantieren und wollen dies für alle Seiten massvoll tun.

 "Wir sind ziemlich wasserdicht"

 Die Polizei geniesst nicht mehr jenen Respekt, den die Bevölkerung einst hatte. Man kritisiert jeden ihrer Einsätze.

 Wenn die Polizei eingreifen muss, gibt es in der Regel zwei Seiten: ein Opfer und einen Täter. Das Opfer freut sich, dass es uns gibt, der Täter natürlich nicht. Man kann eine gewisse Emanzipation der Gesellschaft feststellen. Lehrer haben an Respekt verloren, Geistliche, Behördenmitglieder, Militäroffiziere. Die Gesellschaft ist selbstsicherer geworden, man traut sich mehr zu, ist vielleicht auch besser gebildet.

 Das erschwert Ihre Arbeit.

 Nicht nur, nein. Unser Umgang mit der Bevölkerung ist viel natürlicher geworden, wir sind heute näher bei der Bevölkerung - und das ist natürlich nicht unerwünscht. Ich will mich über den gesellschaftlichen Wandel nicht beklagen.

 An Ihrem Amt, Herr Eberle, müssen Sie eigentlich zerbrechen. Sie werden dauernd alles falsch machen.

 Das ist so, das ist auch gar nicht aussergewöhnlich. Als Polizeikommandant muss man so etwas bis zu einem gewissen Grad abprallen lassen. Mir bereitet das keine schaflosen Nächte. Die Schweizer Polizei handelt massvoll, wenn ich das international vergleiche. Um die Polizei muss man sich hier keine grossen Sorgen machen.

 Beat Eberle ist am Sonntag von 10 bis 11 Uhr zu Gast in der Gesprächssendung "Grischa Lüüt" bei Radio Grischa.

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 Beat Eberle ...

 ... ist seit zwei Wochen Kommandant der Bündner Kantonspolizei. Er hat die Nachfolge von Markus Reinhardt übernommen, der sich vor einem Jahr das Leben genommen hat. Der 50-jährige Eberle ist in Buchs (St. Gallen) aufgewachsen und hat in Bern und St. Gallen Rechtswissenschaften studiert. Er war Untersuchungsrichter des Kantons St. Gallen, später Chef der Kriminalpolizei und interimistisch Kommandant der Kantonspolizei Schwyz. Bis zu seiner Wahl als Bündner Polizeikommandant arbeitete Eberle bei der Schweizer Armee, unter anderem als Militärattaché in Schweden. Eberle wohnt "noch", wie er sagt, in den Flumserbergen (St. Gallen). (rf)

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Gegen WEF wird keine Gross-Demo erwartet

 Das Gesuch für einen Protest gegen das World Economic Forum (WEF) ist eingereicht. Der WEF-Ausschuss der Bündner Regierung rechnet mit keiner grossen Demonstration.

 Von Béla Zier

 Davos. - Die Davoser Grüne Partei und die Bündner Juso wollen am 29. Januar gegen das Jahrestreffen des World Economic Forums protestieren. Wie die Davoser Gemeindebehörde bestätigte, ist gestern ein entsprechendes Gesuch eingegangen. Die Demo soll von Davos Platz über die Promenade - und damit vorbei am Kongresszentrum - zum Bahnhof nach Davos Dorf führen.

 Der Vorbeizug am Kongresszentrum wird aller Wahrscheinlicht nach auch dieses Jahr nicht bewilligt werden. Ob die Route analog der Vor-jahre erneut über die Talstrasse führen wird, steht noch nicht fest (Ausgabe vom 7. Januar). Durch den Ausbau des Kongresszentrums befindet sich dessen Haupteingang nämlich neu an der Talstrasse. Den Entscheid über den diesjährigen Verlauf der Demons- trationsstrecke wird die Kantonspolizei Graubünden demnächst zusammen mit dem Davoser Kleinen Landrat fällen.

 Im Internet wird mobilisiert

 Im Internet wird aktuell nebst Davos auch zur Teilnahme an einer WEF-Demo in St. Gallen aufgerufen. Diese wird vom Anti-WEF-Bündnis St. Gallen organisiert und soll am 22. Januar stattfinden. In Davos hatten 2010 rund 130 Personen ohne Zwischenfälle gegen das WEF protestiert. Von einer ähnlich grossen Beteiligung wird auch dieses Jahr ausgegangen. Das erklärte Walter Schlegel, Sprecher des WEF-Ausschusses der Bündner Regierung, auf Anfrage. "Aufgrund der Informationen des Bundes und der Spezialisten der Kantonspolizei Graubünden erwarten wir die gleiche Situation wie in den Vorjahren. Wir rechnen damit, dass der Protest wieder friedlich über die Bühne gehen wird", führte Schlegel aus.

 An den WEF-Protesten der letzten Jahre hatten in Davos jeweils nie mehr als 200 Personen teilgenommen. Ist das jeweils riesige Polizeiaufgebot am Demo-Tag weiterhin nötig? Schlegel: "Es ist nicht so, dass wegen diesem Protest massiv mehr Sicherheitskräfte anwesend sind. Man hat einfach bestimmte Vorsichtsmassnahmen zu treffen, damit rechtzeitig eingegriffen werden könnte." Laut Schlegel ist man so vorbereitet, dass das Sicherheitsdispositiv auch an eine Kundgebung mit 500 bis 1000 Personen angepasst werden könnte.

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St. Galler Tagblatt 13.1.11

Anti-WEF-Demo auf Bahnhofplatz

 Das Anti-WEF-Bündnis St. Gallen organisiert am Samstag, 22. Januar, eine Kundgebung gegen das Weltwirtschaftsforum, das vom 26. bis 31. Januar in Davos ausgetragen wird. Man werde sich "lautstark auf die Strasse begeben, um den Herrschenden dieser Welt zu zeigen, dass sie weder hier noch sonstwo willkommen sind", heisst es in einer Mitteilung. Man habe genug "von der Arroganz der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und der Entfremdung der Menschen sowie den sich ständig wiederholenden Krisen des Kapitals." Die Demo beginnt um 14 Uhr auf dem Bahnhofplatz. (pd)

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GAZA
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Basler Zeitung 15.1.11

"Wir sind der bärtigen Typen überdrüssig"

 Junge Palästinenser klagen im Internet Israel, die Hamas und die internationale Gemeinschaft an

Willi Herzig

 Acht junge Menschen aus dem Gazastreifen fassten ihre tiefen Frustrationen in einem Manifest zusammen. Dem ins Internet gestellten Dokument haben in wenigen Wochen Tausende zugestimmt.

 "Wir, die Jugend von Gaza, haben die Nase voll von Israel, der Hamas, der Besetzung, den Menschenrechtsverletzungen und der Gleichgültigkeit der internationalen Gemeinschaft!" Mit diesem Aufschrei haben acht palästinensische Studenten aus Gaza ihrer Wut Luft gemacht. Sie verfassten auf Englisch und Arabisch ein "Manifest der Jugend von Gaza" und stellten es ins Internet. "Wir wollen laut schreien und die Mauer des Schweigens, der Ungerechtigkeit und der Indifferenz brechen", schrieben sie, sechs junge Männer und zwei Frauen, die aus ihrem Herzen keine Mördergrube machen.

 Auslöser für ihre verbale Attacke war Ende November das Verbot der nicht staatlichen Organisation Sharek durch die im Gazastreifen regierende Hamas. Den Islamisten und ihren Sittenwächtern war Sharek (deutsch: Teilnehmen) ein Dorn im Auge. Die nicht religiöse Organisation bot eine breite Palette von Freizeitaktivitäten und Weiterbildungskursen an und war bei jungen Palästinensern und Palästinenserinnen gleichermassen beliebt. Die von der Schweiz finanziell unterstützte Sharek musste ihre fünf Zentren im Gazastreifen schliessen. Schon zuvor hatten ihre Verantwortlichen über Belästigungen durch Hamas-Polizisten geklagt, die ihnen "unsittliches Benehmen" vorwarfen - gemeinsame Aktivitäten von unverheirateten Frauen und Männern. Sharek war eine der letzten "Inseln" in Gaza, wo solches noch möglich war.

 Briefmarkengross

"Wir haben die dunklen Nächte satt, in denen Flugzeuge über unseren Häusern kreisen", fährt das Manifest fort. "Wir haben genug davon, dass unschuldige Bauern erschossen werden, bloss weil sie ihr Land in der Pufferzone bestellen wollen. Wir sind der bärtigen Typen überdrüssig, die mit ihren Waffen die Macht missbrauchen, junge Leute für ihre Überzeugungen schlagen oder einsperren." Weiter beklagen die Autoren die "Schandmauer, die uns vom Rest unseres Landes trennt und uns in einem briefmarkengrossen Stück Land einsperrt".

 Offensichtlich haben die acht mutigen Schreiber vielen Menschen aus dem Herzen gesprochen. Ihrer Facebook-Gruppe "Gaza Youth Breaks Out" (Gazas Jugend bricht aus) haben in wenigen Wochen mehr als 16 000 ihre Sympathie bekundet. Eine derart breite Welle der Solidarisierung, vor allem auch aus dem Gazastreifen, hätten sie nicht erwartet, sagen die anonym bleibenden Autoren in einem Interview mit der Korrespondentin der britischen Zeitung "Guardian".

 Sie sind sich des Risikos bewusst, das sie eingegangen sind. Zwei von ihnen sagen, sie seien von der Hamas-Polizei mehrmals festgenommen worden, unter anderem wegen "unmoralischen Verhaltens". Einer der Studenten sagt: "In Gaza fühlst du dich in der Schule überwacht, auf der Strasse, überall."

 Zerstörerisch

Das Manifest zeugt von der Verzweiflung junger Menschen in dem seit 2006 von Israel und Ägypten abgeriegelten, wirtschaftlich ruinierten Gaza. "Eine Revolution wächst in uns, eine immense Frustration. Sie wird uns zerstören, wenn wir die Energie nicht in einer Richtung kanalisieren können, die den Status quo aufbricht und uns Hoffnung gibt." Der Aufruf schliesst mit: "Wir wollen frei sein. Wir wollen normal leben können. Wir wollen Frieden. Ist das zu viel verlangt?"

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MUSSOLINI
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NZZ 17.1.11

Faszination der Fälschung

 Umberto Eco contra Benito Mussolini

 Franz Haas · Der Zufall mag zwar blind sein, aber er verfügt über eine beträchtliche Selbstironie. Just zur gleichen Zeit und im selben Verlag - Bompiani - sind kürzlich in Italien zwei Bücher erschienen, die bei allem Gegensatz noch etwas gemeinsam haben. Sie profitieren nämlich von der Faszination von Fälschungen: Umberto Ecos neuer Roman "Il cimitero di Praga" und die umstrittenen "mutmasslichen" Tagebücher von Benito Mussolini. In Grenzen halten sich allerdings die Gemeinsamkeiten in den Buchhandlungen, wo Ecos aufklärendes Buch über eine kolossale kulturhistorische Falschmünzerei ein Bestseller ist, während die obskure, vermutlich gefälschte 1000-Seiten-Schwarte von Mussolini sich als Ladenhüter stapelt.

 In Ecos "Il cimitero di Praga" (Der Friedhof von Prag) geht es um die "Protokolle der Weisen von Zion", jene antisemitische Hetzschrift von 1903, die bei Neonazis und radikalen Islamisten heute noch Anklang findet, obwohl sie eine hanebüchene Fälschung ist. Daran erinnert Umberto Eco, der in diesem neuen Roman wie üblich seine Gelehrtheit kaum im Zaum hält, dafür aber stilistisch die Zügel schleifen lässt. Mit Ausnahme der fiktiven Hauptfigur (der italienische Fälscher Simone Simonini) sei alles authentisch in seinem Buch, versichert Eco im Nachwort. Mit einer Fülle von Fakten führt er die Mechanismen der Fälschung vor und beweist, dass selbst so dreiste Behauptungen wie die in den berüchtigten "Protokollen" Gehör finden, wenn sie nur beharrlich genug verbreitet werden.

 Beachtlich ist anderseits die Hartnäckigkeit, mit der die Veröffentlichung der angeblichen Tagebücher von Mussolini betrieben wurde. Marcello Dell'Utri, ein dubioser Berlusconi-Freund, der wegen Mafia-Umtrieben mehrfach verurteilt wurde, ging mit diesen fragwürdigen Schriften jahrelang vergeblich hausieren, weil so ziemlich alle Experten sie für eine grobschlächtige Fälschung hielten (NZZ 20. 2. 07). Warum der erste Teil von diesem Diarium nun doch erschienen ist, bleibt ein Geheimnis des sonst seriösen Bompiani-Verlags. "I diari di Mussolini (veri o presunti). 1939", so der Titel dieses Meisterwerks der Geschichtsvernebelung, wobei das kokette "echt oder mutmasslich" in Klammern zugleich ratlos und schlitzohrig klingt.

 Die Absicht dieser "Tagebücher", die insgesamt die Jahre 1935-1942 umfassen, ist eine schamlose Beschönigung der Taten des Diktators, was ganz in den Trend des Geschichtsrevisionismus im Italien von Berlusconi passt. Sie führen einen netten Mussolini vor, einen umsichtigen Staatsmann und Pazifisten, der mit dem Schicksal hadert und über seine Alliierten schimpft, auf "die Deutschen, diese Hunde, die nichts als den Krieg wollen". Da zu diesem Zeitpunkt die von ihm befohlenen Massaker in Libyen und Äthiopien noch ziemlich frisch waren, wäre Mussolini zu solchen Tönen nur fähig gewesen, wenn er sehr viel Kreide gefressen hätte.

 Ob sich das Bild vom guten Onkel Mussolini, nach dem sich viele Italiener sehnen, nachhaltig durchsetzen wird, ist abzuwarten. Dass Beharrlichkeit und Wiederholung in der Geschichtsfälschung zum Erfolg führen können, das haben die primitiven "Protokolle der Weisen von Zion" gezeigt - und der raffinierte Umberto Eco hat das Übel gekonnt denunziert. Ob dieser allerdings versucht hat, seinem Verlag von dem editorischen Mussolini-Unfug abzuraten, ist nicht bekannt.

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ANTI-ATOM
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20min.ch 17.1.11

Atommüll-Zwischenlager

Wer ist Schuld am Skandal?

von Nora Camenisch - Nächste Runde im Knatsch um die AKW-Abstimmung: Im Debakel um das Zwischenlager schieben sich die Parteien nun gegenseitig den schwarzen Peter zu.

Wer ist Schuld daran, dass die Abstimmungsunterlagen zum AKW Mühleberg keine Informationen zum geplanten Zwischenlager für radioaktiven Atommüll enthalten? Für Grossratspräsident Gerhard Fischer (SVP) hat eine Fehleinschätzung des Regierungsrats zum Debakel geführt. "Die BKW hat in ihren Unterlagen an die Regierung offengelegt, dass es bei einem Ja ein Zwischenlager geben wird. Ob absichtlich oder nicht, der Regierungsrat hat das Lager nicht in die Abstimmungsunterlagen aufgenommen." Ins gleiche Horn bläst die BKW: "Dem Kanton war die Lage bekannt", so BKW-Sprecher Antonio Sommavilla.

Zwischenlager könnte 80 Jahre bleiben

Anderer Meinung ist Roland Näf, Präsident der kantonalen SP. "Dass ein AKW ein Zwischenlager hat, ist normal. Die BKW hätte den Regierungsrat aber darüber informieren müssen, dass dies bis zu 80 Jahren bestehen könnte." Die für das AKW zuständige Energiedirektorin Barbara Egger wollte gestern keine Stellung nehmen.

Nachversand kommt nicht in Frage

Während die Schuldfrage ungeklärt bleibt, wird nach Lösungen gesucht. Die GFL Zollikofen prüft eine Stimmrechtsbeschwerde (20 Minuten von gestern). Näf indessen will eine Infokampagne: "Die Stimmbürger müssen jetzt rasch über das Zwischenlager informiert werden." Ein Nachversand zu den Abstimmungsunterlagen schliessen sowohl er als auch Fischer aus. Dafür sei es zu spät.

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BZ 17.1.11

Mühleberg: Zwischenlager für Atomabfälle geplant

 AKWDer Berner Stromkonzern BKW will neben dem AKW in Mühleberg auch ein Zwischenlager für hoch radioaktive Abfälle bauen. Im Abstimmungsbüchlein steht davon aber nichts.

 Das Abstimmungsbüchlein über die kantonale Abstimmung vom 13. Februar zum AKW-Neubau Mühleberg ist nicht vollständig. In der Broschüre, die in den nächsten Tagen an die Haushalte verschickt wird, steht nicht, dass der Stromkonzern BKW in Mühleberg auch ein Zwischenlager für hoch radioaktive Abfälle plant. Laut einem Bericht der "SonntagsZeitung" zeigt sich die Bevölkerung rund um Mühleberg überrascht. Bei Infoveranstaltungen sei ein Zwischenlager nie erwähnt worden.

 Die BKW begründet das Zwischenlager unter anderem mit der erhöhten Sicherheit. Dank einem Lager auf dem Gelände könnten Transporte vermieden werden. Zudem entspreche eine Zwischenlagerung vor Ort heute den internationalen Standards. Schon heute gibt es in Mühleberg ein Zwischenlager, allerdings nicht für hoch radioaktive Atomabfälle.

 Beim Büro des Grossen Rates - es ist für den Inhalt des Abstimmungsbüchleins inhaltlich zuständig - ist man überrascht. "Bei uns war das nie ein Thema", sagte Grossratspräsident Gerhard Fischer (SVP) gestern auf Anfrage.nb Seite 11

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In Mühleberg ist neben dem AKW auch ein Zwischenlager geplant

 AKWIn 27 Tagen stimmen die Bernerinnen und Berner über die Zukunft des AKW-Standorts Mühleberg ab. Im Abstimmungsbüchlein wird aber nicht erwähnt, dass in Mühleberg auch ein Zwischenlager für hoch radioaktives Material geplant ist.

 Das Berner Stimmvolk muss am 13. Februar entscheiden, ob in Mühleberg nach dem Jahr 2020 ein neues, grösseres Atomkraftwerk grundsätzlich erwünscht ist oder nicht. Allen Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern wird in diesen Tagen das Abstimmungsbüchlein zugeschickt, in dem beschrieben wird, um was es bei der Vorlage geht.

 Doch bereits jetzt stellt sich heraus, dass die Informationen im Abstimmungsbüchlein nicht vollständig sind. Laut einem Bericht der "SonntagsZeitung" wird in der Broschüre nicht erwähnt, dass der Berner Stromkonzern BKW in Mühleberg neben dem neuen AKW   auch ein Zwischenlager für hoch radioaktive Abfälle plant. Im vergangenen Dezember hatte bereits die Zeitschrift "Beobachter" darauf hingewiesen, dass die drei AKW-Neubauprojekte in Mühleberg, Beznau und Gösgen solche Zwischenlager vorsehen.

 Hoch radioaktive Abfälle

 "Wir haben im Rahmenbewilligungsgesuch ein Zwischenlager beantragt", bestätigt BKW-Sprecher Antonio Sommavilla. Eine Zwischenlagerung vor Ort entspreche heute dem internationalen Standard, sagt er. Dadurch würden unnötige Transporte vermieden und die Sicherheit erhöht. Zudem könnte das alte Kernkraftwerk rascher zurückgebaut werden, wenn sich direkt auf dem Gelände ein ausreichend grosses Lager befände.

 Schon das heutige AKW Mühleberg verfügt über ein kleines Zwischenlager für schwaches und mittelaktives Material. Hier wird der strahlende Abfall gelagert, bevor dieser ins grosse Zwischenlager im aargauischen Würenlingen gebracht wird. Beim neuen AKW in Mühleberg ist aber ein sogenanntes Nasslager geplant, wo künftig sogar hoch radioaktive Abfälle über längere Zeit gelagert werden könnten. Die Grösse des Nasslagers würde es sogar erlauben, dass in Mühleberg auch noch hoch radioaktiver Abfall aus andern Schweizer AKW gelagert werden könnte.

 Heute werden die Atomabfälle aller Schweizer Atomkraftwerke im Zwischenlager Würenlingen aufbewahrt. Auf nationaler Ebene wird seit Jahren nach einem Tiefenlager gesucht. Bis ein solches in Betrieb gehen kann, dauert es aber noch Jahrzehnte.

 Warum alle drei Schweizer AKW-Projekte eigene Zwischenlager planen, ist umstritten. "Sämtliche abgebrannten Brennelemente, aber auch verstrahlte Anlageteile, die dereinst beim Rückbau der Anlagen anfallen werden, hätten in Würenlingen Platz", sagte der Geschäftsführer des nationalen Zwischenlagers Walter Heep gegenüber dem "Beobachter". Die BKW ihrerseits behauptet, dass in Würenlingen der Abfall der neuen Atommeiler nicht mehr Platz hätte.

 "War kein Thema"

 Grundsätzlich stellt sich aber die Frage, warum im Abstimmungsbüchlein das Zwischenlager für hoch radioaktive Abfälle nicht erwähnt wird. Für den definitiven Inhalt der Abstimmungsbroschüre ist das Büro des Grossen Rates zuständig. Das Büro besteht unter anderem aus den drei Mitgliedern des Ratspräsidiums, den fünf Stimmenzählern und der Präsidentin oder dem Präsidenten der Deputation. Zudem wird das Büro von der zuständigen Verwaltungsstelle - in diesem Falle der Energiedirektion- unterstützt. Grossratspräsident Gerhard Fischer (SVP) sagte gestern, dass von einem Zwischenlager nie die Rede war. Er begründet dies unter anderem damit, dass sich die Vorlage ja nicht mit dem konkreten Projekt in Mühleberg befasse, sondern nur über die Stellungnahme, die der Kanton Bern gegenüber dem Bund darüber abgeben wird.

 SP: "Zusätzliches Risiko"

 "Die Errichtung eines Zwischenlagers für hoch radioaktiven Atomabfall in Mühleberg bedeutet ein zusätzliches grosses Risiko für den ganzen Kanton, am stärksten für die umliegenden Gemeinden", schreibt die kantonale SP in einer Medienmitteilung. Die SP habe zwar Verständnis, dass es wegen des breiten Widerstands gegen die Endlager eine Zwischenlagerung brauche. "Die Berner Bevölkerung muss aber vor der Abstimmung umfassend über ein geplantes Zwischenlager informiert werden", fordert der Berner SP-Parteipräsident Roland Näf.

 Lokalpolitiker prüfen derzeit sogar, ob aufgrund der fehlenden Informationen im Abstimmungsbüchlein rechtliche Schritte einzuleiten sind. "Derzeit wird die Einreichung einer Stimmrechtsbeschwerde geprüft", sagt Bruno Vanoni, Präsident der Grünen Freien Liste (GFL), Zollikofen.
 
Niklaus Bernhard

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 AKW: ja oder nein?  

 Abstimmung Am 13. Februar stimmt das Bernervolk darüber ab, ob es in Mühleberg nach dem Jahr 2020 ein neues Atomkraftwerk will oder nicht. Wichtig zu wissen: Es handelt sich dabei um eine konsultative Abstimmung. Das heisst: Das Resultat ist für den Bund nicht bindend, dürfte aber eine grosse Signalwirkung haben.

 Diese Zeitung beleuchtet vor der wegweisenden Abstimmung in einer Serie das Thema von verschiedenen Seiten.

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20 Minuten 17.1.11

AKW-Abstimmungstext: Ein Zwischenlager verschwiegen

 BERN. Skandal um die Mühleberg-Abstimmung: In der Vorlage wird nicht erwähnt, dass nebst dem neuen AKW auch ein Atommülllager geplant ist. Gegner prüfen nun eine Beschwerde.

 Am 13. Februar stimmen die Berner über ein neues AKW Mühleberg ab. Eines fehlt aber in der Abstimmungsbotschaft: Nebst dem Neubau ist in Mühleberg ein Zwischenlager für radioaktive Abfälle geplant. Die Halle könnte so gross wie drei Fussballfelder werden. Gelagert würde dort nicht nur schwach oder mittelstark aktiver Abfall, sondern auch hoch radioaktiver Müll. Umweltfachmann und EVP-Grossrat Josef Jenni zeigt sich in der "SonntagsZeitung" besorgt: "Ein solches Lager muss in den Abstimmungsunterlagen unbedingt erwähnt werden, denn es stellt ein grösseres Sicherheitsrisiko dar als das AKW selber."

 "Skandalös" findet das Vorgehen in der Abstimmungsbotschaft Bruno Vanoni, Präsident der Grünen Freien Liste (GFL) Zollikofen. "Aus dem Gesuch der an der Planung beteiligten Firmen geht hervor, dass das Zwischenlager in 100 Jahren noch aktiv sein könnte, wenn bis dahin kein Endlager gefunden würde." Die GFL geht deshalb auf die Barrikaden: "Wir prüfen eine Stimmrechtsbeschwerde", so Vanoni. Diese könnte bei Gutheissung zur Aufhebung des Abstimmungsentscheids führen.

 BKW-Sprecher Antonio Sommavilla relativiert die Gefahr: "Zwischenlagerung vor Ort entspricht heute dem weltweiten Standard." So würden unnötige Transporte vermieden und die Sicherheit erhöht.  

Nora Camenisch

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Bund 17.1.11

Meinungen

 Replik Tribüne "Die Risiken von Mühleberg" von Theodor Abelin im "Bund" vom 11. Januar 2011.

 Mühleberg ist nicht Tschernobyl

Hans-Rudolf Lutz

 Herr Prof. Abelin beschreibt ziemlich gut die Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl (1986). Seine Übertragung dieser Katastrophe auf Mühleberg oder generell auf Leichtwasserreaktoren ist aber gleichbedeutend mit der (vermutlich vom KGB erfundenen) Lüge "Tschernobyl ist überall".

 Nein, das ist es nicht! Beim grössten Unfall in einem Leichtwasserreaktor in Three Mile Island (USA, 1979) wurden ca. 50 Curie an gasförmiger Radioaktivität kontrolliert an die Umgebung abgegeben. In Tschernobyl waren es über 50 000 000 Curie. Ein grosser Teil davon waren feste Substanzen wie Jod, Strontium und Cäsium, die sich mit den Niederschlägen am Boden festsetzten und unter anderem zur Verseuchung von Rentieren im hohen Norden und von Pilzen im Tessin führten!

 Wesentlich beim Vergleich von Mühleberg (westliche Leichtwasser-Reaktor-Technik) und Tschernobyl (sowjetische Militär-Reaktor-Technik) sind die Ursachen, die zur Katastrophe von Tschernobyl führten, und jene, die zu einem Unfall in Mühleberg führen könnten. Diese sind im Artikel Abelins nicht erwähnt. Interessierte können bei Google unter dem Stichwort "Katastrophe von Tschernobyl" ausführliche Darstellungen dieses Vorfalls finden. Ich konzentriere mich auf das Wichtigste:

 Erstens:Der wohl wesentlichste Unterschied zwischen den beiden Reaktortypen liegt in der Konstruktion. Tschernobyl hatte die verhängnisvolle Eigenschaft, dass bei einem schnellen Anstieg der Leistung diese nicht - wie dies bei allen westlichen Leichtwasserreaktoren der Fall ist - von der Konstruktion her (inhärent) gebremst, sondern mit sogenannt positiver Rückkopplung weiter beschleunigt wird.

 Dieser "Durchbrennungsprozess" spielt sich in Bruchteilen von Sekunden ab und führt zum Zerplatzen der Uranbrennstäbe in Mikroteilchen bei Temperaturen von weit über 20 000 Grad. Dieses Verhalten hat nichts mit dem (langsamen) Schmelzen der Brennelemente beim GAU in einem Leichtwasserreaktor zu tun.

 Zweitens: Die Brennelemente sind in einem Grafitklotz, dem sogenannten Moderator, platziert. In Mühleberg übernimmt gewöhnliches, unbrennbares Wasser dessen Rolle. Der explodierende Brennstoff Tschernobyls konnte den Grafit sofort entzünden, und damit wurden etwa 10% des gesamten Radioaktivitätsinventars (gasförmig und fest) in hohe Atmosphärenschichten geblasen und mit den Winden über weite Teile Europas verfrachtet. In Mühleberg würde beim schlimmsten Unfall, bei Verlust des Kühlwassers, der Brennstoff langsam zu schmelzen beginnen; 99,99% oder mehr der Radioaktivität blieben an Ort und Stelle, wie dies auch in Three Mile Island der Fall war.

 Drittens: In der Sowjetunion gab es keine Reaktor-Sicherheitskultur. Erfahrungen mit Störfällen in Kernkraftwerken wurden nicht weitergegeben. Die Verantwortlichen hatten Angst vor Repressalien. Der Direktor von Tschernobyl meldete noch 12 Stunden nach dem Durchbrennen der Reaktors und den durch Knallgas erfolgten Explosionen und nachdem bereits einige Betriebsleute direkt getötet worden waren nach Moskau, man habe den Unfall "unter Kontrolle".

 Die sowjetischen Behörden vertuschten das Desaster während zweier Tage. Die Bevölkerung des nächstgelegenen Ortes Pripjat wurde erst am Tage nach der Katastrophe evakuiert - viel zu spät. In Three Mile Island war schon am Tag, als der Reaktorkern teilweise schmolz, Präsident Jimmy Carter mit einem Medientross am Ort. Menschen kamen bei diesem Unfall keine zu Schaden.

 Was Abelin in seinem Artikel auch nicht erwähnt, ist, dass man aus den beiden Vorfällen Lehren gezogen hat. In den 31 Jahren seit Three Mile Island ist deshalb kein weiterer Unfall mit Freisetzung von Radioaktivität bei bis jetzt über 10 000 akkumulierten Betriebsjahren in Leichtwasserreaktoren vorgekommen. Auch bei den immer noch in Betrieb stehenden wenigen Reaktoren vom Tschernobyl-Typ hat sich kein grösserer Störfall mehr ereignet.

 Diese Tatschen sind der Grund, dass im Moment weltweit 50 neue Kernkraftwerke im Bau und weitere 150 in Planung sind. Tschernobyl übt keinenEinfluss mehr auf die Entscheidungsträger aus. Die Renaissance der Kernenergie hat begonnen!

 Der Autor

 Der promovierte Reaktorphysiker Dr. Hans-Rudolf Lutz war erster Direktor des Kernkraftwerks Mühleberg. In den 1990er-Jahren war er zuständig für den Bau des nationalen Zwischenlagers für radioaktive Abfälle in Würenlingen.

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Grenchner Tagblatt 17.1.11

Grenchner Tagblatt Seeland/Kanton Bern

 Pro-und-Contra-Serie Teil I Braucht es im Kanton Bern mit Mühleberg II ein neues AKW?

Urs Gasche*

 PRO

 "Ersatzkernkraftwerk: Gebot der Vernunft"

 Urs Gasche*

 Die BKW hat den Auftrag, die Stromversorgungssicherheit für ihre rund eine Million Kundinnen und Kunden zu gewährleisten. Dazu zählen vor allem die Haushalte und die Wirtschaft, primär in den Kantonen Bern und Jura. Versorgungssicherheit heisst, zu jeder Zeit unterbruchsfrei so viel Strom anzubieten, wie gebraucht wird. Dazu braucht es Kraftwerke. Unser Land ist stolz, dass es Strom - dank dem hohen Anteil an Wasser- (ca. 55%) und Kernkraft (ca. 40%) - sehr klimafreundlich produziert. Im Bereich der neuen erneuerbaren Energien (neE) wie Sonne, Wind oder Biomasse unternimmt gerade die BKW grosse Anstrengungen. Auf dem Mont-Soleil hat sie 1991 das damals grösste Sonnenkraftwerk Europas errichtet und leistet seit 1995 im bedeutendsten privaten Fotovoltaik-Entwicklungszentrum der Schweiz wertvolle Pionierarbeit. Auf dem Mont-Crosin betreibt die von der BKW geführte JUVENT SA seit 1996 das grösste Windkraftwerk des Landes. Sie hat dieses mit dem Ausbau 2010 in seiner Leistungskraft vervierfacht. Und auf dem Stade de Suisse betreibt die BKW das grösste stadionintegrierte Solarkraftwerk der Welt. Auch im Ausland engagiert sich die BKW im Bereich der neE.

 Unsere Gesellschaft verbraucht sehr viel Energie. Der grösste Teil wird heute noch durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe (Erdöl, Kohle oder Erdgas) erzeugt. Dies bedroht unser Klima, hauptsächlich durch das Treibhausgas CO2. Dem begegnen wir mit höherer Energieeffizienz und dem Ersatz fossiler Brennstoffe durch Strom. Um diesen ausreichend bereitstellen zu können, sind nach wie vor Grosskraftwerke nötig; der Strom aus neE reicht mengenmässig noch nicht aus. Und selbst wenn die Menge reichen würde, wären die Produktionskosten so hoch, dass die schweizerische Wirtschaft ihre Konkurrenzfähigkeit verlieren würde.

 Als Grosskraftwerke kommen bei uns nur Gas- und Kernkraftwerke infrage. Dazu bestehen wenige Möglichkeiten, die Wasserkraftnutzung auszubauen. Die Widerstände gegen solche Projekte sind bekannt und zeigen die engen Grenzen des Wasserkraftausbaus.

 Für mich hat sich die heutige Stromversorgung aus Wasser- und Kernkraft bewährt. Auch wenn Letztere über die ganze Produktion nicht vollständig CO2-frei ist, ist sie verglichen mit Gaskraftwerken doch CO2-arm. Zudem verursachen Kernkraftwerke nicht annähernd so grosse Abhängigkeiten von einzelnen Lieferländern wie etwa beim Gas.

 Unsere Kernkraftwerke sind sicher, wir haben Überwachung und Unterhalt selber in der Hand und nehmen die Verantwortung direkt wahr. Dass Behörden und Stromunternehmen dazu in der Lage sind, haben sie in langen Jahren bewiesen. Auch die Endlagerung der relativ geringen Abfälle ist sicher und verantwortungsbewusst möglich - die Nagra hat den Nachweis erbracht. Nötig sind noch die politischen Entscheide.

 Warum soll nun eines der beiden neuen Ersatzkernkraftwerke in Mühleberg stehen? Für die Volkswirtschaft und für den Wirtschaftsstandort Bern ist es von entscheidender Bedeutung, wo die Investitionen getätigt, die Arbeitsplätze erhalten und ausgebaut werden können, und ob die BKW als grosser Aktivposten im Portefeuille des Kantons eines der drei bedeutenden Elektrizitätsunternehmen bleibt.

 Darum: Ein Ja zum Ersatzkraftwerk Mühleberg ist ein Ja der Vernunft!

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 CONTRA

 "Der Kanton Bern braucht kein Mühleberg II"
 
Barbara Egger*

 Mit der Abstimmung vom 13. Februar werden die Bernerinnen und Berner über eine energiepolitisch wichtige Frage entscheiden. Es geht darum, ob unser Kanton für weitere 50 Jahre und länger auf Atomstrom setzen will oder nicht. Für die Regierung des Kantons Bern ist die Antwort klar: Wir brauchen kein neues Atomkraftwerk in unserem Kanton und übrigens auch nicht anderswo in der Schweiz. Warum? Atomstrom ist eine Technologie von gestern. Sie ist gefährlich, überflüssig und teuer.

 Dass Atomkraftwerke gefährlich sind, wissen wir seit Tschernobyl und Harrisburg. Das Risiko ist zwar klein, aber es kann niemand garantieren, dass das nicht auch bei uns passieren könnte. Der Regierungsrat ist nicht bereit, die Stadt und Region Bern für weitere 50 Jahre und länger unnötig diesem Risiko auszusetzen. Gefährlich sind Atomkraftwerke vor allem auch wegen deren radioaktiven Abfällen. Niemand in der Schweiz will diese Abfälle bei sich lagern. Es ist unehrlich, neue Atomkraftwerke zu planen, wenn keine Lösung für die heutigen Abfälle besteht. Mit einem neuen Atomkraftwerk fallen wiederum Tonnen von radioaktivem Abfall an und niemand weiss, wohin damit.

 Atomkraftwerke sind überflüssig, weil die Zukunft den erneuerbaren Energien wie Sonne, Wasser, Holz, Wind, Erdwärme, den Strom sparenden Geräten und den sanierten Gebäuden gehört. Diese Zukunft hat schon begonnen: Bereits heute werden Häuser gebaut, die mehr Energie produzieren als sie benötigen. Lampen und Elektro-Geräte funktionieren inzwischen mit einem Bruchteil des Stroms. Wenn nur die Hälfte der Schweizer Haushalte solch moderne Geräte einsetzen, können wir auf den Ersatz von Mühleberg verzichten. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass Mühleberg nicht morgen, sondern frühestens in zwanzig Jahren vom Netz geht. Wer kann heute schon sagen, was dann sein wird? Ein Blick in die Vergangenheit zeigt: Vor 20 Jahren gab es keine Handys, kein Internet, kein E-Mail und keine Navigationsgeräte. Fachleute sagen, dass wir heute bei den erneuerbaren Energien und der Energieeffizienz vor einem ähnlichen Innovationsschub stehen.

 Atomkraftwerke sind schliesslich teuer und risikoreich. Die Kosten für den Bau von Mühleberg II werden heute von der BKW auf 7 bis 9 Milliarden geschätzt. Hinzu kommen weitere Milliarden für die Stilllegung und Entsorgung des alten Atomkraftwerkes. Kein privater Versicherer ist bereit, die Risiken eines Atomunfalls zu versichern. Das Hauptrisiko tragen damit die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. "Too big to fail" ist also auch bei Atomkraftwerken nicht von der Hand zu weisen. Denn wer heute auf Atomkraftwerke für in zwanzig Jahren setzt, läuft Gefahr, dass er viele Milliarden in Strom investiert, den in 20 oder 30 Jahren niemand mehr kaufen will. Das deshalb, weil dann jeder seinen eigenen Strom auf seinem Dach produzieren wird.

 Der Regierungsrat zeigt mit seiner Energiestrategie den Weg auf, wie der Kanton aus der Atomenergie aussteigen kann: Mit erneuerbaren Energien und Energieeffizienz kann sowohl eine gesicherte als auch eine sichere Energieversorgung gewährleistet werden. Das lohnt sich vor allem auch für die Wirtschaft: Mit erneuerbaren Energien und Energieeffizienz schaffen wir viele und dauerhafte Arbeitsplätze im ganzen Kanton: Bei Planern, beim Bau, beim Gewerbe, bei KMUs, bei innovativen Technologieunternehmen. Energie aus der Region heisst eben auch: Energie für die Region.

 *Barbara Egger (SP) ist Bau-, Verkehrs- und Energiedirektorin und vertritt Bern im BKW-VR.

 *Urs Gasche, VR-Präsident der BKW AG, ist alt Regierungsrat und BDP-Präsident.

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Landbote 17.1.11

Der die Weinländer den Protest lehrte

 Florian Imbach

 BENKEN. Ein altgedienter AKW-Gegner aus Norddeutschland referierte gestern in Benken über den Protest gegen das geplante Tiefenlager in Gorleben. Vom deutschen Protest könnte das Weinland noch einiges lernen.

 Gerhard Förster hat die Menge auf seiner Seite. Er sagt Sätze wie: "Der erste Schritt muss sein, die AKW abzuschalten." Oder: "Mit Atomkraft kommt es zu Krebs und Tod." Dem Publikum gefallen die klaren, aber ruhig vorgetragenen Voten. Die 60 Männer und Frauen im Publikum applaudieren. Immer wieder unterbrechen zustimmende Rufe das Referat. "Bravo!" oder "Jawohl!" tönt es.

 Bereits am Abend zuvor sprach Förster im süddeutschen Engen vor vollen Rängen. Heute ist es die "Sonne" in Benken. Wieder hat er volles Haus. Förster kommt von weit her. Er wohnt in Lüchow, hoch im Norden Deutschlands.

 Förster ist ein Atomgegner erster Stunde, ein Widerstandsveteran. Seit 15 Jahren kämpft er in seiner Heimat gegen Atommülldeponien, sass im Vorstand der Bürgerinitiative Dannenberg-Lüchow, war zeitweise sogar deren Pressesprecher. Förster kennt sein Geschäft. Er weiss, wie man sich wehrt gegen Behörden und Atom-Lobbyisten.

 Förster will Gleichgesinnten helfen. Er reist in die Schweiz, ins Weinland, um den Schweizer Kollegen zu erklären, wie ein erfolgreicher Widerstand organisiert wird. Und Förster hat viel zu erzählen aus seiner Heimat.

 Der Norddeutsche nimmt sich Zeit, begrüsst erst die Vorstandsmitglieder der Weinländer Atomkraftgegner "Klar Schweiz". Die Stimmung ist herzlich, fast schon familiär. Unterstützung erhält Förster von politischen Gesinnungsgenossen aus Deutschland. Rita Schwarzelühr, SPD-Bundestagsabgeordnete des Landkreises Waldshut, ist eigens aus Jestetten angereist. Auch die Vorsitzende der SPD Jestetten, Karin Rehbock-Zureich ist da. Man kennt sich, tauscht Nettigkeiten aus.

 "Wie es mit dem Endlager läuft"

 "Ich bin Gerhard Förster", beginnt er seinen Vortrag. "Und ich freue mich, hier zu sein." Er erzählt, "wie das mit dem Endlager in Deutschland läuft". Dass Atomenergie gefährlich sei, vom Abbau bis zum Abfall. In Gorleben plant die Bundesregierung ein Endlager. Dagegen kämpft Förster mit der Bürgerinitiative, nicht nur verbal. "Die Behörden haben geglaubt, sie hätten leichtes Spiel." Er schildert, wie sie, die unzufriedenen Einwohner, im Mai 2009 zu Tausenden die Baustelle besetzten. "Da hat es uns gereicht." Und Förster appelliert an die Weinländer: "So was müssen wir machen, um zu zeigen, dass wir das nicht hinnehmen", sagt er. Und er warnt die Weinländer davor, die Risiken zu unterschätzen: "Überall wo ein Endlager hinkommt, werden Menschen sterben."

 Förster schliesst seinen Vortrag, ruhig, zurückhaltend, wie er begonnen hat. "Ich bin jetzt fertig." Der Applaus ist laut. Förster packt seine Sachen zusammen. Am Abend wartet wieder ein voller Saal im "Löwen" in Jestetten.

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 Nachgefragt

 Käthi Furrer, Präsidentin Protestbewegung "Klar Schweiz"

 "In der Schweiz sind wir zu gutgläubig, ja schon blauäugig"
 Florian Imbach

 Frau Furrer, wie haben Sie als schweizerische Atomkraftgegnerin das Referat ihres deutschen Kollegen aufgenommen?

 Käthi Furrer: In Deutschland sind die Missstände offensichtlicher als in der Schweiz. Dort sieht man die Endlagerproblematik deutlicher. Was in Gorleben passiert, ist unglaublich. Das sollte auch Einfluss auf die Diskussion in der Schweiz haben. Die grossen Probleme kommen nicht in ferner Zukunft auf uns zu, sondern bereits heute.

 Wo sehen Sie Unterschiede zum schweizerischen Protest?

 Bei uns sind die Gefahren noch zu wenig bekannt. Wir müssen eine breitere Öffentlichkeit finden. "Flops" wie etwa in der Deponie Asse oder bei der Planung des Endlagers Gorleben sind auch bei uns möglich.

 Proteste in der Schweiz, auch im Weinland, sind eher harmlos, fast schon brav. Wieso ist das so?

 In der Schweiz sind wir zu gutgläubig, ja schon blauäugig. Man vertraut den Experten. Deutsche Atomkraftgegner können besser protestieren als wir, sie sind lauter und auch prägnanter.

 Was bedeutet das für Ihren Protest gegen ein Endlager im Weinland?

 Es gibt sicher keinen Grund mehr zu Gelassenheit. Wir werden unseren Widerstand mit allen Mitteln intensivieren. Wir fordern mehr Zivilcourage, nicht nur von einer links-grünen Minderheit, sondern über alle Parteigrenzen hinweg. Es ist an der Zeit, dass auch die Behörden hier im Weinland endlich Farbe bekennen. Ihre deutschen Kollegen sind mutig und wehren sich mit den lokalen Gruppen gegen das Endlager. Wir wollen wissen, welche Gemeinderäte hier in der Region uns unterstützen.

 Wie soll es Ihrer Meinung nach weitergehen mit dem geplanten Endlager im Weinland?

 Wir wollen keine vorschnelle Lösung. Wenn dieses Loch eine Million Jahre halten soll, dann muss es sicher nicht jetzt sofort gebaut werden, sondern kann auch noch warten, bis wir mehr wissen. Wir wissen heute ja nicht einmal, was in 100 Jahren ist. Zuerst fordern wir den Ausstieg aus der Atomkraft und die Förderung erneuerbarer Energien. Danach kann man in Ruhe über eine geeignete Lösung für den Atommüll diskutieren.

 INTERVIEW: FLORIAN IMBACH

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Sonntagszeitung 16.1.11

Neues AKW Mühleberg: Zwischenlager inklusive

 Die Stimmunterlagen schweigen über das Lager für radioaktive Abfälle

von Seraina Kobler

 Zürich Das Berner Stimmvolk befindet am 13. Februar über ein neues Atomkraftwerk in Mühleberg, erfährt aber im Abstimmungsbüchlein nur die halbe Wahrheit. Unterschlagen wird dort, dass neben dem neuen AKW auch ein Zwischenlager geplant ist. Bis zu drei Fussballfelder gross soll es werden und neben schwach- und mittelaktiven Abfällen auch hochradioaktiven Müll lagern. Laut den Plänen der AKW-Betreiberin BKW besteht gar die Möglichkeit, dass dieses Lager auch radioaktives Material von anderen AKW übernehmen wird.

 Heute wird der Atommüll aller AKW in der Schweiz im zentralen Zwischenlager in Würenlingen AG aufbewahrt. Die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) sucht seit Jahrzehnten nach einem Tiefenlager, um den Abfall definitiv zu lagern. Doch bis dieses steht - und das wird frühestens in sechzig bis achtzig Jahren der Fall sein -, braucht es ein Zwischenlager.

 Die Bevölkerung rund um Mühleberg ist überrascht. "An der Informationsveranstaltung im Gemeindehaus im letzten Jahr war von solchen Undingen kein Wort zu hören", sagt Reiner zur Linde aus dem Nachbarort Detligen. Auch Landwirt Walter Ramseier, ein Nachbar des AKW, ist beunruhigt: "Weil niemand ein Tiefenlager möchte, werden nun Hallen gebaut, die ein jahrzehntelanges Provisorium sein werden."

 Kein Platz im heutigen Zwischenlager

 Antonio Sommavilla, Pressesprecher der BKW, sieht keinen Grund zur Besorgnis: "Zwischenlagerung vor Ort entspricht heute dem weltweiten Standard." So würden unnötige Transporte vermieden und die Sicherheit erhöht. Das Zwischenlager in Würenlingen sei zudem nur für die Abfälle der heutigen Kernkraftwerke bemessen und die BKW wolle sich nicht darauf verlassen, dass in 30 bis 40 Jahren ein Tiefenlager zur Verfügung stehe. Um ihrer Verantwortung gerecht zu werden, habe sie deshalb auch die Zwischenlagerung beantragt.

 Die mangelhafte Information in den Abstimmungsunterlagen, die jetzt verschickt werden, stösst auf Kritik. Blaise Kropf, Präsident der Grünen Partei Bern: "Lager für radioaktive Abfälle lassen sich nur gegen massiven Widerstand der Bevölkerung errichten." Nun würden die AKW-Betreiber den skandalösen Versuch unternehmen, ein solches durch die Hintertür zu errichten.

 Für Josef Jenni, Umweltfachmann und Berner EVP-Grossrat, ist klar: "Ein solches Lager muss in den Abstimmungsunterlagen unbedingt erwähnt sein, denn es stellt ein grösseres Sicherheitsrisiko dar als das AKW selber."

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Neue Atomkraftwerke: Wirtschaft tief gespalten

 Swisscleantech und FDP-Politiker setzen auf erneuerbare Energie - und attackieren Economiesuisse heftig

 Zürich Während der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse für den Bau neuer Kernkraftwerke eintritt, stellt sich ein Teil der Wirtschaft und des Freisinns dagegen - aus wirtschaftlichen Überlegungen. "Ein Atomkraftwerk ist einfach kein sinnvolles Investment", sagt Nick Beglinger, Präsident von Swisscleantech.

 Dem erst einjährigen Verband gehören bereits 165 Firmen an, darunter ABB Sécheron SA, Cisco, der börsenkotierte Genfer Prüfkonzern SGS oder Endress + Hauser. Im letzten halben Jahr hat sich der Mitgliederbestand verdoppelt. "Auch für uns ist die Versorgungssicherheit zentral", sagt Beglinger, "doch die lässt sich mit erneuerbaren Energien - inländischen wie ausländischen - erreichen."

 Diese Haltung teilt der FDP-Nationalrat und Unternehmer Ruedi Noser. Er sitzt im politischen Beirat von Swisscleantech, ebenso die freisinnige Ständerätin Erika Forster sowie die Nationalrats- und Parteikollegen Hugues Hiltpold und Laurent Favre. Gegenüber der SonntagsZeitung präzisiert Noser seine Einstellung: "Politisch muss alles unternommen werden, damit das riesige Potenzial der erneuerbaren Energien ausgeschöpft wird. Erst wenn man realisiert, dass sich vorübergehend ein Restbedarf ergibt, soll Kernenergie zum Einsatz kommen, doch höchstens als Übergangslösung."

 "In 60 Jahren hat es in Europa längst zu viel Energie"

 Noser bezweifelt, dass sich neue Kernkraftwerke wirtschaftlich rechnen. "Dazu müssten sie über die lange Dauer von 60 Jahren abgeschrieben werden können, doch bis dann wird es in Europa längst zu viel Energie geben." Anders als ein Gaskraftwerk könne ein AKW nachts nicht abgeschaltet werden.

 Von der offiziellen Economiesuisse- und FDP-Position setzt sich auch der FDP-Nationalrat und Basler Gewerbedirektor Peter Malama ab. Er ist Vorstandsmitglied von Swisscleantech: "Notfalls die Betriebsbewilligung bestehender Atomkraftwerke zu verlängern, kommt nur infrage, wenn die Risiken für die Bevölkerung möglichst gut abgeklärt werden können." Im Zweifelsfall sollten stattdessen Gaskraftwerke gebaut werden. Zweitens müsste die Verlängerung der Laufzeit mit der Einführung einer Abgabe gekoppelt werden, zum Beispiel zugunsten der erneuerbaren Energien.

 Ganz anders tönte es vergangene Woche aus dem Munde des Economiesuisse-Präsidenten und FDP-Nationalrats Gerold Bührer: Die Sicherung des Ersatzes für Kernkraftwerke, deren Laufzeit ablaufe, sei im Interesse der Versorgungssicherheit unabdingbar.

 Das versetzt den Swisscleantech-Präsidenten Beglinger in Aufruhr: "Economiesuisse vertritt die Partikularinteressen der Energiekonzerne und der Grossverbraucher. Swisscleantech ist gegründet worden, weil Economiesuisse Nachhaltigkeit als Problem statt als Chance einstuft."

 Wenn die 20 Milliarden Franken, die zwei neue AKW mindestens kosten würden, zur Förderung erneuerbarer Energien und der Energieeffizienz-Technologie eingesetzt würden, könnten viel mehr Firmen eine viel grössere Wertschöpfung erreichen. Für die Exportindustrie tue sich die Chance auf, dass die Schweiz nach der Schokolade und den Uhren auch mit Cleantech assoziiert werde. Immerhin habe nun Economiesuisse eine entsprechende Studie in Auftrag gegeben.  V. Weber

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Sonntag 16.1.11

Bund soll nicht für AKW-Betreiber zahlen müssen

 Bald müssen Schweizer AKW stillgelegt werden. Reicht das Geld der Betreiber dafür nicht, hat allenfalls auch der Staat zu zahlen. Das will Anita Fetz auf jeden Fall verhindern

 Sicher ist sicher. Und der Bund wollte bei der Entsorgung der Atomkraftwerke im Lande auf Nummer sicher gehen. Denn schon bald muss die Schweiz über den Bau neuer AKW entscheiden. Grund: Nach 2020 muss die erste der bestehenden Anlagen abgestellt werden. Die AKW-Betreiber müssen deshalb das Geld für die aufwändige Stilllegung sowie für die Entsorgung der Abfälle in zwei vom Bund kontrollierte Fonds einzahlen. So soll verhindert werden, dass sich die Gesellschaften nach Ende der Laufzeit ihrer AKW auflösen und die Stilllegung der Anlagen plötzlich auf Kosten der Allgemeinheit geht.

 So weit, so gut. Doch: Im Kernenergiegesetz scheint eine Lücke zur Nachschusspflicht des Staates zu bestehen. Das zumindest befürchtet Anita Fetz. Per Motion fordert die Basler SP-Ständerätin deshalb vom Bundesrat eine Gesetzesänderung, damit die öffentliche Hand auch sicher kein Nachschussrisiko treffen kann. Denn mit der heutigen Gesetzesregelung bestehe für den Staat ein Finanzrisiko, "das ein erhebliches Ausmass annehmen kann".

 Die Gesamtkosten für die Stilllegung der Anlagen und die Entsorgung der Abfälle aus dem Betrieb der fünf Schweizer AKW wurden 2006 auf insgesamt 15,5 Milliarden Franken berechnet: 2,2 Milliarden für die Stilllegung und 13,3 Milliarden für die Entsorgung. Gemäss dem Bundesamt für Energie (BFE) sind durch die beiden Fonds insgesamt 8,5 Milliarden Franken sicherzustellen. Ende 2009 betrug das angesammelte Kapital rund 3,97 Milliarden. Somit waren ab 2010 über weitere Beiträge der Betreiber und Kapitalerträge noch 4,53 Milliarden Franken sicherzustellen.

 Die AKW-Betreiber haben sich in der Vergangenheit stets zuversichtlich gezeigt, dass sie die nötigen Gelder in der erforderlichen Zeit zusammenhaben werden. Keine Überraschung. Angesichts der geplanten neuen Atomkraftwerke wollen die Betreiber schliesslich jede negative Presse vermeiden. Kürzlich wies die "Handelszeitung" darauf hin: "Sollte in der Öffentlichkeit auch nur der leiseste Verdacht entstehen, es könnte das Geld fehlen, um abgeschaltete AKW zu demontieren und den Abfall ins Endlager zu verfrachten, kämen die Betreiber von der Politik unter Druck, Geld nachzuschiessen."

 Doch auch wenn die Betroffenen bisher stets versichert haben, dass die Fonds für die Stilllegung der AKW sowie die Entsorgung radioaktiver Abfälle reichen werden, äussern sie sich gegen den Vorstoss von Anita Fetz. Eine Änderung des Kernenergiegesetzes drängt sich beispielsweise aus Sicht des Stromkonzerns Axpo nicht auf. "Der beanstandete Absatz verpflichtet die öffentliche Hand in keiner Weise", betont Mediensprecherin Anahid Rickmann. Vielmehr könne die Bundesversammlung beschliessen, ob sich der Staat an nicht gedeckten Kosten beteiligen soll.

 Das beurteilt Anita Fetz etwas anders. Sie will nun verhindern, dass zuletzt eben doch noch der Staat zur Kasse gebeten wird, sollte der Fonds nicht ausreichen. Denn gemäss Kernenergiegesetz muss heute der Bund nach Massgabe des Parlaments zahlen, falls die Nachschusspflicht für die AKW-Betreiber wirtschaftlich nicht tragbar wäre. Fetz: "Wie bei der Too-big-to-fail-Problematik hat der Bundesrat eine Lösung vorzuschlagen, damit der Staat in keinem Fall ein solches Risiko treffen kann." Denkbar seien etwa Versicherungslösungen zulasten der Beitragspflichtigen. "Die Steuerzahler sollen nicht als letzte In-stanz für dieses Risiko einstehen müssen."Daniel Ballmer

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 Auch Rückholung darf den Staat nichts kosten

 Der Bundesrat soll im Kernenergiegesetz die finanzielle Vorsorge für den Fall einer allfälligen Rückholung radioaktiver Abfälle gemäss dem Verursacherprinzip ergänzen. Das fordert die Basler SP-Ständerätin Anita Fetz in einer zweiten Motion. Dabei seien auch die Kosten zu berücksichtigen, die nach der Rückholung aus Tiefenlagern entstehen. Den Bund dürfe dabei auf gar keinen Fall ein Finanzrisiko treffen.

 Schon mehrfach hat der Bundesrat erklärt, dass das Gesetz die Rückholungskosten sowie die weitere Behandlung radioaktiver Abfälle derzeit tatsächlich nicht regelt. Die entsprechenden Kosten würden auf insgesamt 3,5 Milliarden Franken geschätzt, betont Fetz. Da ein Tiefenlager nach Verschluss aber nicht mehr dem Kernenergiegesetz untersteht, wären diese Kosten vollumfänglich durch den Bund zu tragen - also durch den Steuerzahler. Das Kernenergiegesetz müsse deshalb so angepasst werden, dass die öffentliche Hand keinerlei Finanzrisiko trifft.

 Der Bundesrat seinerseits hat sich bis heute stets gelassen gezeigt: Die regelmässige Überprüfung der Stilllegungs- und Entsorgungskosten, die Veröffentlichung der Jahresberichte, Jahresabrechnungen und Kostenstudien sowie eine zielstrebige Standortsuche und Realisierung von geologischen Tiefenlagern würden "Gewähr bieten für einen verantwortungsvollen Umgang mit der Entsorgung der radioaktiven Abfälle". (db)

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NZZ am Sonntag 16.1.11

"Langfristig muss die Versorgung auf erneuerbaren Energien basieren"

 Kurt Rohrbach, der Chef der Bernischen Kraftwerke BKW, steht im Fokus der Schweizer Atom-Diskussion. Die Kritik an seiner Firma hält er für unbegründet

 Die Bernischen Kraftwerke würden gern mehr Strom aus alternativen Quellen herstellen, sagt ihr Chef Kurt Rohrbach. Aber seine Firma dürfe nicht.

 NZZ am Sonntag: Die BKW machen Schlagzeilen: Sie wollen weniger in erneuerbare Energien investieren als geplant. Damit stossen sie auf Kritik.

 Kurt Rohrbach: Wir wollen nicht weniger investieren, sondern wir können nicht. Wir haben unser Ziel nach unten korrigieren müssen. Wir sind in der Schweiz die grösste Produzentin von neuen erneuerbaren Energien und haben gegen 100 weitere Projekte. Von diesen werden sich weniger realisieren lassen als geplant, denn der Widerstand dagegen ist massiv. Die Bewilligungsverfahren sind schleppend und auf behördlicher Ebene wenig koordiniert.

 Deutschland macht es Ihnen vor: Es nutzt Sonnenenergie viel stärker.

 An die Strommengen, die nötig wären, liefert die Sonnenenergie höchstens einen Beitrag im Promillebereich. Mit Kleinwasserkraft- und Windkraftwerken lassen sich immerhin einige Prozente gewinnen.

 Bern könnte ein Strom-Pionierkanton sein. Sie haben Wasserkraft und Solar-Firmen mit Weltruf wie Meyer Burger.

 Meyer Burger hat den Ruf zu Recht, weil sie den internationalen Markt mit Maschinen für die Bearbeitung von Solarpanels beliefert. Das löst jedoch nicht unser Problem, dass wir für kleine Wind- und Wasserprojekte keine Bewilligung bekommen.

 Sind grosse Energiekonzerne die Richtigen fürs Bauen kleiner Anlagen?

 Wir haben für diese Aktivitäten die Tochterfirma sol-E Suisse gegründet. Bei Kleinanlagen braucht's tatsächlich einen anderen Spirit. Aber auch sol-E Suisse stösst ständig auf Widerstand.

 Ihre Kritiker sagen, Sie planten Alternativenergie-Anlagen gezielt dort, wo diese auf Widerstand stossen.

 Diesen Vorwurf kann nur machen, wer noch nie an einem solchen Projekt gearbeitet hat. Wir gehen die Projekte mit den grössten Realisierungschancen und dem grössten Energiepotenzial an. Alles andere wäre unprofessionell.

 Sie reden das Potenzial erneuerbarer Energien klein. Lautet Ihre versteckte Botschaft, ohne Atomkraft geht es nicht?

 Mit einer Korrektur von zu hoch gesteckten Erwartungen liegt man immer falsch. Vor einer Abstimmung wird uns vorgeworfen, es sei Propaganda. Würden wir nichts sagen, dann würde man uns vorwerfen, wir hätten es verschwiegen.

 Sie werden für Ihren Rückzieher zurzeit in den Medien stark kritisiert.

 Das Potenzial der neuen erneuerbaren Energien wird vielerorts überzeichnet. Da gibt es eben schon harsche Reaktionen, wenn die Erwartungen an die Realität angepasst werden. Uns wird unterstellt, wir kürzten Budgets. Das stimmt nicht, und von einem Rückzieher kann gar keine Rede sein.

 Der Kanton Bern und die BKW stehen im Fokus der Schweizer Kernenergie-Diskussion. Wenn Sie die Abstimmung verlieren, ist das für die ganze Atomwirtschaft schlecht. Sind Sie nervös?

 Natürlich sind wir gespannt auf den Ausgang der Abstimmung. Und unsere Partner Axpo und Alpiq erkundigen sich ab und zu nach der Situation.

 Die Stadt Bern hat sich eben gegen einen radikalen Ausstieg aus der Atomenergie ausgesprochen. Stimmt Sie das zuversichtlich?

 Wir haben zur Kenntnis genommen, dass die Stadt Bern vorsichtig mit ihrer Stromzukunft umgehen und ihre Anteile aus Gösgen und Fessenheim bis zum Schluss nutzen will.

 Sie haben zusätzlich das Problem, dass die Berner Regierung, Ihre Mehrheitsaktionärin, atomkritisch ist. "Die Kernenergie ist für den Regierungsrat keine Option für eine zukunftsfähige Energiepolitik", schreibt diese.

 Ja, wir haben unterschiedliche Auffassungen. Dass sehr langfristig die Versorgung weitestgehend auf erneuerbaren Energien basieren muss, ist allen klar. Die Frage ist die nach dem Zeithorizont. Heute realisierbar ist eine CO2-freie Stromproduktion mit Kernenergie. Das Berner Kantonsparlament stellt sich klar positiv zum Ersatz von Mühleberg.

 Ist bei einem Nein in Bern das Projekt für ein neues KKW Mühleberg erledigt?

 Das müsste man differenziert anschauen. Sicher hätte Mühleberg nach einer deutlich negativen Stellungnahme unter den drei Standorten sehr schlechte Karten.

 Es gibt drei Gesuche für neue KKW, gebaut werden höchstens zwei. Vor kurzem einigten sich BKW, Alpiq und Axpo, wie sie den Besitz an den zwei aufteilen würden. Zufällig kurz vor der Abstimmung?

 Sicher waren alle drei Partner daran interessiert, vorher zu einem Einvernehmen zu kommen. Damit ist Klarheit geschaffen. Es kann wie eine Art Versicherung für alle Partner angesehen werden.

 Die Tendenz spricht gegen Kernenergie. Die Preise für alternative Energie sinken, die für Atomkraft steigen. Die Beschaffung von Uran wird schwieriger.

 Das stimmt so nicht. Die Kosten für Uran fallen kaum ins Gewicht. Wichtiger ist die Frage, wie sich die Investitionskosten für Kernkraftwerke entwickeln. Bei Sonnen-, Wind- und Wasserkraftwerken müssen auch die Speicherung und die zeitliche Anpassung an den Bedarf eingerechnet werden. Das wird oft unterschätzt.

 Banken sind Kernenergieprojekten gegenüber kritischer geworden.

 Es gibt weltweit kaum Kernkraftprojekte, die an der Finanzierung gescheitert wären.

 Sie preisen den BKW-Strommix im Abstimmungskampf als klimaneutral, verschweigen dabei aber Ihre fossilen Kraftwerke in Italien und Deutschland.

 Die Beteiligungen am Gaskombikraftwerk in Livorno Ferraris und am Kohlekraftwerk in Wilhelmshaven sind Teil unseres diversifizierten Kraftwerkparks. Wir werden im Bereich der fossilen Stromproduktion aber nicht mehr dazukaufen. Wir haben an beiden Orten in die neueste Technologie investiert. Dadurch werden die CO2-Emissionen stark verringert, denn neue Anlagen drängen ältere aus dem Markt. So leisten wir einen Beitrag zur CO2-Reduktion.
 
Interview: Benjamin Tommer

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 Kurt Rohrbach

 Der 55-jährige Berner Kurt Rohrbach ist als Präsident des Verbands der Schweizerischen Elektrizitätsunternehmen zurzeit der "höchste Stromer" der Schweiz. Rohrbach ist ausgebildeter Elektroingenieur ETH; seit seinem 25. Altersjahr ist er für die Bernischen Kraftwerke (BKW) tätig, seit zehn Jahren als ihr operativer Chef.

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 Kantonale Volksabstimmung

 Berner stellen atompolitische Weiche

 Im Kanton Bern tobt zurzeit ein Streit um die Zukunft der Atomenergie. Anlass dazu bietet die Volksabstimmung vom 13. Februar, in der die Bernerinnen und Berner entscheiden, ob in Mühleberg als Ersatz für das 38-jährige Kernkraftwerk ein neues, Mühleberg II, gebaut werden soll. Wirklich entscheiden können die Berner nicht. Es handelt sich nur um eine Konsultativabstimmung zuhanden des Bundes. Gleichwohl gilt der Urnengang als wichtiger Stimmungstest mit Blick auf eine nationale Abstimmung über neue Atomkraftwerke, die voraussichtlich 2013 stattfinden wird. Beobachter rechnen mit einem knappen Entscheid, wobei frühere Abstimmungen annehmen lassen, die Kernkraftbefürworter seien in der Überzahl. Der Kanton hat 2003 die Volksinitiativen "Strom ohne Atom" und "Moratorium" jeweils deutlich abgelehnt. Herausragende Köpfe im Abstimmungskampf sind Kurt Rohrbach (siehe Interview) und SP-Regierungsrätin Barbara Egger. Die Fronten sind undurchsichtig. Egger ist einerseits erklärte Atomstrom-Gegnerin; als Energiedirektorin und Vertreterin des Mehrheitsbesitzers Kanton Bern sitzt sie aber im BKW-Verwaltungsrat. Das kantonale Parlament wiederum ist mehrheitlich kernenergiefreundlich. Widersprüchlich sind die Meinungen auch, was ein Nein der Berner zu Mühleberg II hiesse: Während die BKW unter Umständen weiter planen wollen, vertritt Egger die Haltung, ein Nein bedeute das Aus für ein neues Berner Atomkraftwerk. (bto.)

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Bund 15.1.11

Wie Spezialisten einen Störfall im AKW Mühleberg trainieren

 Simon Thönen

 Ein schwerer Unfall in einem Atomkraftwerk ist laut den zuständigen Behörden zwar sehr unwahrscheinlich, dennoch wird er regelmässig geprobt. In Mühleberg zuletzt 2009 mit der Übung "Medea". Der stellvertretende Übungsleiter Martin Haller beurteilte den Verlauf der Übung damals als "gut bis sehr gut": Die zuständigen Notfallspezialisten seien mitten in der Nacht rechtzeitig aufgeboten worden und die Führung habe ihre Verantwortung wahrgenommen.

 "Medea" zeigte aber auch Schwachstellen: So konnte die Nationale Alarmzentrale ausgerechnet in der kritischen Phase des (fiktiven) Störfalls die Werkleitung in Mühleberg nicht mehr erreichen. Auch waren nicht alle Beteiligten über die Schlüsselereignisse im Bild. Die medizinische Hotline Medgate funktionierte in der Übung - doch ihr fehlten Informationen zum Störfall. Vor allem zeigte "Medea", dass es sehr schwierig ist, einen AKW-Unfall einigermassen realistisch zu üben. — Seite 25

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So wird der AKW-Unfall geprobt

 Was passiert, falls der wenig wahrscheinliche AKW-Unfall doch eintritt? Dies üben alle zwei Jahre Dutzende von Notfallspezialisten - jedoch stets ohne die Bevölkerung.

 Simon Thönen

 16. Oktober 2009, mitten in der Nacht - der fiktive Störfall im Atomkraftwerk Mühleberg beginnt: Infolge einer Kette von Pannen werden die Brennstäbe im Reaktor nicht mehr ausreichend gekühlt. Um 03.15 Uhr alarmiert das Werk den Pikett im Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) und in der Nationalen Alarmzentrale (NAZ). Um 03.35 stuft der Diensthabende im Ensi das Geschehen als gravierend ein. Um 03.45 Uhr wird die Notfallorganisation des Ensi aufgeboten, 03.50 die NAZ.

 So rollte die "Gesamtnotfallübung Medea" im AKW Mühleberg an. Alle zwei Jahre proben Dutzende von Spezialisten, ob sie sich richtig verhalten würden, falls doch passierte, was laut Ensi und den AKW-Betreibern derart unwahrscheinlich ist, dass man es nahezu ausschliessen kann: ein Unfall, der zu radioaktiver Verstrahlung der Umgebung führt.

 "Nach Checklisten bewältigen"

 Traditionsgemäss erhalten diese Übungen Namen aus der antiken Mythologie. Diese war nach Medea benannt: jener Frau, die aus Rache an ihrem untreuen Ehemann ihre zwei Kinder ermordet. "Medea beging eine Kurzschlusshandlung", sagt der stellvertretende Übungsleiter Martin Haller: "Das Ziel der Übung war, genau dies zu vermeiden. Auch ein sehr unwahrscheinlicher Störfall soll sauber, geordnet und nach Checklisten bewältigt werden."

 Haller ist stellvertretender Ausbildungschef im Bundesamt für Bevölkerungsschutz, "Medea" war seine erste nukleare Notfallübung. Haller baute zwei Elemente aus der Realität in das fiktive Szenario ein: Erstmals wussten die rund achtzig Beteiligten - wie bei einem Störfall - nicht, wann die Alarmübung beginnt. Neu war auch, dass er "Medea" unter echten meteorologischen Bedingungen durchspielen liess.

 "Minimaler Austritt"

 Dennoch, das nukleare Störfallszenario war bei weitem kein Super-GAU: Eine Kernschmelze wie 1986 in Tschernobyl und teilweise 1979 im amerikanischen AKW Harrisburg hätte verhindert werden können. Erst acht Stunden nach Beginn des Störfalls, zwischen 11 und 12 Uhr, hätten wegen Überdruck im Reaktor radioaktive Gase in die Umwelt abgelassen werden müssen. "Der Austritt wäre minimal gewesen", sagt Haller.

 Aber: Das Drehbuch von Haller forderte die Übenden. Die Feuerwehr fragte an, wie lange sie einen - ebenfalls fiktiven und vom Störfall unabhängigen - Schulhausbrand in Golaten löschen dürfe. Fiktive Journalisten standen bereits um 7 Uhr in Mühleberg vor den Werktoren. Greenpeace demonstrierte auf dem Bundesplatz. Vieles mussten die Notfallspezialisten gleichzeitig entscheiden, etlichen Anordnungen gingen heftige Fachdiskussionen voraus.

 Wie stets bei solchen Übungen fehlte aber die grosse Unbekannte und der Hauptfaktor in der Katastrophe: die Bevölkerung. Denn "Medea" war eine sogenannte Stabsübung, "beübt" wurden die Betriebsleitung im Kernkraftwerk Mühleberg sowie die Verantwortlichen des Bundes und der Kantone Bern und Freiburg. Sogar die Gemeindebehörden waren nur am Rand einbezogen.

 Der Gemeindepräsident von Wohlen, Eduard Knecht, machte mit - damals noch als Chef des Gemeindeführungsstabs. Auf Gemeindeebene sei es "eine Checklisten-Übung" gewesen, sagt er. Man habe festgestellt, dass die Alarmierung von kantonalem Führungsstab zu Gemeinde, Zivilschutz und Feuerwehr funktionierte. "Wir konnten zurückmelden, dass wir bereit sind - und damit war die Sache für uns erledigt."

 Bei Sirenengeheul: Radio hören

 Knecht wird nachdenklich bei der Frage, was geschähe, wenn der Unfall mit der radioaktiven Wolke sich in der Realität ereignen würde. "Auf eine Kernmantel-Explosion in Mühleberg wäre kaum jemand vorbereitet, schon gar nicht auf Gemeindeebene", sagt er. Die Rolle der Gemeindebehörden sei bei einem Unfall in einem Kernkraftwerk ohnehin beschränkt. "Die Führung im Ernstfall läge auf nationaler Ebene, informiert würde die Bevölkerung vor allem mittels Sirenen und Radio."

 Bei "Medea" hätten die Sirenen ein erstes Mal um 8.45 Uhr geheult. Der "Allgemeine Alarm" hätte bedeutet, dass ein "Entweichen" von radioaktiven Stoffen "nicht mehr ausgeschlossen werden kann". Wer in der Gefahrenzone 1 oder 2 wohnt und noch ein Telefonbuch besitzt, hätte dort nachlesen können, was er tun muss: Radio hören, Anweisungen befolgen, Nachbarn informieren, Ruhe bewahren. Das Radio würden die meisten wohl von sich aus einschalten.

 Berner und Freiburger "tauchen"

 Dort, wo ein Durchzug der radioaktiven Wolke zu erwarten wäre, hätte die Bevölkerung sich darauf vorbereiten müssen, zu "tauchen", wie es im Fachjargon heisst. Konkret: den nächstgelegenen Keller oder Schutzraum aufsuchen, Fenster und Türen schliessen, Jodtabletten, Radio und Lebensmittel mitnehmen. Bei "Medea" hätten die Sirenen um 10.50 Uhr einen weiteren "Allgemeinen Alarm" ausgelöst: Zehn Minuten später wären die radioaktiven Gase aus dem AKW Mühleberg entwichen. Bei "Medea" musste zuerst die Bevölkerung der Stadt Freiburg "tauchen", doch um 15 Uhr drehte der Wind Richtung Bern. "Über 550 000 Menschen - unter anderem die Einwohner der Stadt Bern mitsamt dem Bundesrat - hätten vorsorglich einen Keller oder Schutzraum aufsuchen müssen", bilanziert die NAZ. Aufgrund der angenommenen schwachen Strahlung bei "Medea" wäre dies nicht nötig gewesen, sagt Haller. "Die Übungsteilnehmer haben im Zweifel zugunsten der Vorsicht entschieden."

 Keller oder doch Flucht?

 In Kellern ist der Schutz vor Radioaktivität 30 bis 50 Mal besser als im Freien, und das Schlucken der Jodtabletten kann verhindern, dass sich radioaktives Jod in der Schilddrüse anreichert. Aber hätten sich Berner, Freiburgerinnen und Wohlener so verhalten? Knecht ist skeptisch. Er vermutet, viele würden wohl versuchen, mit ihrer Familie im Auto zu fliehen. Die Reaktion der einzelnen Menschen in einem Ausnahmezustand sei schwer vorherzusagen. "Vielleicht überleben in Katastrophen ja auch gerade jene, die selber denken und handeln."

 Der Blick in den eigenen Keller gibt zu denken. Böte der schlecht isolierte, zugige Keller wirklich mehr Schutz als die Wohnung mit den modernen Fenstern? Und: Wäre es nicht doch besser, sofort im Auto oder im Zug zu fliehen, wenn die Wolke erst Stunden später käme? Oder stünde man dann schutzlos im Stau, wenn sie kommt? Wie viel Zeit bliebe, um Angehörige zu suchen? Soll man doch telefonieren, bevor das Netz zusammenbricht? Ohne die Bevölkerung lässt sich ein Störfall kaum proben.

 Übungen mit Einbezug der Bevölkerung seien dennoch nicht sinnvoll, finden sowohl Haller wie Knecht. "Entweder würden die Leute meinen, es sei ein Ernstfall, und dann gäbe es ein Chaos", sagt Knecht. "Oder sie würden die Übung einfach nicht ernst nehmen." Haller räumt jedoch ein, dass "Medea" "einmal mehr gezeigt hat, wie schwierig es ist, die Echtsituation eines KKW-Störfalls mit all seinen Konsequenzen darzustellen". Und wenn es doch passieren würde - und vielleicht gravierender als Haller es im "Medea"-Drehbuch angenommen hat? "Wir müssten so gut wie möglich tun, was wir geübt haben", sagt Haller, "wir hätten keine Wahl."

 Neues AKW in Mühleberg? Am 13. Februar entscheidet das Volk im Kanton Bern. muehleberg.derbund.ch

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BZ 15.1.11

AKW-Unfall: Die Wunde der Schweiz

 AtomstromWie sicher sind Atomkraftwerke wirklich? Wie gross ist das Restrisiko eines Unfalls? Eine klare Antwort gibt es nicht. Aber: In der Schweiz hat sich 1969 einer der weltweit grössten Atomunfälle ereignet.

 Einig sind sich Atomkraftbefürworter und -gegner eigentlich nur in einem Punkt: Das Betreiben eines AKW birgt ein Restrisiko. Dann hört die Einigkeit aber auch schon auf. Die Atombranche schätzt das "Restrisiko" eines grösseren Atomunfalls als äusserst gering ein. Schliesslich sei es in 14 000 Erfahrungsjahren mit Atomkraftwerken "nur" zu zwei Unfällen mit Zerstörung des Reaktorkerns gekommen.

 AKW-Gegner dagegen berufen sich auf Murphys Gesetz, das besagt: "Alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen." Aus ihrer Sicht geben ihnen die Sicherheitsbeurteilungen 2009 der Schweizer Atomkraftwerke recht: Noch nie schnitten Schweizer Kernanlagen schlechter ab als vorletztes Jahr.

 Ein Blick in die Vergangenheit der Schweiz zeigt, dass hierzulande einer der weltweit schwersten Atomunfälle passiert ist, und zwar 1969 in Lucens im Kanton Waadt. Im Versuchsreaktor kam es zu einer partiellen Kernschmelze, Uran trat aus. Das Werk wurde stillgelegt.

 Derweil sprechen sich mehrere Tourismusorganisationen für den Bau eines neuen AKW in Mühleberg aus.pasSeite 13 + 16

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Atomkraftwerke   ● Gefahr und Risiken

 Wie gross ist das Restrisiko?

 Das Unfallrisiko in AKW ist äusserst klein. Die Wahrscheinlichkeit ist fast gleich null, rechnen Atombefürworter vor. Die Gegner argumentieren mit Murphys Gesetz: "Alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen."

 Auf der Zunge leicht metallisch mit einem bitteren Nachgeschmack: So schmeckt die cremefarbene Pille "Kaliumiodid 65 mg, Armeeapotheke", die in jeder Hausapotheke liegen sollte. Die Tablette ist ein Notfallmittel und soll im Fall eines AKW-Störfalls die Bevölkerung vor Schilddrüsenkrebs schützen. Im Kanton Bern wurden die abgelaufenen Packungen eben erst durch neue ersetzt. "Die letzten Auslieferungen sind Anfang Dezember erfolgt", sagt Peter May vom kantonalen Amt für Bevölkerungsschutz. Somit stehe theoretisch jeder Bernerin und jedem Berner wieder eine Ration von 2x5 Tabletten zur Verfügung.

 Der Staat muss auf den GAU, den grössten anzunehmenden Unfall bei einem AKW, vorbereitet sein. Oder zumindest auf einen mittelschweren. Die hiesigen Schutzverordnungen gehen nämlich lediglich von einem mittelschweren Krisenszenario aus. Ein möglicher Super-GAU, wie er in Tschernobyl passiert ist, wird dabei nicht berücksichtigt; entsprechende Schutzmassnahmen sind nicht vorgesehen.

 Jeden Monat ein Zwischenfall

 "Warum auch?", fragen die Befürworter der Nukleartechnologie. Die Technik sei heutzutage so ausgereift, dass ein grösserer Unfall höchst unwahrscheinlich sei. Weil es in 14 000 Erfahrungsjahren nur zu zwei Unfällen mit Zerstörung des Reaktorkerns kam, spricht die Atombranche von einem "Restrisiko" - und das ist positiv gemeint. Ihre Sicherheitsanalysen gehen davon aus, dass bei modernen AKW eine Kernschmelze nur einmal in einer Million Jahren wahrscheinlich ist. Das heisst, dass solche Reaktoren mit 99,99-prozentiger Sicherheit keinen Störfall haben sollten.

 Fehlerlos aber sind die Anlagen nicht, wie ein Blick in die Unterlagen des Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats (Ensi) zeigt: In den fünf Schweizer AKW ereigneten sich im Zeitraum von 2000 bis 2009 insgesamt 130 meldepflichtige Vorfälle - also ein Vorfall pro Monat.

 Sicherheit ist "ausreichend"

 Dabei schnitten die Atommeiler 2009 punkto Sicherheit so schlecht ab wie nie zuvor. Von der Beurteilung "hoch" waren sämtliche Schweizer Werke weit entfernt. Und für zwei davon war sogar das Prädikat "gut" noch zu hoch: Beznau und Gösgen erreichten im jüngsten Bericht nur gerade ein "ausreichend". Grund: In Beznau wurden bei Reparaturarbeiten Mitarbeiter einer Strahlung ausgesetzt, die den Grenzwert von 20 Millisievert überschritt. Das Ensi stufte den "Zwischenfall" auf der siebenteiligen Ereignisskala auf Stufe 2 ein - so hoch wie bisher noch kein Vorkommnis in einem kommerziellen Schweizer AKW.

 Ein Vorfall aus Gösgen wurde zur Beurteilung gar an die Bundesanwaltschaft übergeben: Die Verantwortlichen des dortigen AKW ignorierten nämlich schlicht die Warnlampen, als beim Wiederanfahren des Reaktors vier Sicherungen durchbrannten. Statt der Ursache auf den Grund zu gehen, setzten sie das Anfahren nach der Reparatur unbeirrt fort. Solche Vorkommnisse sind nicht eben dazu angetan, das Vertrauen in die AKW-Betreiber zu stärken. Doch die beschwichtigen: Solche Episoden seien zwar bedauerlich, aber sicherheitstechnisch "nicht relevant". Die heutigen Anlagen seien sicher, und die neuen würden noch besser. Eine Aussage, die von Greenpeace infrage gestellt wird. Auf dem Papier sähen die Anlagen der neuen Generation tatsächlich besser aus. Ob sie aber hielten, was sie versprächen, oder vielleicht doch noch an Kinderkrankheiten litten, werde sich erst im Betrieb zeigen.

 Antonio Sommavilla, Mediensprecher der BKW, verweist gerne auf die Tatsache, "dass es in westlichen Kernkraftwerken bisher zu keinem Unfall mit gravierenden radiologischen Auswirkungen auf die Bevölkerung in der Umgebung gekommen ist". Der Grund liege darin, dass die Werke über eine Vielzahl von Sicherheitsvorkehrungen verfügten. Um für den Fall der Fälle die Umwelt zu schützen, würden Atommeiler nach dem Matrioschka-Prinzip gebaut: Wie bei den russischen Holzpuppen werden die Barrieren gegen den Austritt von Radioaktivität ineinandergeschachtelt und schliessen die Strahlung ein. Die Baukonstruktion sei ausserdem auf alle denkbaren und undenkbaren Ereignisse ausgelegt. Sie muss Lawinen, Sandstürmen, Hochwassern, Dammbrüchen, Blitzschlägen, Erdrutschen und Tornados standhalten. Nur bei einem Absturz eines grösseren Flugzeugs bietet die meterdicke Schutzhülle heute keinen genügenden Schutz.

 Neue Gefahren drohen

 Eine weitere Frage im Zusammenhang mit terroristischen Aktivitäten stellt sich spätestens seit dem vergangenen Jahr: Damals brachte der Computervirus Stuxnet die iranische Atomanlage Bushehr ins Stocken. Wie gut sind unsere Werke gegen solche Cyberattacken geschützt? "Manipulationen sind denkbar", sagte Pascal Lamia von der Melde- und Analysestelle Informationssicherung des Bundes jüngst gegenüber dieser Zeitung. Auch in der Schweiz könnte ein Virus ins elektronische System eines Atomkraftwerks eindringen. Doch der Schaden würde sich nach heutigem Kenntnisstand in Grenzen halten, da er nur die nicht nuklearen Systeme der Anlagen betreffen würde. "Der nukleare Teil ist gut geschützt", heisst es beim Ensi, dem Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorat. Das Reaktorsystem sei nicht softwaregestützt. Oder anders gesagt: Ein Virus kann den Reaktor nicht angreifen.

 Pascal Schwendener

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 AKW: ja oder nein?  

 Abstimmung Am 13. Februar stimmt das Bernervolk darüber ab, ob es in Mühleberg nach dem Jahr 2020 ein neues Atomkraftwerk will oder nicht. Wichtig zu wissen: Es handelt sich dabei um eine konsultative Abstimmung. Das heisst: Das Resultat ist für den Bund nicht bindend, dürfte aber eine grosse Signalwirkung haben.

 Diese Zeitung beleuchtet vor der wegweisenden Abstimmung in einer Serie das Thema von verschiedenen Seiten.

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 SO FUNKTIONIERT EIN ATOMKRAFTWERK

 Ein AKW produziert Strom aus der Energie, die bei der Spaltung von Atomkernen freigesetzt wird. Mit dieser Energie wird im Reaktor Wasser erhitzt. Dabei entsteht heisser Wasserdampf, der unter Druck steht. Der Dampf wird auf eine Turbine geleitet. Die Turbine wiederum gibt ihre Kraft an einen Generator weiter, der daraus Strom produziert. Der Strom wird schliesslich ins Netz gespeist.

 Als Brennstoff brauchen AKW Uran. Es befindet sich in dünnen Brennstäben. Wie alle Stoffe besteht Uran aus Atomen - einem Atomkern und geladenen Teilchen. Mithilfe von "kleinen Geschossen", den Neutronen, werden die Atomkerne gespalten. Hierbei entstehen radioaktive Kernbruchstücke und weitere Neutronen. Diese können wieder neue Spaltungen von Urankernen auslösen; es kommt zur Kettenreaktion. Dazu müssen die Neutronen durch den Moderator, das Wasser im Reaktor, abgebremst werden. Die Kontrolle der Kettenreaktion erfolgt durch Steuerstäbe, welche die Kernspaltung regulieren. Die "herumfliegenden" Kernbruchstücke werden durch Atome abgebremst. Ihre Bewegungsenergie wird so in Wärme umgewandelt. Die Wärme erhitzt das Wasser, das die Brennelemente umspült - Dampf entsteht.pas

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Der vergessene Schweizer GAU

 Vor 40 Jahren entging die Schweiz knapp einer Katastrophe. Im Versuchsreaktor in Lucens kam es zu einem der weltweit schwerwiegendsten Atomunfälle in der zivilen Nutzung überhaupt.

 Ein verwitterter Bär am Schloss Lucens erinnert an die Zeit der bernischen Herrschaft über die Waadt. Weiter unten im Städtchen, mit deutschem Namen Lobsingen, ein weiteres Mahnmahl: die Kaverne des ersten und letzten Schweizer Versuchsreaktors. Man spricht nicht gern über den Unglücksort. Denn hier wurde der Traum vom Atomreaktor "Made in Switzerland" zum Albtraum.

 1962 beginnt in Lucens der Bau des Druckrohr-Reaktors. Die erste Kettenreaktion findet 1966 statt, und 1968 wird erstmals Strom ins Netz abgegeben. Alles läuft planmässig. Doch ein Jahr später ereignet sich beim Wiederhochfahren der Versuchsanlage urplötzlich einer der schwerstwiegenden Störfälle in der zivilen Nukleartechnologie weltweit: Am 21. Januar um 17.13 Uhr gehen im Kontrollraum sämtliche Alarme gleichzeitig los. 38 Fehler-Signale gehen ein. Ein Druckrohr birst wegen Überhitzung. Es kommt zur partiellen Kernschmelze. Uran tritt aus. Und obwohl der Reaktor sofort abgeschaltet wird, entwickeln sich radioaktive Gase, welche ins Freie gelangen. Eine Stunde nach dem Alarm wird festgestellt, dass in den umliegenden Gemeinden die Werte "weit über der maximal zulässigen Konzentration für ein unbekanntes Isotopengemisch" liegen. Eine Fastkatastrophe. Das Werk wird stillgelegt und zubetoniert, und die Schweiz begräbt ihre Hoffnung auf einen "atomaren Alleingang". Die Demontage der Anlage dauert bis 1972. Doch erst 2003 werden die letzten radioaktiven Abfälle ins Zwischenlager in Würenlingen gebracht. 2004 wird die Anlage aus der atomrechtlichen Aufsicht entlassen.

 Die grössten Unfälle weltweit

 Der Unfall in Lucens blieb nicht der letzte derartige Vorfall. Die unten stehende Liste dokumentiert die nachfolgenden Unfälle, welche auf der internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse INES von "Unfall/ ernster Unfall" bis "katastrophaler Unfall" qualifiziert wurden (INES, Stufe 4-5 bis 7).

 Lucens, Schweiz 1969: Partielle Kernschmelze und Freisetzung von Radioaktivität. INES 4-5

 Rocky Flats, USA 1969: Spontanentzündung von Plutonium in einem Container und Freisetzung von Plutoniumoxid. INES 4-5

 Petersburg, Sowjetunion 1974: Zwei Unfälle mit Freisetzung von Radioaktivität und Tod von drei Arbeitern. INES 4-5

 Belojarsk, Sowjetunion 1978: Grossbrand im Turbinenhaus. Personal wird einer hohen Strahlenbelastung ausgesetzt. INES 5

 Harrisburg, USA 1979: Partielle Kernschmelze nach Ausfall der Reaktorkühlung und Freisetzung von radioaktiven Gasen. INES 5

 Tschernobyl, Sowjetunion 1980: Durch Fehlmanipulation wird das Personal stark verstrahlt und grosse Mengen radioaktiven Materials über die Stadt Pripyat verteilt. INES 5

 Wladiwostok, Sowjetunion 1985: Auf einem Atom-U-Boot kommt es zu einer spontanen Kettenreaktion. Zehn Personen sterben an einer tödlichen Neutronendosis. INES 5

 Tschernobyl, Sowjetunion 1986: Super-GAU. Kernschmelze und Explosion des Reaktors. Zahlreiche unmittelbare Strahlenopfer sowie eine unbekannte Zahl von Folgeopfern. Je nach Schätzung lag die Zahl der Todesopfer irgendwo zwischen 4000 und 93 000. Grossräumige Evakuation (Sperrgebiet mit 30 km Radius). In der Folge Verbot für diverse landwirtschaftliche Produkte in Europa. INES 7

 Tokai-Mura, Japan 1999: Kettenreaktion in Brennelemente-Fabrik. Mehrere Arbeiter teils schwer kontaminiert. 300 000 Anwohner werden aufgefordert, die Häuser nicht zu verlassen. INES 4-5
 pas

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Touristiker werben für ein Ja zu Mühleberg

 Thun/OberlandProminente Berner Oberländer Touristiker machen sich stark für ein Atomkraftwerk in Mühleberg. Ihr Hauptargument: Wenn die Versorgung mit Strom nicht gesichert sei, litten der Tourismus und die Wirtschaft massiv.

 Der Auftritt war massiert: Im Thuner Hotel Freienhof sassen der Schönrieder Hotelier und Ex-Skirennfahrer Bruno Kernen, Gstaads Tourismusdirektor Roger Seifritz, sein Interlakner Kollege Stefan Otz sowie Urs Kessler, CEO der Jungfraubahnen und damit der grössten Oberländer Tourismusmaschine. Angekündigt, aber im letzten Moment abgemeldet war zudem der Kandersteger Hotelier und Präsident des Wirteverbandes Gastrobern Casimir Platzer. "Wir sitzen nicht hier, weil wir Atomstrom sexy finden", sagte Urs Kessler, "aber es gibt keine valable Alternative." Deshalb, so die Botschaft, sei bei der kantonalen Abstimmung vom 13. Februar ein Grundsatz-Ja zum Ausbau des Atomkraftwerks Mühleberg, "vonnöten". Zumal die Abstimmung im Kanton Bern Signalwirkung für die ganze Schweiz haben werde.

 Um mögliche Folgen zu illustrieren, zeigten die Touristiker drastische Bilder, auf denen in unberührte Landschaften unzählige Windräder hineinmontiert wurden. "Um gleich viel Strom zu erzeugen, wie das AKW Mühleberg heute liefert, müssten im ganzen Kanton Bern 742 Windräder gebaut werden", rechnete Roger Seifritz vor.

 Wunsch nach Stabilität

 Eine intakte Landschaft sei für den Tourismus im Oberland zentral, argumentierte Bruno Kernen. "Wir können die Kulisse nicht mit Windrädern verschandeln." Zudem blase der Wind in der Schweiz zu wenig stark, um genügend Strom zu liefern. Urs Kessler erklärte, das Solarkraftwerk der Jungfraubahnen auf dem Jungfraujoch liefere 19 000 Kilowattstunden Strom im Jahr. "Wir verbrauchen aber 22 Millionen Kilowattstunden, zwei Drittel davon im Winter." Das Problem, sagte Kessler, sei nicht, dass mit alternativen Energien zu wenig Strom produziert werden könne. 60 Prozent des Schweizer Stroms würden aus Wasser produziert. "Das Problem ist die Stabilität der Versorgung."

 Sprich: Ein Atomkraftwerk kann rund um die Uhr gleich viel Strom liefern. Wasser-, Sonnen- oder Windstrom sind stark abhängig von Wetter und Jahreszeit. Für einen funktionierenden Tourismus sei aber zentral, dass die Stromversorgung auch zu Spitzenzeiten gewährleistet sei. Als Beispiele wurden Weltcuprennen, Kongresse oder Konzertevents von Klassik bis Rock genannt.

 Kritik an Atomgegnern

 "Wir würden den Strom, den wir im Sommer produzieren, gerne speichern. Aber dafür ist ein Ausbau der Grimselstaumauer nötig", sagte Kessler. Überhaupt sparten die vier Referenten nicht mit Kritik an der Anti-Atom-Lobby: "Dieselben Leute, die gegen ein neues AKW in Mühleberg sind, sind gegen die Erhöhung der Grimselstaumauer und blockieren Windkraftwerke im Jura", stellte Stefan Otz fest. Roger Seifritz sprach von "schizophrenen Kunden", welche zwar Umweltschutz und Ökologie wollen, "aber gleichzeitig auch einen hohen Komfort etwa bei den Transportanlagen oder der Hotelinfrastruktur". Schnelle und sichere Bahnen, Kundeninformationssysteme oder Internetzugang für Hotelgäste - das alles brauche aber Strom. "Die Bevölkerung der Gemeinde Saanen ist zwischen 2001 und 2010 um 6,7 Prozent gewachsen. Der Stromverbrauch um 28 Prozent", rechnete Seifritz vor. Und: Der Stromverbrauch werde weiter zunehmen, etwa damit die Skipisten noch stärker als heute künstlich beschneit werden können.

 "Natürlich sind wir darum bemüht, Energie immer effizienter nutzen zu können", beteuerte Urs Kessler. "Mit der Energie, die wir auf drei Talfahrten nach Wengen zurückgewinnen, können wir heute mit einem Zug hoch auf die Kleine Scheidegg fahren." Doch all diese Massnahmen reichten nicht aus. Denn: "Wir sind überzeugt, dass der Stromverbrauch trotz allen Bemühungen steigen wird."

 Gefragt, ob ein Nein zu Mühleberg ein Ende des Tourismus im Berner Oberland bedeuten würde, sagte Roger Seifritz: "Nein. Aber es würde einen weiteren Wettbewerbsnachteil bedeuten, weil wir einerseits mit steigenden Stromkosten rechnen müssten und andererseits wohl von Strom aus dem Ausland abhängig würden."

 Die offensichtliche Einigkeit der Touristiker aus dem Osten und Westen des Berner Oberlandes schien derweil einen kurzen Moment ins Wanken zu geraten, als die Frage auftauchte, ob man auch so geschlossen für ein Endlager für radioaktive Abfälle votieren würde. "Zwei Drittel dieser Abfälle stammen aus der Medizin", sagte Urs Kessler. "Und das Zwischenlager in Würenlingen erfüllt derzeit seinen Zweck. Sollte ein Endlager im Berner Oberland aber einmal aktuell werden, müsste man das sicherlich genau prüfen."

 Marco   Zysset

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WoZ 13.1.11

Kommentar

Schlau gejammert, BKW!

 Von Susan Boos

 Für gewöhnlich reden PressesprecherInnen viel, ohne etwas zu sagen. Vergangene Woche war es anders, da sagte Marianne Zünd im Schweizer Fernsehen: "Es ist ein absoluter ökologischer Unsinn!" Das war gut, das war klar.

 Seit 2009 wird mittels Kostendeckender Einspeisevergütung (KEV) Ökostrom gefördert. Das führte zu einer wahren Jagd nach dem letzten unverbauten Bach. Die WOZ berichtete schon im vergangenen Frühling über diesen ökologischen Irrsinn. Das Bundesamt für Ener gie hielt sich damals vornehm bedeckt (siehe WOZ Nr. 16/10). Jetzt endlich bekennt Pressesprecherin Marianne Zünd: Zehn Prozent der eingereichten Wasserkraftprojekte seien ökologisch bedenklich. Und sie sagt auch: "Aus Sicht der Versorgungssicherheit müsste kein einziger Bach verbaut werden."

 Der WWF hat das schon längst vorgerechnet: Die umstrittenen kleinen Kraftwerke bringen nämlich kaum zusätzlichen Strom - weil in der Schweiz 95 Prozent der nutzbaren Wasserkraft bereits genutzt werden. Es geht also nicht um die Produktion von grünem Strom, sondern um den Bau von Goldmaschinen. Rentabler lässt sich Geld nämlich kaum anlegen: Der WWF hat errechnet, dass bei den umstrittenen Anlagen mit einer Rendite von bis zu 13,5 Prozent zu rechnen ist.

 Das Geld käme von uns, da alle StromkonsumentInnen pro bezogene Kilo wattstunde 0,45 Rappen zahlen, die dann in den KEV-Topf fliessen. Grundsätzlich eine gute Sache, würde das Geld in die richtigen Projekte fliessen. Tut es aber nur beschränkt.

 Und die Energiekonzerne nutzten die Gunst des Durcheinanders, um alle an den Pranger zu stellen, die für einige Kilowattstunden nicht das ganze Land hergeben möchten. Die bernische BKW FMB Energie lud Anfang Woche zur Medienkonferenz, um der ganzen Schweiz zu klagen: Wegen des breiten Widerstands gegen ihre Ökostromprojekte könne sie bis 2030 nur 600 statt 1000 Gigawattstunden grünen Strom bereitstellen. Schlau, so vermittelt man einer unbedarften Öffentlichkeit: Ökofundis sind gegen alles, selbst gegen Wind- und Wasserstrom   -   nicht nur gegen Atomstrom.

 Und das ist das heisse Thema, stimmen doch die BernerInnen am 13. Februar darüber ab, ob sie ein neues AKW Mühleberg wollen, das die BKW plant und das notabene viermal grösser werden soll als das alte.

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BZ 13.1.11

Bürgerliche setzen sich für AKW ein

 AKW-DebatteGestern stellten die Mitglieder des Co-Präsidiums des Komitees "Ja zu Mühleberg" ihre Argumente vor.

 Gleich sechs bürgerliche Berner Nationalräte sprachen sich gestern für einen Ersatz des Atomkraftwerks Mühleberg aus. Christa Markwalder (FDP), Ursula Haller (BDP), Adrian Amstutz (SVP), Andreas Brönnimann (EDU), Norbert Hochreutener (CVP) und Jean-Pierre Graber (SVP) engagieren sich im Co-Präsidium des Komitees "Ja zu Mühleberg". Dem Komitee gehören 140 Personen aus Politik und Wirtschaft sowie die wichtigsten Wirtschaftsverbände des Kantons Bern an.

 Die Referentinnen und Referenten stellen sich nicht gegen die neuen erneuerbaren Energien aus Wind und Sonne. Im Gegenteil. Diese Energiequellen gelte es nach wie vor in einem vernünftigen Mass zu fördern. Doch leider sei es aus heutiger Sicht nicht realistisch, dass die neuen erneuerbaren Energien mittelfristig die Atomenergie vollständig ersetzen könnten.

 "Bern baut Gaskraftwerk"

 Wer Nein sage zur Kernenergie, müsse in Kauf nehmen, dass der Strom künftig aus klimaschädigenden Gaskraftwerken stamme und dass der Strom durch zunehmende Importe teurer werde, betonte Christa Markwalder. Ursula Haller sagte, dass die Promotoren des Ausstiegs aus der Atomenergie im Stadtberner Abstimmungskampf vom 28. November 2010 genau diese Fakten verschwiegen hätten. Das Stadtberner Stimmvolk entschied sich, bis ins Jahr 2039 keinen Atomstrom mehr zu beziehen. "Weil Wind und Sonne noch nicht ausreichend Strom liefern können, braucht Bern andere Stromquellen wie das Gaskraftwerk im Forsthaus mit einem Ausstoss von jährlich 100 000 Tonnen CO2", sagte die Nationalrätin und Thuner Gemeinderätin. Die 360 Gigawattstunden Strom, die bei der neuen Kehrichtverbrennungsanlage ab 2012 jährlich produziert werden, würden zu 80 Prozent aus Gas hergestellt, ergänzte Adrian Haas, Direktor vom Handels- und Industrieverein des Kantons Bern.

 Der Belper Nationalrat Andreas Brönnimann thematisierte die wirtschaftliche Bedeutungen eines neuen AKW für den Kanton Bern. Laut einer Studie brächte ein neuer Atommeiler jährlich eine halbe Milliarde Franken Wertschöpfung für den Kanton.
 nb

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 BKW

 Briefe verschickt Die Unternehmensleitung der BKW versucht auf verschiedenste Art und Weise, das Stimmvolk für ein neues AKW zu gewinnen. In die Informationsoffensive ging die BKW bereits im Dezember.

 Laut der Nachrichtenagentur SDA verschickte die BKW an rund 4000 aktuelle und ehemalige Mitarbeitende je einen Brief des Direktionsvorsitzenden Kurt Rohrbach. Der SDA liege dieser Brief vor. Darin fasst Rohrbach die Position der BKW-Unternehmensleitung zum Projekt eines neuen AKW in Mühleberg zusammen und schreibt dem Personal: "Die Unternehmensleitung dankt Ihnen dafür, dass Sie sich bei Gelegenheit und Begegnungen auch ausserhalb der BKW zum Thema äussern."nb

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Langenthaler Tagblatt 13.1.11

"Tun wir nichts, kommt Stromlücke"

 Abstimmung vom 13. Februar Überparteiliches Komitee will neues Atomkraftwerk Mühleberg

Bruno Utz

 Heute in einem Monat entscheiden die Bernerinnen und Berner über die Stellungnahme des Kantons Bern zum Rahmenbewilligungsgesuch für den Ersatz des Atomkraftwerks Mühleberg. Gestern warfen Mitglieder des Komitees "Ja zu Mühleberg" den Gegnern Realitätsferne vor: "In den letzten zehn Jahren ist der Stromverbrauch in der Schweiz in der Grössenordnung von zwei Kernkraftwerken gestiegen. Bis 2050 rechnet das Bundesamt für Energie mit einem jährlichen Anstieg von bis zu zwei Prozent", sagte Christa Markwalder. Trotz Effizienzsteigerung steige der Stromverbrauch auch aus Komfortgründen. "Rund ein Drittel der Haushalte verfüge über zwei, immer mehr über drei TV-Geräte." Schon heute sei die Schweiz im Winter auf teure Stromimporte angewiesen. Markwalders Fazit: "Machen wir nichts, fehlt uns bis 2035 gut die Hälfte des heutigen Stromverbrauchs. Das ist die Stromlücke."

 Es sei schlicht unmöglich, mit den erneuerbaren Energien in den nächsten Jahrzehnten die heute von den Atomkraftwerken produzierten 40 Prozent Schweizer Strom zu ersetzen, sagte Jean-Pierre Graber: "Trotz aller Förderung lieferten 2008 Sonnen- und Windenergie bloss 0,1 Prozent der gesamten Stromproduktion." Strom aus Wind und Sonne seien in der Schweiz natürliche Grenzen gesetzt, sagte Graber und verwies auf die Geografie des Landes. Erneuerbare Energien aus dem Ausland importieren sei problematisch. Einerseits fehle es an den nötigen Hochspannungsleitungen, andererseits befänden sich Projekte für die Sonnenenergieproduktion in Nordafrika erst in der Anfangsphase.

 Private bezahlen Zeche

 Es sei an der Zeit, dass die Schweiz ihre Stromabhängigkeit vom Ausland reduziere und nicht noch weiter ausbaue, sagte Adrian Amstutz. Er verwies auf die auslaufenden Lieferverträge von Atomstrom aus französischen Kraftwerken. "Verzichten wir fahrlässig auf Kernenergie, muss die Stromlücke mit teuren Importen gefüllt werden. Das macht uns erpressbar." Zudem werde der Strom in den meisten europäischen Ländern bald knapp. Ob diese Länder ihren Strom auch noch in die Schweiz liefern, sei eine Illusion. "Und wenn sie es tun würden, dann zu horrenden Preisen. Die Zeche müssten Gewerbe, Bauern und die privaten Haushalte bezahlen." Tiefe Strompreise seien "so etwas wie der Motor für eine Volkswirtschaft", so Norbert Hochreutener. Kernenergie sei günstig, Windturbinen und Solaranlagen hingegen produzierten zu teuer. "Und nicht immer und zu wenig."

 Ein neues AKW Mühleberg sei finanziell auch für den Kanton interessant, sagte Andreas Brönnimann. BAK Basel habe berechnet, dass ein solches jährlich eine halbe Milliarde Franken an Wertschöpfung bringe: "Und es sichert während Jahrzehnten 1300 teils hoch qualifizierte Arbeitsplätze." Der Kanton Bern würde zudem von jährlich 70 Millionen Franken Steuer profitieren.

 Atomstrom ist klimafreundlich

 Ursula Haller strich den auf Wasserkraft und Kernenergie basierenden "klimafreundlichen Schweizer Strommix" heraus. "Die Kernenergie ist neben der aus Wasser, Wind, Sonne und Biomasse produzierten Energie ein wichtiger Pfeiler einer CO2-freien Stromzukunft." Das Gaskraftwerk in der neuen Berner Kehrichtverbrennungsanlage Forsthaus werde dagegen jährlich 100000 Tonnen CO2 produzieren. "Atomenergie durch fossile Energien zu ersetzen, ist verantwortungslos", mahnte Haller.

 Das Komitee "Ja zu Mühleberg" (vergleiche Artikel oben) wird die Abstimmungskampagne mit Plakaten, Inseraten, Testimonials und Flyern bestreiten.

 www.muehleberg-ja.ch

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 Haas: "Es wurde fleissig gespendet"

 Gemäss Adrian Haas, Direktor HIV Kanton Bern und Sekretär des überparteilichen Komitees "Ja zu Mühleberg", steht für die Abstimmungskampagne ein Budget von rund 250000 Franken zur Verfügung. Das Geld stamme von den im Komitee mitmachenden Verbänden Berner KMU, Lobag, Kantonalverband bernischer Arbeitgeberorganisationen, HEV Bern sowie Gastro Bern. "Nach einem Aufruf unter unseren HIV-Mitgliedern wurde fleissig gespendet", sagt Haas und ergänzt, dass kein Geld von der BKW Energie AG stamme. Das Co-Präsidium bilden: Ständerat Werner Luginbühl (BDP), die Nationalräte Andreas Aebi (SVP), Adrian Amstutz (SVP), Andreas Brönnimann (EDU), Peter Flück (FDP), Andrea Geissbühler (SVP), Jean-Pierre Graber (SVP), Hans Grunder (BDP), Ursula Haller (BDP), Norbert Hochreutener (CVP), Rudolf Joder (SVP), Christa Markwalder (FDP), Simon Schenk (SVP), Erich von Siebenthal (SVP), Pierre Triponez (FDP), Hansruedi Wandfluh (SVP) und Christian Wasserfallen (FDP). Zu den rund 150 Komiteemitgliedern gehören unter anderen die Wirtschaftsvertreter Enrico Casanovas, Ludwig Bernhard, Erich Trösch und Niklaus J. Lüthi sowie der Satiriker Andreas Thiel. (uz)

 Nein zu neuem AKW

 Das aus links-grünen Politikerinnen und Politikern sowie Vertretern von Umweltorganisationen bestehende Nein-Komitee hat seine Argumente bereits in der Ausgabe vom 8. Dezember 2010 dargelegt. Die Überlegungen eines zweiten, von Unternehmern und Gewerblern der neuen Energien gebildeten Nein-Komitees, erschienen am 6. Januar 2011. Die mehrheitlich rot-grüne Regierung wird nächste Woche erklären, weshalb sie gegen den Bau eines neuen Atomkraftwerkes in Mühleberg ist. Der bürgerlich dominierte Grosse Rat empfiehlt mit 91 zu 53 Stimmen bei 7 Enthaltungen ein Ja zur Konsultativbefragung am 13. Februar. (uz)

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BZ 13.1.11

Greenpeace-Aktion gegen neues AKW Mühleberg

 BahnhofplatzMit einer Aktion machte gestern Greenpeace auf die Nachteile der Atomenergie aufmerksam.

 Gestern Mittag heulte unter dem Baldachin auf dem Berner Bahnhofplatz eine Sirene auf, und gleichzeitig fielen ein Dutzend Menschen auf den Boden. Mit dieser Aktion machte Greenpeace Bern auf einen der Nachteile der Atomenergie aufmerksam. Greenpeace empfiehlt, für die Abstimmung über ein neues AKW in Mühleberg am 13. Februar ein klares Nein in die Urne zu legen. Nach Ansicht von Greenpeace ist und bleibt die Atomenergie auch in Zukunft ein unkalkulierbares Risiko, das wir heute nicht mehr tragen müssen. Die Alternativen zum Atomstrom, erneuerbare Energien und Energieeffizienz, seien vorhanden. Sie seien sicher für Mensch und Umwelt sowie volkswirtschaftlich rentabel.
 jsp

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20 Minuten 13.1.11

Protest gegen ein neues AKW in Mühleberg

 BERN. Wie vom Blitz getroffen fielen gestern auf dem Bahnhofplatz 12 Personen um. Ans Aufstehen war für sie nicht mehr zu denken: Mit dieser Aktion protestierte Greenpeace gegen ein neues AKW in Mühleberg und wies darauf hin, dass die Berner Bevölkerung bei einem schweren Unfall in Mühleberg ungenügend geschützt sei. Dementsprechend stellte sich der Flashmob zehn Minuten lang tot. "Im Falle eines GAUs sieht der Notfallplan nur für einen Teil der Kantonberner konkrete Schutzmassnahmen vor", so Thomas Mathis von Greenpeace. "Davon wären aber alle betroffen."

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Basler Zeitung 13.1.11

Zweifel an der Mitsprache beim Atommülllager

 Frick. Bundesbehörden zeigen auf, wie die geplante Regionalkonferenz funktionieren soll

Franziska Laur

 Vertreter des Bundes und der Nagra informierten die Fricktaler Gemeinderäte über den Stand der Suche nach dem Atommülllager und über Möglichkeiten der Partizipation.

 Es waren harte Fakten, die Vertreter des Bundes und der Nagra gestern am Gemeindeseminar in Frick auf den Tisch legten: Der Bund steckt bei der Suche nach einem Endlager für Atommüll mitten im Sachplanverfahren. Gemäss Nagra eignet sich der Opalinuston für die Versenkung der Abfälle - und dieser ist in mächtigen Schichten entlang der Nordschweiz vorhanden. Vor einem Jahr hat die Nagra sechs provisorische Standorte vorgeschlagen, darunter den Bözberg. Im Herbst sollen sie auf drei eingegrenzt werden.

 Kritische Stimmen

Nun hat die Suche nach Mitgliedern für eine regionale Mitwirkungsgruppe begonnen. Inger Schjold von der Firma Frischer Wind, die im Auftrag des Bundesamts für Energie dieses Partizipationsverfahren umsetzt, betonte, dass die Region breit vertreten sein solle. Für den Standort Bözberg, neu Jura Ost genannt, ist vorgesehen, dass 100 Leute in einer sogenannten Regionalkonferenz Einsitz nehmen sollen. Zur Hälfte sollen es Vertreter von Behörden sein, zu 40 Prozent Vertreter von Interessengruppen - und die restlichen zehn Prozent werden in der Bevölkerung gesucht. Dabei möchte man breite Schichten erreichen, darunter auch Vertreter der Jugend. "Auch kritische Stimmen sind gefragt. Es geht nicht darum, einen Konsens zu finden, sondern sich eine Meinung zu bilden", sagte Schjold. Für die Mitarbeit in der Regionalkonferenz erhalten die Teilnehmer eine Bezahlung.

 In der Diskussion drang die Skepsis einiger Fricktaler Gemeinderäte über den Nutzen dieser Regionalkonferenz durch. So hiess es: "Wer soll das bezahlen?" Es koste doch enorme Summen, wenn allein in einem Standortgebiet 100 Leute mitarbeiten. Der Bund fordere dieses Geld gemäss Verursacherprinzip von den Stromproduzenten zurück, hiess es zur Antwort.

 Ob es nicht zu früh sei, schon jetzt über Oberflächenanlagen zu diskutieren, wie sie an der Veranstaltung im Bild präsentiert wurden, wollte ein Votant wissen. Damit schüre man unnötig Emotionen, da der Standort nicht definitiv sei. "Bei der nächsten Eingrenzung haben wir so eine gute Basis", verteidigte Markus Fritschi dieses Vorgehen. Scharf attackiert wurde das Geschäftsleitungsmitglied der Nagra, weil er argumentiert, die Schweiz brauche dringend ein Endlager, da sie den Atommüll nicht endlos im Zwischenlager in Würenlingen deponieren könne. Das Zwischenlager brauche es trotzdem, konterte ein Votant. Schliesslich müsse Atommüll 40 Jahre abkühlen, bevor er im Endlager entsorgt wird; da laufend frischer Müll anfalle, werde das Zwischenlager nie leer.

 Bundesrat entscheidet

Kritisiert wurde auch, dass die regionale Partizipationsgruppe keine Beschlüsse fassen kann, sondern letztlich der Bundesrat entscheidet. "Das stimmt, aber man kann die gesetzlichen Grundlagen nicht aushebeln", so Stefan Jordi, Fachspezialist Entsorgung beim Bundesamt für Energie. Das Schweizer Stimmvolk kann schlussendlich zwar das fakultative Referendum ergreifen, nicht jedoch die betroffene Gemeinde oder der Kanton.

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 Zwischen Bangen vor der Technik und Hoffen auf mehr Arbeitsplätze


 "Kann mit Lager leben"

 Gerhard Beuggert. Vizeammann von Bözen und Mitglied der Startgruppe. Fotos Franziska Laur

 "Die Stimmung gegenüber einem solchen Endlager ist in unserer Gemeinde recht positiv. Bei uns im oberen Fricktal gibt es sowieso zu wenig Arbeitsplätze; viele Leute hoffen, dass ein Endlager auch Arbeit bringt. Viele von uns arbeiten jetzt schon im Zwischenlager in Würenlingen oder in einem AKW, und wir haben dadurch einen anderen Bezug zu dieser Technologie als Leute, die keinen Kontakt damit haben. Es ist allerdings wichtig, dass die Sicherheit oberste Priorität hat. Ist sie garantiert, dann würde ich auf jeden Fall mit dem Endlager leben können."


 "Viele sind sensibilisiert"

 Katrin Hasler. Gemeinderätin Gipf-Oberfrick.

 "In unserer Gemeinde ist der Sitz des Vereins Kein Atommüll im Bözberg (Kaib), dadurch sind viele Leute sensibilisiert auf das Endlager. Doch für den grösseren Teil der Bevölkerung ist es noch kein Thema - nicht zuletzt, weil es so komplex und schwer zugänglich ist. Diesen Teil der Bevölkerung muss man unbedingt erreichen. Ich persönlich bin skeptisch, ob die Technik tatsächlich imstande ist, Atommüll über eine Million Jahre hinweg sicher im Boden zu versorgen. Mich erschreckt auch, dass der Bundesrat jetzt schon sagt, der Nachweis für eine sichere Lagerung sei erbracht."


 "Nur ein Debattierclub"

 Peter Deubelbeiss. Gemeinderat Obermumpf.

 "Mir scheint, die Gemeinden können in diesem Mitwirkungsprozess nicht wirklich mitbestimmen. Diese hundert Leute in dieser regionalen Partizipationsgruppe können den Gemeinden ja nur rapportieren und keine verbindlichen Beschlüsse fassen. Da geht es wohl mehr darum, den Leuten das gute Gefühl zu geben, dass sie mitreden können. Da gibt der Bund viel Geld aus und am Schluss ist das Ganze doch nur ein Debattierclub. Wir müssen schauen, dass die Wege, die heute aufgezeigt wurden, nicht in der Sackgasse enden."


 "Gibt Steuereinnahmen"

 Roger Fricker. Gemeindeammann Oberhof.

 "Ich finde, dass der sicherste Ort das Endlager beherbergen muss - und wenn das der Bözberg ist, dann soll es so sein. Doch ich würde jetzt zunächst mal den Namen dieser Standorte aus dem Spiel lassen, damit diese nicht ständig durch den Dreck gezerrt werden. Viel zu viele Leute denken schlecht über eine Gegend, die Standort für das Endlager werden könnte. Ich persönlich glaube überhaupt nicht an einen Standortnachteil - im Gegenteil, ich glaube, dass es dann viel mehr Steuereinnahmen gäbe und sich mehr Leute hier ansiedeln würden."


 "Partizipation ist Farce"

 Jos Bovens. Gemeinderat Gipf-Oberfrick.

 "Das ist doch keine Entsorgung, der Atommüll ist noch da, auch wenn er in der Tiefe versenkt ist. Es ist auch fragwürdig, wenn ein solches Endlager nur 100 Jahre überwacht wird. Ich könnte nicht mit gutem Gewissen Ja zu einem Endlager sagen, denn für mich gibt es noch zu viele ungeklärte Fragen. Und dieser Partizipationsprozess ist eine Farce, entscheiden tut ja der Bundesrat. Da hat man das Gefühl, verschaukelt zu werden. Ich habe den Eindruck, der Entscheid steht schon fest - und dass der Bözberg ein Favorit ist, liegt ja auf der Hand."  

UMFRAGE: FRANZISKA LAUR

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Aargauer Zeitung 13.1.11

"Frischer Wind" bei Planung des Endlagers für Atommüll
 
Frick.  Aufbau der regionalen Partizipation in der Region Jura Ost

Walter Christen

 Das Konzept für die regionale Partizipation im Sachplanverfahren für ein allfälliges Endlager radioaktiver Abfälle im Raum Bözberg und oberes Fricktal hat ein Gesicht: Inger Kristine Schjold von "frischer wind", der AG für Organisationsentwicklungen in Winterthur, legte gestern Mittwoch am Gemeindeseminar "Aus der Praxis - für die Praxis" in Frick die Fakten auf den Tisch: "Das Startteam mit rund zehn Personen steht fest, die Geschäftsstelle befindet sich bei Gerry Thönen vom Fricktal Regio Planungsverband in Laufenburg und jetzt wird die Regionalkonferenz gebildet. Diese setzt sich zusammen aus etwa 100 Personen von Behörden (50 Prozent), aus Vertretern organisierter Interessen wie Befürworter und Gegner von Kernenergie sowie Parteien (40 Prozent) und aus einem Anteil von 10 Prozent aus der Bevölkerung der Region. Die Konstituierung erfolgt an der Grossgruppenkonferenz im Juni dieses Jahres. Bereits am 27. Januar wird die Regionalkonferenz der Behörden gegründet."

 Von Bözberg zu Jura Ost

 Am ersten Tag des 17. Gemeindeseminars in Frick interessierte die rund 70 Teilnehmerinnen und Teilnehmer unter anderem, weshalb das Standortgebiet Bözberg für ein mögliches Tiefenlager zur Entsorgung radioaktiven Mülls jetzt Jura Ost heisst. Inger Kristine Schjold wies darauf hin, dass die beiden Gemeinden Oberbözberg und Unterbözberg für eine neutrale Standortbezeichnung im Zusammenhang mit der Atommülllager-Diskussion plädiert hätten. Hansueli Bühler aus Stein, Präsident des Fricktal Regio Planungsverbands, betonte bei dieser Gelegenheit, es gehe bei der Tagung generell um das Thema "Raumentwicklung aktuell" (vgl. auch Bundauftaktseite) und nicht um den politischen Aspekt oder Argumentationen für oder gegen ein Endlager.

 Vom Bundesamt für Energie (BFE) erhielt "frischer wind" im Herbst 2010 den Auftrag, ein Umsetzungskonzept für eine Partizipation zu erarbeiten. Das BFE ist gegenwärtig noch damit beschäftigt, die Rückmeldungen von Stellungnahmen beteiligter Gremien auszuwerten. Denn bis Ende Jahr konnten sich Kantone und Regionen zum Konzept vernehmen lassen.

 "Die regionale Partizipation im Rahmen des Sachplans geologisches Tiefenlager bezeichnet ein Instrument der Standortregionen zur Mitwirkung im Sinne von Einbezug und Mitsprache mit dem Ziel der Einflussnahme. Mit diesem Instrument entwickeln und formulieren Bevölkerung, Institutionen und Interessengruppen in oder aus der Standort- region ihre Forderungen, Anliegen, Fragen, Bedürfnisse und Interessen der Gemeinden der Standortregionen", hielt Inger Kristine Schjold weiter fest.

 Standortregion mit 49 Gemeinden

 Wer sich an der Partizipation in der Region Jura Ost engagiert, erhält übrigens eine Entschädigung respektive Sitzungsgelder vom BFE, dessen Sprecher Stefan Jordi gestern Mittwoch am Fricktaler Gemeindeseminar festhielt: "Beim Bau eines geologischen Tiefenlagers schreibt das Kernenergiegesetz vor, es müsse eine Anlage sein mit Überwachung und erleichterter Rückholbarkeit des Materials bis zum Verschluss. Die Standortregion Jura Ost umfasst genau 49 Gemeinden, davon 4 auf deutschem Gebiet." Nach Jordis Angaben ist im Konzeptteil der Sachplanung das Auswahlverfahren in 3 Etappen ein Bestandteil, dann die Auswahlkriterien wie Sicherheit, Raumplanung, Auswirkung auf Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft sowie eine breit gefächerte Beteiligung.

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 Tiefenlagerung: Abfall, der strahlt

 "Über den Zeitraum von einem Jahrhundert kann man sich noch vorstellen, was sich in den verschiedenen Erdschichten abspielt. Geht es aber um die sichere Lagerung von hochaktiven Abfällen, muss man von Tausenden von Jahren ausgehen", hielt gestern Mittwoch am Gemeindeseminar in Frick Markus Fritschi fest. Er ist Mitglied der Geschäftsleitung der Nagra (Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle) und zeigte Wege auf vom Wo bis zum Wie bei der Lagerung radioaktiver Abfälle in der Schweiz.

 Ein zuverlässiger, sicherer Einschluss müsse erreicht werden, damit der Entsorgungsnachweis für strahlendes Material erbracht werden könne, meinte Nagra-Vertreter Fritschi. So sei die Expertengruppe des Bundes schon vor Jahren zur Erkenntnis gelangt, dass die geologische Tiefen-lagerung die einzige gangbare Lösung sei, um radioaktive Abfälle genügend lange sicher einschliessen zu können. Nach 30 Jahren Forschung und Entwicklung sei inzwischen die technisch-wissenschaftliche Basis vorhanden für den weiteren Weg in der Entsorgung.

 Markus Fritschi stellte sich am Podium den kritischen Fragen der Gemeindevertreter. (chr)