MEDIENSPIEGEL 28.2.11
(Online-Archiv: http://www.reitschule.ch/reitschule/mediengruppe/index.html)

Heute im Medienspiegel:
- Reitschule-Kulturtipps (DS, Rössli, RaBe, Tojo)
- (St)Reitschule: SPler = Reithalle-Anarchoszene
- Clubleben: Altstadt ohne privaten Ordnungsdienst
- Unia im Streik
- RaBe-Info 18.-28.2.11
- Kultur-Millionen: Kantonale Kultursubventionen; Kultur-CEO KulturTheaterBern
- Police BE: Befindlichkeits-Umfragen
- Police CH: Grenzwachtkorps
- Knast: Zwangsernährung; Prüfung Strafvollzug BE
- AJZ Biel: 54 Mio fürs Gaswerkareal
- Ausnüchterungszellen: Verlängerung in ZH
- Repression & Hetze: Keine Reue wegen Fehr-Aktion; Vermummungsverbot; Armee-Handschellen
- Big Brother Video: Observation ZH; Kameras Studen; Nutzenfrage; Google Street View
- Big Brother Sport: Delta Security vs FCSG
- Big Brother: Hooligan-Fahndung; Fichen BE
- Police VD: Polizist verurteilt
- Clubleben LU: Gegen Rassismus
- Ruhe & Ordnung: Nulltoleranz Frauenfeld
- Jugendpolitik: Ländler und Securitas
- Randstand BS: keine Vertreibungen
- Drogen: Bhf Aarau; USA + Drogenkriminalität; Anlaufstelle Winti; Koksdeal BS, LSD; medizinischer Hanf
-Sexwork: Migrantinnen als Sexsklavinnen; Strassenstrich LU; Bordell SO; Freier Minderjährige; Rekordzahlen ZH
- Transsexualität: Aus Herr wird Frau Meier
- Intersexualität: Zwitter gegen Zwangs-OPs
- Squat ZH: Vera Gloo-ifiziert sich selber; Tessinerkeller-Abbruch
- Squat GE: Squat-Mangel als Tourismus-Nachteil
- Asyl: Securitas-Gewalt in Kreuzlingen; Weniger Asylgesuche;
- Nothilfe: 1200 in ZH; Schikane BE
- Sans-Papiers: Garten-Squats GE; Meldepflicht Schule
- Scheinehen: ZivilstandsbeamtInnen ohne Plan
- Härtefälle: Klärungsbedarf; Abnahme
- Ausschaffungen: Syrien; Homosexuelle; Kurde; Ausschaffungstod; Nigerianer; Dealer-Tod; Bässlergut mit Strafvollzug; Rückkehrhilfen; Verfahrensdauer
- Migration Control: Mediales Flüchtlingswellen-Drama; Grenzwachtkorps goes Frontex;
- Rechtsextremismus: SVP-Hiphop; Schlägerei Rheinfelden; Sarrazin in ZH; Ex-Neonazi an Uni ZH
- Türstehende: Mad Wallstreet; Interview
- Söldnerfirmen: Gesetze + Verbote
- Polizeiwaffen: Gefährliche Wasserwerfer
- ©he Guevara: Wem gehört der Che?
- Undercover: Mark Kennedy + 5 deutsche Cops
- Weltsozialforum: Bilanzen + Visionen
- WEF: Ghadafi Junior Nein Danke
- Anti-Atom: Stilllegungskosten; Beznau-Grossbaustelle; Stromfragen; Finnische Pannen; Niederamt; Mühleberg; BKW; Sauberer Strom BL; Arena; Beznau- + Leibstadt-Strahlung; Fribourg; Endlager Nordost; Wellenberg; Axpo-Süsses; GL; BE; Uran-Transparenz; Atommüll

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REITSCHULE
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Kulturstattbern.derbund.ch 28.2.11

Kulturbeutel 9/11

Von Benedikt Sartorius am Montag, den 28. Februar 2011, um 06:07 Uhr

Herr Sartorius empfiehlt:
Am Freitag spielt im Dachstock "Das Berner Synthesisten Quintett" mit den hiesigen Elektronikern Mastra, Benfay, Beryll Ryder, Zukie 173 und Spacebox 720 zu einer Session auf, die mitsamt einem Dirigenten daherkommen wird. Auch noch ungehört von meiner Seite ist das Projekt "Causing a Tiger" der Geigerin Carla Kihlstedt, die unter anderem im wunderbaren Tin Hat Trio mitspielt und im Rössli am Sonntagabend mit dem viel gefragten Ribot-Mitarbeiter Shazad Ismaily und Matthias Bossi zur Kammermusik laden wird.

Frau Feuz empfiehlt:
Hören Sie sich heute Abend den Monolog "Die Säuferin" mit Miriam Fiordeponti von Unikum René Schweizer im Café Kairo an, gehen Sie am Mittwoch ins Rössli zum Capital Poetry Slam und am Freitag ins ISC, wo die westschweizer Schatzis von Favez ihr neues (leider ein bisschen gar poppig geratenes) Album vorstellen weren.

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kulturstattbern.derbund.ch 27.2.11

Sodom und Gomorrha am RaBe-Fest

Von Gisela Feuz am Sonntag, den 27. Februar 2011, um 16:10 Uhr

"Sodom und Gomorrha war das gestern", so Tinu Schneider, seines Zeichens Musikredaktor und gute Seele von Berns alternativem Kulturradio RaBe zur Lage am Freitag in der Reitschule. "Und selbstverständlich kamen dann all die 800 Nasen alle gleichzeitig um Punkt halb Eins anmarschiert und all diejenigen, die kein Ticket hatten, hatten dann entweder Geburtstag oder waren extra aus Paris angereist, haha", gingen die Ausführungen weiter. Offenbar war es am Freitag in der ausverkauften Reitschule zu turbulenten Szenen im Eingangsbereich gekommen und dass all die enttäuschten Elektroniker ohne Tickets, welche sich Mark Henning und das Kollektiv Turmstrasse anhören wollten, gemäss Schneiders blumiger Schilderung nicht versucht hätten, mit Anlauf und Rammbock die Festung Reitschule zu stürmen, habe ja fast schon an ein Wunder gegrenzt.

Propevoll wars dann auch am gestrigen zweiten RaBe-Fest-Abend. The Ghost of Tom Joad eröffnete im Dachstock nach dem Geschmack der Schreiberin eher schmalbrüstig den munteren Stromgitarren-Abend, während unten im Sous le Pont die Kronzeugen aus Luzern in die Saiten griffen. Wohl mehr als eine Person dürfte gestern aber vor allem dem Auftritt von Blackmail entgegengefiebert haben. Die Mannen aus Deutschland sind ja mit neuem Sänger unterwegs und im Vorfeld war viel diskutiert und gebangt worden, ob denn der Neue namens Mathias Reetz die markante Stimme von Ex-Sänger Aydo Abay Stand ersetzen könne. Er konnte. Und zwar einwandfrei.

http://newsnetz-blog.ch/kulturstattbern/files/2011/02/DSC01312.JPG.jpg

Als wohltuende Oase im ganzen Getümmel entpuppte sich das Kino der Reitschule. Dort wurden in erster Linie Musikclips von noch unbekannteren Gruppen aus unterschiedlichsten musikalischen Gefilden gezeigt, wobei der Absurditätsfaktor teilweise wunderbar hoch war. Für den Konzert-Abschluss des fulminanten Festes sorgten dann im Dachstock die Herren Treekillaz und unten im Sous le Pont die Rumpelpunker von Uristier. Und von wegen Disko im Sous le Pont funktioniert nicht, ha! Unkenrufe! Bis sechs in der früh wurde munter getanzt, wobei auch die vielen gratis arbeitenden RaBe-Helfer endlich zu ihrem wohlverdienten Feierabend kamen. Das war dann allerdings auch ein bisschen Sodom und Gomorrha. Alkaseltzer ahoi. Aber item. RaBe-Fest 2011 kann als voller Erfolg abgebucht werden. Ich freu mich jedenfalls schon auf nächstes Jahr….. also sobald dann das Alkaseltzer wirkt.

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BZ 26.2.11

Ohrenschmaus im Tojo

Hörfestival. Augen schliessen, die Ohren öffnen und in eine vielseitige Klangwelt eintauchen. Am 1. sonOhr Hörfestival wird ein breites Spektrum geboten: Von fiktiven amüsanten Hörspielen, nachdenklich stimmenden journalistischen Features bis hin zu poetischen Monologen. Aufwendigen Hörproduktionen soll eine Plattform jenseits des kurzatmigen Alltagsgeschäftes geboten werden. Gemeinsam in ein Hörerlebnis eintauchen: Das verspricht spannend zu werden.   pd

 Heute, ab 16 Uhr, Tojo Theater, Reitschule, Neubrückstrasse 8, Bern.

 Programm unter www.sonohr.ch

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BZ 26.2.11

Reitschule

 Eine Reise nach Sarajevo

 Eine Reise durch Bosnien-Herzegowina führt zu Menschen, die in ihrer Biografie grosse Sprünge und Lücken haben. Am 1. Sonohr-Hörfestival im Tojo-Theater der Reitschule Bern führen die Autorinnen Lucia Vasella und Marina Bolzli die Hörerschaft in die zerrissene Gesellschaft des Landes zu verschiedenen Personen mit verschiedenen Lebensentwürfen.pd

 Heute Samstag, 16 Uhr, Tojo-Theater, Reitschule Bern

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kulturagenda.be 24.2.11

Bühne frei im Tojo fürs kollektive Lauschen

Im Rahmen des RaBe-Festes findet im Tojo das erste Hörfestival sonOhr mit der Präsentation von Hörproduktionen statt. Das Publikum wählt aus 20 Hörspielen, Features und Reportagen seinen Lieblingsbeitrag. Ohren auf!

Die Blütezeit des Mediums Radio ist längst vorbei. Die Abende, als sich ganze Familien um den Rundfunkempfänger versammelten, um den Worten und Klängen zu lauschen, sind Geschichte. Die zunehmende Bedeutung des Bildes und das Fernsehen haben das Medium längst in die zweite Reihe verbannt.

Gegenpunkt zur visuellen Reizüberflutung

Durch neue Techniken wie die Verbreitung via Internet habe es zwar einen kleinen Aufschwung erlebt, "doch Radio ist und bleibt ein Begleitmedium", sagt Lucia Vasella. Die 31-jährige Journalistin und Ethnologin ist seit 2004 in verschiedenen Funktionen für Radio RaBe tätig. Zusammen mit den drei Radioleuten Cheyenne Mackay Loosli, Giulia Meier und This Bay organisiert sie nun das erste Hörfestival sonOhr in Bern. Die vier wollen einen Gegenpunkt zur visuellen Reizüberflutung des Alltags setzen, Hörproduktionen einem breiten Publikum präsentieren und die Diskussion darüber in Gang setzen. "Eines unserer Hauptziele ist es, Hörproduktionen zu fördern", erklärt Vasella. So geht mit dem Festival auch ein Wettbewerb einher: Audio-Produzentinnen und -produzenten waren im vergangenen November eingeladen, ihre "aufwendig produzierten" Beiträge einzureichen. Aus 39 Produktionen wählte das Organisationskomitee 20 aus, die nun am Festival in sieben Blöcken präsentiert werden und um den Publikumspreis buhlen. Zu gewinnen gibts einen Pokal und ein Aufnahmegerät.

Prominente Kulturtäter

"Wir waren positiv überrascht ob der hohen Qualität der eingesandten Projekte ", sagt Vasella. Mit dabei sind Hörspiele, Reportagen, Features, Collagen und Radioserien, zum Teil von prominenten Kulturtätern. Rund die Hälfte der Beiträge stammt von Radioleuten, für die anderen 50 Prozent zeichnen Regisseure, Autoren und Musiker verantwortlich. Der Winterthurer Autor Michael Stauffer ist gleich bei mehreren Produktionen beteiligt. ("Alles wegem Krüsi", "Essen", "Porträt mit Heuschrecken: Hommage an Hannes Taugwalder").
In der Radioserie "Die Wasserbüffel im Schangnau", die im letzten Jahr auf Radio neo ausgestrahlt wurde, porträtiert die Journalistin Katharina Locher fünf Bauern, die im Emmental Büffel-Mozzarella herstellen.
Der Musiker und Audiodesigner Pascal Nater - bekannt etwa durch sein Musical "Die Dällebach-Macher" - ist mit dem Feature "Krieg der Klänge" vertreten, das sich mit akustischer Kriegsführung beschäftigt.

Ausser Konkurrenz

"Beim Radio hat man nur die Ebene des Tons zur Verfügung, und zurückblättern geht nicht", erklärt Vasella. Sie tritt am Hörfestival auch als Produzentin in Erscheinung. Ausser Konkurrenz ist von ihr und Marina Bolzli als Premiere das Feature "Verschobene Leben in Bosnien - eine Reise von Sarajevo nach Zvornik und zurück" zu hören. Der einstündige Radiobeitrag zeigt auf, welche Spuren der Krieg in den Menschen hinterlassen hat. Ob das kollektive Lauschen im Rahmen eines Hörfestivals genauso gut funktioniert wie Kino, wird sich im Tojo zeigen. Das Theater soll mit bequemen Sitzgelegenheiten eingerichtet werden,und im abgedunkelten Saal werden jegliche visuellen Reize verbannt, sodass das Publikum sich voll und ganz auf das Zuhören konzentrieren kann, um eigene Bilder im Kopf entstehen zu lassen.
Simone Tanner
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Tojo Theater, Bern. Fr., 25.2., ab 17 Uhr,
und Sa., 26.2., ab 16 Uhr
www.tojo.ch, www.sonohr.ch


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Bund 24.2.11

Hörkunst Das erste sonOhr-Hörfestival

 Ganz Ohr

 Im Rahmen des Radio-Rabe-Fests gibt es eine Premiere: sonOhr, das erste Berner Festival, das ausschliesslich der Hörkunst gewidmet ist.

 Regula Fuchs

 Man macht es sich auf einem der Sofas gemütlich, hat vielleicht ein Getränk in der Hand, der Raum verstummt allmählich, die Veranstaltung beginnt, und zu sehen gibt es - nichts. So etwa dürfte es dieses Wochenende im Tojo-Theater der Berner Reitschule zugehen. Denn die Bilder, die am ersten sonOhr-Hörfestival auftauchen, gedeihen einzig und allein in den Köpfen.

 "Bei der Hörkunst verhält es sich ja so, dass die Eigenleistung des Zuhörers oft grösser ist als beispielsweise im Kino. Das Visuelle dominiert unsere Wahrnehmung. Wenn das Hörspiel oder Feature aber gut gemacht ist, dann entsteht richtiges Kopf-Kino", sagt Giulia Meier, die gemeinsam mit Cheyenne Mackay Loosli, Lucia Vasella und This Bay das erste Hörfestival in Bern ins Leben gerufen hat. Die Wege der vier haben sich bei einer Hörspielproduktion gekreuzt, und alle sind in irgendeiner Form mit dem Radio Rabe verbunden. "Als wir 2009 an der Produktion‹Strandgut› arbeiteten, realisierten wir, dass es in der Schweiz nur ganz wenige Plattformen für solche Projekte gibt", sagt Meier. Und so entstand die Idee für sonOhr.

 Von Krüsi bis zur Schallkanone

 "Die freien Radios haben oft nicht die Mittel, um grössere Hörproduktionen zu finanzieren. Deshalb wollen wir mit sonOhr und dem Publikumspreis einen zusätzlichen Anreiz schaffen, dass solche Produktionen überhaupt entstehen", sagt Meier. In einer Ausschreibung suchte man aufwendige Hörspiele und Radiobeiträge aus der Schweiz, die nicht vom öffentlich-rechtlichen Radio produziert wurden, zwischen 5 und 60 Minuten lang sind und mehrheitlich in deutscher Sprache. Und der Ruf wurde gehört: 39 Produktionen trudelten ein, von denen das Organisationskomitee 20 auswählte, die nun am Festival zu hören sind.

 Die Auswahl ist ein bunter Strauss an Formen und Genres, Fiktion und Journalistischem, Experiment und Konventionellem: Hörspiele, Features, Reportagen und collageartige Mischformen. Meistens sind es Beiträge, die für freie Radios oder Privatradios entstanden sind, allerdings gibt es etwa vom Autor Michael Stauffer auch eine Arbeit über den Aussenseiterkünstler Hans Krüsi, die das Kunstmuseum Thurgau mitproduziert hat. Daneben sind diverse Hörspiele im Programm, die von einer Basler Radio-Soap bis zum höheren Unsinn der Berner Spass-Troubadoure Tomazobi reichen: In "Uf dr Suechi nach de verlorene Gschänkli" wollen die drei Könige aus dem Zmorgeland zu Weihnachten Freund Inri besuchen, der im Sternen Bethlehem weilt.

 Manches im Programm, das in einstündigen Blöcken präsentiert wird, ist dagegen journalistisch ausgerichtet: So gibt es Recherchen zum Schangnauer Büffel-Mozzarella, zum Turmwächter von Lausanne, zu einer libanesischen Metal-Band oder zur akustischen Kriegsführung: In "Krieg der Klänge" begeben sich Pascal Nater und Yvonn Scherrer auf die Klangspur von Kriegstrommeln und Schallkanonen.

 Ausserhalb des Wettbewerbs präsentiert sonOhr zudem eine Premiere: Marina Bolzli und Lucia Vasella reisten für ihr Feature "Verschobene Leben in Bosnien" mit einem kleinen, lauten Auto von Sarajevo nach Zvornik und porträtierten Menschen, die sich nach dem Bosnien-Krieg neu verwurzeln mussten.

 Eines haben alle Produktionen von sonOhr gemeinsam: die Leidenschaft für ein Medium, das normalerweise nicht im Rampenlicht steht. Giulia Meier sagt es so: "Eine Hörproduktion ist viel einfacher und billiger zu machen als etwa ein Film. Aber es ist eine faszinierende und grosse Herausforderung, eine Welt entstehen zu lassen - nur mit Worten und Geräuschen."

 Tojo-Theater ReitschuleFreitag, 25. Februar (17 bis 22 Uhr), Samstag, 26. Februar (16 bis 22 Uhr). www.sonohr.ch

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 Die Musik am Rabe-Fest

 Frische Randständigenmusik

 So bunt und kompetent wie das Musikprogramm auf Radio Rabe präsentiert sich auch die Affiche des Rabe-Fests.

 Zwei Abende lang okkupiert das Festkomitee des Berner Kultursenders Rabe die Baulichkeit der Reitschule und präsentiert ein gerüttelt Mass an neckischer, frischer Randständigenmusik. Zu den Schönheiten des Freitagabends gehört sicherlich die neu besetzte Basler Tunichtgut-Rock-Combo Navel (siehe "Bund" vom letzten Montag), die im Sous le Pont zur Nabelschau lädt, sowie die bezaubernde Freiburger Kleinkunst-Pop-Fricklerin Kassette, die im Frauenraum zu Werke geht. Im Dachstock wird zur selben Zeit mit dem Kollektiv Turmstrasse der eher gedrückten elektronischen Tanzmusik gefrönt.

 Am Samstag gibts ein Wiedersehen mit den deutschen Indie-Rockern Blackmail, die sich erstmals mit frischem Sänger und im April erscheinendem neuem Tonmaterial auf Tournee wagen. Ebenfalls aus Deutschland reist die Gruppe Ghost of Tom Joad an, mit von linder Indie-Coolness umwehtem 80s-Pop. Im Sous le Pont gibts derweil hochdeutschen Wüstenrock von der Luzerner Gruppe Kronzeugen und grossartigen No-Wave-Rock-'n'-Roll von den noch unbekannten Rectangle, die von den Schattenhängen des Waadtlandes nach Bern heruntersteigen.(ane)

http://www.rabe.ch

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BZ 24.2.11

Kopfkino in 3-D

 Hörfestival. Politische Reportagen, literarische Hörstücke, witzige Hörspiele und eine Soap-Opera: Am Wochenende findet in Bern das erste Hörfestival Sonohr statt.

 Die Zuhörer fläzen sich entspannt auf dem Sofa. Sie lauschen einer Männerstimme aus den Boxen, die sich auf einer Messe über gigantische Kriegsschifflautsprecher erkundigt. Plötzlich zucken alle zusammen. Ohrenbetäubender Trommellärm und schrille Trompetenklänge prasseln auf das Publikum nieder. Wie akustische Kriegsführung wirkt, kann sich nun jeder vorstellen.

 Solche und ähnliche Szenen könnten sich an diesem Wochenende im Berner Tojo-Theater abspielen. Hier findet zum ersten Mal das zweitägige Hörfestival Sonohr statt. Ins Leben gerufen haben es This Bay, Cheyenne Mackay Loosli, Giulia Meier und Lucia Vasella. Alle vier sind beim Radio tätig und haben letztes Jahr gemeinsam ein Hörstück produziert. "Die Premiere fand in einem grossen, gemütlichen Berner Altbauwohnzimmer statt", erzählt Cheyenne Mackay Loosli, "es war für alle Gäste ein neues, tolles Hörerlebnis." Und was zu Hause funktioniert, müsste auch öffentlich auf Interesse stossen. Mackay Loosli: "Die Leute gehen gemeinsam einen Film schauen - wieso nicht auch gemeinsam etwas hören gehen?" Bei einem Hörabend teile man - wie im Kino - seine Emotionen und Ängste mit anderen. Und mehr noch: Bei jedem entstehe "ein individuelles 3-D-Kino im Kopf", schwärmt Cheyenne Mackay Loosli.

 Das Sonohr-Festival soll aber nicht nur dem Publikum neue Hörwelten eröffnen, es ist auch als Austauschplattform für all jene gedacht, die selber Hörstücke produzieren.

 Wohnzimmerambiente

 Das Tojo-Theater verwandelt sich für diesen Anlass in ein Wohnzimmer - mit Tischen, Lampen, Sofas und Sesseln. "Die Besucher können aber auch an der Bar sitzen oder am Boden liegen", versichert Mackay Loosli schmunzelnd. Dank der Zusammenarbeit mit einer Brockenstube können überdies alle Möbel auch erworben werden.

 Auf dem Programm stehen 21 Hörstücke und -spiele. Sie sind in acht Blöcke unterteilt, von denen jeder knapp eine Stunde dauert und zwei bis sechs Hörbeiträge umfasst. Die inhaltliche Palette ist vielfältig: politische Features, eine Reportage über zerrissene Biografien von Bosniern, eine Soap-Opera, ein Beitrag über einen der letzten Turmwächter Europas, ein Hörstück über Beziehungen, witzige Hörspiele über kleine Menschen und andere Aussenseiter und, und, und. Jenes Hörerlebnis, das in den Ohren des Publikums am besten klingt, wird am Samstagabend mit dem ersten Sonohr-Pokal prämiert.
 lm

 Hörfestival Sonohr: Fr, 25. und Sa, 26. Februar, Tojo-Theater Bern. Detailliertes Programm: www. sonohr.ch.

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20 Minuten 24.2.11

Radio Rabe lädt zur Geburiparty

 BERN. Das Berner Alternativradio Rabe feiert seinen 15. Geburtstag - und lädt die Berner zu diesem Anlass in die Reithalle ein. Das Rabe-Fest steigt morgen und am Samstag in den verschiedenen Räumen des Kulturzentrums mit Musik, Filmen und Videoclips. So wird etwa der Streifen über die Berner Rapperin Steffe la Cheffe gezeigt. Dazu kommt Rabe TV, ein Sender, der Musikvideos von Schweizer Bands zeigt. Ausserdem gibt es zahlreiche Auftritte von Bands und DJs. Wer mitfeiern will, muss sich sputen: Der Freitagabend im Dachstock ist schon ausverkauft. www.rabefest.ch

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kulturstattbern.derbund.ch 21.2.11

Kulturbeutel 8/11

Von Benedikt Sartorius am Montag, den 21. Februar 2011, um 06:03 Uhr

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Frau Feuz empfiehlt:
Helfen Sie Radio RaBe dabei, sich selber zu feiern und besuchen Sie nächstes Wochenende entsprechend das RaBe-Fest in der Reitschule. Unter anderem werden Blackmail, The Ghost of Tom Joad und das Kollektiv Turmstrasse  mit von der Partie sein. Das ganze Programm gibts hier.

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BZ 19.2.11

Kurzer Frieden nach dem Kurzschluss

 Tanz.Im Rahmen des Tanzfestivals Heimspiel zeigt die bolivianische Tänzerin und Choreografin Cynthia Gonzalez im Tojo der Reitschule ihr Stück "Charged". Das Trio erzeugt dabei eine aufgeladene Stimmung, die im Kurzschluss mündet.

 Ein Mann und eine Frau bewegen sich schattenboxend nach vorn. Man hört ihr Atmen und das Tappen ihrer nackten Füsse auf dem Boden. Erst nach einer Weile setzt die Musik ein. Der Jazzpianist Johnny Gonzalez spielt minutenlang nur mit den Saiten im Inneren des Klaviers. So baut sich eine Spannung auf, die das Thema des Stückes auf den Punkt bringt. "Charged" - aufgeladen ist die ganze Atmosphäre, die das Trio im Tojo-Theater der Reitschule kreiert.

 Lebenswillen in Feindesland

 Die 1978 in Bolivien geborene Cynthia Gonzalez arbeitet mit ihrer Kompagnie, dem Cynthia Gonzalez Dance Theater, oft auch mit Gasttänzern und -tänzerinnen. Für die aktuelle Produktion hat sie den 1967 in der Slowakei geborenen Tänzer Boris Nahalka beigezogen. Das Duo erzählt vom Lebenswillen und der sich immer wieder aufbauenden Energie, die Menschen antreibt und voranbringt.

 Als Kind von Regimegegnern erlebte Cynthia Gonzalez im Bolivien der Achtzigerjahre am eigenen Leib, wie Menschen trotz widriger Umstände den Lebenswillen behalten. Ihr Vater Johnny Gonzalez, der Jazzpianist des Trios, versteckte in seinem Übungsraum Leute und musste schliesslich mit seiner ganzen Familie aus der Hauptstadt La Paz nach Santa Cruz flüchten. In "Woman of War", ihrem letztjährigen in Bern gezeigten Stück, verarbeitete sie die von Umbrüchen geprägte Kindheit.

 Energisch bis zum Knall

 Posen, die Kampf und Widerstand evozieren, spielen auch in "Charged" eine wichtige Rolle. Manchmal werfen sich die Tänzer zu Boden und rollen sich wie Darsteller in einem Actionfilm zusammen, um so den Aufprall abzufangen. Vorerst scheinen die beiden sich nicht wahrgenommen zu haben. Jeder führt seinen eigenen Kampf. Doch als sich Mann und Frau zaghaft mit den Fingerspitzen berühren, gibt es einen Kurzschluss: Das Licht geht aus. Es wird still und schliesslich sehr laut. Der Pianist greift in die Tasten, ein Donnerschlag erschüttert den Raum.

 Ruhe nach dem Sturm

 Nun stehen die beiden Pole je in einem Lichtkegel auf der Bühne. Die kämpferischen Posen weichen fliessenderen Bewegungen. Die Musik hat nun etwas Verträumtes und Episches, die Performer breiten die Arme aus, als würden sie in einem Pantomimespiel ein Flugzeug darstellen. Es ist eine Art Ruhe nach dem Sturm. Schliesslich bilden die beiden eine unzertrennliche Figur, scheinen sich gefunden zu haben.

 Die nächste Episode hingegen zeugt vom manchmal grotesken Humor der Choreografin. Johnny Gonzalez bedient nun eine Rassel, zu deren Klang die beiden summend und hüpfend einen witzigen synchronischen Tanz aufführen. Die Bewegungen gleichen jenen von Charlie Chaplin in "Modern Times". Doch bald schon ist die Harmonie wieder dahin - der Kampf geht weiter, und am Ende schliesst sich der Stromkreis. Die beiden laden sich erneut mit ausgestreckten Fingerspitzen gegenseitig auf und werden von der Dunkelheit verschluckt.

 Helen Lagger

 Vorstellungen: heute Abend um 20.30 Uhr und am Sonntag um

 19 Uhr im Tojo-Theater, Reitschule Bern.

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20 Minuten 18.2.11

Allstar-Band im Dachstock

 Fr, 18.9., 20 Uhr, Wild Wild East: The Gypsy Kings & Queens.

 GIPSY. Geburtstage soll man gross feiern. Das tut das Dachstock-Label Wild Wild East heute. Zum zweiten Jubiläum holt es sich deshalb 20 Musiker auf die Bühne: Esma Redzepova, Jony Iliev, Florentina Sandu, die Mahala Raï Banda, das Gitano-Trio Kalomé sowie Aurelia & Tantzica spielen als Allstar-Truppe des Gipsy-Genres zwei Stunden zu Ehren der Event-Reihe. Ein farbenprächtiges und abwechslungsreiches Geburtstagsfest dürfte das werden. Die After-Party schmeissen Bobby Baguette und Toni Peperoni.

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(ST)REITSCHULE???
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BZ 23.2.11

SP-Stadtrat schlägt Gast in einer Bar

 Bern. SP-Stadtrat Halua Pinto de Magalhães fühlte sich in einer Bar von einem Gast bedroht. Deshalb schlug er ihm ein blaues Auge. Politische Konsequenzen muss er nun aber nicht befürchten.

 Laut einem Bericht in der Pendlerzeitung "20 Minuten" kam es vor zwei Wochen in der Propeller-Bar an der Aarbergergasse zu einem Handgemenge zwischen Stadtrat Halua Pinto de Magalhães (24) und einem Barbesucher. Dabei verpasste der SP-Stadtrat und Secondo-Plus-Co-Präsident Halua Pinto de Magalhães dem anderen Mann einen Kopfstoss. Das Opfer trug ein blaues Auge davon.

 Der ETH-Student Magalhães feierte im "Propeller" mit Freunden seine letzte Jahresprüfung. Offenbar wurde die Gruppe dabei von Unbekannten gestört. Der SP-Schläger entschuldigte sich, und so kommt es nun auch zu keiner Anzeige. "So etwas ist mir noch nie passiert. Dass bei der Rangelei ein Unbeteiligter zu Schaden kam, tut mir leid", sagte der SP-Politiker.

 Die Sache geht für den Schläger aber glimpflich aus - auch politisch. "Ich bin erleichtert, zu hören, dass Halua Reue zeigt und sich entschuldigt hat", sagt Flavia Wasserfallen, Co-Präsidentin der SP Stadt Bern, gegenüber "20 Minuten".

 "Ich werde mit ihm das Gespräch suchen, mit gravierenden Konsequenzen muss er aber nicht rechnen."

 Für SVP-Fraktionspräsident Roland Jakob dagegen ist das Verhalten des SP-Stadtrates gar nicht entschuldbar: "Gewalt ist keine Lösung für Probleme." Denn: "Gewählte Politiker haben eine wichtig Vorbildfunktion und dürfen auf keinen Fall gewalttätig werden."

 Dass dieser Vorfall passiert ist, verwundert Jakob weiter nicht: "Der Mann stammt aus der Reithalle-Anarchoszene."
 jsp

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CLUBLEBEN BE
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Hotelrevue 24.2.11

Berns Altstadt weiterhin ohne Ordnungsdienst

 Die obere Berner Altstadt ist die wichtigste "Ausgehmeile" der Bundesstadt. Totzdem wird es dort weiterhin keinen privaten Ordnungsdienst geben, an dem sich die Wirte beteiligen müssen oder können, wie das zum Beispiel in Biel und Thun der Fall ist. Stadtverwaltung und der Berner Regierungsstatthalter haben einen entsprechenden Konzeptentwurf abgewiesen. Gemäss Berner Gemeinderat bleibt die Polizei für die Sicherheit zuständig.

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Langenthaler Tagblatt 18.2.11

Kein privater Ordnungsdienst

 Bern In der oberen Altstadt gibt es auch weiterhin keinen privaten Ordnungsdienst. Die Stadtverwaltung und der Berner Regierungsstatthalter haben einen Konzeptentwurf sistiert.

 Regierungsstatthalter Christoph Lerch sagte auf Anfrage: Negative Reaktionen auf die Idee des privaten Ordnungsdienstes, Kritik in den Medien sowie eine ablehnende Stellungnahme des Berner Gemeinderats hätten das Regierungsstatthalteramt zu diesem Entschluss geführt. Das für März geplante Treffen mit den Betreibern von Gaststätten werde abgesagt. Es gelte nun, die Lage noch einmal zu analysieren und gemeinsam mit der Stadt Bern neu und sauber aufzugleisen, so Lerch weiter.

 Lerch äusserte sich so, nachdem der Berner Gemeinderat den Projektentwurf diskutierte und sich dagegen aussprach. Die öffentliche Sicherheit sei zwingend durch die Polizei zu gewährleisten, teilte die Stadtregierung in einem Communiqué mit. Seine Haltung begründet der Berner Gemeinderat auch mit einem Entscheid des Berner Stimmvolks im März 2010 an der Urne. Es beschloss damals eine Aufstockung der Fusspatrouillen von Kantonspolizisten. Diese von der Stadt Bern zu bezahlende Aufstockung sei für neuralgische Orte vorgesehen. Dazu gehöre die obere Altstadt - der wichtigste Ort des Nachtlebens in der Bundesstadt. Für die Stadtregierung sei es eine Priorität, den Volksentscheid ab dem kommenden Jahr "wirksam umzusetzen".

 Initiativen wie von Lerch sind auch aus Thun bekannt. In Thun beteiligen sich die Wirte der Innenstadt pro Jahr mit 41000 Franken an den totalen Sicherheitskosten der Stadt von 210000 Franken, wie aus einer Mitteilung der Thuner Sicherheitsdirektion von November 2010 hervorgeht. An diesem Konzept richtete sich Lerch gemäss eigenen Aussagen aus, als er beschloss, etwas für mehr Ruhe und Ordnung in der oberen Berner Altstadt zu unternehmen. Sein Ziel sei es, die "Ausgehmeile" obere Altstadt Bern zu erhalten, aber so zu gestalten, dass die Verhältnisse für alle akzeptabel seien, so Lerch. (sda)

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UNIA (BE)STREIKT
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Langenthaler Tagblatt 28.2.11

Gewerkschaftsbund Emmental solidarisiert sich mit Unia-Angestellten

 Burgdorf Die Delegierten des Gewerkschaftsbundes Emmental (GBE) haben sich am 24. Februar in Burgdorf zu ihrer 10. Delegiertenversammlung getroffen. Die Jahresversammlung des Dachverbandes von über 7000 Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern aus der Region Emmental bilanzierte unter dem Vorsitz von GBE-Präsident Martin Schwander die arbeitsrechtlichen und politischen Auseinandersetzungen des vergangenen Jahres und liessen sich von Nationalrat André Daguet und dem Präsidenten des Kantonalen Gewerkschaftsbundes, Grossrat Corrado Pardini, über den Kampf für Mindestlöhne und faire Steuern informieren. Die Burgdorfer Stadtpräsidentin und Grossrätin Elisabeth Zäch ihrerseits verdankte dem Gewerkschaftsbund Emmental seinen Einsatz für den Campus Burgdorf.

 Der Campus-Entscheid ist für die GBE aber noch nicht gegessen. In einer Resolution verlangen sie vom Regierungsrat eine Rücknahme des Entscheides zum Fachhochschulstandort Burgdorf. Die von der Regierung angeführten Argumente könnten nicht nachvollzogen werden. "Verkehrstechnisch ist Burgdorf bestens erschlossen und die verschiedenen Standorte der Fachhochschule in der Stadt sind in kürzester Zeit vom Zentrum aus zu Fuss erreichbar", schreibt der GBE.

 Resolution gegen Lohnkürzungen

 An der Delegiertenversammlung verabschiedete die GBE weiter eine Resolution gegen die geplanten Lohnkürzungen bei der Firma Mopac AG in Wasen im Emmental. Der Verpackungshersteller eröffnete seinen Angestellten am 11. Februar, sämtliche Löhne um 10 Prozent zu kürzen. Die Delegierten des GBE fordern die sofortige Rücknahme der geplanten Lohnkürzung durch die Mopac und die Bezahlung von existenzsichernden Löhnen. Denn diese würden seit einer Lohnkürzung im Jahr 2004 nicht mehr für die Existenzsicherung reichen.

 Intrigen in Unia-Führung

 An ihrer Delegiertenversammlung solidarisierten sich die Mitglieder des Gewerkschaftsbundes Emmental mit den Unia-Angestellten und den Basisgremien der Unia-Sektionen Bern und Oberaargau-Emmental, die sich zu diesem Zeitpunkt noch im Streik befanden. Im aktuellen Arbeitskonflikt geht es nach Meinung der Delegierten des Gewerkschaftsbundes Emmental grundsätzlich um die Haltung der Unia gegenüber ihren Basisgremien und ihrem Personal. Die Führungskultur der Unia sei allzu oft von Machtgehabe, Intrigen und Repression geprägt, obwohl die Anforderungen an das Gewerkschaftspersonal ständig stiegen.

 Der autoritäre und arrogante Führungsstil einiger basis- und demokratieferner Gewerkschaftskader, die alleine ihre beruflichen und politischen Karrieren im Auge haben, drohten die Gewerkschaft Unia zunehmend zu lähmen. Die Glaubwürdigkeit der Gewerkschaft nehme grossen Schaden, wenn nicht endlich aufgehört würde, "Wasser zu predigen und Wein zu trinken". Die Delegierten des Gewerkschaftsbundes Emmental fordern deshalb die Unia-Geschäftsleitung auf, eine Führungskultur zu etablieren, die Machtgehabe, Intrigen und Repression verhindert und eine Personalpolitik zu betreiben, die ein förderliches Arbeitsumfeld und ein positives Arbeitsklima erzeugt. (mgt/ama)

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Bund 26.2.11

Der Streik bei der Unia ist vorerst sistiert

 Natalie Imboden muss die Interimsleitung der Sektion Bern abgeben.

 Christian Brönnimann

 Die Querelen rund um die Absetzung des Leiters der Sektion Bern der Gewerkschaft Unia, Roland Herzog, nehmen nicht ab (der "Bund" berichtete). Zwar haben die Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien dazu geführt, dass die rund 40 streikenden Gewerkschafter gestern Nachmittag ihre Arbeit wieder aufgenommen haben. Der Streik ist damit aber nicht beendet, sondern bloss bis am 11. März "sistiert", wie einer Mitteilung zu entnehmen ist. Die Verhandlungen werden weitergeführt, als neuer Vermittler amtet Unia-Schweiz-Co-Präsident Renzo Ambrosetti.

 Die unzufriedenen Unia-Mitarbeiter fordern, dass die Versetzung von Herzog auf das Zentralsekretariat rückgängig gemacht wird. Herzog war vor zehn Tagen versetzt worden wegen "fehlender Bereitschaft, mit der Regionsleitung konstruktiv zusammenzuarbeiten". Co-Regionsleiterin ist Natalie Imboden, Grossrätin und Präsidentin des Grünen Bündnisses der Stadt Bern.

 Co-Präsident Rieger greift ein

 Weiter teilte die Gewerkschaft gestern mit, dass die interimistische Leitung der Sektion Bern Natalie Imboden und Geschäftsleitungsmitglied Markus Gerber entzogen wird. Neu übernimmt diese bis zum Abschluss der Verhandlungen der Unia-Schweiz-Co-Präsident Andreas Rieger. Über die Gründe für diesen Schritt schweigt sich die Unia auch auf Nachfragen aus. Es ist möglich, dass dies eine Forderung der Streikenden war.

 Natalie Imboden war gestern für eine Stellungnahme nicht erreichbar. Roland Herzog sagte auf Anfrage nicht mehr, als dass er zuversichtlich sei, dass in den nächsten zwei Wochen eine Lösung gefunden werde, denn Vermittler Ambrosetti geniesse das Vertrauen von allen Seiten. Das Schweigen der Involvierten macht die Einschätzung des Konflikts schwierig. Offen ist, ob persönliche Differenzen und Führungsprobleme ausschlaggebend waren oder Strukturprobleme der Gewerkschaft.

 Imbodens Image in Gefahr

 Klar ist indes, dass Imbodens Image Schaden nehmen könnte. Die 40-Jährige gilt als mögliche Kandidatin für die Nachfolge von Gemeinderätin Regula Rytz, falls diese im Herbst die Wahl in den Nationalrat schafft. Nun sieht sich die - laut Eigenwerbung - Kämpferin für gute Arbeitsbedingungen selbst mit einem Arbeitskonflikt konfrontiert.

 Politikberater Mark Balsiger erkennt möglichen Schaden auf zwei Ebenen: Einerseits könne ein solcher Konflikt parteiintern Angriffsfläche bei der Ausmarchung bieten, wer für bestimmte Ämter nominiert werde. Andererseits sei Imboden in der Öffentlichkeit exponiert. Die jetzige Ausgangslage sei verzwickt, erklärt Balsiger. Wenn die Versetzung von Herzog zurückgenommen werde, könnten Kritiker fehlende Autorität monieren; werde am Entscheid festgehalten und gingen die Verhandlungen nicht zur Zufriedenheit der Arbeiter aus, stünde der Vorwurf der mangelnden Sozialkompetenz im Raum.Falls aber eine überzeugende Lösung gefunden werde, dann gehe Imboden gestärkt aus dem Konflikt hervor. "Das ist für sie auch eine grosse Chance", sagt Balsiger. "Sie könnte damit Führungsqualitäten unter Beweis stellen und sich so profilieren."

 Ähnlich sieht es Politologe und Berater Louis Perron. Bei Krisen gebe es drei Varianten, wie dies bei drei SP-Leuten ersichtlich sei: Die Karriere könne daran scheitern, wie bei der ehemaligen Neuenburger Stadtpräsidentin Valérie Garbani; man könne sie überleben, wie Nationalrätin Margret Kiener-Nellen; oder aber man könne daraus Profit schlagen, wie einst Jean Ziegler. Bei Imboden spreche einiges für die beiden letzten Varianten: "So überraschend wie auf den ersten Blick ist ein Streik in einer Gewerkschaft gar nicht", sagt Perron. Dieser sei ein legitimes Mittel von Arbeitnehmern. Gerade Gewerkschafter wüssten am besten, welche Möglichkeiten sie hätten. Zum anderen entlaste die Konstellation im Konflikt Imboden. "Dass ein gestandener Gewerkschaftskämpfer, der den Ruf eines Eigenbrötlers hat, mit seiner 20 Jahre jüngeren Vorgesetzten aneinandergerät, ist auch ohne die Details zu kennen leicht vorstellbar", so Perron.

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BZ 26.2.11

Die Unia-Angestellten unterbrechen ihren Streik

 BernDer hauseigene Vermittler Renzo Ambrosetti soll den Unia-Streit bis in zwei Wochen schlichten.

 Waffenstillstand bei der Unia. Eine Delegation der nationalen Geschäftsleitung hat sich am Donnerstagnachmittag mit einer Delegation der Streikenden der Sektionen Bern und Oberaar-gau-Emmental geeinigt. In den nächsten zwei Wochen wird eine Vermittlung unter der Leitung des Tessiner Juristen und Co-Präsidenten Renzo Ambrosetti durchgeführt. Bis zum Abschluss dieser Gespräche übernimmt Co-Präsident Andreas Rieger die Leitung der Sektion Bern.

 Die Präsidenten der Sektionen haben sich dieser Konfliktlösung angeschlossen, wie die Geschäftsleitung der Unia-Sektionen Bern und Oberaargau-Emmental gestern mitteilte. Die beiden Sektionen unterbrechen ihren Streik, zumindest bis am 11. März. Gestern Freitag nahmen die Gewerkschaftsangestellten um 14 Uhr ihre Arbeit wieder auf. Gemäss verschiedenen Quellen war der Streik eine Premiere: Zum ersten Mal protestieren Angestellte einer Gewerkschaft, die im Gewerkschaftsbund organisiert ist, auf diese Art gegen ihren Arbeitgeber. Am 17. Februar wurde zudem das nationale Komitee von solidarischen Unia-Mitarbeitenden gegründet.

 Auslöser für den Streik war die angekündigte Versetzung von Roland Herzog, dem langjährigen Leiter der Sektion Bern, ins Zentralsekretariat. Als Grund gab die Unia-Leitung an, Herzog kooperiere zu wenig. Der 59-Jährige stand letztes Jahr im Rampenlicht, als er sich für die Arbeiter der Kartonfabrik Deisswil ins Zeug legte.
 kle/sda

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Bund 25.2.11

Unia-Konflikt: Verhandlungen ziehen sich in die Länge

 Gestern und vorgestern herrschte Funkstille: Weder die Unia-Leitung noch die streikenden Mitarbeiter informierten über den Stand des Konflikts. Nachdem eine erste Aussprache am Dienstag wegen gesundheitlicher Probleme eines Vertreters der Unia-Schweiz hatte verschoben werden müssen, wird unterdessen aber offenbar hartnäckig verhandelt. Sobald es eine Lösung gebe, werde die Gewerkschaftsleitung informieren, sagte Unia-Sprecher Nico Lutz gestern Abend.

 Derweil mobilisieren die Mitarbeiter der Sektionen Bern und Oberaargau-Emmental Gleichgesinnte via Internet. "Wir sind überwältigt von der Solidarität, die wir von Unia-Mitgliedern, Vertrauensleuten und Unia-Mitarbeitenden aus anderen Sektionen erhalten", heisst es auf einer einschlägigen Seite.

 Die Streikenden wehren sich gegen die Absetzung Roland Herzogs als Leiter der Sektion Bern und plädieren für eine Demokratisierung der Gewerkschaft.(rw)

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BZ 25.2.11

Verhandlungen der Unia zogen sich in die Länge

 BernIm Streit zwischen den Streikenden der Unia und der Geschäftsleitung wurde gestern weiterverhandelt.

 Bereits über eine Woche dauern die Auseinandersetzungen bei der Gewerkschaft Unia Bern. Nachdem die Angestellten der Sektionen Bern und Emmental-Oberaargau in den Streik getreten waren, wird seit einer Woche verhandelt. Gestern sind in einem Restaurant in Bern zum dritten Mal Gespräche zwischen den Streikenden und der Geschäftsleitung geführt worden. Ein Resultat wurde nicht bekannt gegeben, die Sitzung dauerte bis gegen Abend.

 Auslöser für den Streik der Unia-Mitarbeitenden war die Absetzung von Roland Herzog, dem langjährigen Leiter der Sektion Bern, kurz vor seiner Pensionierung. Die Angestellten verlangen die Wiedereinsetzung Herzogs.
 hrh

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WoZ 24.2.11

Streik bei der Unia

 Nicht nur predigen - auch selber kämpfen
 Das hat es noch nie gegeben: GewerkschafterInnen streiken gegen die eigene Gewerkschaft. Ist das eine kleine ­ Revolution von unten oder bloss ein interner Machtkampf ­innerhalb der Unia? Zu Besuch im Herzen des Aufstands.

 Von Dinu Gautier

 Das Unia-Gebäude an der Berner Monbijou strasse ist mit Unia-Fahnen beflaggt - als Zeichen des Protests gegen die eigene Führung.

 Es ist Donnerstag, der 17. Februar. Drinnen sitzen Streikende in einem überfüllten Sitzungszimmer. Ihre Wut ist deutlich zu spüren. Von der "autoritären Geschäftsleitung" in der Zentrale der Unia-Schweiz, von "Repression", ja sogar von "Diktatur" ist die Rede. Es scheint, als nähme hier eine kleine Revolution ihren Anfang. SekretärInnen aus anderen Sektionen der Deutschschweiz treffen ein. Einer sagt: "Wir sind aus Solidarität hier. Probleme mit der Arroganz dieser Herren und Damen gibt es überall in der Schweiz." Ein anderer sagt: "Was wir draussen predigen, das machen wir jetzt selber: kämpfen. So sind wir bei der Gewerkschaft erzogen worden. Das ist ein historischer Tag."

 Zwangsversetzt in die Zentrale

 Worum gehts? Zwei Tage zuvor, am Dienstag gegen Abend, erfuhr das Personal, dass Roland Herzog, der 59-jährige Leiter der Sektion Bern, seines Amtes enthoben und in die gesamtschweizerische Zentrale der Unia am anderen Ende der Stadt strafversetzt werde.

 Die Unia ist eine komplexe Organisation: Auf der unters ten Ebene, den so genannten Sektionen, halten die GewerkschaftssekretärInnen den Kontakt mit allen Mitgliedern und müs sen neue Mitglieder werben, dar über kommen die Regionalsekretariate, die eher koordinierende Aufgaben haben, zuoberst steht die aus sieben Mitgliedern bestehen de gesamtschweizeri sche Geschäftsleitung (vgl. "Die Struktur der Unia").

 "Duke", wie Herzog von seinen Mitarbeiter Innen genannt wird, ist beliebt im Team. Eine Sekretärin beschreibt ihn als verlässlich und loyal. Er sei nicht autoritär und ermögliche es den Mitarbeiter­Innen, "sich zu entfalten".

 Bereits am Mittwochmorgen haben die Unia-Sekretär Innen der Sektionen Bern und Oberaargau-Emmental - insgesamt knapp vierzig Personen   - beschlossen, per sofort in den Streik zu treten. Sie fordern ultimativ die Wiedereinsetzung von Roland Herzog und die Rücknahme einer Verwarnung gegen ein Mitglied der Personalkommission. Beide Personalentscheide bezeichnen die Streikenden als willkürlich. Zudem sei Herzog gewählt worden und könne gar nicht abgesetzt werden.

 Doch es geht um mehr als Personalentscheide, das wird am Donnerstag im Sitzungszimmer der Streikenden deutlich. Der Tenor: Lange genug habe man aus Loyalität zur Unia die Faust im Sack gemacht. Nun habe die Absetzung von "Duke" das Fass zum Überlaufen gebracht. Oder in einer weiteren, mehrmals verwendeten Metapher ausgedrückt: "Der Dampfkochtopf ist explodiert." Im Gewerkschaftsslang werden zahlreiche interne Konflikte jüngeren und älteren Datums diskutiert. Delegierte aus den Sektionen Basel, Solothurn, Biel-Seeland, Aargau und Oberwallis gründen ein "Nationales Komitee von solidarischen Unia-Mitarbeitenden". Das Komitee schreibt: "Wir halten unmissverständlich fest, dass unsere Hauptanliegen nicht die personenbezogenen Konflikte betreffen, sondern das Umfeld, in dem diese stattfinden. Sie stehen als Stellvertretung von vielen ähnlichen Konflikten (Verwarnungen, Mobbing, Kündigungen), die seit Jahren unsere Organisation prägen." Weiter heisst es, dass der Druck auf die MitarbeiterInnen ständig gewachsen und teilweise unerträglich geworden sei. So würden die Zielvorgaben für die Werbung von Neumitgliedern immer höher und unrealistischer angesetzt, was zu einer permanenten Überlastung der SekretärInnen geführt habe, schreibt das Komitee. Man müsse die Unia nun demokratisieren. Eine "Unia von unten" bauen.

 "Abmachungen nicht eingehalten"

 In einem Rundmail wendet sich die be streikte Regionalleitung, bestehend aus Natalie Imboden, Grossrätin der Grünen, und Udo Michel, an die MitarbeiterInnen: Herzog habe die gewählte Regionalleitung und seine direkte Vorgesetzte Natalie Imboden nie akzeptiert. "Er verstiess nicht nur systematisch gegen gültige Reglemente und Kompetenzregelungen in der Unia, sondern auch gegen explizite Abmachungen, die er gegenüber der Regional-Leitung eingegangen war." Man habe ihn vergebens mündlich und schriftlich ermahnt. Angesichts dieser "besorgniserregenden Entwicklung" hätten das Präsidium der Unia Schweiz und die Leitung der Unia Region Bern entschieden, den in nächster Zeit sowieso anstehenden Leitungswechsel in der Sektion Bern vorzuziehen. Unter einer breit abgestützten neuen Leitung solle die Sektion "zu einem normalen Funktionieren zurückfinden", so Imboden und Michel.

 Zu diesen Vorwürfen sagt Herzog: Die Begründungen für seine Versetzung seien vorgeschoben - "es gab tatsächlich Schwierigkeiten und Reibungen, im Kern geht es aber um die Ausrichtung dieser Gewerkschaft."

 "Fehler auf beiden Seiten"

 Gerne hätte die WOZ mit Natalie Imboden und VertreterInnen der Geschäftsleitung gesprochen, um sie zu den Vorwürfen und dem Konflikt im Allgemeinen zu befragen. Das Problem: Am Freitag hatten sich Streikende und Bestreikte zu stundenlangen Verhandlungen getroffen. Ergebnis: Keine Auskunft bis nach den nächsten Verhandlungen   - die erst am Mittwoch, nach Redaktionsschluss der WOZ, zu Ende gingen.

 Der Konflikt wirkt für Aussenstehende komplex und schwer fassbar. Die Mediensperre verhindert, wirklich nachzuvollziehen, worum es im Detail geht.

 Immerhin äussert sich ein Sekretär der Sektion Berner Oberland. Seine Sektion streikt nicht. Er hält grundsätzlich viel von den MitarbeiterInnen der Sektion Bern, bezeichnet sie als ein "gutes, schlagkräftiges Team". Mit dem Streik ist er allerdings nicht einverstanden. "Hier wird versucht, eine Frage der Personalpolitik zu einer politischen Richtungsfrage auf­zubauschen." Nicht nur Herzog sei demokratisch gewählt worden. Dies sei auch bei Natalie Imboden und Udo Michel der Fall. "Es findet kein Aufstand der Basis, sondern ein Aufstand für Funktionärsanliegen statt", so der Sekretär weiter.

 Auch andere GewerkschafterInnen, die nicht direkt in den Konflikt involviert sind, sprechen von einem "Personalkonflikt" und einem "Machtkampf", bei dem beide Seiten Fehler gemacht und schlecht kommuniziert hätten. Die Unia sei bereits heute eine demokratische Organisation, die sich bemühe, die Basis stärker einzubinden. "Demokratisierung heisst aber mehr Mitsprache der Mitglieder, nicht der Sekretäre", so ein ausserkantonaler Unia-Mitarbeiter.

 Bei aller Härte, mit der jetzt die internen Kämpfe ausgetragen werden, gibt es aus Unia-Sicht auch Erfreuliches zu vermelden: Alle GewerkschafterInnen, denen die WOZ dieser Tage begegnet ist - Streikende wie Nichtstreikende -, identifizieren sich sehr stark mit der gewerkschaftlichen Arbeit. Eine Streikende sagt: "Wir können nur hoffen, dass es bald zu einer guten Lösung kommt - sonst droht die Arbeit von Jahren kaputtzugehen."

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 Komplexe Verhältnisse

 Die Struktur der Unia

 Die Gewerkschaft Unia ist ein Verein. Sie ist 2004 aus der Fusion der Gewerkschaften Bau und Industrie (GBI), Industrie, Gewerbe, Dienstleistungen (SMUV) und Verkauf, Handel, Transport, Lebensmittel (VHTL) entstanden. Heute hat die Unia etwa 200000 Mitglieder.

 Um diese Zahl zu halten, müssen in den Sektionen jährlich rund 20000 neue Mitglieder geworben werden. Die Unia beschäftigt zirka 950 Personen.

 Die Unia Schweiz ist eine höchst komplexe Organisation, die in 14 Regionen unterteilt ist, welche wiederum aus Sektionen bestehen. Zahlreiche Reglemente auf allen Ebenen, die sich zum Teil widersprechen, und unzählige Gremien führen dazu, dass selbst gestandene FunktionärInnen den Überblick verlieren, wer welche Kompetenzen hat.

 Im Fall des Berner Sektionsleiters Roland Herzog (vgl. nebenstehenden Text) ist juristisch die Frage interessant, ob die Strafversetzung überhaupt rechtens ist, da die Absetzung eines Sektionsleiters in den Reglementen nicht geregelt ist - was darauf hindeutet, dass die Absetzung in der Kompetenz des Delegiertenversammlung der Sektion liegt, die ihn auch gewählt hat.

 Bei Herzog waren es jedoch das Regionalpräsidium und Mitglieder der Geschäftsleitung der Unia Schweiz, die seine Absetzung beschlossen haben. DIG

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Langenthaler Tagblatt 24.2.11

Unia-Mitglieder solidarisieren sich mit Streikenden

 Oberaargau/Emmental/Bern Seit Wochenfrist sind rund 40 von 87 Mitarbeitenden der Unia-Sektionen Oberaargau-Emmental und Bern im Streik. Die Büros in Langenthal, Huttwil, Burgdorf, Langnau und Bern sind zu. Der Streik richtet sich gegen die Versetzung des Berner Sektionsleiters in die Unia-Zentrale und eine Verwarnung des nationalen Präsidenten der Personalkommission, Nazmi Jakurti. Nun schliesst sich die Unia-Basis dem Protest an: Die jährliche Delegiertenversammlung des Gewerkschaftsbun des Oberaargau (GBO) - er wird vom Langenthaler Jakurti präsidiert - hat sich am Dienstagabend mit den Streikenden "vollumfänglich solidarisiert", so der GBO. Die "autoritären Tendenzen" in der Gewerkschaft müssten "unmissverständlich eingedämmt" werden. Gehe es doch nicht um Einzelfälle, "sondern um die Notwendigkeit eines internen Demokratisierungsprozesses und nicht zuletzt auch um eine inhaltliche Erneuerung".

 Die Verhandlungen zwischen der nationalen Unia-Spitze und einer Delegation der Streikenden wurden am Mittwoch wieder aufgenommen (vgl. gestriges az Langenthaler Tagblatt). Am Abend wurden sie jedoch ohne Angaben zu allfälligen Ergebnissen bis Donnerstag unterbrochen. Laut Nico Lutz, Sprecher Unia Schweiz, wurde erneut Stillschweigen vereinbart. (sat) Weiterer Bericht: Seite 23

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Le Temps 24.2.11

Des syndicalistes d'Unia en guerre contre leur patron

 Deux sections bernoises font grève et cinq secrétaires syndicaux neuchâtelois prennent la porte

Pierre-Emmanuel Buss

 C'est du jamais-vu dans le monde syndical. Les employés Unia des sections de Berne et d'Oberaargau-Emmental sont en grève depuis le 16   février. Ils protestent contre la destitution immédiate du chef de la section de Berne, Roland Herzog. Selon un représentant syndical, cette décision a été "la goutte qui a fait déborder le vase" après plusieurs semaines de conflit larvé. Outre la réintroduction de leur collègue, les grévistes demandent au comité directeur national "une démocratisation interne" du syndicat. Des négociations sont en cours pour sortir de l'impasse.

 Suivi de près par les sections régionales, le bras de fer engagé à Berne trouve un écho particulier à Neuchâtel. Convoqués mardi matin pour une assemblée générale extraordinaire, les employés du syndicat ont décidé de soutenir le mouvement bernois. "Nous demandons trois choses au comité directeur, indique Silvia Locatelli, secrétaire syndicale et vice-présidente du Parti socialiste neuchâtelois. Un retour à la démocratie avec une organisation plus horizontale; une meilleure prise en compte de l'avis des comités de section et de nos membres; une amélioration de la politique du personnel."

 Ces requêtes ne sont pas nouvelles. En juillet 2010, l'ensemble des secrétaires syndicaux d'Unia Neuchâtel avaient envoyé une lettre à la secrétaire régionale, Catherine Laubscher, entrée en fonction une année plus tôt. Dans ce courrier, que Le Temps s'est procuré, les signataires dénonçaient "un malaise général" au sein de la section. Ils déploraient "un déficit démocratique et un manque de transparence dans les prises de décision". Ils demandaient que "les rapports hiérarchiques et la communication en général soient repensés et clarifiés".

 Catherine Laubscher a donné une réponse au courrier des secrétaires syndicaux le 28   septembre 2010. Depuis lors, les choses ne se sont guère améliorées. En six mois, Unia Neuchâtel a enregistré le départ de cinq secrétaires syndicaux, soit près de la moitié de l'effectif. Cette hécatombe est-elle exclusivement liée à un climat de travail difficile? "Pour trois des cinq, c'est évident", assure Nicolas Turtschi, qui a quitté le navire en octobre dernier.

 Selon le démissionnaire, "les secrétaires syndicaux sont mis sous pression selon la logique néolibérale qu'ils sont censés combattre". Pour atteindre les objectifs d'adhésion de nouveaux membres fixés par Berne, ils doivent travailler comme "des vendeurs d'assurances" contraints de faire le forcing auprès des travailleurs.

 Dans cette logique d'efficience, les idéaux syndicaux en prennent un coup, comme le montrent deux exemples pratiques. Un courriel interne du 30   novembre 2010 signé par Catherine Laubscher stipule pour 2011 que les employés "malades durant plus de trois mois dans l'année ne toucheront pas d'échelon salarial supplémentaire". En 2008 et 2009, 63 membres d'Unia Neuchâtel ont été mis aux poursuites pour non-paiement de leurs cotisations. La démarche a choqué à l'interne.

 Montrée du doigt pour être "à la botte de Berne", Catherine Laub­scher minimise les difficultés: "J'ai travaillé 13   ans à la centrale nationale. Cela dérange certains. Mais il n'y a pas plus de problèmes à Neuchâtel qu'ailleurs. Nous avons des objectifs de campagnes et de recrutement par secteur. C'est normal. Je rappelle que ce sont les cotisations des membres qui nous permettent de payer les salaires et de faire notre travail syndical." Quid des poursuites engagées contre les mauvais payeurs? "Ce n'est pas ma première priorité. Pour le moment, nous n'avons mis aux poursuites aucun des membres qui n'ont pas payé leurs cotisations en 2010."

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Bund 22.2.11

Der "Duke" nimmt es mit allen auf

 Roland Herzog ist ein äusserst engagierter Vollblutgewerkschafter und geniesst in der Basis grossen Rückhalt. Mit Autoritäten hat er es aber nicht so. Die Unia-Leitung stellt ihn deshalb kalt. Die Krise in der grössten Gewerkschaft der Schweiz droht sich auszuweiten.

 Reto Wissmann

 Roland Herzog hat in seinen vielen Jahren als Gewerkschaftsfunktionär schon viele Arbeitskämpfe ausgefochten. Stets setzte er sich dabei für die Rechte der einfachen Angestellten ein und rang manchem Arbeitgeber Zugeständnisse ab. Doch nun ist der "Duke", wie er in Anspielung auf seinen Nachnamen genannt wird, an einen mächtigen Gegner geraten. Seine eigenen Chefs haben ihn der Leitung der Unia-Sektion Bern enthoben und bis zur Pensionierung ins Zentralsekretariat strafversetzt (der "Bund" berichtete). Wie er es stets tut, wenn er eine Ungerechtigkeit vermutet, gibt Herzog aber nicht klein bei, sondern steigt auf die Barrikaden. Unterstützt wird er von 40 Angestellten der Gewerkschaft. Seit Donnerstag bestreiken sie die Sektionssekretariate Bern und Oberaargau-Emmental - ein einmaliger Vorgang in der Schweizer Gewerkschaftsszene.

 In den Internetforen sind die Fronten klar. Herzog wird als engagierter, umgänglicher, basisnaher Gewerkschafter beschrieben, der den selbstherrlichen Gewerkschaftsbossen vor der Sonne steht. "Er ist ein sehr guter Gewerkschafter. Es ist unglaublich, was sie mit ihm gemacht haben", heisst es beispielsweise auf www.derbund.ch. Er sei ein Vollblutgewerkschafter, der praktisch rund um die Uhr für die Mitglieder da sei und dessen Herz für die einfachen Arbeiter schlage. "Der Duke lebt für die Unia", heisst es in einem weiteren Kommentar.

 Neue Leitung, altgedienter Kämpe

 Von den Chefs der Unia-Region Bern tönt es allerdings ganz anders: Herzog fehle die Bereitschaft, mit der Leitung "konstruktiv zusammenzuarbeiten". Zudem habe er Abmachungen nicht eingehalten, Informationen vorenthalten und die neue Leitung nicht akzeptiert. Dadurch sei die "Leitungssituation" in der Region Bern blockiert worden. Seit 2009 sind die grüne Grossrätin Natalie Imboden und Udo Michel als Co-Regionsleiter Herzogs Vorgesetzte. Herzog selber arbeitete früher für die Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI) und wurde nach der Gründung der Unia zum Sekretär der Sektion Bern gewählt. In rund einem Jahr hätte der 59-Jährige pensioniert werden sollen, da er offenbar mehr als zwei Jahre Überzeit angehäuft hat.

 Nachdem eine erste Verhandlungsrunde am Freitagabend ohne Ergebnis blieb, versuchen Gewerkschaftsleitung und Streikende heute erneut eine Lösung zu finden. Bis dahin haben sie Stillschweigen vereinbart. Herzog war gestern nicht erreichbar. Entsprechend diffus bleiben deshalb die Hintergründe des Konflikts. Klar ist, Herzog gilt als äusserst engagierter Gewerkschafter. In jüngster Vergangenheit hat er sich unter anderem im Kampf gegen den Abbau von fast 500 Stellen bei der Berner Maschinenfabrik Wifag und gegen die Schliessung der Kartonfabrik in Deisswil Respekt verschafft. Aber nicht nur die Arbeiter würdigen Herzogs Arbeit: "Er ist ein harter, aber fairer Verhandlungspartner, der sich sehr für die Anliegen der Belegschaft und der Unia eingesetzt hat", sagt Hans-Ulrich Müller. Der CS-Banker kennt Herzog aus den Verhandlungen um einen Neubeginn in den Hallen der ehemaligen Kartonfabrik.

 Nebst den Blumen, die Herzog erhält, gibt es aber auch kritische Stimmen. So fragt man sich unter Gewerkschaftsmitgliedern, wie ein Funktionär zwei Jahre Überzeit anhäufen konnte, obwohl er offenbar von seinen Vorgesetzten zu einem Abbau gedrängt worden war. Deutlich wird im ganzen Konflikt damit auch, dass der studierte Soziologe und Ökonom ein Problem mit Vorgesetzten hat. Corrado Pardini, SP-Grossrat und Mitglied der Unia-Geschäftsleitung Schweiz, formuliert es so: "Herzog stellt Autoritäten oft infrage und kommuniziert gerne mit allen auf Augenhöhe." Selber habe er in der Zusammenarbeit mit Herzog aber nie Probleme gehabt.

 Genau hier dürfte der Kern des Konflikts liegen, der sich zur nationalen Unia-Krise ausweiten könnte. Die 2004 aus einer Fusion entstandene Riesengewerkschaft mit ihren 200 000 Mitgliedern und fast 1000 Angestellten funktioniert heute weniger basisdemokratisch, als dies einigen lieb ist. "Gewisse Hierarchien sind in einem Betrieb wie der Unia notwendig", entgegnet Pardini, "wir müssen aber eine bessere Balance zwischen Profistrukturen und Mitbestimmung der Basis finden."

 "Man kann nicht gegen alles sein"

 Dass sich dabei einzelne Funktionäre querstellen, stösst innerhalb der Gewerkschaft auf Kritik. "Es braucht Spielregeln, an die sich alle halten müssen", sagt der ehemalige SP-Grossrat Martin von Allmen. Auch eine Gewerkschaft müsse mit der Zeit gehen und immer wieder ihre Strukturen hinterfragen. Von Allmen ist seit 20 Jahren Gewerkschafter und heute Sekretär der Unia-Sektion Berner Oberland - die sich nicht am Streik beteiligt. "Man kann nicht gegen alles sein." Er habe das Gefühl, so von Allmen, dass die Sektion Bern in letzter Zeit jedes Sachthema zu einer Personalfrage hochstilisiert habe.

 Der Fall Herzog droht sich nun bereits auszuweiten. Ausserkantonale Sektionen solidarisieren sich mit den streikenden Bernern. Unzufriedene fordern eine weitreichende Demokratisierung der Strukturen. Eine solche Grundsatzdebatte würde allerdings viel Kraft binden. Eine Lösung ist jedoch derzeit nicht absehbar. Für die Regionalleitung ist die Absetzung Herzogs nicht verhandelbar, die Streikenden hingegen beharren auf einer Wiedereinsetzung ihres "Dukes".

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BZ 22.2.11

Unia-Streik geht weiter

 BernDie Gespräche der Unia-Geschäftsleitung mit einer Streikdelegation werden heute fortgesetzt. Der Streik in zwei Sektionen dauert an.

 Der interne Protest in der Gewerkschaft Unia ist noch nicht zu Ende. Die Angestellten der Sektionen Bern und Oberaargau-Emmental waren letzte Woche in einen Streik getreten. Am Freitag fanden erste Verhandlungen mit der Unia-Geschäftsleitung statt. Die beiden Parteien beschlossen, die Verhandlungen heute weiterzuführen. Der Streik in den beiden Sektionen wird aber auch diese Woche weitergeführt.

 Entzündet hatte sich der Zwist, weil Roland Herzog, langjähriger Sekretär der Sektion Bern, von der Unia-Leitung kurz vor seiner Pensionierung abgesetzt wurde. Die Streikenden, allesamt Angestellte auf den Unia-Sekretariaten, forderten, Herzogs Absetzung müsse rückgängig gemacht werden. Kritisiert wurde zudem der "autoritäre Führungsstil" der Leitung Region Bern und der Unia-Geschäftsleitung.
 hrh

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NZZ 22.2.11

PdA unterstützt Unia-Streik

 Arbeitskampf innerhalb der Gewerkschaft

 sig. · Unia, die grösste Einzelgewerkschaft der Schweiz, wird für einmal links überholt: "Die Partei der Arbeit solidarisiert sich im laufenden Arbeitskampf mit den Belegschaften der Unia-Sektionen Bern und Oberaargau-Emmental", schreibt die PdA in einer Mitteilung. Wohlgemerkt: Die Berner Kommunisten unterstützen nicht etwa Arbeiter bei ihrem Kampf gegen einen kapitalistischen Ausbeuter. Sie stellen sich vielmehr an die Seite von Gewerkschaftern, die gegen ihre Gewerkschaft streiken.

 Die rund 40 Unia-Angestellten hatten vergangene Woche die Arbeit niedergelegt, um gegen die Absetzung des Berner Sektionschefs Roland Herzog zu protestieren. Dieser soll Abmachungen nicht eingehalten und sich Beschlüssen widersetzt haben. Der 59-jährige Herzog, der die Zeit bis zu seiner Pensionierung auf dem Unia-Zentralsekretariat hätte verbringen müssen, bestreitet die Vorwürfe. Am Dienstag soll eine Aussprache zwischen der Unia-Leitung und den Streikenden stattfinden. Die PdA fordert derweil die "basis- und demokratiefernen Funktionäre" der Unia auf, ihre "skandalöse Personalpolitik" zu beenden, und "verlangt nach personellen Konsequenzen auf Leitungsebene".

 Ein interner Streik bei einer Gewerkschaft stellt ein landesweites Novum dar. Andere arbeitsrechtliche Auseinandersetzungen sind aber keine Seltenheit. Anfang 2008 wurden drei Unia-Kadermitarbeiter wegen Mobbing zu bedingten Bussen verurteilt. Im gleichen Jahr suspendierte die Unia ebenfalls wegen Mobbing drei Angestellte im Tessin. Die Gewerkschaft Syna musste letztes Jahr acht entlassenen Mitarbeitern den Lohn nachzahlen, nachdem diese vor Gericht obsiegt hatten.

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Bund 21.2.11

Partei der Arbeit

 Unterstützung für Streikende bei der Unia

 Die Partei der Arbeit solidarisiert sich im laufenden Arbeitskampf mit den Belegschaften der Unia-Sektionen Bern und Oberaargau-Emmental. Die Partei unterstützt gemäss einer Mitteilung die Forderung nach Wiedereinsetzung von Sektionsleiter Roland Herzog und nach Rücknahme der Verwarnung des Co-Präsidenten der nationalen Personalkommission, Jazmi Jakurti. Der autoritäre und arrogante Führungsstil einiger Funktionäre drohe die Gewerkschaft Unia zu lähmen und füge der Glaubwürdigkeit gewerkschaftlicher Forderungen nach Mitsprache und Mitbestimmung massiven Schaden zu.(pd)

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20 Minuten 21.2.11

Harte Fronten im Unia-Konflikt

 BERN. Die Berner Unia-Angestellten streiken weiterhin. Inzwischen hat sich aber eine Delegation von ihnen mit Vertretern der nationalen Gewerkschaftsleitung getroffen. Die Gespräche verliefen bisher ergebnislos, sollen aber am Dienstag weitergehen. Die Partei der Arbeit stellt sich nun hinter die Streikenden: Der geschasste Sektionsleiter Roland Herzog soll wieder eingesetzt werden.

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Langenthaler Tagblatt 21.2.11

Externe stören das Stillschweigen der Unia

 Bern/Oberaargau Eine Delegation der nationalen Geschäftsleitung der Unia hat sich am Freitagnachmittag noch mit einer Delegation der Streikversammlung der Sektionen Bern und Oberaargau-Emmental zu Gesprächen getroffen. Die beiden Parteien haben vereinbart, die Verhandlungen morgen Dienstag fortzusetzen. Der Streik in den beiden Sektionen werde aber heute weitergeführt. Im Übrigen wurde vereinbart, dass gegenüber den Medien bis zur zweiten Verhandlung nicht weiter kommuniziert wird.

 Extern kein Stillschweigen

 Während die zerstrittenen Parteien innerhalb der Unia Stillschweigen vereinbart haben, spricht die Partei der Arbeit (PdA). Sie solidarisiert sich im laufenden Arbeitskampf mit den Belegschaften der Unia-Sektionen Bern und Oberaargau-Emmental. Sie unterstützt deren Forderung nach Wiedereinsetzung von Sektionsleiter Roland Herzog und nach Rücknahme der Verwarnung des Co-Präsidenten der nationalen Personalkommission Nazmi Jakurti. "Der autoritäre und arrogante Führungsstil einiger basis- wie demokratieferner Funktionäre droht die Gewerkschaft Unia zu lähmen", schreibt die Partei der Arbeit in einer Mitteilung. Die PdA spricht von einer "skandalösen Personalpolitik gegenüber einer bis anhin äusserst engagierten Belegschaft" und verlangt nach personellen Konsequenzen auf Leitungsebene. (uby/mgt)

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pdabern.ch 19.2.11

Medienmitteilung der PdA Bern

Arbeitskampf innerhalb der UNIA

Die Partei der Arbeit solidarisiert sich im laufenden Arbeitskampf mit den Belegschaften der UNIA Sektionen Bern und Oberaargau-Emmental und unterstützt deren Forderung nach Wiedereinsetzung von Sektionsleiter Roland Herzog und nach Rücknahme der Verwarnung des Co-Präsidenten der nationalen Personalkommission Jazmi Jakurti.
 
Der autoritäre und arrogante Führungsstil einiger basis- wie demokratieferner Funktionäre droht die Gewerkschaft UNIA zu lähmen und fügt der Glaubwürdigkeit gewerkschaftlicher Forderungen nach Mitsprache und Mitbestimmung massiven Schaden zu. Dass die abgehobene Regionsleitung ihre skandalöse Personalpolitik gegenüber einer bis anhin äusserst engagierten Belegschaft gerade in einer Zeit verschärfter allgemeiner Arbeitsbedingungen durchzuzwängen versucht, ist mehr als skandalös und verlangt nach personellen Konsequenzen auf Leitungsebene.

Bern, 19.2.2011

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Bund 19.2.11

Gespräche im Unia-Konflikt blieben bis am Abend ergebnislos

 Die Gewerkschafter der Unia-Sektionen Bern und Oberaargau-Emmental streiken weiter. Ein erstes Treffen mit einer Delegation der nationalen Geschäftsleitung der Unia am Freitag hat offenbar noch zu keinem Ergebnis geführt. In einer gemeinsamen Medienmitteilung informierten die nationale Delegation und die Delegation der Streikversammlung gestern Abend, dass sie am kommenden Dienstag weiterverhandeln. Bis dahin werde gegenüber den Medien nicht weiter kommuniziert.

 Im Streik sind bis zu 40 Mitarbeiter der Unia-Region Bern. Sie protestieren gegen das "autoritäre Gehabe" der Regionsleitung ("Bund" von gestern). Sie stellen zwei Forderungen: Erstens solle die Regionsleitung die Absetzung des 59-jährigen Berner Sektionschefs Roland Herzog rückgängig machen. Zweitens müsse die Unia die Verwarnung eines Mitglieds der Personalkommission zurücknehmen. Die Versetzung Herzogs sei nicht verhandelbar, hatte die Spitze der Unia Schweiz am Donnerstag verlauten lassen. Herzog wird vorgeworfen, er habe Beschlüsse der Regionsleitung nicht umgesetzt und seine Chefin zu wenig informiert.(sda)

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BZ 19.2.11

Lange Gespräche

 GewerkschaftDie Verhandlungen der Unia-Chefs mit den Streikenden dauerten gestern lange. Zu Ergebnissen kam man nicht, die Gespräche gehen in eine zweite Runde.

 Gestern um 14 Uhr begannen in Bern die Gespräche bei der Gewerkschaft Unia. Die Verhandlungen waren eine Folge des Streiks von 40 Mitarbeitern, welche damit gegen die Absetzung von Roland Herzog als Leiter der Sektion Bern protestierten (siehe Ausgabe von gestern). Das Treffen zwischen Vertretern der Unia-Geschäftsleitung und den Streikenden zog sich in die Länge. Bis am Abend führten die Verhandlungen zu keinen Ergebnissen. Sie werden am Dienstag fortgesetzt.
 hrh/sda

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Schweiz Aktuell 18.2.11

Streiktaktik der Unia

Der Streik vor dem Tessiner Elektrounternehmen Trasfor ist nicht von den Angestellten initiiert. Die Gewerkschaft Unia hat stark nachgeholfen. Mit eigenen Autos hat sie die Fabrikeingänge blockiert und die Mitarbeiter ermuntert, nicht arbeiten zu gehen.
http://videoportal.sf.tv/video?id=164b6032-fa4e-4fb7-b280-59a817f25dd9

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Bund 18.2.11

Unia gerät unter Beschuss von eigenen Mitarbeitern

 Gewerkschafter gegen Gewerkschafter: Unia-Mitarbeiter legen Arbeit nieder.

 In einem schweizweit beispiellosen Vorgang haben bis zu 40 Mitarbeiter der Unia Region Bern ihre Arbeit niedergelegt. Mit dem Streik protestieren sie gegen das "autoritäre Gehabe" der Regionsleitung. Nach Angaben des Personalverbands VPOD ist es das erste Mal, dass bei einer Schweizer Gewerkschaft gestreikt wird. Der Konflikt schwele seit langem, erklärten die Streikenden gegenüber den Medien. Die Regionsleitung gehe respektlos mit dem Personal um und versuche - wie auch gewisse Leute auf nationaler Ebene - autoritäre Strukturen durchzusetzen.

 Führung beschwichtigt

 Am Sitz der Unia Schweiz im Egghölzli versuchte man den Ball flachzuhalten. Mediensprecher Nico Lutz betonte, in jedem Unternehmen könne es solche Konflikte geben. Auch eine Gewerkschaft sei davor nicht gefeit. Andreas Rieger bedauerte als nationaler Co-Präsident Schweiz die Eskalation des Konflikts. Dass die Unia zusehends autoritär geführt werde, glaubt Rieger nicht.Die Regionsleitung hat den Berner Sektionschefs Roland Herzog abgesetzt, weil dieser lautCo-Regiosekretärin Natalie Imboden nicht kooperativ gewesen sei (siehe "Bund" von gestern). Herzog habe Beschlüsse der Regionsleitung nicht umgesetzt und sie als Chefin ungenügend informiert. Daher habe man beschlossen, Herzog zu versetzen. Der 59-Jährige, der zuletzt als kämpferischer Gewerkschafter für die Deisswiler Arbeiter ins Rampenlicht getreten war, soll die Zeit bis zu seiner Pensionierung auf dem Unia-Zentralsekretariat verbringen.

 Diese Versetzung sei nicht verhandelbar, betonte die Spitze der Unia Schweiz. Trotzdem wollen die nationale Gewerkschaftsführung und die Regionsleitung heute mit den Streikenden an einen Tisch sitzen. Denn in einem Punkt sind sie sich einig: Der Konflikt ist schlecht fürs Unia-Image. "Es darf nicht sein, dass unsere Mitglieder unter dem Konflikt leiden", sagte Rieger.Die Unia hat landesweit 900 Angestellte, die sich um rund 200 000 Mitglieder kümmern. Bern ist die grösste Unia-Region mit rund 25 000 Mitgliedern. Die knapp 90 Angestellten arbeiten in drei Sektionen, wovon die Sektion Oberland den Streik nicht mitmacht.(sda)

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BZ/Berner Oberländer 18.2.11

40 Unia-Mitarbeiter im Streik

 BernFür einmal streiken sie selber: 40 Mitarbeiter der Gewerkschaft Unia haben die Arbeit niedergelegt, weil ihr Chef gehen musste.

 Ein Streik - ausgerechnet bei der Gewerkschaft Unia. Rund 40 Angestellte der Sektionen Bern und Oberaargau-Emmental haben die Arbeit niedergelegt. Die Protestaktion richtet sich gegen den Beschluss der Chefetage, wonach Roland Herzog, Leiter der Unia-Sektion Bern, seinen Posten räumen muss. Das habe das Fass zum Überlaufen gebracht, hiess es gestern bei den Streikenden. Diese kritisieren auch den "autoritären Führungsstil" der Leiterin Region Bern und der Geschäftsleitung.

 Unia-Co-Präsident Andreas Rieger wies die Vorwürfe zurück und begründete die Absetzung Herzogs. Heute Freitag ist ein Gespräch zur Klärung der Situation angesetzt.hrh Seite 2

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Unia-Personal streikt für seinen geschassten Chef

 GewerkschaftEin Unikum: 40 Angestellte der Unia sind im Streik. Sie protestieren so gegen die Absetzung von Roland Herzog, Leiter der Sektion Bern. Heute will die Geschäftsleitung schlichten.

 Das hat es bei Schweizer Gewerkschaften noch nie gegeben: einen Streik der eigenen Mitarbeiter. Was sonst eine Kampfmassnahme der Unia in fremden Firmen ist, läuft jetzt in den eigenen Reihen ab. Vor dem Sekretariat der Sektion Bern an der Monbijoustrasse standen gestern Frauen und Männer in roten Unia-Jacken, hinter ihnen ein Transparent: "Das Unia-Personal ist im Streik". Als die Kamera des Schweizer Fernsehens läuft, ertönen gar Sprechchöre. "Wer ist unser Sektionsleiter?", schreit eine Frau. "Roland Herzog" rufen die Umstehenden im Chor.

 Herzogs Rückkehr gefordert

 Die Protestaktion richtet sich gegen den Entscheid der Unia-Leitung, den charismatischen Berner Gewerkschafter kurz vor seiner Pensionierung abzusetzen (Ausgabe von gestern). Am Streik beteiligen sich rund 40 Angestellte. Nebst der Sektion Bern sind es die Mitarbeiter der Sektion Oberaargau-Emmental. Diejenigen der Sektion Berner Oberland streiken nicht.

 An einer Medienkonferenz begründeten die Unia-Angestellten ihren Protest. "Es schwelt schon seit längerem ein Konflikt", erklärte Elise Gerber, Co-Präsidentin der Personalkommission. Die Angestellten goutieren den Führungsstil nicht, wie ihn der Vorstand der Region Bern und die Geschäftsleitung praktizieren.

 "Es gab immer wieder Angriffe auf Personen, die kritisch sind", stellte der abgesetzte Roland Herzig fest. Die autoritären Tendenzen hätten zugenommen. Man werde nicht in Entscheide miteinbezogen. "Die Gewerkschaft lebt aber vom Einbezug ihrer Mitarbeiter, sonst muss sie zumachen."

 Die Absetzung des Sektionsleiters Herzog hat das Fass nun zum Überlaufen gebracht. Die Streikenden fordern, Herzog müsse wieder auf seinen Posten. Und sie verlangen auch, dass die Geschäftsleitung eine Verwarnung des Langenthaler Gewerkschaftssekretärs Nazmi Jakurti rückgängig macht, weil sie gegen Unia-Reglemente verstosse.

 Chefetage beschwichtigt

 Ganz andere Töne waren gestern aus der Chefetage zu hören. Bei der anschliessenden Medienkonferenz in der Unia-Zentrale in Bern spielten die Verantwortlichen den Konflikt herunter. "Am Streik ist nur rund ein Drittel der Mitarbeiter aus dem Kanton Bern beteiligt", sagte Pressesprecher Nico Lutz. Der Unia-Betrieb laufe in wesentlichen Teilen "normal weiter". Zum Streik geführt habe wohl eine Kombination des grossen Drucks, der auf den Mitarbeitern laste, und des Personalentscheids, sagte Lutz.

 Seit ihrer Wahl vor anderthalb Jahren habe es "massive Probleme" mit dem Leiter der Sektion Bern gegeben, sagte Natalie Imboden, Co-Leiterin der kantonalbernischen Unia. Sie habe keine Einsicht in Protokolle erhalten, sei von Sitzungen ausgeschlossen worden, und Entscheide seien nicht angepackt und umgesetzt worden. "Die Zusammenarbeit mit Roland Herzog war massiv gestört." Es habe verschiedentlich Gespräche gegeben - vergebens. Unia-Co-Präsident Andreas Rieger erklärte, Vorgesetzte hätten nun einmal Weisungsrecht. Wenn dies zum Eklat führe, "kann ein Konflikt manchmal nicht anders gelöst werden - auch wenn es um einen alteingesessenen und verdienten Mann wie Roland Herzog geht".

 Zum Streik in der Unia sagt Präsident Rieger: "Das schadet unserer Organisation. Doch ich bin zuversichtlich, dass sich die Lage wieder normalisiert." Heute findet ein Gespräch zwischen der Unia-Leitung und den Streikenden statt.

 Herbert Rentsch

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Langenthaler Tagblatt 18.2.11

Gewerkschafter bleiben hart

 Bern/Oberaargau Der Konflikt bei der Gewerkschaft Unia Bern spitzt sich zu: In einem schweizweit beispiellosen Vorgang haben bis zu 40 Mitarbeiter der Unia Region Bern sowie im Oberaargau und Emmental gestern erneut die Arbeit niedergelegt (vgl. az Langenthaler Tagblatt von gestern). Mit dem Streik protestieren sie gegen das "autoritäre Gehabe" der Regionsleitung. Arbeiten wollen sie erst wieder, wenn zwei Forderungen erfüllt sind: Erstens muss die Regionsleitung die Absetzung des Berner Sektionschefs Roland Herzog rückgängig machen. Und zweitens muss die Unia die Verwarnung des nationalen Präsidenten der Personalkommission, Nazmi Jakurti, zurücknehmen. Er präsidiert auch den Gewerkschaftsbund Oberaargau.

 Laut dem Personalverband VPOD ist es das erste Mal, dass bei einer Schweizer Gewerkschaft gestreikt wird. Der Konflikt schwele seit langem, erklärten die Streikenden. Der Fall Herzog habe das Fass nun zum Überlaufen gebracht. Die Regionsleitung gehe respektlos mit dem Personal um und versuche, autoritäre Strukturen durchzusetzen. Insbesondere in Co-Regionalsekretärin Natalie Imboden habe man das Vertrauen verloren.

 Gibt es Verhandlungen?

 Am Sitz der Unia Schweiz im Berner Egghölzli versuchte man gestern Nachmittag, den Ball flach zu halten. Sprecher Nico Lutz betonte, in jedem Unternehmen könne es solche Konflikte geben. Auch eine Gewerkschaft sei davor nicht gefeit. Andreas Rieger bedauerte als nationaler Co-Präsident die Eskalation. In der Sache zeigte er sich aber unnachgiebig. Die Absetzung von Herzog sei nötig gewesen, auch wenn er aufgrund des Persönlichkeitsschutzes dazu nicht nähere Angaben machen könne.

 Co-Regiosekretärin Imboden erneuerte vor den Medien den Vorwurf, ihr Untergebener Herzog sei nicht kooperativ gewesen. Er habe Beschlüsse der Regionsleitung nicht umgesetzt und sie als Chefin ungenügend informiert. Der 59-Jährige, der zuletzt als kämpferischer Gewerkschafter für die Arbeiter der Kartonfabrik Deisswil auffiel, soll deshalb die Zeit bis zu seiner Pensionierung auf dem Unia-Zentralsekretariat verbringen. Diese Versetzung sei nicht verhandelbar, betonte die Spitze der Unia Schweiz. Trotzdem wollen die nationale Gewerkschaftsführung und die Regionslei- tung am Freitag mit den Streikenden an einen Tisch sitzen. (sda/tg)

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aufbau.org 17.2.11
http://www.aufbau.org/index.php?option=com_content&task=view&id=996&Itemid=1

Streik der Unia-Funktionäre!

Thursday, 17. February 2011

Die Unia-Führung zeigt wieder mal, was sie von der Basis und "innergewerkschaftlicher Demokratie" hält. Diesmal wird der Berner Sektionsleiter abgesetzt und die Personalkomission verwarnt. Die Sektion Bern und Oberaargau-Emmental am 16. 2. in den Streik getreten und ruft zur Solidarität auf. Der Streik steht auch für eine basisorientierte Gewerkschaftspolitik.

Bitte Unterschriftensammlung unterschreiben.
http://www.aufbau.org/images/stories/flugis/Unterschriften%20Sammlung%2020110216.pdf

Versammlungen: Do. 17.2. und Fr. 18.2.: 19 Uhr, Monbijoustr. 61 Bern

Interview mit Jörg Studer: hier
http://www.aufbau.org/index.php?option=content&task=view&id=997

Material:
Petition unterschreiben
http://www.aufbau.org/images/stories/flugis/Unterschriften%20Sammlung%2020110216.pdf
Interview mit Jörg Studer
http://www.aufbau.org/index.php?option=content&task=view&id=997
Solidaritätserklärungen
http://www.aufbau.org/index.php?option=content&task=view&id=998
Facebook
http://www.facebook.com/home.php#!/profile.php?id=100000686057575&sk=wall
Hintergründe und aktuelles
http://www.aufbau.org/index.php?option=com_content&task=view&id=996&Itemid=109
Solikomitee gegründet (17.2.)
http://www.aufbau.org/index.php?option=com_content&task=view&id=996&Itemid=109
Absetzung des Streikkomitees Bellinzona
http://www.aufbau.org/index.php?option=com_content&task=view&id=638&Itemid=111

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Bern, den 17.2.2011

Nationales Komitee von solidarischen Unia-Mitarbeitenden gegründet - Diskussion über notwendige Veränderungen in unserer Gewerkschaft lanciert

Kolleginnen und Kollegen aus den Sektionen/Regionen Biel-Seeland, Basel, Solothurn, Aargau und Oberwallis haben sich heute Nachmittag an einem Streiktreffen in Bern zusammengefunden. Solidaritätserklärungen aus Zürich-Schaffhausen und anderen Regionen trafen schriftlich ein. Delegierte aus den verschiedenen Regionen haben ihre Arbeit aufgenommen, um die Streikaktivitäten zu verstärken. Die Liste der Delegierten ist zum Zeitpunkt dieser Mitteilung unvollständig. Weitere Sektionen werden ihre Teilnahme dem Komitee mitteilen.

Ziel der Delegierten dieses Komitees ist die politischen Hintergründe der Streikaktivitäten herauszuarbeiten und entsprechende Vorschläge zu formulieren. Natürlich werden die zwei Hauptforderungen der Sektionen Bern und OAE unterstützt und die sofortige und bedingungslose Erfüllung gefordert. Wir halten unmissverständlich fest, dass unser Hauptanliegen nicht die personenbezogenen Konflikte betreffen, sondern das Umfeld, in dem diese stattfinden. Sie stehen als Stellvertretung von vielen ähnlichen Konflikten (Verwarnungen, Mobbing, Kündigungen), die seit Jahren unsere Organisation prägen. Es sind grundsätzliche gewerkschaftliche Problemfelder, die wir bisher ungelöst vor uns herschieben. Deshalb ist der Konflikt in Bern einer der vielen Angriffe auf Mitglieder und Beschäftigten der Unia.

Wir verurteilen autoritäre und repressive Massnahmen gegen Mitarbeitende und gegen die Personalkommission. Klar ist auch, dass der Druck auf die Mitarbeitenden ständig gewachsen und teilweise unerträglich geworden ist. Wenn die Ziele immer höher und unrealistischer gesteckt werden, führt dies zu einer permanenten Überlastung der Mitarbeitenden. Die Führung von oben rein durch Vorgaben der Mitgliederzahlen und viele gleichzeitig stattfindenden Kampagnen bringen eine gewerkschaftsfeindliche Kultur innerhalb der Unia hervor. Die Mitglieder und Beschäftigten haben nichts zu sagen, sondern lediglich die Ziele zu erfüllen. Die Ressourcen reichen jedenfalls nicht für die Erfüllung der gestellten Ziele vor.

Wir verurteilen die verleumderische Darstellung des Konfliktes der nationalen GL und des Präsidiums, wonach sie die Eskalation des Konflikts den Streikenden zuschieben. Es war die GL, die diese Medienkampagne losgetreten hat. Die Streikenden waren hingegen gezwungen, öffentlich darauf zu reagieren. Es kann aber auch nicht unser Ziel sein, dass wir gewerkschaftsinterne Konflikte öffentlich austragen. Wir fordern Massnahmen, den Konflikt mit internen Mitteln anzugehen.

Zudem ist es inakzeptabel, dass offensichtlich in verschiedenen Sektionen versucht wird, Kolleginnen und Kollegen von einer aktiven Solidarisierung abzuhalten. Das Gegenteil stellen wir hier fest: Wir freuen uns über die grosse Mobilisierungskraft.

Wir fordern Kolleginnen und Kollegen von bisher unbeteiligten Regionen auf, sich zu informieren, sich einzubringen und sich zu solidarisieren. Wir haben eine Informationskampagne lanciert, durch die wir mit den Vertrauensleuten eine Diskussion über die inhaltliche Ausrichtung der angewendeten Methoden der Unia führen wollen. Denn das Vertrauensleuteprojekt widerspricht diametral dem, was wir momentan innerhalb der Unia erleben. Wenn es darum geht, mit kritischen Meinungen der VL konfrontiert zu sein, werden sie nicht ernst genommen. Deshalb fordern wir alle: Eine Unia von unten!

Die Delegierten der Sektionen/Regionen Basel, Solothurn, Biel-Seeland, Aargau und Oberwallis

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Soliaufruf der Streikenden. 17. Feb.:

Liebe Kolleginnen und Kollegen

Herzlichen Dank für die zahlreichen Solidaritätsbezeichnungen, welche heute bereits bei uns eingegangen sind!

Die vielen solidarischen Reaktionen von Basismitgliedern und Mitarbeitenden aus den verschiedensten Sektionen und Regionen zeigen uns, dass es sich bei diesem Konflikt um grundsätzliche Fragen in der Unia handelt: Was für eine Gewerkschaft wollen wir? Wollen wir, dass eine hierarchische Geschäftsleitung mit neoliberalen und autoritären Methoden über die Basis und die Mitarbeitenden hinweg ihre Marschrichtung vorgibt, oder wollen wir eine Gewerkschaftsbewegung, die tatsächlich von unseren Mitgliedern getragen wird? Für uns ist die Antwort klar: wir wollen eine Gewerkschaft, die von unten getragen wird!

In der Beilage findet ihr eine Petition mit unseren Forderungen. Bitte unterschreiben, die ArbeitskollegInnen zum unterschreiben motivieren und an uns zurück schicken!

Ausserdem: Donnerstag und Freitag um 19h finden an der Monbijoustr. 61 in Bern Versammlungen statt, zu der alle solidarischen Leute eingeladen sind.

Mit kollegialen Grüssen

Das Personal der Sektionen Bern und Oberaargau-Emmental

Für weitere Informationen:
Jörg Andres (  joerg.andres@unia.ch), Elise Gerber Perez (elise.gerber@unia), Nazmi Jakurti (nazmi.jakurti@unia.ch), Cihan Apaydin (cihan.apaydin@unia.ch) oder euch bekannte KollegInnen.  

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Erklärung der bestreikten Unia-Geschäftsleitung

Woche 7, 17. Februar 2011

Nach dem Leitungswechsel in der Sektion Bern hat ein Teil der Belegschaft der Unia Region Bern die Arbeit niedergelegt. Nun wird der Konflikt von ihnen leider bewusst eskaliert und heute mit einer Medienkonferenz an eine breite Öffentlichkeit getragen.

Hintergründe zum Leitungswechsel in der Unia Sektion Bern

Im Sommer 2009 wurden Natalie Imboden und Udo Michel von den Delegierten der Region Bern, der nationalen Geschäftleitung und der nationalen Delegiertenversammlung als neue Regionsleitung gewählt. Der Leiter der Unia Sektion Bern Roland Herzog hat die gewählte Regionsleitung und seine direkte Vorgesetzte Natalie Imboden von Anfang an nicht akzeptiert. Konkret verweigerte er wiederholt:

- Einladungen, Protokolle und Informationen des Sektionsvorstand sowie von Teamsitzungen an die Regio-Leitung weiterzuleiten,

- Beschlüsse der Regions-Geschäftsleitung (deren Mitglied der Sektionsleiter auch ist) umzusetzen und über wichtige Projekte innerhalb der Sektion zu informieren sowie

- die vorgesetzte Regionsleitung über Strategie und Entscheide in heiklen Kampagnensituationen zu informieren (z.B. Schliessung Kartonfabrik Deisswil).

Damit verstiess der Sektionsleiter nicht nur systematisch gegen gültige Reglemente und Kompetenzregelungen in der Unia sondern auch gegen explizite Abmachungen, welche er gegenüber der Regio-Leitung eingegangen war. Weder mündlich noch schriftliche Ermahnungen noch ein Gespräch mit den Co-Präsidenten der Gewerkschaft Unia führten zu einer Verbesserung.

Die Verweigerungs- und Blockadehaltung gegenüber der Regio-Leitung erschwerte nicht nur deren tagtägliche Arbeit massiv. Sie führte zudem dazu, dass die Sektion Bern sich aus zentralen - von den Gremien beschlossenen - Unia-Kampagnen ausgeklinkt hat. So hat es die Sektion Bern bisher noch nicht einmal geschafft einen Verantwortlichen für die laufende Mindestlohn-Kampagne zu benennen. Ähnlich passiv verhält sich die Sektionsleitung bei anderen zentralen Kampagnen.

Diese besorgniserregende Entwicklung haben das Co-Präsidium der Gewerkschaft Unia sowie die Regionsleitung dazu bewogen, den in nächster Zeit sowieso anstehenden Leitungswechsel in der Sektion Bern vorzuziehen und Roland Herzog zu versetzen bzw. auf der Unia-Zentrale anzugliedern. Zusammen mit den zuständigen Gremien wollen sie für die Sektion möglichst bald eine breit abgestützte Nachfolgelösung suchen, damit die Sektion zu einem normalen Funktionieren zurückfinden und ihre Aufgaben als Gewerkschaft erfüllen kann.

Bedauerliche Eskalationsstrategie

Am Mittwoch 16. Februar luden Co-Präsident Renzo Ambrosetti und der Personalverantwortliche Michael von Felten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Sektion Bern auf 09 Uhr zu einer Personalinformation ein. Diese fand mit einer Minderheit der Beschäftigten statt. Die Protestierenden nahmen daran nicht teil. Sie verlangten ultimativ die Rücknahme des Versetzungs-Entscheids und drohten mit einem Streik. Die Unia-GL machte klar, dass sie zu Gesprächen bereit ist, aber keine Ultimaten akzeptieren kann und lud zu einem weiteren Termin auf 14 Uhr ein. Um 13.30 lehnte die Gruppe um Roland Herzog dieses Gesprächsangebot ab und erklärte, das Personal der Sektionen Bern und Oberaargau/Emental befände sich im Streik. Zudem kündeten sie ein Mediencommunique auf 16 Uhr an, falls die GL den Versetzungsentscheid (und eine mit diesem Fall nicht zusammenhängende Verwarnung) nicht zurücknehme.

Diesem Ultimatum konnte die GL nicht entsprechen. Heute Vormittag haben die Protestierenden eine Medienkonferenz in Bern angekündigt, mit der sie für noch mehr Medienaufmerksamkeit sorgen will.

Angesichts der Eskalationsstrategie bleibt der Unia-Leitung leider nichts anderes übrig, als die Gründe für ihren Entscheid auch gegen aussen zu nennen und gegenüber den Medien Stellung zu nehmen. Für die Medien ist dies alles natürlich attraktiv. Die Unia als ganzes wird davon leider massiven Schaden tragen. Ein Teil der Unia-Mitarbeitenden nimmt dies offensichtlich in Kauf. Das ist sehr bedauerlich. Die Leidtragenden sind letztlich unsere Mitglieder und die vielen Menschen, welche ihre Hoffnungen in eine starke Unia setzen. Wir appellieren an alle Beteiligten, dies trotz der Eskalation dieses Konfliktes nicht aus den Augen zu verlieren.

Co-Präsidium der Gewerkschaft Unia

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Erklärung der Streikenden

Hintergrund. Mail vom 16. Feb:

Woche 7, 16. Februar 2011

a.. Vorgezogener Leitungswechsel in der Unia Sektion Bern
b.. Gesprächsangebot der Geschäftsleitung
c.. Gespräch mit Personalkommission angesetzt - Verwarnung bereits gestern sistiert
d.. Arbeitsniederlegung des Gewerkschaftspersonals der Sektionen Bern und Oberaargau-Emmental
 
Vorgezogener Leitungswechsel in der Unia Sektion Bern

An der gestrigen Sitzung der nationalen Geschäftsleitung mit dem Sektionsleiter der Sektion Bern wurde Roland Herzog (Duke) darüber informiert, dass er ab sofort die Leitung der Sektion Bern abgeben muss. Diese willkürliche Entscheidung der nationalen Leitung akzeptiert weder die Basis noch das Personal der Sektionen Bern und Oberaargau-Emmental! Solche Machtspiele sind einer Gewerkschaft unwürdig und dürfen nicht auf dem Rücken der Mitglieder und des Personals ausgetragen werden.

Die gesamte Auseinandersetzung zwischen den Mitarbeitenden der Sektion Bern / Sektion Oberaargau-Emmental und der regionalen und nationalen Leitung zieht sich bereits über ein Jahr hin. Es gab in verschiedenen Punkten Konflikte, die das Vertrauen zwischen den einzelnen Gremien aus der Basis (Sektionsvorständen, Regio-Vorständen usw.), dem Personal und der Regio-Leitung aufs Massivste gestört haben. Weder die regionale noch die nationale Leitung haben wirklich versucht, dieses Problem zusammen mit uns zu lösen. Es wurden uns immer wieder leere Versprechungen gemacht.

Die Begründungen, die zur Absetzung von Roland Herzog führten, sind fadenscheinig. Das Ziel ist eine Machtkonzentration in der Region bzw. bei der Regio-Leitung. Die Sektionen und die Basis sollen so geschwächt werden. Dies können wir unter keinen Umständen dulden!

Gesprächsangebot der Geschäftsleitung

Heute Morgen war das Personal der Sektionen Bern und Oberaargau-Emmental, mit einigen wenigen Ausnahmen, in der Zentrale, um den tagenden Zentralvorstandsmitgliedern mit einer Protestaktion klar die beiden aufgestellten Forderungen zu kommunizieren (siehe Mailkopie im Anhang).

Gespräch mit der Personalkommission angesetzt - Verwarnung gestern sistiert???

Wir haben uns in den letzten 12 Monaten zu oft in fruchtlose Diskussionen verstricken und uns mit leeren Versprechen abspeisen lassen! Das Mass ist voll!

Die Verwarnung vom Co-Päsidenten der nationalen Personalkommission ist weder für die Gremien der Sektionen noch für das gesamte Personal der beiden Sektion nachvollziehbar. Ausserdem ist für uns sehr fragwürdig, was eine "sistierte" Verwarnung genau bedeutet. Entweder wird eine Verwarnung zurückgezogen, oder nicht! Das ist arbeitsrechtlicher Unsinn!!!

DIE SEKTIONEN BERN UND OBERAARGAU-EMMENTAL HABEN HEUTE MITTAG UM 11:00 UHR DIE ARBEIT AUF UNBESTIMMTE ZEIT NIEDERGELEGT!

DIE GESCHÄFTSLEITUNG WURDE DARÜBER INFORMIERT. DIESE TATSACHE HAT DIE NATIONALE GESCHÄFTSLEITUNG VERSCHWIEGEN. DIES SPRICHT FÜR SICH.

WIR RUFEN SÄMTLICHE MITARBEITENDEN DER GESAMTEN UNIA SCHWEIZ AUF, SICH MIT UNS ZU SOLIDARISIEREN UND UNS ZU UNTERSTÜTZEN!


Kontaktinformationen

Personalkommission der Sektionen Bern und Oberaargau-Emmental

Cihan Apaydin
078 852 33 12  
Elise Gerber
079 339 39 75
Perez Nazmi Jakurti
079 278 20 65
Jörg Andres
079 751 61 60

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http://www.aufbau.org/index.php?option=content&task=view&id=997

"Ich bin stolz auf die streikenden Sekretäre"

Thursday, 17. February 2011

STREIKENDE FUNKTIONÄRE Die Unia-Sektionen Bern und Oberaargau-Emmental bestreiken die Unia-Geschäftsleitung. Damit bringen sie etwas aufs Tablett, was schon lange rumort. Wir haben mit Jörg Studer (Präsident der Unia Nordwest-Schweiz und Personlakomissions-Präsident bei Clariant) über die Situation gesprochen. Weitere Hintergründe gibt es unter www.aufbau.org.

Die streikenden SekretärInnen protestieren seit dem 16. Februar in erster Linie gegen die Absetzung des Sektionsleiters und gegen die Verwarnung der Personalkomissionsvertreter der SekretärInnen durch die nationale Unia-Geschäftsleitung. Hinter dem Konflikt stehen aber auch unterschiedliche Vorstellungen über die Gewerkschaftspolitik. Die Streikenden fordern eine "Gewerkschaft von unten".

Du warst gestern in Bern, die Streikenden besuchen. Wie war das für Dich?

J: Ich muss sagen, ich war begeistert, als ich die erste Meldung gelesen haben. Ich haben dann sofort alle Kontaktadressen durchtelefoniert und wusste "Dort muss ich hin". Ich bin mit einer riesen Freude nach Bern gefahren. Endlich entwickelt sich dieser Apparat, das sind für die Gewerkschaft revolutionäre Zeiten. Schon viel zu lange hat die Basis nichts mehr zu sagen. Jetzt stehen Leute auf gegen die Direktiven von oben, gegen die Apparatschicks. Ich unterstütze Herzog und den Personlakomissions-Vertreter voll und ganz,

In Bern habe ich gestaunt. Die Sache ist dort super organisiert. So wie die Kollegen, Sekretäre und Leute von der Basis, miteinander diskutiert haben, Streikposten und Medienmitteilungen zusammen besprochen haben, niemand fällt dem anderen ins Wort. Ich habe endlich wieder das Gefühlt gehabt "Das ist wieder meine Gewerkschaft". Das hat mir saumässig gut getan.

Als ich ankam, sah ich an der Türe einige Basler Sekretäre. Sie waren auch schon dort. Das, was die Berner machen, betrifft viele in der ganzen Schweiz. Viele Leute sind extrem sauer auf die nationale Leitung der Unia. Und ich kann das verstehen. Es hat lange gedauert, aber jetzt ist diese Wut ausgebrochen. In jeder Sektion werden jetzt Versammlungen einberufen. Ich hoffe, dass der Kampf überschwappen wird auf andere Sektionen. Ich habe die Hoffnung, dass sich die Gewerkschaft wieder zurückorientiert zur Basis.

Ich muss sagen, ich hätte nicht gedacht, dass so etwas noch passiert in der Unia. Endlich bewegen sich die kritischen Leute nicht mehr alleine.

Wieso hättest Du das nicht gedacht?

J: Ich bin seit ich 16 Jahre alt bin ein Gewerkschaftsmitglied. Bei der GBI hat man noch gespürt, dass die Basis etwas zu sagen hat. Aber heute bin ich in der Unia in Basel das einzige Basismitglied in der Geschäftsleitung. Das ist ein gefährliches Zeichen, das spüre ich, das kommt nicht gut.

Am letzten ausserordentlichen Unia-Kongress in Laussanne hätten die Vertrauensleute gestärkt werden sollen. Mir persönlich war es ein grosses Anliegen, dass zum Beispiel der Zentralvorstand wieder mit Milizleuten besetzt wird. Das ist heute nur noch ein Profiapparat. Aber wir haben die Abstimmung verloren. Nun, es ist klar, "Demokratie" kann man steuern. Für mich persönlich war das noch mal ein weiteres sehr schlechtes Zeichen für den Apparat und ich war der Überzeugung "Shit. Da wird sich nichts mehr bewegen, da geht nichts mehr". Deshalb bin ich jetzt so erfreut, ja ich bin voller Emotionen, dass plötzlich doch noch Leute aufstehen und etwas ändern wollen.

Die Sekretäre in Bern wollen, dass die Basis wieder das Sagen hat und nicht vom Apparat alles vorgespurt bekommt. Dass die Vorstände und Delegiertenversammlungen, welche die Basis repräsentieren, wieder ernstgenommen werden. Wir, die Milizleute, kommen aus den Betrieben heraus. Ich verstehe schon, dass wir deshalb nicht immer das Know-How haben, vielleicht nicht so gut im Schreiben sind, etwas länger haben, um Abläufe zu verstehen. Das ist klar. Für die Profis im Apparat ist es dann mühsam, mit der Basis noch Extrasitzungen zu machen. So übergehen sie uns. Aber es geht nicht, dass dann die Profis im Apparat und einfach auf die Seite schieben. Für mich ist klar, dass es zu Job von Sekretären gehört, eben die Basis zu schulen, damit wir eben solche Sachen lernen. Man kann doch nicht einfach mit einer Erwartungshaltung an die Basis herantreten, die müssten alles schon können, und wenn nicht, dann übergeht man sie.

Die Gewerkschaft muss wieder zurück zur Basis. Es ist höchste Zeit. Wenn wir das jetzt nicht schaffen, dann ist die Unia bald ein Scherbenhaufen wie in England. Nur mit dem Unterschied dann, dass nicht eine Thatcher uns kaputt gemacht hat, sondern die eigene Leitung.

Die streikenden Sekretäre sprechen von allgemeineren Tendenzen gegen die sie protestieren. Kannst Du uns das erklären?

J: Ja, ich war gestern dabei, als wir den Brief zum Solidaritätsaufruf besprochen haben. Dort wurden die Unia-Methoden als neoliberal bezeichnet. Da bin ich erschrocken und habe gemerkt "Ja, da stimmt, so wie das zur Zeit in der Gewerkschaft funktioniert, das ist neoliberal". Die Streikenden sagen, man müsse zurück zur Basis. Dann muss man aber aufhören mit der Wunschvorstellung, dass jeder Funktionär 400 Mitglieder pro Monat werben soll. Ich weiss schon, dass die Mitgliederzahl zentral ist. Aber man darf nicht alles darauf setzen. Wenn wir eine gestärkte Basis haben, die eben glaubwürdig ist, dann gibt es automatisch auch richtige Aufnahmen.

Und natürlich geht es auch um Machtkämpfe in Bern. Die kennen wir auch von uns, bei Clariant. Dort hätten wir eigentlich einen klaren Gegner, nämlich den Unternehmer, gehabt. Aber die internen Machtkämpfe im Apparat haben mich persönlich aufgerieben. Das hätte ich vorher nie gedacht, da war ich blauäugig. Der Apparat hat nicht mitgekämpft. Was da abgelaufen ist, war und ist ein Skandal und hanebüchern.

Sobald wir mit Basisleuten mehr machen wollten, wurden wir von oben gestoppt. Und wenn man als Basismitglied es dann wagt, die Führung zu überspringen, dann wird man knallhart kaltgestellt und ins Offsite gedrängt. Das haben wir selber erfahren müssen, als wir das Konsultationsverfahren bei Clariant anfechten wollten. Wir haben dann sogar im Betrieb Unterschriften gesammelt, um unsere Interessen als Unia-Mitglieder gegen das Regionalsekretariat der Unia Nordwestschweiz durchzusetzen. Das ist hart für ein überzeugtes Gewerkschaftsmitglied. Aber wir müssen auch intern kämpfen. Wir müssen am Morgen in den Spiegel schauen können, und deshalb müssen wir immer alles geben.

Und deshalb bin ich sehr stolz auf die streikenden Sekretäre in Bern. Sie riskieren bewusst ihre Kündigung, aber sie ziehen es durch. Das sind top Leute. Ich sage immer "Man kann viele Sitzungen und Verhandlungen machen, aber wenn es dampft, dann muss man den Willen haben, auch gegen den eigenen Chef vorzugehen".

Es sei mal dahingestellt, wie dieser Kampf ausgeht. Aber sicherlich schützt die Öffentlichkeit zur Zeit die Streikenden. Was ist nachher, wie können sie sich vor der nationalen Geschäftsleitung schützen? Wir erinnern daran, dass das Streikkomitee GiuLeMani - kaum war es nicht mehr im Fokus der Öffentlichkeit - auch abgesägt und bestraft wurde. Da ist die Leitung kaltblütig.

Die Sekretäre lassen sich jetzt von der VPOD vertreten. Das Risiko besteht natürlich immer, dass nach dem Erfolg die Leute kaltgestellt werden. Vielleicht sitzt die Geschäftsleitung den Streik mal aus, gibt nach und in einem werden dann die Leute versetzt oder gekündet. Dann müssen sie einfach wieder von vorne starten. Aber die Sache hat jetzt schon hohe Wellen geworfen und etwas bewirkt. Nur schon bei mir. Es ist für mich das erste Mal, dass so etwas passiert, und das gibt Leuten wie mir wieder Hoffnung.

Die Leitung wäre wirklich gut beraten, wenn sie jetzt die Chance nutzt und mit offenen Ohren und ohne jegliche Sanktionen mit den Leuten zusammenhockt und gemeinsam schaut, was für Fehler gemacht worden sind. Das muss echt und transparent geschehen, nicht nur einfach zum Schein. Und wir alle müssen natürlich ein Auge darauf behalten, dass es jetzt wirklich mal eine Änderung gibt.

Seit es die Unia gibt, wird von "Stärkung der inneren Demokratie" gesprochen. Wieso kommt dieses Thema immer wieder auf, wenn doch von der Führung ganz offensichtlich kein Interesse daran besteht?

J: Wie gesagt, Demokratie kann man leicht steuern. Das Problem liegt tiefer. Es gibt Sekretäre, denen ist die Basis wichtig. Die fördern die Vertrauensleute, kritisch zu sein und mitzudenken. Das sind auch die, die dann wirklich die funktionierendsten und stärksten Sektionen haben. Aber ganz vielen Sekretären ist das nicht wichtig. Die suchen einfach irgendeinen einen Job und finden ihn bei der Unia. Die sind dann gar nicht politisch und haben auch keine Ahnung. Natürlich könnte man das auch lernen in der Unia, aber das scheint nicht gewollt von oben. Vor allem aber braucht ein ein gewisses Mass an politischem Grundverständnis, wenn man Sekretär werden will.

Und da muss ich als Basis-Mann feststellen, dass der Mix nicht mehr stimmt. Früher hat man Leute aus dem Betrieb, aus der Basis aufgebaut und als Sekretäre angestellt. Die hatten dieses Grundverständnis. Heute stellt man irgendwelche Leute ein. Natürlich bruacht es auch Studierte und Intellektuelle, aber es braucht eben auch Leute, die mal im Betrieb gearbeitet haben und wissen, wovon sie sprechen. Dieser Mix stimmt schon zu lange nicht mehr. Ich habe das Gefühl, bei der GBI war das noch besser, das kann ich aber nicht belegen.


Schon immer sehen wir ja gute Leute in der Gewerkschaft, die verheizt werden und dann gehen. Deshalb haben wir immer wieder Ansätze unterstützt, dass sich kritische Funktionäre vernetzen. Das letzte grössere Projekt war das "Netzwerk für eine kämpferische ArbeiterInnenbewegung", welches aus dem Officine-Streik entstanden ist. Könnte dieser Kampf jetzt eine solche Vernetzung voranbringen?

Ansätze von Vernetzung gibt es ja. Überall wird gesprochen. Aber ob die dann halten, ist die Frage. Die Führung wird schauen, dass es den kritischen Sekretären nicht gelingt, sobald sie zu mächtig werden. Sie werden dann die Leute in Einzelgesprächen bearbeiten. Und wenn sich ein Sekretär versucht, auch mit Leuten ausserhalb der Gewerkschaft, zu vernetzen, dann wird er an die Kandarre genommen und diszipliniert. Mir kommt das alles vor wie in einer ganz normalen Firma. Aber die Gewerkschaft kann man nicht einfach leiten wie eine Firma.

Aber in Bern wurde gestern ein Signal gesetzt. Und wenn ich es vergleiche mit den Revolten in den arabischen Ländern, so denke ich auch hier: Viele sagen "Es längt". Die Berner tun, was wir uns schon lange wünschen. Und ich hoffe, dass sich das ausdehnt auf andere Sektionen.

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RABE-INFO
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Mo. 28.Februar 2011
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- Verbot von Zwangsehen- Terre des Femmes kritisiert bundesrätliche Vorschläge
- Wir brauchen ein alternatives Lokalradio- RaBe Pionier Willi Egloff ist Kopf der Woche

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Fr. 25. Februar 2011
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- Thomas Fuchs (SVP) oder Nadine Masshardt (SP)? - Bei der Ständeratsausmarchung geht es auch um eine Nationalratswahl
- Queer Football Fanclubs - die grösste Homosexuellenvereinigung im Fußballfanbereich übt harsche Kritik an der FIFA wegen Katar 2022
- In unserer Serie zum 15. Geburtstag von Radio RaBe:
Käbeli, Schalterli und Mikrofönli - Revolutionen in der Radiotechnik

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Do. 24. Februar 2011
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- Zwischen Hoffnung und Verzweiflung - Lybien-Demo in Bern
- Mehr getötete FussgängerInnen auf Schweizer Strassen - Mittelinseln könnten Leben retten
- Serie zum 15-jährigen Geburtstag von Radio RaBe:
- Staatsgefährdend und ein Konglomerat von nicht gesellschaftskonformen Menschen - Wie das Radioabenteuer begann

Links:
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Mi. 23. Februar 2011
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- Wird der Datenschutz unterwandert? - Referendum gegen Sozialhilfegesetz ergriffen
- Wie kann es passieren, dass eine ganze Generation für eine Handvoll Spekulanten zahlen muss? - Was wir von der Finanzkrise lernen könnten
- Was wir uns zum runden Geburtstag wünschen? RaBe wird 15jährig - ModeratorInnen über ihr Radio

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Di. 22. Februar 2011
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- Novartis Generalversammlung: AktionärInnen auf KOnfrontationskurs
- Deutsch für Fremdsrachige: zu wenig Mundartkurse
- Schweiz und Geld: Bankengeheimnis weicht sich auf

Links:
http://www.actares.ch/D/framesetD.htm
http://www.kommunikation.unibe.ch/content/medien/medienmitteilungen/news/2011/sprachpolitik/

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Mo. 21. Februar 2011
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- Vom Aussterben bedroht- die Seeforelle ist der Fisch des Jahres
- Kampf für Unabhängigkeit- die Jugendorganisation SEGI will ein sozialistisches Baskenland

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Fr. 18. Februar 2011
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- Die ägyptische Armee - als schützende Kraft der Demonstranten gefeiert - soll Regierungsgegner gefoltert haben
- Frauenbilder, Rollenbilder und wie man sich am besten vernetzt: Damit beschäftigt sich die Frauenvernetzungswerkstatt
- Moi c`est moi: Der Film über Hoffnung, Vertrauen und Freundschaft in Bern West feiert nächste Woche Premiere  

Links:
http://www.frauenvernetzungswerkstatt.ch

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KULTUR-MILLIONEN
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Bnnd 26.2.11

Pulver will für Stabilität in der Kultur sorgen

 Die Kulturförderung im Kanton Bern wird auf eine neue Basis gestellt.

 Wie soll der Kanton Bern künftig seine rund 50 Millionen Franken an Kultursubventionen verteilen? Bernhard Pulver beantwortete diese Frage gestern mit einem neuen Kulturförderungsgesetz. "Es bringt keine Revolution", sagte der Kulturdirektor. Für die kulturellen Abenteuer seien die Kulturschaffenden zuständig, er seinerseits wolle für Stabilität und Kontinuität in der Kulturförderung sorgen. Einige Veränderungen wird es aber dennoch geben. So will der Kanton zum alleinigen Subventionsgeber der national bedeutenden Institutionen Zentrum Paul Klee, Kunstmuseum Bern und Freilichtmuseum Ballenberg werden. Bei der Finanzierung der Kulturanbieter von regionaler Bedeutung werden die Regionsgemeinden stärker mit einbezogen. Künftig müssen sich alle Gemeinden am Kulturangebot ihres regionalen Zentrums beteiligen. Unter dem Strich wird es aber nicht mehr Geld für die Kultur geben, machte Pulver gestern klar. "In der derzeitigen finanzpolitischen Lage können wir froh sein, wenn wir das aktuelle Angebot aufrechterhalten können. Doch gute Ideen hängen nicht nur am Geld."(rw) - Seite 25

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"Gute Ideen hängen nicht nur am Geld"

 Mut und Abenteuerlust seien nicht beim Gesetzgeber, sondern bei den Kulturschaffenden gefragt, sagt Kulturdirektor Bernhard Pulver. Gestern zeigte er auf, wie er künftig die Kultur fördern will.

 Interview: Reto Wissmann

 Herr Pulver, welches subventionierte Kulturangebot haben Sie als Letztes genossen?

 Die James-Cook-Ausstellung im Historischen Museum Bern.

 Der Kanton Bern fällt bezüglich Kulturausgaben im Vergleich zu anderen grossen Kantonen ab. Wie beurteilen Sie das Angebot aus der Sicht des Kulturkonsumenten?

 Insgesamt als sehr gut und vielfältig.

 Und aus Sicht des Politikers?

 Als Kulturdirektor würde ich gerne noch viel mehr tun für die Kultur. Manchmal staune ich, wie schwer es Kulturausgaben in den politischen Gremien haben. Schliesslich ist es etwas vom Essenziellsten im Leben, sich mit Kunst auseinanderzusetzen. Finanzpolitisch sind wir aber tatsächlich nicht in der Lage, ganz vorne mitzumischen. Doch gute Ideen hängen nicht nur am Geld.

 Konkret heisst das: Mehr Geld für die Kultur wird es nicht geben.

 Ja, ich sehe derzeit nicht, dass wir den Kulturetat aufstocken können. Es gibt zwar noch einige Finanzierungslücken zu schliessen, etwa beim Zentrum Paul Klee. In der derzeitigen Lage können wir aber froh sein, wenn wir das aktuelle Angebot aufrechterhalten können.

 Mit dem neuen Kulturförderungsgesetz stellen Sie das ganze Kulturangebot auf eine neue Basis. Wird das der Konsument merken?

 Wir wollen zum Beispiel die Kulturvermittlung ausbauen, was vor allem die kleinen Kulturkonsumenten merken werden. Ansonsten ändert gegen aussen wenig. Wir sichern jedoch das aktuelle kulturelle Angebot ab - was für den Konsumenten auch schon etwas ist.

 Bringt das neue Gesetz denn den Kulturtreibenden und den Kulturinstitutionen etwas?

 Ja, hier ändert sich mehr. Wir haben beispielsweise die Kriterien geklärt, nach denen wir Unterstützungsbeiträge vergeben, und wir verbessern die soziale Sicherheit der Kulturschaffenden. Ausserdem vereinfachen wir die Steuerung der Institutionen.

 Kritiker bemängeln, die neue Kulturförderung sei nicht innovativ und setze keine Schwerpunkte.

 Ich will eine stabile und gute Basis für die Förderung legen, dies ist tatsächlich nicht sehr aufregend. Mut und Abenteuerlust sind bei den Kulturschaffenden gefragt. Ich bin nicht derjenige, der kulturelle Abenteuer auslösen soll, sondern ich versuche, Stabilität zu garantieren.

 Sie sagen es selber: Das neue Gesetz ist nicht sehr aufregend. Dennoch war es eine ziemliche Zangengeburt, an der sich schon Ihr Vorgänger Mario Annoni versucht hatte. Warum ist das so schwierig?

 Das Verhältnis zwischen Politik und Kultur ist sehr spannungsgeladen. Das hat auch mit der Rolle der Kultur zu tun, die uns infrage stellen und herausfordern soll. Ausserdem gibt es vonseiten der Politik ein gewisses Misstrauen, dass die Kulturinstitutionen zu wenig betriebswirtschaftlich denken. Wir haben in den letzten Jahren daran gearbeitet, das Verhältnis zwischen Kultur und Politik zu klären und Vertrauen zu schaffen - sind aber immer noch nicht am Ziel.

 Es gilt auch Misstrauen abzubauen, wonach die Politik lediglich Kultur unterstützt, die von einem Teil der Bevölkerung als "elitär" bezeichnet wird. Bringt das neue Gesetz auch der Volks- und Laienkultur etwas?

 Das ist eine alte, aber nichtsdestotrotz berechtigte Diskussion. Der grösste Teil der Gelder geht an die grossen, etablierten Institutionen. Es gibt aber auch sehr viel Unterstützung für Volks- und Laienkultur. Ein gewisser professioneller Anspruch ist aber Voraussetzung. Daran halten wir auf jeden Fall fest.

 Der Kanton subventioniert künftig das Zentrum Paul Klee, das Kunstmuseum Bern und das Freilichtmuseum Ballenberg alleine. Die anderen müssen sich weiter mit mehreren Geldgebern abmühen. Entsteht eine Zweiklassengesellschaft?

 Teilweise ja. Die drei Institutionen mit nationaler Ausstrahlung erhalten eine einfachere Steuerung. Für die anderen verbessert sich diesbezüglich wenig. Bei der Unterscheidung in nationale und regionale Institutionen geht es aber nicht um die Qualität des Angebots, sondern um die geografische Ausstrahlung.

 Wie wollen Sie Ihren Spielraum bei den einmaligen Unterstützungsbeiträgen künftig nutzen?

 Wir wollen vermehrt Akzente setzen. Im Bereich Tanz- und Theaterpädagogik haben wir dies bereits gemacht. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Filmförderung. Damit können wir das reiche Filmschaffen im Kanton Bern erhalten.

 Kulturvermittlung für Kinder und Jugendliche liegt Ihnen offenbar am Herzen. Der Grosse Rat hat jedoch Ihr Projekt Bildung und Kultur massiv zusammengestrichen. Bleibt dennoch etwas übrig?

 Auf jeden Fall. Das Projekt Bildung und Kultur bringt den Schulen sehr viel. Und im Rahmen der Kulturförderung werden Museen, Theater oder Orchester im Kanton Bern angehalten, Kulturvermittlungsprojekte auszuarbeiten.

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Wer bekommt Geld?

 Der Kanton Bern unterstützt die Kultur jährlich mit rund50 Millionen Franken. Gut 6 Millionen gehen als einmalige Beiträge an kulturelle Projekte oder direkt an Kulturschaffende. 11 Millionen fliessen an die Musikschulen, und gut 2 Millionen Franken erhalten die Regionalbibliotheken. Der grösste Teil der Gelder fliesst jedoch in Form von regelmässigen Subventionen an Kulturinstitutionen in den städtischen Zentren. 2007 waren dies knapp 32 Millionen.

 Welche Institutionen nach Inkrafttreten des neuen Kulturförderungsgesetzes unterstützt werden, ist noch nicht klar. Es ist jedoch davon auszugehen, dass sich an der heutigen Liste wenig ändern wird. Vollständig durch den Kanton subventioniert werden künftig dasZentrum Paul Klee, das Kunstmuseum Bern sowie das Freilichtmuseum Ballenberg. Von Kanton, Standortgemeinde, Regionsgemeinden sowie allenfalls weiteren Trägern werden andere grosse Kulturstätten wie das Historische Museum Bern, das Stadttheater Bern oder die Dampfzentrale unterstützt. Kleinere Institutionen mit eher lokaler Bedeutung, wie etwa das Theater Tojo oder das Berner Kammerorchester, bekommen kein Geld vom Kantonund sind auf die Unterstützung ihrer Standortgemeinde angewiesen. (rw)

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BZ 26.2.11

Alle sollen künftig zahlen

 KulturpolitikNächste Woche geht das kantonale Kulturförderungsgesetz in die Vernehmlassung. Künftig soll sich jede Gemeinde an den Kulturausgaben beteiligen.

 Es sei ein pragmatisches Kulturförderungsgesetz, sagte gestern Regierungsrat Bernhard Pulver vor den Medien. Überraschungen birgt es keine, aber dennoch einige Neuerungen. Einerseits werden die Aufgaben der Subventionsträger entflechtet: Künftig subventioniert der Kanton Institutionen mit nationaler Ausstrahlung allein. Namentlich sind dies das Freilichtmuseum Ballenberg, das Zentrum Paul Klee und das Kunstmuseum Bern. Andererseits werden Kulturbetriebe mit regionaler Ausstrahlung, etwa die neue Institution Konzert Theater Bern, in Zukunft von allen Regionsgemeinden mitfinanziert. Dies könnte in der Vernehmlassung, die nächste Woche beginnt, auf Widerstand stossen. Das Kulturförderungsgesetz soll 2013 in Kraft treten.lm Seite 18

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Kultur soll jede Gemeinde etwas kosten

 KulturpolitikGestern hat Regierungsrat Bernhard Pulver das neue kantonale Kulturförderungsgesetz vorgestellt. Neu sollen alle Gemeinden ihren Kulturbatzen entrichten. Der Kanton ist künftig als alleiniger Geldgeber für Kulturinstitutionen mit nationaler Ausstrahlung verantwortlich.

 36 Jahre. So alt ist das aktuelle Kulturförderungsgesetz des Kantons Bern. Es wurde zwar mehrmals revidiert, doch die Berner Kulturlandschaft hat sich seit 1975 grundlegend verändert. Sie sei nicht nur grösser geworden, sagte Regierungsrat Bernhard Pulver an der gestrigen Medienorientierung, dank wachsender Mobilität würden Interessierte stärker als früher Kulturangebote ausserhalb ihrer Wohngemeinde nutzen. Diesen Veränderungen trägt der Entwurf für das total revidierte Kulturgesetz nun Rechnung. Es ist kein revolutionärer Wurf, wie selbst Pulver einräumt, aber eine solide, pragmatische Rechtsgrundlage, die Bewährtes weiterführt und Schwachstellen optimiert. Der Entwurf basiert auf der bereits breit diskutierten und vom Grossrat abgesegneten Kulturstrategie von 2009. Hier die wichtigsten Neuerungen und Knackpunkte:

 Die Grossen subventioniert und steuert der Kanton allein:

 Heute werden alle grösseren Kulturbetriebe von mehreren Subventionsträgern (Kanton, Standortgemeinde, Regionalkonferenz) unterstützt. Entsprechend schwerfällig gestaltet sich deren Steuerung. In Zukunft bestimmt der Kanton als alleiniger Subventionsgeber über Kulturinstitutionen mit nationaler und internationaler Ausstrahlung. Dazu gehören das Freilichtmuseum Ballenberg, das Zentrum Paul Klee und das Kunstmuseum Bern. Die beiden Letzteren sollen unter der Ägide des Kantons bis 2013 ihre Zusammenarbeit intensivieren. Ob es zu einer Zusammenlegung kommt, wird derzeit geprüft.

 Alle Gemeinden müssen künftig an die Kultur zahlen:

 Kulturinstitutionen mit regionaler Ausstrahlung werden heute nur von jenen Gemeinden mitgetragen, die rund um eine Zentrumsgemeinde liegen. Solche Lücken werden nicht mehr geduldet. Künftig sollen alle Gemeinden an regionale Kulturbetriebe zahlen, weil sie ebenfalls von deren Kulturangebot profitieren. Der Kanton schickt zwei Finanzierungsvarianten in die Vernehmlassung: Bei der ersten zahlen der Kanton und die Standortgemeinden je einen Anteil von 42,5 bis 45 Prozent an die regionalen Kulturinstitutionen, die übrigen Regionsgemeinden 10 bis 15 Prozent. Bei der zweiten Variante finanziert der Kanton einen Anteil von 40 Prozent, die Standortgemeinde höchstens 50 Prozent und die übrigen Gemeinden mindestens 10 Prozent. Egal, welche Variante angenommen wird - der finanzielle Verteilschlüssel wird damit vereinheitlicht.

 Förderkriterien sollen transparenter werden:

 Der Kanton subventioniert nicht nur Institutionen, er fördert auch die kantonale Kulturszene und einzelne Kunstschaffende durch Projektbeiträge, Stipendien und Auszeichnungen. Die Förderkriterien werden im neuen Gesetz zwar nur generell formuliert, sollen aber in Merkblättern konkretisiert und für die Praxis verständlich aufbereitet werden. Zudem kann sich der Kanton künftig an der beruflichen Vorsorge der Kulturschaffenden beteiligen.

 Das sind die Knackpunkte:

 Das neue Gesetz wirkt sich auf die Finanzen des Kantons und der Gemeinden aus. Die Umverteilung der Kulturausgaben geschieht zwar dank dem Finanz- und Lastenausgleich für den Kanton kostenneutral. Bernhard Pulver bestätigt jedoch, dass die Standortgemeinden von regionalen Kulturinstitutionen, also insbesondere die Städte, künftig tendenziell entlastet werden, während die umliegenden Gemeinden mit einer finanziellen Mehrbelastung rechnen müssen. Das gilt vor allem auch für jene Gemeinden, die sich heute nicht an den Kulturkosten beteiligen. Dass diese Neuerungen zu reden geben werden, liegt auf der Hand. Die Erfahrung zeigt: Je weiter eine Gemeinde von einer Standortgemeinde, zum Beispiel Bern, entfernt ist, desto weniger ist sie gewillt, die Kulturausgaben der regionalen Kulturinstitutionen mitzufinanzieren.

 Unklar ist auch, welche Kulturbetriebe als regional bedeutend eingestuft werden. Dass etwa die neue, mit 37 Millionen subventionierte Institution Konzert Theater Bern dazugehören wird, ist unbestritten. Aber was ist zum Beispiel mit der Berner Dampfzentrale? Auch hier sind Diskussionen zwischen den verschiedenen Playern vorprogrammiert.

 So gehts weiter:

 Nächste Woche geht der Gesetzesentwurf bis Ende Mai in die Vernehmlassung. Danach wird - voraussichtlich im ersten Halbjahr 2012 - die überarbeitete Fassung im Grossen Rat behandelt. Ergreift niemand das Referendum, tritt das Kulturförderungsgesetz Anfang 2013 in Kraft.
 Lucie Machac

 Kulturausgaben 2011

 Der Kanton hat dieses Jahr ein Kulturbudget von insgesamt 69 Millionen Franken. Darin enthalten ist die Kulturförderung (50 Mio. inkl. Personal- und Sachaufwand, 46 Mio. reine Kulturförderung), die Denkmalpflege (9 Mio.) und der archäologische Dienst (10 Mio.). Über 80 Prozent der kantonalen Kulturausgaben gehen heute an Institutionen mit nationaler und regionaler Ausstrahlung. Mit den restlichen 20 Prozent unterstützt der Kanton vor allem Kulturprojekte oder Kulturschaffende in Form von Stipendien oder Auszeichnungen. Das Kulturbudget macht lediglich 0,7 Prozent der kantonalen Ausgaben aus, die 2011 auf knapp 10 Milliarden budgetiert sind. Pro Kopf gibt der Kanton Bern 48 Franken für (reine) Kulturförderung aus. Im Vergleich mit anderen Kantonen mit grossen Städten befindet er sich damit im unteren Drittel.lm

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 Wer zahlt künftig was?

 Zu den Kulturinstitutionen mit nationaler Ausstrahlung, die künftig vom Kanton allein subventioniert werden, gehören das Freilichtmuseum Ballenberg (Gesamtsubventionen 676 000 Franken im laufenden Jahr), das Zentrum Paul Klee (5,9 Mio.) und das Kunstmuseum Bern (6 Mio.). Die Liste der Kulturbetriebe mit regionaler Ausstrahlung muss erst erstellt werden. Valable Kandidaten sind: Konzert Theater Bern, das Kunsthaus Langenthal, das Centre Pasquart in Biel oder das Kunstmuseum Thun. Diese Kulturbetriebe werden vom Kanton, den Standortgemeinden und den Regionsgemeinden finanziert.lm

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Bund 25.2.11

Ein CEO fürs Theater?

 KulturpolitikDie Suche nach einem Aushängeschild für die neue Grossinstitution Konzert Theater Bern stösst auf Kritik. Trotzdem halten die Verantwortlichen am Stellenprofil des künftigen Direktors fest.

 Wer führt Berns grössten Kulturbetrieb in die Zukunft? Seit zwei Monaten läuft die Suche nach einem Direktor für Konzert Theater Bern, dem Fusionsprodukt aus Stadttheater und Berner Symphonieorchester. Gesucht wird keine künstlerische Leitung, sondern eine "unternehmerische Persönlichkeit", die unter anderem das Gesamtbudget erstellt und in umstrittenen Fragen das letzte Wort hat. Erfahrungen in der Leitung eines Kulturbetriebs werden nicht verlangt.

 Das sorgt für Kritik - sowohl innerhalb der betroffenen Institutionen als auch in der Kulturszene. Vor allem in der Freien Szene wird die Sorge vor einem "kunstfernen Feudalherrscher" und "Super-CEO" kultiviert. Aber auch von Expertenseite sind Vorbehalte zu vernehmen. "Das Führungsmodell zeugt von einer Unkenntnis der Materie", urteilt Walter Boris Fischer, Verfasser von Standardwerken zum Thema Kulturmanagement.

 Doch die Verantwortlichen lassen sich nicht beirren. "Mit der Betonung des Unternehmerischen werden Prioritäten gesetzt und nicht weitere erwünschte Fähigkeiten ausgeschlossen", sagt der designierte Stiftungsratspräsident Hans Lauri und verweist auf das Beispiel des Theaters St. Gallen.mei Seite 3

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Bern sucht den "Super-CEO": Wer führt den grössten Kulturbetrieb in die Zukunft?

 Kulturpolitik. Ein "kunstferner Wirtschaftskopf" für Konzert Theater Bern? Seit zwei Monaten läuft die Suche nach einem Aushängeschild für die neue Grossinstitution, die künftig mit 37 Millionen Franken subventioniert wird. Trotz verbreiteter Skepsis halten die Verantwortlichen an der geplanten Führungsstruktur und dem Stellenprofil des künftigen Direktoriums fest.

 Es geht um viel - viel Geld und Macht. Und der Fahrplan ist ambitioniert: Bereits Mitte Juli soll das Fusionsprodukt aus Stadttheater und Berner Symphonieorchester seinen Betrieb aufnehmen. Unter Hochdruck arbeitet der designierte Stiftungsrat um Ex-Ständerat Hans Lauri derzeit daran, die neue Institution Konzert Theater Bern auf die Beine zu stellen. Zu den Aufgaben des Gremiums gehört die Suche nach einem Aushängeschild für den Grossbetrieb, der mit rund 37 Millionen Franken subventioniert wird - falls neben dem Stadtrat auch das Volk dem Subventionsvertrag zustimmt.

 Das Profil ist klar: Gesucht wird eine "unternehmerische Persönlichkeit mit Affinität zu Theater und Konzert", die den Kulturbetrieb gegen aussen vertritt, das Gesamtbudget erstellt, die Spartenleiter führt und bei umstrittenen Fragen das letzte Wort hat. "Aufbauend auf den künstlerischen Produktionen beeinflussen Sie das betriebswirtschaftliche Ergebnis durch Ihre Aktivitäten in Marketing und Sponsoring sowie über die Verkaufs- und Preispolitik", heisst es in der Stellenausschreibung, die im Dezember veröffentlicht wurde. Erfahrung in der Leitung eines Kulturbetriebs muss die künftige Direktion nicht mitbringen, dafür "einen höheren Abschluss in Betriebswirtschaft und/oder Kulturmanagement".

 Furcht vor dem "Super-CEO"

 Ein "Wirtschaftskopf" mit umfassender Machtbefugnis an der Spitze von Berns grösstem Kulturbetrieb? Das sorgt allenthalben für Stirnrunzeln - sowohl innerhalb der betroffenen Institutionen als auch in der Kulturszene. Aus dem Fenster lehnen will sich kaum jemand. Vor allem in der Freien Szene wird aber wortreich die Sorge vor einem "kunstfernen Feudalherrscher" und "Super-CEO" kultiviert. Dass die Stellenausschreibung vor einschlägigen Wirtschaftsvokabeln strotzt, wird als Indiz dafür genommen, das "die Kunst" am Ende zu kurz kommen könnte. Regisseur Samuel Schwarz, der umtriebigste Kritiker aus der Freien Szene, sieht gar "eine Ideologie von Investment-Bankern" am Werk. "Die Ausschreibung lief über die Kadervermittlungsfirma Mercuri Urval, die im Internet mit den Zeilen ‹Mehr als 80 000 Kaderstellen über 120 000 CHF - Sie verdienen mehr!› für sich wirbt. Dieser Anreiz spricht die völlig falschen Personen für die Leitung eines so hochkomplexen Kulturbetriebs an. Bei einem Theater geht es um Menschen, nicht um Wertschöpfung im Sinne des Investment-Bankings." Es sei "nicht zu verantworten, dass so viel Geld in eine solche Struktur fliesst, die zu stark von den Qualitäten eines CEO abhängig ist, der zudem in einem Husch-Husch-Verfahren gewählt wird."

 Da Schwarz, der Polemiker vom Dienst, seit Jahren Ambitionen auf ein Stadttheater-Amt hegt, gehört er nicht zu den berufensten Kritikern. Doch auch von "unverdächtiger" Expertenseite sind Vorbehalte zu vernehmen: Walter Boris Fischer, Ex-Dramaturg und -Regisseur, Kulturberater und Verfasser mehrerer Standardwerke zum Thema Kulturmanagement, wundert sich über das Führungsmodell von Konzert Theater Bern. "Das geplante Führungsmodell zeugt von einer Unkenntnis der Materie", urteilt Fischer. "Es ist zwar richtig, einen Kulturbetrieb - und erst recht einen so komplexen wie Konzert Theater Bern - nach betriebswirtschaftlichen Maximen zu führen." Aber: an erster Stelle müsse immer das Künstlerische stehen. "Das scheint mir hier nicht der Fall zu sein." Es genüge nicht, wenn eine Direktion "Affinität zu Theater und Konzert" mitbringe. "Gefragt sind Erfahrungen in der Führung von Kulturbetrieben und intime Kenntnisse, was künstlerische Arbeit betrifft." Die Arbeit mit Künstlern sei eine fundamental andere als in der Wirtschaft. "Ich halte ein Intendantenmodell mit einer künstlerischen Leitung für sinnvoller."

 "Umfassender Suchprozess"

 Ob die Resonanz auf die Ausschreibung den Skeptikern recht gibt? Laut Insidern sind innerhalb eines Monats nach der Ausschreibung "bloss" 30 Bewerbungen eingegangen - ohne valable Kandidaten. Der designierte Stiftungsratspräsident Hans Lauri will davon allerdings nichts wissen: "Das Interesse entspricht vollständig meinen Erfahrungswerten aus Suchprozessen für die oberste Kaderstufe während der letzten Jahre. Der künftige Stiftungsrat kann eine echte Wahl unter verschiedenen qualifizierten Bewerbungen treffen." Zudem, so Lauri, habe man sich für einen "umfassenden Suchprozess" entschieden und gleichzeitig mit der Stellenausschreibung auch "persönliche Netzwerke" aktiviert - das übliche Berufungsverfahren also.

 Vorbild St.Gallen

 Vom gewählten Führungsmodell werde man nicht abrücken, sagt Lauri. Man behalte sich aber "gezielte kleinere Weiterentwicklungen" vor. "Das Organigramm betont auf der obersten Führungsebene (Direktion) die allgemeinen unternehmerischen Fähigkeiten und auf der zweiten Ebene der Spartenleiter die künstlerischen Kompetenzen. Mit der Betonung des Unternehmerischen werden Prioritäten gesetzt und nicht weitere erwünschte Fähigkeiten ausgeschlossen." Das Modell bewähre sich in ähnlicher Form seit Jahren beim Theater St. Gallen.

 Auf die Frage, wann die neue Direktion bekannt gegeben wird, sagt Lauri: "Die Abschlussarbeiten in diesem wichtigen Geschäft werden aus naheliegenden Gründen erst nach der Volksabstimmung im Mai stattfinden können, was unschön ist."
 
Oliver Meier

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 Kandidatenkarussell

 Namen über Namen - aber kaum realistische Kandidaten

 Wild wuchern die Gerüchte, wenn es um die Besetzung der Schlüsselpositionen geht. Nur die wenigsten Namen, die ins Feld geführt werden, passen allerdings optimal ins vorgebene Stellenprofil. Und: Von Kandidatinnen ist kaum die Rede. Klar ist: Wer erfolgreich ist und einen laufenden Vertrag hat, meldet sich in der Regel nicht auf eine Stellenausschreibung. Die besten Kandidaten holt man auf dem Berufungsweg.

 Immer wieder genannt wird der Ökonom, Manager und Ex-Schauspieler Andreas Spillmann. Der Zürcher war von 2000 bis 2005 am Schauspielhaus Zürich engagiert - erst als kaufmännischer, später als künstlerischer Direktor ad interim. Spillmann ist derzeit Direktor des Schweizerischen Landesmuseums - und wenig spricht dafür, dass er den Posten verlassen wird. Wunschkandidat vieler ist der Berner Dominique Mentha, derzeit Direktor des Luzerner Theaters.

 Allerdings passt er kaum ins betriebswirtschaftliche Stellenprofil.

 Dasselbe gilt für Christoph Nix (Intendant in Konstanz) und Dieter Kaegi (Direktor der Opera Ireland), die sich gerüchteweise beworben haben sollen. Kaegi dürfte, wenn überhaupt, eher für das Amt des Musikleiters infrage kommen - die zweite Schlüsselposition in der neuen Institution. Dies gilt auch für zwei weiter Namen, die hinter den Kulissen zu hören sind: Mischa Damev (Leiter Musik des Migros-Genossenschafts-Bundes) und der junge Zürcher Kulturmanager und -vermittler Matthias von Orelli.

 Die These, wonach Marcel Brülhart, "Mister Euro" und Manager des Projekts "Konzert Theater Bern", in einer ersten Phase auch den Direktionsposten übernehmen könnte, wird von den Verantwortlichen dezidiert zurückgewiesen.mei

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POLICE BE
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BZ 25.2.11

Polizei fragt nach

 KantonspolizeiDie Berner Kantonspolizei lässt die Bevölkerung in 17 Gemeinden derzeit zu ihrem Sicherheitsempfinden befragen.

 Im Auftrag der Kantonspolizei Bern führt das Meinungsforschungsinstitut GFS Zürich seit Mitte Januar in 17 grösseren Gemeinden des Kantons Bern eine Umfrage durch. Das Ziel der Befragung ist es, mehr über das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung zu erfahren und später basierend auf den Ergebnissen gezielte Massnahmen einzuleiten. Die Ergebnisse dienen auch dazu, weitere Daten für die Kriminalitätsstatistik zu erhalten.

 In der Umfrage werden beispielsweise folgende Fragen gestellt: Sind Sie mit der aktuellen Polizeiarbeit zufrieden? Fühlen sich die Einwohnerinnen und Einwohner an gewissen Orten unsicher? Sind Sie Opfer einer Straftat geworden, die Sie nicht angezeigt haben? Zu den 17 Gemeinden, in denen die Umfrage durchgeführt wird, gehören Bern, Biel, Thun, Burgdorf, Langenthal sowie Interlaken.
 pd

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BZ 24.2.11

Sind Bürger sicher?
 
Umfrage der Polizei

 Den Puls fühlen - das tut die Kantonspolizei Bern. In diesen Tagen erhalten rund 1000 Spiezerinnen und Spiezer Post. Der Grund dafür: Im Auftrag der Kapo werden in den 17 so genannten Ressourcengemeinden - das sind jene, die Leistungen bei der Kantonspolizei einkaufen - Umfragen durchgeführt. Das geschieht in unserem Lesergebiet in Spiez, Interlaken, Saanen, Thun und Steffisburg. Ziel der Aktion sei es, mehr über das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung zu erfahren und später, basierend auf den Ergebnissen, gezielte Massnahmen einzuleiten, so die Kapo. "Sind sie mit der aktuellen Polizeiarbeit zufrieden?" oder "Fühlen sie sich an gewissen Orten unsicher?": So lauten nur zwei Fragen an die Bevölkerung.

 Und so funktionierts: Das Forschungsinstitut GFS-Zürich kontaktiert pro Gemeinde rund 1000 Personen, die dann einen Fragebogen im Internet ausfüllen können. Die Auswertung erfolgt durch das Rechtswissenschaftliche Institut der Uni Zürich. Ergebnisse liegen im Herbst vor. jss

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Umfrage zur Sicherheit

 LangenthalEin Umfrage soll zeigen, wie sicher sich die Bevölkerung fühlt.

 Im Zusammenhang mit der Einführung der Einheitspolizei in Langenthal hat der Gemeinderat eine Projektgruppe eingesetzt und beauftragt, geeignete Massnahmen zur Verbesserung der Sicherheit in Langenthal auszuarbeiten. "In einem ersten Schritt erfolgt nun eine Befragung der Bevölkerung", schreibt der Gemeinderat. In enger Zusammenarbeit mit der Kantonspolizei werden in den kommenden Tagen 1000 Langenthalerinnen und Langenthaler persönlich angeschrieben. Die Personen sind nach bestimmten Kriterien ausgewählt worden. Die Fragen zum Thema und ihre Auswertung sind in Zusammenarbeit mit der Universität Zürich vorbereitet worden. "Die Resultate der Umfrage werden nach ihrer Auswertung mit den Daten aus der Kriminalstatistik verglichen und dann in eine Sicherheitsdiagnose überführt", so der Gemeinderat. Die Resultate sollen Aufschluss über die objektive, aber auch die empfundene Sicherheit in Langenthal liefern. Die Projektgruppe erwartet aus der Sicherheitsdiagnose verbindliche Informationen, welche dazu dienen, Massnahmen im Bereich der öffentlichen und persönlichen Sicherheit zielgerichtet und effizient einzusetzen.
 rgw

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Bund 23.2.11

Kantonspolizei

 Umfrage bei der Bevölkerung zum Sicherheitsgefühl

 Im Auftrag der Kantonspolizei werden zurzeit in verschiedenen Gemeinden Umfragen durchgeführt. Ziel ist es, mehr über das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung zu erfahren und später basierend auf den Ergebnissen gezielte Massnahmen einzuleiten. Im Fokus stehen die 17 sogenannten Ressourcengemeinden, das sind solche, welche umfassende Leistungen bei der Kantonspolizei einkaufen. Dazu gehören etwa die Städte Bern, Biel, Thun, Burgdorf, Interlaken und Langenthal. Das Forschungsinstitut GFS Zürich kontaktiert pro Gemeinde rund 1000 Personen.(pkb)

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20 Minuten 23.2.11

Polizei will wissen, wo der Schuh drückt

 BERN. Wovor fürchten sich die Berner? Entsprechen ihre Ängste der realen Gefahrensituation? Solche Fragen untersucht eine Studie in 17 grossen Gemeinden des Kantons.

 "Es ist mir wichtig, zu wissen, wo die Bevölkerung der Schuh drückt, damit wir unsere Sicherheitspolitik nach ihren Bedürfnissen ausrichten können", sagt Gemeinderat Reto Nause. 100o Stadtberner haben in den letzten Tagen einen Brief von ihm erhalten, in dem er sie bittet, in einer Online-Umfrage Auskunft über ihr Sicherheitsempfinden zu geben. Ähnliche Schreiben erhalten die Einwohner von 16 weiteren grossen Berner Gemeinden.

 "Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass in den nächsten 12 Monaten versucht wird, in Ihre Wohnung einzubrechen?", lautet eine typische Frage. Aber auch Angaben zur Wahrnehmung der Polizeiarbeit, Schmutz, Sprayereien oder erlittenen Tätlichkeiten und sexuellen Übergriffen werden vertraulich erfasst.

 Statt nur angezeigte Straftaten zu zählen, schafft die Studie ein umfassendes Stimmungsbild: "Sicherheit ist ein sehr subjektives Gefühl", sagt Nause, "die Kriminalstatistik zeigt zwar, welche Delikte sich häufen, aber vielleicht fühlen sich unsere Bürger durch andere Umstände viel eher bedroht." Spannend werde auch der Erfahrungsaustausch mit anderen Städten und Kantonen: Die Uni Zürich wertet neben der Berner Studie auch eine nationale Opferbefragung aus. Erste Ergebnisse sollen im Herbst vorliegen.  

Patrick Marbach

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POLICE CH
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NZZ 25.2.11

Parlament will das Grenzwachtkorps aufstocken

 Uneinigkeit mit dem Bundesrat über Eckwerte und Vorgehen

 In der Frühjahrssession ist die Stärke des Grenzwachtkorps einmal mehr Thema. Gefordert wird auch eine klarere Kompetenzabgrenzung gegenüber den Polizeikorps der Kantone.

 Hanspeter Mettler

 Der Bundesrat soll das Grenzwachtkorps (GWK) personell ausreichend stark dotieren. Darüber herrscht im Parlament seit Jahren Einigkeit. Der heutige Sollbestand von 1928 Grenzwächtern wird durchwegs als knapp bemessen beurteilt. Die Lage in Libyen könnte den Druck auf den Bundesrat zusätzlich erhöhen. In der kommenden Woche wird sich der Nationalrat ein weiteres Mal mit dem Thema befassen, und zwar im Rahmen der Differenzbereinigung zu einer Motion von Hans Fehr (svp., Zürich) vom September 2008.

 200 bis 300 Profis

 Mit dem Vorstoss soll der Bundesrat beauftragt werden, das GWK "so rasch als möglich um 200 bis 300 Profis zu verstärken, damit eine lagegerechte Kontrolldichte sichergestellt werden kann". Der Nationalrat stimmte der Motion mit 156 zu 9 Stimmen zu. Der Ständerat änderte den Vorstoss dann insofern ab, als er lediglich "eine ausreichende Alimentierung" des GWK verlangt. Wie der Bundesrat war er der Meinung, es sei nicht sinnvoll, den GWK-Bestand auf Gesetzesstufe zu verankern. An den Bedenken betreffend fehlende Personalressourcen hielt die kleine Kammer aber fest. Die Sicherheitskommission (SiK) des Nationalrats hat Anfang Woche ihrem Rat nun beantragt, dem Ständerat zu folgen. Der Bundesrat anerkannte im Januar in einem Bericht zwar einen Stellenmehrbedarf des GWK, lehnte eine Aufstockung um 200 bis 300 Stellen aber ab - auch mit dem Verweis auf die Zollverwaltung, die lediglich einen Mehrbedarf von 35 Stellen angemeldet hatte. Diese sind in den letzten Wochen vom Bundesrat bewilligt worden.

 Motionär Fehr will an seinem ursprünglichen Vorstoss festhalten. Sonst drohten Unverbindlichkeit und Verwässerung, sagte er auf Anfrage. Eigentlich fehlten noch mehr als die 200 oder 300 Grenzwächter, denn rund 200 seien derzeit auf den Flughäfen im Einsatz, moniert der SVP-Nationalrat. Der Chef des GWK, Jürg Noth, widerspricht: Bei den Grenz- und Zollkontrollen auf neun der zwölf Flughäfen, die Schengen-Aussengrenzen darstellen, handle es sich um eine Kernkompetenz der Grenzwächter. Fehr begründet seinen Vorstoss unter anderem mit den zahlreichen afrikanischen Asylbewerbern, die via die sogenannte "Lampedusa-Route" oft unkontrolliert in die Schweiz einreisten. Noth bestätigt, dass die Südgrenze - zusammen mit Genf, Basel West und dem Rheintal - zu den Problemzonen gehöre. Mit lagebedingten Schwerpunkteinsätzen werde dem begegnet. Bisher sei die aktuelle Lage in Nordafrika an der Schweizer Grenze allerdings nicht spürbar gewesen.

 Nationalrat Fehr (und der Ständerat in der modifizierten Motion) erheben eine weitere Forderung: Der Bundesrat soll für eine konkurrenzfähige Besoldung der GWK-Mitarbeiter sorgen, vorab der jüngeren, um die Abwanderung zu den kantonalen Polizeikorps zu reduzieren. Die Landesregierung hat in ihrem Bericht vom Januar die Löhne im GWK ihrerseits kurz und bündig als konkurrenzfähig bezeichnet. Die ständerätliche SiK wiederum anerkennt, dass den Grenzwächtern in Genf seit Anfang 2009 eine jährliche Arbeitsmarktzulage von 3000 Franken ausbezahlt wird. Es brauche aber "flächendeckende Massnahmen".

 "GWK keine Hilfspolizei"

 Diskussionen rund um das GWK haben in letzter Zeit nicht nur der Personalbestand und die Saläre ausgelöst. Erörtert wurden auch konzeptionelle Fragen. So erhob die SiK des Nationalrates Anfang Woche die Forderung, dass der Bund und die Kantone ihre Zusammenarbeit im Polizeibereich klären, insbesondere jene zwischen den Polizeikorps der Grenzkantone und dem Grenzwachtkorps, aber auch die Kooperation auf den Flughäfen und im Bahnverkehr. Gefordert wird eine Liste der Sicherheitsaufgaben, die aufgrund der Verfassungsvorgaben zu den Kernleistungen der Kantone gehören.

 In die gleiche Kerbe schlug im letzten Herbst die Geschäftsprüfungskommission (GPK) des Ständerates. Sie hielt in einem Bericht zur strategischen Führung in der Eidgenössischen Zollverwaltung fest, dass die Zusammenarbeit des GWK mit den kantonalen Sicherheitsorganen zwar grundsätzlich pragmatisch organisiert sei und gut funktioniere. Auf der anderen Seite sei die Aufgaben- und Kompetenzverteilung zwischen dem Bund und den Kantonen seit längerem politisch umstritten und nicht hinreichend geklärt - konkret namentlich bei der Frage, welche polizeilichen Aufgaben das GWK zuhanden der Kantone wahrnehmen darf.

 GPK-Chef Noth sagt, die Grenzwächter operierten grundsätzlich aus einem Zolldispositiv heraus; es sei stets ein Bezug zu den Zollaufgaben gegeben. Würden bei deren Erfüllung anderweitige Feststellungen gemacht, werde die Polizei beigezogen. Daneben erbringe das GWK auf Anfrage der Kantone Spezialdienstleistungen wie etwa die Unterstützung der Polizei bei Grossanlässen, bei Dokumentenprüfungen oder bei Fahrzeuguntersuchungen. Die GPK hat in ihrem Bericht dazu Fragen gestellt. Natürlich sei das GWK besonders für Kantone mit knappen Polizeiressourcen eine willkommene Unterstützung. Aber die Grenzwächter dürften nicht zur nationalen Hilfspolizei werden, schreibt die GPK.

 Zwei Organe im selben Raum

 Die SiK des Ständerates wiederum stellte wiederholt klar, dass die längerfristige Inanspruchnahme von Personal des Verteidigungsdepartementes (VBS) - zurzeit rund 50 Angehörige der Militärischen Sicherheit sowie Durchdiener - durch das GWK eine unbefriedigende, nicht nachhaltige Lösung sei. Zumal auch bei der Militärischen Sicherheit Personalengpässe bestünden. Nach Auskunft von Jürg Noth plant der Bundesrat nun aber, die Unterstützung des GPK durch VBS-Personal Ende 2012 auslaufen zu lassen.

 Fragt man bei Kantonen und der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren (KKJPD) nach, erhält man ähnliche Antworten wie von der Ständerats-GPK. Die Zusammenarbeit der Polizeikorps mit dem GWK funktioniere grundsätzlich gut. Mitunter aber ergäben sich Abgrenzungsprobleme, wenn zwei Sicherheitsorgane im selben Raum tätig sind. Mit Schengen (Stichwort "Schleierfahndungen" hinter der Grenze) neige das System etwa beim Informationsfluss und bei der Kontrolltätigkeit stärker zu Doppelspurigkeiten. Die St. Galler Regierungsrätin und heutige KKJPD-Präsidentin Karin Keller-Sutter trat einmal mit dem Vorschlag an die Öffentlichkeit, den gesamten Grenzpolizeibereich des GWK mittels Leistungsvereinbarung in die Verantwortung der Kantone zu übergeben. Selbstverständlich sei der Grenzschutz eine Bundesaufgabe; dabei solle es auch bleiben, betonte die St. Gallerin.

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KNAST
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Bund 23.2.11

Hungerstreik: Alles bleibt offen

 Dürfen Ärzte wie im Fall Rappaz zur Zwangsernährung verpflichtet werden? Das Bundesgericht drückt sich vor einem klaren Urteil.

 Jürg Ackermann

 Noch im letzten Herbst sprach das Bundesgericht eine deutlichere Sprache. Eine Zwangsernährung sei bei einem Hungerstreik zulässig, urteilten die Lausanner Richter im Falle von Bernard Rappaz. Nun macht das Bundesgericht wieder einen Schritt zurück und lässt offen, ob die Ärzte von der Walliser Justiz verpflichtet werden durften, den rebellischen Hanfbauern zwangsweise zu ernähren. Die Begründung: Da Rappaz an Weihnachten seinen Hungerstreik abgebrochen habe, erübrige sich ein Urteil.

 "Wir sind froh über diesen Nicht-Entscheid", sagt Jacques de Haller, der Präsident der Ärzteverbindung FMH, der die Lausanner Richter damals scharf kritisierte. Das Bundesgericht habe eingesehen, dass es in einer derart komplexen Frage keine einfachen Lösungen gebe. "Wir Ärzte müssen uns wehren, als verlängerter Arm der Behörden instrumentalisiert zu werden." Verständnis bringt auch Karin Keller-Sutter auf. Die Vorsteherin der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren sagt, ein Grundsatzurteil zur Zwangsernährung sei schwierig, da "ein solches nicht jedem Fall gerecht werden kann". Die St. Galler Regierungsrätin lehnt wie de Haller die Zwangsernährung ab: Das Selbstbestimmungsrecht gelte auch für Häftlinge.

 Leise Kritik kommt jedoch aus dem Parlament. Politiker wie Ständerat Hermann Bürgi (SVP, TG) hätten sich gewünscht, dass das Bundesgericht eine deutlichere Interessenabwägung zwischen dem Selbstbestimmungsrecht und dem Schutz des Lebens vorgenommen hätte. "Es bleiben zu viele Fragen offen", sagt der Präsident der ständerätlichen Rechtskommission, auch mit Blick auf Forderungen nach einem nationalen Gesetz für den Umgang mit Hungerstreikenden. Nach dem Nicht-Urteil der Bundesrichter dürfte dieses jedoch in noch weitere Ferne gerückt sein.

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BZ 22.2.11

Was, wenn Häftlinge hungern?

 Fall RappazDie Berner Regierung wappnet sich für den Fall, dass auch sie dereinst einen Häftling nur mit Zwangsernährung am Leben erhalten könnte.

 Die Hungerstreiks des Walliser Hanfbauern Bernard Rappaz beschäftigen auch im Kanton Bern. Grossrat Dave von Kaenel (FDP, Villeret) stellt in einer Interpellation Fragen zur Zwangsernährung. In seiner Antwort hält der Berner Regierungsrat fest, wie sich das kantonale Gesetz über den Straf- und Massnahmenvollzug dazu stellt: Demnach könnte die Berner Regierung keine Zwangsernährung anordnen, "solange von einer freien Willensbildung der betroffenen Person ausgegangen werden kann".

 Verzwickt würde die Situation, wenn ein Berner Häftling zu Beginn eines Hungerstreiks - bei noch klarem Verstand - in einer Patientenverfügung festlegen würde, dass er auch im Fall einer späteren Urteilsunfähigkeit auf ärztliche Hilfe verzichten würde. Hier könnte sich laut der Berner Regierung ein Konflikt eröffnen: Die Vollzugsbehörde könnte die Zwangsernährung unter ärztlicher Leitung anordnen, die Ärzteschaft würde sich aber wohl an der Patientenverfügung orientieren.

 Deshalb habe das Amt für Freiheitsentzug und Betreuung zusammen mit der ärztlichen Direktion des Inselspitals "den Dialog aufgebaut", um zu klären, wie mit den kontroversen Standpunkten bei einem allfälligen künftigen Fall einer möglichen Zwangsernährung vorzugehen wäre.

 Susanne Graf

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Bund 18.2.11

Experte fordert mehr Personal für Berner Strafvollzug

 Wie der Berner Straf- und Massnahmenvollzug sicherer werden kann.

 Walter Däpp

 "Entgegen den in den Medien erhobenen Vorwürfen existieren weder in Witzwil noch in St. Johannsen eigentliche Missstände": So kommentiert Regierungsrat Hans-Jürg Käser, der Direktor der Polizei- und Militärdirektion, einen Untersuchungsbericht über den bernischen Straf- und Massnahmenvollzug, den er vor Jahresfrist in Auftrag gegeben hat. Auslöser für den Auftrag an den Experten Andreas Werren, den ehemaligen Leiter des Amts für Justizvollzug im Kanton Zürich, waren Vorfälle im Massnahmenzentrum St. Johannsen und in der Strafanstalt Witzwil: Ein St.-Johannsen-Insasse soll während eines unbewilligten "Ausgangs" ein Mädchen missbraucht haben, und in Witzwil wurden Missstände in Bezug auf Internetzugang, Handy-Gebrauch und Umgang mit Drogen kritisiert.

 62 Delikte in zehn Jahren

 Experte Andreas Werren listet in seinem 83-seitigen Bericht insgesamt 62 Delikte auf, die, "soweit rekonstruierbar", zwischen 2000 und 2010 von Gefangenen in bernischen Anstalten begangen wurden - wovon 5 Fälle in St. Johannsen "schwere Delikte gegen die physische, psychische oder sexuelle Integrität" betrafen. Trotzdem kommt er zu einer positiven Gesamtwürdigung: Die genannten Fälle zeigten zwar, dass jede Fehleinschätzung eine wesentliche Gefährdung für die Öffentlichkeit darstellen könne, doch in bernischen Anstalten sei "die Sicherheit grundsätzlich in hohem Masse gewährleistet".

 Die Empfehlungen des Berichts würden ernst genommen, versichert Regierungsrat Käser: So werde die Kompetenzregelung bei Vollzugslockerungen im Massnahmenvollzug überprüft; die Regierung erkenne "das Erfordernis einer personellen Verstärkung der Sicherheitsdienste und in der medizinischen und therapeutischen Versorgung" der Insassen. Handlungsbedarf bestehe auch in Bezug auf die Führungsstruktur des Amts für Freiheitsentzug und Betreuung mit seinen 900 Mitarbeitenden und 1000 Vollzugsplätzen. - Seite 21

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Zeugnis für Strafvollzug: Note "gut" mit Abstrichen

 Nach den Vorwürfen über Missstände in Witzwil und St. Johannsen empfiehlt eine externe Expertise mehr Personal und klarere Kompetenzen beim offenen Vollzug.

 Andreas Weidmann

 Im Herbst 2009 geriet der Straf- und Massnahmenvollzug im Kanton Bern schweizweit in die Schlagzeilen: Innert kurzer Zeit waren mehrere Fälle von Sexualstraftätern bekannt geworden, die aus dem offenen Freiheitsentzug im Massnahmenzentrum St. Johannsen entwichen. Besonders ein Fall schockierte die Öffentlichkeit, jener von Y. H, der im August 2009 einen bewilligten unbeaufsichtigten Aufenthalt in der sogenannten Fischereizone der Anstalt dazu nutzte, über den Zihlkanal zu schwimmen und in Neuenstadt ein Mädchen zu missbrauchen.

 In die Schlagzeilen geriet aber auch das nur wenige Kilometer entfernte Witzwil: In der Anstalt floriere der Drogenhandel, die Insassen dürften unkontrolliert Besuch empfangen und hätten freien Zugang zu Internet und Handy, behauptete ein ehemaliger Häftling in einem Artikel des "SonntagsBlicks", der im Kanton Bern gehörig politischen Staub aufwirbelte: Im Grossen Rat führten die beschriebenen Vorkommnisse parteiübergreifend zu einer Reihe von Vorstössen, die nicht nur Rechenschaft über die konkreten Vorkommnisse verlangten, sondern Fragen zur generellen Sicherheit des Straf- und Massnahmenvollzugs stellten.

 Auf Geheiss des Parlaments gab Polizeidirektor Hans-Jürg Käser (FDP) daraufhin eine externe Untersuchung in Auftrag. Als Experten beauftragte er den ehemaligen Leiter des Justizvollzugs im Kanton Zürich, Andreas Werren. Dieser präsentierte gestern zusammen mit den Berner Verantwortlichen seinen Bericht. Der Zürcher Experte liefert darin weniger eine Beurteilung der einzelnen publik gewordenen Vorfälle als eine Gesamtschau des bernischen Straf- und Massnahmenvollzugs. Dazu gehört auch eine Zusammenstellung sämtlicher gravierender sicherheitsrelevanter Vorkommnisse der vergangenen zehn Jahre (vgl. Kasten).

 "Kein alarmierendes Bild"

 Werrens Fazit: Die genannten Fälle zeigten zwar, dass jede Fehleinschätzung eine wesentliche Gefährdung der Öffentlichkeit darstellen könne, aber in den bernischen Anstalten sei "die Sicherheit grundsätzlich in hohem Mass gewährleistet". Die Daten geben für den Zürcher Experten grundsätzlich "kein alarmierendes Bild" ab. Er verwies auf die insgesamt 1000 Vollzugsplätze im Kanton Bern und die jährlich mehr als 300 000 Vollzugstage. Auch angesichts der Zahl der bewilligten Urlaube und Hafterleichterungen sei die Quote an Fehlentscheiden in allen Bereichen sehr gering. Eine Ausnahme sind laut dem Experten die Ausbrüche aus geschlossenen Anstalten, die seit 2006 aber markant hätten reduziert werden können. Dies sei ein Hinweis darauf, dass die Verantwortlichen "aus schlechten Erfahrungen gelernt" hätten und die Gefängnisse "grundsätzlich sicherer geworden sind".

 "Nicht vollumfänglich stimmig"

 Das Problem liegt laut Werren jedoch beim Einzelfall: Besonders beim Massnahmenzentrum St. Johannsen habe "jeder einzelne Rückfall ein sehr hohes Schädigungspotenzial". Bei allen untersuchten Fällen von Delinquenz im offenen Vollzug hätten "Beurteilungsfehler eine wichtige Rolle gespielt, sei es in Bezug auf die Platzierung, das Flucht- oder das Rückfallrisiko". Zur Frage, ob diesen Fehlern eine Verletzung von Dienstpflichten zugrunde liege, machte Werren keine Aussagen: "Dazu brauchte es detailliertere Analysen der Einzelfälle.

 In verschiedenen Bereichen ortet der Expertenbericht jedoch Verbesserungspotenzial. Kritik übt Werren besonders am Fallmanagement in St. Johannsen: Der offene Vollzug in der Anstalt erscheine angesichts der Klientel an psychisch teils auffälligen Tätern "nicht vollumfänglich stimmig". Werren empfiehlt deshalb eine Überprüfung und Klärung der Kompetenzen, was Lockerungen des Massnahmenvollzugs anbetrifft. Bisher seien diese Entscheide weitgehend von den Anstaltsverantwortlichen getroffen worden. Anzustreben sei, die Vollzugsbehörden stärker in diese schwierigen Entscheide mit einzubeziehen. Bei den Sicherheitsdiensten der Anstalten brauche es zudem personelle Verstärkungen, Gleiches gelte für die Therapieabteilung von St. Johannsen.

 "Personal macht guten Job"

 "Weder in Witzwil noch in St. Johannsen herrschen eigentliche Missstände", sagte Polizeidirektor Käser zum Bericht. Dies freue ihn für das Personal, das ganz offensichtlich "einen guten Job" mache.

 Käser stellte sich klar hinter den offenen Strafvollzug, der seit 2009 besonders von der SVP immer wieder kritisiert worden ist. Unter dem Strich bringe dieser dank des resozialisierenden Effekts mehr Sicherheit. "Jeder Rückfall ist aber einer zu viel", sagte Käser. Das Abwägen, ob ein Gefangener für den offenen Vollzug infrage komme, sei hochsensibel. Fehleinschätzungen könnten indessen nie völlig ausgeschlossen werden.

 Den notwendigen Personalausbau bezifferte Käser auf 15 bis 20 Stellen, "thematisieren" will ihn der Polizeidirektor im Rahmen des Budgets 2012. Einfach dürfte dies jedoch nicht werden, fehlt dem Strafvollzug im Kantonsparlament doch eine eigene Lobby. Zudem stimmten erst am letzten Wochenende die Bernerinnen und Berner einer massiven Senkung der Autosteuern zu, die einen Steuerausfall von 100 bis 120 Millionen Franken für den Kanton bedeuten. Das Budget des Amts für Freiheitsentzug und Betreuung mit seinen 900 Mitarbeitenden beträgt 150 Millionen Franken pro Jahr.

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 Sicherheitsbilanz Schwere Rückfälle trüben das Bild

 Fünf schwere Rückfälle von Gewaltstraftätern während des Vollzugs in St. Johannsen überschatten die Sicherheitsbilanz des bernischen Straf- und Massnahmenvollzugs in den vergangenen zehn Jahren. Die Zahlen:

 Ausbrüche: Zwischen dem Jahr 2000 und Mitte 2010 ereigneten sich insgesamt 33 Ausbrüche aus geschlossenen Anstalten (Thorberg und Hindelbank), geschlossenen Anstaltsabteilungen oder Regionalgefängnissen. Aus diesen Ausbrüchen resultierten gemäss dem Expertenbericht von Andreas Werren "soweit bekannt" keine neuen Delikte.

 Unerlaubte Abwesenheiten aus dem offenen Vollzug:Im Beobachtungszeitraum verzeichnete der offene Vollzug 478 unerlaubte Abwesenheiten (dazu zählen etwa eine verspätete Rückkehr oder Nichtrückkehr aus dem Urlaub). Aus diesen unerlaubten Abwesenheiten resultierten zwei neue Delikte, je eines in St. Johannsen (Vergewaltigung) und Witzwil (Fahrzeugdiebstahl).

 Neue Delinquenz: 62 Gefangene begingen (soweit erfasst und rekonstruierbar) in den vergangenen zehn Jahren neue Delikte. 25 davon ereigneten sich innerhalb der Anstalten, 37 während eines Ausgangs, eines Urlaubs oder während anderer Abwesenheiten. In 16 der 62 Fälle handelte es sich um eine Delinquenz von Gefangenen, die wegen eines schweren Gewalt- oder Sexualdelikts inhaftiert waren. In 5 dieser Fälle, alle betreffen die Anstalt St. Johannsen, haben die Täter erneut ein solches Delikt begangen. Zu ihnen gehört der Pädophile Y. H (vgl. Haupttext), der Sexualtäter D. S, der im Mai 2005 im Hafturlaub in Bern eine Drogensüchtige zum Oralsex zwang, sowie der Fall von O. B, der im Frühling 2005 während eines Arbeitsexternats in der Nähe von Schwarzenburg durch sexuelle Handlungen mit Abhängigen straffällig wurde.

 Drogen in Witzwil:Zwischen 2000 und 2009 wurden 23 Strafverfahren wegen Handel, Besitz oder Konsum von Betäubungsmitteln eröffnet. Im gleichen Bereich gab es pro Jahr zwischen 76 und 174 Verstösse gegen die Anstaltsregeln, die Tendenz ist seit 2007 sinkend.

 Besitz unerlaubter Gegenstände(zum Beispiel Mobiltelefone): Hier gab es pro Jahr zwischen 3 und 31 Verstösse, auch hier ist die Tendenz seit 2007 klar sinkend. (awb)

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Zur Sache

 "Klar, dass jeder Fall einer zu viel ist"

 Martin Kraemer, der Untersuchungsbericht über den bernischen Straf- und Massnahmenvollzug erteilt Ihnen und Ihren 900 Mitarbeitenden gute Noten, setzt aber auch Fragezeichen. Zufrieden?

 Ja. Nach Vorwürfen in den Medien gegen Witzwil und St. Johannsen und entsprechenden Vorstössen im Grossen Rat ("Hat der Kanton seinen Straf- und Massnahmenvollzug im Griff?") bin ich froh, dass unsere Arbeit von einer unabhängigen Instanz nun grundsätzlich positiv beurteilt wird. Unsere Mitarbeitenden verdienen es, dass ihnen der Rücken gestärkt wird.

 Es gibt aber auch Kritik. Der Experte erkennt zwar "kein alarmierendes Bild in Bezug auf die Gewährleistung von Sicherheit", erinnert aber - allein in St. Johannsen - an fünf Rückfälle mit schweren Delikten zwischen 2000 und 2010.

 Es ist klar, dass jeder dieser Fälle einer zu viel ist. Und wir wissen auch, dass sich jeder bedauerliche Einzelfall für gewisse Medien ausgezeichnet eignet, effekthascherisch präsentiert zu werden. Eine hundertprozentige Sicherheit ist aber nicht zu gewährleisten, wenn man im prognostischen Bereich tätig ist. Die fünf genannten Fälle verpflichten uns jedoch, noch genauer hinzuschauen - Einzelfälle also nicht einfach ad acta zu legen, sondern intensiver zu analysieren, mit dem Ziel, solche Fälle möglichst zu vermeiden.

 Um das Risiko von Fehleinschätzungen zu minimieren, empfiehlt der Experte, die Kompetenzordnung in Bezug auf Vollzugslockerungsschritte sei zu überprüfen.

 Ja. Doch das Abwägen zwischen Sicherheit und der Vorbereitung eines Insassen auf das Leben nach dem Vollzug ist und bleibt eine Gratwanderung. Es wird nie hundertprozentig abschätzbar sein, wie sich ein Insasse wirklich entwickelt - ob unsere therapeutischen Settings greifen oder nicht.

 Der Experte stellt fest, die personellen Ressourcen für Therapie und Sicherheit seien nicht ausreichend.

 Das stimmt. Ich bin mir aber bewusst, dass es nicht einfach sein wird, zusätzliche Mittel zu erhalten. Regierungsrat Hans-Jürg Käser setzt sich auf politischer Ebene aber engagiert dafür ein.

 Speziell ist, dass die Insassen des Massnahmenzentrums St. Johannsen im Gegensatz zu allen anderen Anstalten nicht vom Forensisch-Psychiatrischen Dienst der Universität Bern betreut werden, sondern von einem eigenen Therapie-Team. Der Experte spricht von "Isoliertheit".

 Ich stehe zur jetzigen Sonderlösung. Sie ist historisch zu erklären. Wir haben seinerzeit einen eigenen Dienst aufgebaut, weil wir damals vor allem im Massnahmenzentrum St. Johannsen vom Forensisch-Psychiatrischen Dienst schlecht bedient wurden.

 Was ist für Sie im 83-seitigen Untersuchungsbericht sonst zentral?

 Natürlich die Empfehlung, die Führungsstruktur zu überprüfen. Es stimmt, dass es für mich schwierig ist, allen meinen 15 direkt unterstellten Organisationseinheiten stets gerecht zu werden. Ich werde auch verlangen, dass St. Johannsen künftig vermehrt auf Aussensicht achtet und nicht eine Art Insel im Vollzug ist. Das Ziel muss sein, Fehleinschätzungen zu verhindern. Jede kleine Unachtsamkeit, jede Fehleinschätzung, kann gravierende Folgen haben.

 Der offene Vollzug nach dem Grundsatz "so viel Sicherheit wie nötig, so wenig Freiheitsbeschränkung wie möglich" ist nicht infrage gestellt? Nein, der offene Vollzug ist unabdingbar. Sonst kämen die Insassen nach der Strafverbüssung vom geschlossenen Vollzug direkt in die Freiheit. Das wäre ein zu grosser Schritt.(wd)

 Martin Kraemer ist Vorsteher des Amts für Freiheitsentzug und Betreuung.

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Kommentar

 Verantwortlich sind nicht nur die Verantwortlichen

Walter Däpp

 Viel Papier - 83 Seiten, prall gefüllt mit Informationen, Analysen, Folgerungen, Wertungen, Würdigungen, Kritik und Empfehlungen: Der Untersuchungsbericht über das Funktionieren des bernischen Straf- und Massnahmenvollzugs, den Polizeidirektor Hans-Jürg Käser vor einem Jahr, nach Vorfällen in den Anstalten St. Johannsen und Witzwil, in Auftrag gegeben hatte, ist "dicke Post".

 Dies allerdings - und das darf alle 900 Berner Strafvollzugsmitarbeitenden freuen - vor allem bezogen auf den Umfang des Berichts, nicht auf die Brisanz seines Inhalts. Denn der Experte, Andreas Werren, ehemaliger Leiter des Amts für Justizvollzug im Kanton Zürich, urteilt darin vorwiegend positiv über das, was im Straf- und Massnahmenvollzug im Kanton Bern geleistet wird - und dies, wie er schreibt, erst noch zu vergleichsweise niedrigen Kosten: Die Sicherheit sei "grundsätzlich in sehr hohem Mass gewährleistet", und man habe "markante Entwicklungsschritte" gemacht, um sie noch weiter zu verbessern.

 Neben den guten Noten verteilt er aber auch kritische Fussnoten: etwa in Bezug Verbesserungsmöglichkeiten im Massnahmenzentrum St. Johannsen nach Fehleinschätzungen und fünf Rückfällen mit schweren Delikten in den vergangenen zehn Jahren. Aber auch in Bezug auf ungenügende Therapie- und Sicherheitsressourcen.

 Die Berner Strafvollzugsverantwortlichen haben also Grund, den Bericht erfreut zur Kenntnis zu nehmen. Sie haben aber auch die Pflicht, ihn selbstkritisch zu lesen, darin formulierte Kritik zu beherzigen, Empfehlungen umzusetzen. Dies im Wissen, dass Politiker, Medien und Öffentlichkeit auch in Zukunft sehr sensibel auf "bedauerliche Einzelfälle" reagieren werden. Doch auch sie, Politiker, Medien und Öffentlichkeit, werden Verantwortung mitzutragen haben: etwa wenn es darum geht, zu Forderungen nach zusätzlichen personellen Ressourcen im Betreuungs-, Therapie- und Sicherheitsbereich Ja zu sagen.

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BZ 18.2.11

Mehr Mittel für Vollzug

 Kanton BernIn den Anstalten Witzwil und im Massnahmenzentrum St. Johannsen herrschen keine eigentlichen Missstände. Zu diesem Schluss kommt ein Expertenbericht.

 Dem Berner Polizei- und Militärdirektor Hans-Jürg Käser (FDP) ist ein Stein vom Herzen gefallen: Der vor einem Jahr in Auftrag gegebene Expertenbericht stellt dem bernischen Straf- und Massnahmenvollzug weitgehend gute Noten aus. Der Regierungsrat gab die externe Untersuchung vor einem Jahr in Auftrag, weil es in den Anstalten Witzwil und im Massnahmenzentrum St. Johannsen zu verschiedenen Vorfällen wie etwa Ausbrüchen oder Drogenhandel unter den Insassen gekommen war.

 Allerdings stellt der Bericht auch Mängel fest. So sind die Sicherheitsdienste der Berner Gefängnisse personell unterdotiert - um das Niveau der Sicherheit zu erhöhen, bräuchten die Anstalten zusätzliche Ressourcen.

 Erste Massnahmen getroffen hat die Vollzugsanstalt St. Johannsen. Die Institution, welche 2009 wegen eines Missbrauchsfalls unrühmliche Schlagzeilen machte, hat ihre Strukturen verbessert und plant einen Ausbau von Personal und Bauten. Direktor Franz Walter zeigte sich erfreut, dass der Expertenbericht die eigenen Massnahmen bestätigt. Um die Verbesserungen zu realisieren, müsse die Regierung nun die finanziellen Mittel sprechen.as/cze Seite 12 + 13

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Strafvollzug   - Expertenbericht

 Knapper Personalbestand in Gefängnissen

 Ein Expertenbericht stellt dem bernischen Straf- und Massnahmenvollzug ein gutes Zeugnis aus. Eigentliche Missstände herrschen danach weder in den Anstalten Witzwil noch im Massnahmenzentrum St. Johannsen. Allerdings gibt es Defizite bei der Sicherheit.

 Im Vergleich zu anderen Kantonen gibt der Kanton Bern wenig für seine Gefängnisse aus. Trotzdem stellt nun ein Expertenbericht dem bernischen Straf- und Massnahmenvollzug ein weitgehend gutes Zeugnis aus. Das Personal erfülle seine Aufgaben absolut korrekt und auf gutem bis hohem Niveau, sagte Regierungsrat Hans-Jürg Käser (FDP), als er gestern den Bericht vorstellte.

 Die Regierung gab diesen in Auftrag, nachdem 2009 mehrere Vorfälle aus den Anstalten Witzwil und aus dem Massnahmenzentrum St. Johannsen bekannt geworden waren (siehe Box). Während des vergangenen Jahres durchleuchtete der externe Experte Andreas Werren, ehemaliger Leiter des Amtes für Justizvollzug des Kantons Zürich, die bernischen Gefängnisse, Anstalten und die entsprechenden Behörden.

 Fünf Fälle wiegen schwer

 Werren erstellte zunächst statistisches Material, das bis anhin nicht umfassend vorhanden war. In den Jahren 2000 bis 2009 begingen, soweit dies erfasst war, insgesamt 62 Gefangene neue Delikte. 25 davon innerhalb der Institutionen, 37 ausserhalb. Laut Werren sei dies statistisch gesehen "eine sehr geringe Quote". Allerdings seien fünf Fälle mit schweren Delikten bekannt. Diese trübten die sonst positive Bilanz. Es brauche beispielsweise auch eine Überprüfung und Klärung der Kompetenzen bei der Gewährung von Vollzugslockerungen im Massnahmenvollzug.

 Hier sieht Werren Handlungsbedarf vor allem im Massnahmenzentrum St. Johannsen. Dort sind gefährlichere Täter als sonst üblich in offenen Anstalten untergebracht. Die Entscheide für Vollzugslockerungen würden indessen analog offener Anstalten gehandhabt.

 Käser stellte sich gestern hinter die Form des offenen Strafvollzugs. Seit 2009 wurde namentlich im bürgerlichen Lager Kritik an dieser Vollzugsform laut. Das Abwägen, ob ein Gefangener für den offenen Vollzug infrage komme, sei hochsensibel. Fehleinschätzungen könnten nie völlig ausgeschlossen werden, betonte Käser. "Der offene Vollzug ist nicht in der Lage, und das darf man von ihm auch nicht erwarten, dass er die Öffentlichkeit zu 100 Prozent vor weiteren Delikten schützen kann."

 Bestehe der Verdacht, dass ein Gefangener fliehe oder weitere Straftaten begehe, werde er nicht in den offenen Vollzug aufgenommen, führte Franz Walter, Direktor des Massnahmenzentrums St. Johannsen, aus.

 Strafvollzug ohne Lobby

 Laut Käser zeigt der Expertenbericht, dass weder in Witzwil noch in St. Johannsen eigentliche Missstände herrschten. "Das freut mich für das Personal, das ganz offensichtlich einen guten Job macht."

 Doch es ist nicht alles Gold, was glänzt. Der Bericht nennt auch Defizite. So bemängelte Werren, dass St. Johannsen in der Therapie der Insassen nicht wie alle anderen Anstalten mit dem forensischen psychiatrischen Dienst der Uni Bern zusammenarbeite, sondern einen eigenen Dienst betreibe. Auch sei der Personalbestand der Sicherheitsdienste zu tief. Er werde den vorgeschlagenen Personalausbau im Rahmen des ordentlichen Budgetprozesses thematisieren, verspricht Käser. Dies dürfte nicht einfach sein. "Im Kantonsparlament wird laut nach Sparen gerufen, und der Straf- und Massnahmenvollzug hat keine Lobby."

sda/as

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 "Ich urteile nicht über Richter"

 Polizeidirektor Hans-Jürg Käser (FDP) ist erleichtert über das positive Ergebnis des Expertenberichts. Dessen Kritik nimmt Käser ernst und erklärt, wo bereits Massnahmen ergriffen wurden und wo er noch Korrekturen vornehmen will.

 Herr Käser, der Expertenbericht stellt dem Berner Straf- und Massnahmenvollzug ein gutes Zeugnis aus. Sind Sie erleichtert?

 Hans-Jürg Käser: Dass der Bericht zu einem positiven Schluss kommt, habe ich eigentlich erwartet. Trotzdem bin ich froh, dass dies nun durch die Untersuchung bestätigt wurde.

 Dennoch ortet der Bericht Verbesserungspotenzial und gibt Empfehlungen ab.

 Für St. Johannsen haben wir bereits im November 2009 Massnahmen zur Verbesserung der Sicherheit eingeleitet. Ein Teil davon ist bereits umgesetzt. Gestützt auf die Empfehlungen des Expertenberichts, werden wir nun auch strukturelle Korrekturen angehen. Etwa bei der besseren Vernetzung von Behörden und Fachleuten, wenn es um die Beurteilung von Häftlingen sowie die Lockerung des Vollzugs geht.

 Laut Bericht ist mehr Sicherheitspersonal in den Anstalten nötig. Um wie viele Stellen geht es, und was kostet dies?

 Wir haben dies erkannt und bereits eine personelle Verstärkung vorgenommen. So wurden letztes Jahr auf dem Thorberg im Bereich Sicherheit fünf Stellen geschaffen. Für das laufende Jahr haben wir weitere insgesamt siebeneinhalb Stellen auf dem Thorberg und in St. Johannsen geschaffen. Wie viele zusätzliche Stellen nötig sind, prüfen wir derzeit. Über diese befindet die Regierung in der Finanzplanung. Die Gesamtkosten kann ich derzeit nicht beziffern. Wir rechnen jedoch pro Stelle mit Kosten von rund 120 000 Franken.

 85 Prozent der Insassen von St. Johannsen wurden wegen schwerer Sexualdelikte oder wegen Delikten gegen Leib und Leben verurteilt. Ende 2009 galten 18 von 79 Häftlingen als gemeingefährlich. Weist die Justiz die falschen Leute in den offenen Vollzug ein?

 Ich urteile nicht über die Arbeit der Justiz. Nicht alle Gerichte arbeiten jedoch gleich.

 Sie sprechen sich für den offenen Strafvollzug aus. Was gewichten Sie höher: die Sicherheit der Bevölkerung oder die persönliche Freiheit der Häftlinge?

 In dieser Frage gibt es kein Entweder-oder. Mit den heutigen therapeutischen Massnahmen ist die Sicherheit im offenen Vollzug besser gewährleistet. Dieser kann die schädigenden Folgen des Freiheitsentzugs weitgehend vermeiden. Zudem bietet er mit seinen Übungsfeldern die Möglichkeit, die Wiedereingliederung der Eingewiesenen in die Gesellschaft zu fördern. Damit leistet der offene Vollzug einen erheblichen und nachhaltigen Beitrag zur Verhinderung von Rückfällen. Dies ist wichtig, weil irgendwann einmal die Strafe abgesessen ist und die Straftäter wieder in die Freiheit entlassen werden.

Interview: Andrea Sommer

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St. Johannsen hat die Sicherheit erhöht

 Die Anstalt St. Johannsen hat erste Massnahmen zur Erhöhung der Sicherheit getroffen. Fluchtversuche können dennoch nicht ausgeschlossen werden.

 Eineinhalb Jahre nach dem Skandal um den Kinderschänder von St. Johannsen (siehe Kasten) stellt eine Untersuchung der Anstalt in Le Landeron ein gutes Zeugnis aus. Kritik gibt es dennoch: Sowohl Therapie- als auch Sicherheitsressourcen seien momentan "nicht adäquat".

 Eine Frage des Geldes

 Für Anstaltsdirektor Franz Walter bestätigt der Bericht die geleistete Arbeit: "Nach dem Vorfall 2009 haben wir sehr genau hingeschaut, was schiefgelaufen ist." Der aktuelle Bericht decke sich stark mit der internen Analyse. So wolle man in Zukunft stärker auf das Primat der Sicherheit setzen. Es fänden mehr Standortbestimmungen und Anwesenheitskontrollen statt, zudem würden insbesondere Eintritte und Rückversetzungen noch kritischer beurteilt. Das sei nicht nur positiv: "Künftig könnten mehr Straftäter ohne Therapie direkt in die Freiheit entlassen werden", hält Walter fest.

 Um die Änderungen umzusetzen, benötigt Walter zusätzliches Personal. Ein Teil der beantragten Stellen im Sicherheitsbereich sei von der Regierung bereits bewilligt worden - der Entscheid über die restlichen ist noch hängig. Ebenfalls unklar ist, ob die 3,5 Millionen Franken gesprochen werden, welche St. Johannsen für die Umsetzung der baulich-technischen Massnahmen fordert. Das Gelände soll neu in fünf Sicherheitszonen eingeteilt werden. Entweichungen könnten so nach maximal zwei Stunden erfasst werden. In den meisten Fällen würde durch einen Alarm unmittelbar klar, dass ein Zaun überstiegen wurde.

 Sicherheit oder Therapie?

 "Der Fall aus dem Jahr 2009 kann sich so in dieser Form nicht mehr wiederholen", sagt Franz Walter. Damals wurde das Fehlen des Täters während vier Stunden nicht bemerkt. Gänzlich ausschliessen könne man eine Flucht aber nie, so der Direktor: "Es bleibt immer das Restrisiko Mensch." Auch die bestmögliche Prognostik hinterlasse laut Walter eine Unschärfe bei der Beurteilung - das Risiko einer Fehleinschätzung könne nur auf ein Minimum reduziert werden. In St. Johannsen bewege man sich auf einem "sehr tiefen Niveau der Eintretenswahrscheinlichkeit".

 Anstaltsdirektor Walter weist dabei auch auf das Dilemma des offenen Strafvollzugs hin: "Je besser wir das Leben nach der Entlassung simulieren, desto weniger Straftäter werden rückfällig", sagt Walter. Studien würden belegen, dass die Quote um den Faktor drei gesenkt werden könne. So entsteht ein Zielkonflikt zwischen Sicherheit und Therapie: Würde man den offenen Vollzug abschaffen, hätte man zwar eine maximale Sicherheit während des Vollzugs - danach jedoch ungenügend therapierte Straftäter mit höherer Rückfallgefahr.
 
Christian Zeier

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 Kinderschänder von St. Johannsen

 Rückblick Die Geschichte begann in St. Johannsen. Ende August 2009 entwischte ein verurteilter Kinderschänder beim Fischen aus dem Massnahmenzentrum am Bielersee, missbrauchte im nahen Strandbad ein Mädchen und kehrte wieder in den offenen Vollzug zurück. Als bekannt wurde, dass bereits 2008 ein Serienvergewaltiger aus dem Zentrum verschwunden war, stellte sich bald die Frage nach der Sicherheit des Vollzugs. Rund 85 Prozent der Insassen in St. Johannsen wurden wegen schwerer Delikte gegen Leib und Leben oder gegen die sexuelle Integrität verurteilt. Ende 2009 waren 18 der 79 Insassen als gemeingefährlich qualifiziert.

 Ebenfalls hinterfragt wurde die Sicherheit in den Anstalten Witzwil in Gampelen. Dort gab es in der Vergangenheit zwar mehr Entweichungen, allerdings sind die Insassen nicht als gemeingefährlich eingestuft. Der gestern veröffentlichte Bericht weist zudem auf einen häufigen Drogen- und Handybesitz in Witzwil hin. Die Verstösse hätten allerdings in den letzten Jahren klar abgenommen.cze

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BZ Kommentar

 WER A SAGT MUSS AUCH B SAGEN

Andrea Sommer

 Wer in der Schweiz ein schweres Delikt begeht, wird zur Strafe nicht einfach weggesperrt. Oberstes Ziel ist die Resozialisierung. Diesen Anspruch regelt der Gesetzgeber im Schweizerischen Strafgesetzbuch. Danach sind Freiheitsstrafen so zu gestalten, dass das soziale Verhalten des Gefangenen gefördert wird. Insbesondere seine Fähigkeit, straffrei zu leben. Dies mit gutem Grund: Irgendwann sind die meisten Freiheitsstrafen abgesessen, und der einstige Straftäter ist wieder auf freiem Fuss. Und weil das echte Leben am besten in der Praxis erlernt wird, ist es wichtig, dass der Vollzug nach und nach gelockert wird. So können die Gefangenen kontrolliert kleine Freiheiten üben.

 Mindestens so wichtig ist der Schutz der Allgemeinheit vor gefährlichen Straftätern. Dies sah auch der Gesetzgeber so, als er den Schutz der Allgemeinheit ebenso im Strafgesetzbuch verankerte wie die Aufgabe der Resozialisierung.

 Die Vergangenheit zeigte jedoch, dass dieser Schutz im bernischen Strafvollzug nicht immer funktioniert. Eben hier hakt auch der Expertenbericht ein und empfiehlt, die Sicherheitsdienste der Gefängnisse und Anstalten personell zu verstärken.
    
 Für die Politik gilt deshalb: Wer A sagt, muss auch B sagen. Damit der hehre Anspruch der Resozialisierung nicht an der Sparwirklichkeit scheitert.

 andrea.sommer@bernerzeitung.ch

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Langenthaler Tagblatt 18.2.11

Personalnot im Strafvollzug

 Kanton Bern Bericht findet keine "Missstände" - aber viel Geld, das fehlt

 Mehr Personal und eine Klärung der Kompetenzen bei Vollzugslockerungen: Dies sind die Empfehlungen des Experten, der nach happigen Vorwürfen den bernischen Straf- und Massnahmenvollzug durchleuchtet hat.

 Grundsätzlich stellt der gestern veröffentlichte unabhängige Prüfbericht dem Straf- und Massnahmenvollzug im Kanton aber gute Noten aus. Er attestiere Bern, dass das Personal seine Aufgaben absolut korrekt und gut bis sehr gut erfülle, kommentierte Polizei- und Militärdirektor Hans-Jürg Käser (FDP) vor den Medien in Bern.

 Käser entnimmt dem Bericht weiter, dass heute weder in Witzwil noch St. Johannsen "eigentliche Missstände" herrschten. Das freue ihn fürs Personal, das ganz offensichtlich "einen guten Job" mache, führte Käser aus.

 "Kuscheljustiz" - oder doch nicht?

 Er werde den Personalausbau im Budgetprozess einbringen, so der politisch Verantwortliche. Doch das dürfte nicht einfach sein: "Im Grossen Rat wird laut nach Sparen gerufen und der Straf- und Massnahmenvollzug hat keine Lobby", so Käser.

 2009 gerieten St. Johannsen und Witzwil in die Kritik: entwichene Insassen, Drogenhandel, unkontrollierte Besuche und Internetzugang - das Wort "Kuscheljustiz" kam auf.

 Käser stellte sich auch gestern dezidiert hinter den offenen Strafvollzug. Seit 2009 wurde namentlich im bürgerlichen Lager Kritik daran laut.

 St.-Johannsen-Direktor Franz Walter mahnte, werde dessen Praxis massiv verschärft, gelangten sofort mehr Täter in den geschlossenen Vollzug und damit später untherapiert in die Freiheit. (sda)Kommentar rechts, Seite 17

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"Es gibt keine eigentlichen Missstände"

 Straf- und Massnahmenvollzug Experte empfiehlt Bern, mehr Personal und Kompetenzen zu klären

Samuel Thomi

 "Entgegen den in den Medien erhobenen Vorwürfen existieren weder in Witzwil noch in St. Johannsen eigentliche Missstände." Hans-Jürg Käser schliesst aus seinem Fazit des gestern präsentierten Expertenberichtes: "Der Straf- und Massnahmenvollzug in bernischen Einrichtungen erfolgt grundsätzlich getreu dem gesetzlichen Auftrag", so der zuständige Regierungsrat. Und: Mit den Resultaten des Gutachtens, das die Regierung bei Andreas Werren, früherer Leiter des Zürcher Justizvollzuges, in Auftrag gab, sieht Käser den in den letzten zwei Jahren mehrfach geäusserten Vorwurf der "Kuscheljustiz" entkräftet. Dafür spreche nicht zuletzt, dass etwa der Besitz von Drogen und Mobiltelefonen in Strafanstalt Witzwil rückläufig ist. "So, wie es keine drogenfreie Gesellschaft gibt, ist auch ein Strafvollzug ganz ohne Drogen nicht möglich", kommentierte Käser.

 Witzwil: Regelverstösse nehmen ab

 Nebst grundsätzlichem Lob für die Arbeit enthält der Bericht bisweilen aber auch heftige (Detail-)Kritik: So mangelt es in Berns Anstalten an Personal. Im zuständigen Amt für Freiheitsentzug und Betreuung ist die Führungsspanne zu gross. Oder die Kompetenzen, wer für Vollzugslockerungen zuständig ist, müsse noch genauer geklärt werden (vgl. Kästchen). Der letzte Punkt war denn auch eine der Ursachen, die zur Untersuchung führten: "Die Abwägung, ob ein Verurteilter für den offenen Vollzug infrage kommt, ist ein sensibler Akt", so Käser. "Fehleinschätzungen können nie ganz ausgeschlossen werden."

 Franz Walter, Direktor der Massnahmenvollzugsanstalt St. Johannsen, ergänzte: "Besteht der Verdacht, dass ein Gefangener flieht oder weitere Straftaten begeht, wird er heute nicht mehr aufgenommen." Schliesslich, so Walter, sei der offene Vollzug "eine stete Gratwanderung". In der grossen Mehrzahl der Fälle sei die Wirkung unbestritten. Und man habe nun fünf Detektionszonen eingerichtet, um allenfalls Flüchtige rascher zu bemerken, doch: "Wir wollen St. Johannsen nicht in eine geschlossene Anlage verwandeln." Dazu mahnte Walter, werde die Praxis allzu streng verschärft - wie das etwa die SVP mehrfach forderte -, gerieten künftig nur mehr Straftäter in den geschlossenen Vollzug und später einmal untherapiert wieder in die Freiheit.

 Andreas Werren kommt ferner zum Schluss, der oft kritisierte Besitz von Drogen und Handys in Witzwil - so genannte Regelverstösse - seien "im Zehnjahresvergleich klar rückläufig". Direktor Hans-Rudolf Schwarz nahm dies "befriedigt" zur Kenntnis.

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 Keine Statistik zu Vorfällen

 Der Expertenbericht bemängelt, amtsintern führe der Kanton keine umfassende Statistik zu sicherheitsrelevanten Daten. Amtsleiter Martin Kraemer teilt die Kritik, sieht bei einer Aufstockung "an anderen Orten dringenderen Bedarf". Andreas Werren hat aus den vorhandenen Angaben dennoch eine Statistik erstellt: So gab es zwischen 2000 und 2010 33 Ausbrüchen aus geschlossenen Anstalten, in den letzten Jahren massiv weniger. Zeitgleich kam es im offenen Vollzug zu 478 unerlaubten Abwesenheiten; in Witzwil und St. Johannsen wurde je ein neues Delikt begangen. Ferner begingen in derselben Zeit 62 Gefangene neue Delikte - 25 in den Institutionen selbst, der Rest im Ausgang oder Urlaub. Fünf Fälle (alle in Johannsen) waren schwere Delikte. (sat)

 Einzelfälle besser "managen"

 Zwar attestiert Andreas Werren dem bernischen Amt für Freiheitsentzug und Betreuung "klar definierte und funktionierende Führungsinstrumente und -strukturen". Selbes gelte für die vorgesetzte Polizei- und Militärdirektion (POM). Deren Chef Hans-Jürg Käser werde "offen, transparent und zeitgerecht informiert" und könne so seiner Verantwortung gerecht werden. Dennoch sei die Führungsspanne von Amtsleiter Martin Kraemer zu gross (15 direkt unterstellte Einheiten). Laut Käser ist das Problem erkannt und eine Reorganisation geplant. Ebenso die Experten-Kritik am Einzelfallmanagement: "Jeder Fall geht über meinen Tisch", sagt zwar Kraemer. Doch Zuständigkeiten bei allfälligen Massnahmen-Lockerungen müssten noch klarer werden, so Werren. (sat)

 Mehr Sicherheitspersonal

 2010 wurden auf dem Thorberg zwar 5 und per 2011 in St. Johannsen und Thorberg weitere 7,5 Stellen geschaffen. Dennoch seien "mehrere berechtigte weitere Stellenbegehren des Amtes für Freiheitsentzug und Betreuung hängig", so Hans-Jürg Käser. "Die Regierung anerkennt den Handlungsbedarf", kommentierte er die Kritik im "Bericht Werner"; insbesondere bei den Sicherheitsdiensten in den Konkordatsanstalten (Thorberg, Hindelbank, Witzwil und St. Johannsen) tue eine Aufstockung dringend not. Der Untersuchungsbericht geht gar noch weiter und sieht Ausbaubedarf auch bei gewissen Regionalgefängnissen: "So, dass rund um die Uhr jeweils eine für allfällige Interventionen ausreichende Besetzung möglich ist." (sat)

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Kommentar

 Gute Noten reichen nicht

Samuel Thomi

 Der Straf- und Massnahmenvollzug im Kanton funktioniert grundsätzlich gut bis sehr gut. Das externe Gutachten ergibt auch, kein anderer Kanton betreue seine Verurteilten so günstig wie Bern. Ob all dem Lob droht die teils massive Detailkritik an der Anstalt Witzwil und dem Massnahmenzentrum St. Johannsen vergessen zu gehen.

 Die Untersuchung von Andreas Werren, der in den letzten Jahren erhobene "Kuscheljustiz"-Vorwürfe klärte, zeigt auch ungeschönt Mängel in Berns Anstalten. So ist nun amtlich, dass bezüglich Vollzugslockerungen die Verantwortlichkeiten intern klarer definiert werden müssen und der Amtsleiter zu vielen Organisationen vorsteht. Dass nicht immer alle Klienten beim Eintritt richtig eingeschätzt wurden. Oder dass zu wenig Sicherheitspersonal respektive Geld zur Verfügung steht. Und: Sollen die Verbesserungen umgesetzt werden, wirds teuer.

 Nicht jeder Expertenbericht in Berns jüngerer Geschichte bezog derart klar Stellung. Das ist dem Verfasser zugutezuhalten. Nun aber zählt, was Berns Politik daraus macht. Erste Anzeichen eines Mentalitätswandels, den Straf- und Massnahmenvollzug nicht weiter zu tabuisieren, reichen nicht. Diese Ankündigung muss nun gelebt werden. Als die Anstalten in der Kritik standen, bestätigten Justiz, Verwaltung und Regierung jeweils nur, was bekannt war.

 Dass der Wandel nottut, zeigt nicht zuletzt die jüngst von der SVP mehrfach geforderte Abschaffung des offenen Vollzugs. Solange jedoch das Ziel einer Strafverbüssung die Reintegration beinhaltet, einstige Täter also nicht von einem Tag auf den anderen unvorbereitet entlassen werden sollen, müssen die Angebote des offenen Vollzugs auf allen Ebenen so sicher wie möglich gemacht werden.

 samuel.thomi@azmedien.ch

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20 Minuten 18.2.11

Mehr Personal in Strafanstalten gefordert

 BERN. Der Straf- und Massnahmenvollzug im Kanton Bern erfüllt grundsätzlich die Sicherheitsanforderungen. Zu diesem Schluss kommt Andreas Werren, ehemaliger Leiter des Amts für Justizvollzug des Kantons Zürich. Werren nahm als externer Experte die Berner Strafanstalten unter die Lupe, nachdem das Gefängnis Witzwil und das Massnahmenzentrum St. Johannsen in die Kritik geraten waren. Drogenhandel, unkontrollierte Besuche und freier Zugang zum Internet sorgten 2009 in Witzwil für einen Skandal. Das Massnahmenzentrum St. Johannsen in Le Landeron geriet im selben Jahr in die Schlagzeilen, nachdem ein Sexualstraftäter aus dem offenen Vollzug entwichen war und sich an einem Mädchen vergangen hatte. Trotz des guten Zeugnisses schlägt Werren aber vor, mehr Personal einzustellen und klare Kompetenzen für Vollzugslockerungen zu schaffen.  

NINA JECKER

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AJZ BIEL
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Bund 25.2.11

Gaswerkareal erhält für 54 Millionen ein neues Gesicht

 Dem vom Stadtrat beschlossenen Paket muss das Stimmvolk noch dreifach zustimmen.

 Grünes Licht für die Umgestaltung des Bieler Gaswerkareals: Das Stadtparlament hat am Mittwochabend den für die Neugestaltung des Areals nötigen Kredit von insgesamt 54 Millionen Franken genehmigt. Bevor gebaut werden kann, muss das Bieler Stimmvolk über drei der vom Rat beschlossenen Vorlagen befinden. Die erste: Das Grundstück, das zurzeit als Parkplatz des Kongresshauses genutzt wird, muss erst von Altlasten befreit werden, die unter dem Asphaltbelag versiegelt sind. Die giftigen Abfälle stammen aus der 1967 eingestellten Gasproduktion. Für deren Beseitigung sind insgesamt 8 Millionen Franken veranschlagt.

 In einem zweiten Schritt sollen die über 600 Parkplätze in ein unterirdisches Parkhaus verlegt werden. Es ist geplant, dass diese die stadteigenen Parking Biel AG baut. Die Kosten betragen 28 Millionen Franken. Dazu gewährt die Stadt Biel aus der Sonderrechnung Parkplatzwesen ein zinsloses Darlehen von 3 Millionen und ein verzinsliches Darlehen von 5 Millionen. Der Rest wird über Bankkredite finanziert.

 Landverkauf an Shopping-Center

 In der zweiten Volksvorlage geht es um die Gestaltung des Areals. Über dem Parking ist ein öffentlicher Platz geplant, östlich davon ein Park. Mit der Erneuerung des Kongresshaus-Parks ergeben sich Kosten von 15,2 Millionen Franken. Damit die Nordseite des Platzes eine angemessen gestaltete Fassade erhält, hat die Stadt Biel die Eigentümerin des angrenzenden Shopping-Centers dafür gewonnen, einen Anbau zu erstellen. Dafür will sie ihr 5600 Quadratmeter Land verkaufen - Volksvorlage Nummer drei. Der daraus resultierende Buchgewinn von 8 Millionen Franken wird weitere Projekte mitfinanzieren. Dasselbe gilt für 12 Millionen aus einem anderen Landverkauf. Als Gefäss dafür hat das Stadtparlament die Spezialfinanzierung Esplanade geschaffen.

 Schliesslich soll mit der Umgestaltung die Gelegenheit genutzt werden, das Nebenhaus des Autonomen Jugendzentrums (AJZ) durch einen Anbau an das Konzertlokal im ehemaligen Gaskessel zu ersetzen. Dafür stellt die Stadt Biel dem AJZ 2,8 Millionen Franken zur Verfügung.

 Kritik von links und rechts

 Obwohl das Paket im Rat eine Mehrheit fand, gab es auch kritische Stimmen. Den Grünen waren die Vorlagen zu wenig ökologisch und nachhaltig. Ihr Antrag, für den Anbau des Einkaufszentrum das Minergie-P-Label vorzuschreiben, unterlag deutlich. Die Bieler Volkspartei bekämpfte dagegen den AJZ-Beitrag. Die meisten Gegenstimmen erhielt der Landverkauf.(sda)

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AUSNÜCHTERUNGSZELLE
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Landbote 24.2.11

Unschöne, aber nützliche Einrichtung

 ZÜRICH. Der seit letztem März laufende Pilotversuch mit der Zentralen Ausnüchterungsstelle (ZAS) in Zürich soll um ein Jahr verlängert werden.

 Bis Mitte nächsten Monat will der Zürcher Stadtrat über den Verlängerungsantrag des Polizeidepartements entscheiden. Dabei handle es sich um eine "reine Formsache", wie Reto Casanova, Sprecher des Polizeidepartements, zu einem Bericht des "Tages-Anzeigers" von gestern sagt. Die Zahlen belegten, dass die im vergangenen März eröffnete ZAS eine nützliche Einrichtung sei - "so unschön sie auch ist". Sie habe deutlich zur Entlastung der Quartierwachen beigetragen.

 Laut Casanova besteht durchaus Bedarf für eine dauerhafte Lösung. So bestünden Pläne, die ZAS mit dem Vermittlungs- und Rückführungszentrum (VRZ) zusammenzulegen. Diese Einrichtung für Drogenabhängige ist in der Kaserne untergebracht. Ein Entscheid darüber erwartet Casanova frühestens im kommenden Herbst.

 Durchschnittlich 12 Benutzer

 Bis Ende 2010 haben insgesamt 510 Betrunkene ihren Rausch in den ausgedienten Gefängniszellen in der Nähe des Hauptbahnhofes ausschlafen müssen. Pro Wochenende zählt die ZAS durchschnittlich zwölf Benutzerinnen und Benutzer. Ein Grossteil der in die ZAS Eingelieferten ist zwischen 18 und 40 Jahre alt, männlich und stammt aus der Stadt oder dem Kanton Zürich. Die Kosten für die Ausnüchterung werden grösstenteils auf die Benutzer abgewälzt. Ein "Zimmer" kommt diese teuer zu stehen: Je nach Aufenthaltsdauer sind sie der ZAS 600 bis 950 Franken schuldig. Die Zahlungsmoral war zu Beginn schlecht, wie der zuständige Projektleiter Anfang Oktober beklagte. Seither sei die Situation jedoch "deutlich besser" geworden, sagt Casanova.

 Immer an den Wochenenden

 Geöffnet ist die ZAS immer von Freitagabend bis Sonntagnachmittag. Für die nächtliche Betreuung stehen jeweils ein Polizist, drei Angestellte einer Sicherheitsfirma sowie zwei medizinische Fachpersonen bereit. (sda)

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Tagesanzeiger 23.2.11

"Hotel Suff" in der Urania-Wache soll ein weiteres Jahr geöffnet bleiben

 Die Stadt Zürich will den Pilotversuch mit der landesweit ersten Zentralen Ausnüchterungsstelle verlängern. Die Zahlungsmoral der Trinker hat sich verbessert - trotz Preisen von bis zu 950 Franken pro Nacht.

 Von Martin Huber

 Zürich -Betrunkene, die die öffentliche Ordnung, sich selbst oder andere gefährden, kann die Polizei auch künftig in spartanisch eingerichteten Zellen unterbringen:Die Zentrale Ausnüchterungsstelle (ZAS) in der Urania-Hauptwache nahe dem Hauptbahnhof habe sich "sehr gut bewährt", sagt Reto Casanova, Sprecher von Zürichs Polizeivorsteher Daniel Leupi (Grüne). Das Polizeidepartement will den Pilotversuch deshalb um ein Jahr verlängern.

 Das letzte Wort in der Sache hat der Stadtrat, der Anfang März über den Antrag entscheiden wird. Ein Ja dürfte allerdings Formsache sein. Casanova: "Wir rechnen damit, dass der Versuch verlängert wird." Die beteiligten Institutionen, das Polizeidepartement und das Gesundheits- und Umweltdepartement, seien für das Weiterbestehen der Einrichtung. Der Bedarf dafür sei "klar ausgewiesen".

 Die Ausnüchterungsstation war im vergangenen März als ein auf ein Jahr befristetes Pilotprojekt in Betrieb genommen worden mit dem Ziel, die Regionalwachen der Polizei und die Notfallstationen der Spitäler zu entlasten. Seither ist die Einrichtung jeweils von Freitag, 22 Uhr, bis Sonntag, 15 Uhr geöffnet. Die Betrunkenen stehen in den Zellen unter medizinischer Aufsicht. Die Stadt rechnet unter dem Strich mit Kosten von rund 330 000 Franken pro Jahr.

 Nur wenige Minderjährige

 Laut Departementssprecher Reto Casanova wurden bis Ende 2010 insgesamt 510 Betrunkene in der ZAS eingeliefert. Im Durchschnitt brachte die Polizei pro Wochenende 12 Personen dort unter, wovon im Schnitt eine in ein Spital überwiesen werden musste. 75 Prozent der "Gäste" stammten aus Stadt und Kanton Zürich, lediglich 5 Prozent waren Frauen. Die ursprüngliche Annahme, dass viele minderjährige "Komasäufer" in die Ausnüchterungszellen gebracht werden, hat sich nicht bewahrheitet. Laut Casanova waren nur sehr wenige Personen unter 18 Jahre alt, der Hauptharst der Aufgegriffenen war zwischen 18 und 40 Jahre alt. Drei Viertel aller ZAS-Klienten seien von Drittpersonen bei der Polizei gemeldet worden, was zeige, dass die Stadtpolizei nicht aktiv Jagd auf Betrunkene auf Zürichs Strassen mache.

 Die eingewiesenen Personen verhalten sich in der ZAS nicht selten renitent. Aber darauf sei man vorbereitet, wie Casanova betont. Die Überwachung der Betrunkenen hat die Stadtpolizei einer privaten Sicherheitsfirma übertragen, was anfänglich auf Kritik stiess. Laut Casanova hat es in dieser Hinsicht bisher keinerlei Probleme gegeben.

 Ausnüchtern auf eigene Kosten

 Als Novum in der Schweiz werden die Kosten für die Ausnüchterung in der ZAS auf die Eingelieferten überwälzt. Damit unterscheidet sie sich von den Notfallstationen der Spitäler, wo nicht die Betrunkenen zur Kasse gebeten werden, sondern in aller Regel die Krankenkassen die Kosten für die Ausnüchterung übernehmen. Wer dagegen in der Ausnüchterungszelle eine ganze Nacht lang betreut werden muss, bezahlt 950 Franken - gleich viel wie für ein Doppelzimmer im Luxushotel. Wer in weniger als drei Stunden wieder auf den Beinen ist, muss 600 Franken berappen.

 Die Zahlungsmoral der Ausgenüchterten hat sich laut Casanova in den vergangenen Monaten "wesentlich verbessert". Anfänglich hatte es mit dem Inkasso für die teuren Süffelzellen gehapert. Nach sechs Monaten Betrieb waren erst 90 000 von 250 000 Franken, die in Rechnung gestellt worden waren, bezahlt. Allerdings muss sich die Stadt mit Rechtsstreitigkeiten bezüglich der Ausnüchterung und deren Verrechnung in der ZAS auseinandersetzen. "Es gab einige wenige Einsprachen", sagt Casanova. Nähere Angaben wollte er mit Blick auf die laufenden Verfahren nicht machen.

 Standortfrage ungeklärt

 Die Zentrale Ausnüchterungsstelle soll vorerst weiter in der Hauptwache Urania untergebracht bleiben. Pläne, die Einrichtung mit dem seit 15 Jahren in der Kaserne im Kreis 4 bestehenden Vermittlungs- und Rückführungszentrum für Drogenkonsumenten zusammenzulegen, sind laut Casanova immer noch aktuell, allerdings noch nicht spruchreif.

 Die Suche nach einem neuen gemeinsamen Standort dauere an. Ein Entscheid werde frühestens nächsten Herbst fallen. Das Zürcher Projekt stösst auch in anderen Schweizer Städten auf Interesse. So hat sich das Berner Kantonsparlament Ende Januar für die Einrichtung einer zentralen Ausnüchterungszelle ausgesprochen. Auch im Kanton Luzern hat sich die Regierung zu einem ähnlichen Vorstoss positiv geäussert. Sie würde Ausnüchterungszellen begrüssen, will aber zuerst die Erfahrungen aus Zürich abwarten.

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REPRESSION & HETZE
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Sonntagsblick 27.2.11

Das sagt der Staatsanwalt

Fehrs Schläger zeigt keine Reue

 VON  ROMINA LENZLINGER

 Die Attacke auf SVP-Mann Hans Fehr muss der Schweiz Sorgen machen. Dies zeigen die Ermittlungen. Die Linksautonomen griffen den Politiker gezielt an. Von Reue keine Spur.

 Es passierte am Rande der Albisgüetlitagung am Abend des 21. Januar. Linksautonome griffen den Zürcher SVP-Nationalrat Hans Fehr (64) an und verprügelten ihn. Ein gezielter Angriff, wie nun klar ist. "Die Chaoten haben Fehr als Fehr erkannt. Sie traten bewusst auf ihn ein, weil ihnen seine politische Haltung missfällt", sagt Staatsanwalt Markus Imholz. Die Attacke sei eine völlig neue Dimension von Gewalt - eine, die er in dieser Art in der Schweiz noch nie gesehen habe. Dadurch werde das Delikt noch viel gravierender. Einer der mutmasslichen Täter, ein 32-jähriger Zürcher sitzt seither in Haft. "Von Reue ist bei ihm nichts zu spüren", sagt Imholz. Ob der Häftling möglicherweise beabsichtigt, zu kooperieren und seine Kollegen preisgeben will, will der Staatsanwalt nicht verraten.

 Noch sind nicht alle Täter gefasst. Doch es wird eng. Imholz wird diese Woche vier weitere Gespräche führen. Er schliesst nicht aus, dass er weitere Personen verhaften lässt. Ende Woche will er die Resultate seiner Ermittlungen der Öffentlichkeit präsentieren.

 Inzwischen ist klar, dass die Wortführerin der Linksautonomen, Andrea Stauffacher, nichts mit der Attacke auf den SVP-Hardliner zu tun hatte. "Sie wird weder vorgeladen noch befragt. Ich weiss nicht einmal, ob sie an der Kundgebung mit dabei war", sagt Imholz.

 Sicher scheint, dass Frauen eine zentrale Rolle spielten. Möglich ist, dass sie Fehr sogar das Leben retteten. "Es ist richtig, dass Frauen die Schläger stoppten." Fehr selbst, der sich nicht äussern will, geht es mittlerweile deutlich besser.

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St. Galler Tagblatt 24.2.11

Vorstösse wegen Vermummten an WEF-Demo

 SVPler haben auf Kantons- und Stadtebene Vorstösse zur Demo gegen das WEF eingereicht. Sie kritisieren, das Vermummungsverbot sei nicht durchgesetzt worden.

 An der bewilligten Anti-WEF-Demo am 22. Januar in der Stadt St. Gallen waren vermummte Demonstranten dabei. Im Kantonsrat und im Stadtparlament eingereichte Vorstösse beschäftigen sich nun mit der Demo, an der rund 400 Personen teilnahmen und es zu Prügeleien kam. Beide kommen aus den Reihen der SVP und stellen unter anderem die Frage, warum das Vermummungsverbot nicht durchgesetzt worden sei.

 Polizeiliche "Raucherhetze"?

 Die drei Kantonsräte, welche im Sarganserland und dem Untertoggenburg zu Hause sind, äussern sich zudem zur Kontrolle des Rauchverbots. Unter dem Titel "Falsche Prioritäten der Polizei?" stellen sie fest, dass die Kantonspolizei vier Kantonspolizisten für eine Raucher-Razzia im Sarganserland einsetze. Es "verwundere sehr", dass die Polizei für solche "nicht sicherheitsrelevanten Aktionen" Zeit finde. Zudem wollen sie von der Regierung wissen, ob die Polizei nicht wichtigere Aufgaben als diese "Raucherhetze" habe. Solche Aktionen würden "den Frieden unter der Bevölkerung stören" und liessen "den Glauben an die Vernunft anzweifeln".

 "Die Polizei schaute zu"

 Die Stadt-SVPler hingegen beschäftigen sich ausschliesslich mit der Demo. "Das Vermummungsverbot wurde missachtet und die Polizei schaute zu", stellen sie fest. Weil sie davon ausgehen, dass die Polizei bei einer kleineren Anzahl Demonstrierender eingegriffen hätte, fragen sie. ab wie vielen Demo-Teilnehmern sie "nicht mehr einschreite". Zudem wollen sie die Kosten für den Polizeieinsatz und die Sachschäden beziffert wissen und Auskunft über "Personenschäden". Sie erkundigen sich auch, ob sich die Polizei "bei den unbeteiligten Opfern des Saubannerzuges um Wiedergutmachung bemüht oder entschuldigt" habe. (kl)

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BZ 18.2.11

Wegen zu dicker Handgelenke ersetzt die Armee alle Handschellen

 Armee. Weil das Handgelenk des Durchschnittsmenschen heute dicker ist als noch vor zwanzig Jahren, ersetzt die Armee alle ihre Handschellen durch neue grössere. Gleichzeitig stockt sie den Bestand von 1500 Stück auf 6800 auf und führt eine neue Fesselungspraxis ein.

 Die Schweizer Armee ersetzt ihren gesamten Bestand an Handschellen. Gleichzeitig erweitert sie ihn von rund 1500 Stück auf 6800. Die 6800 neuen Handschellen sollen im nächsten Jahr geliefert werden. Armeesprecher Daniel Reist bestätigt entsprechende Recherchen dieser Zeitung. Wie viel die Beschaffung der neuen Fesseln kostet, ist noch nicht klar.

 Handschellen für alle

 Bis jetzt standen ordnungsgemäss nur der Militärpolizei Handschellen zur Verfügung. Alle anderen Truppen mussten zur Fesselung Kabelbinder benutzen - sowohl in der Ausbildung wie auch in Ernstfalleinsätzen wie etwa dem WEF.

 Kabelbinder sind schmale Kunststoffriemen. Sie werden eigentlich zur Bündelung von Stromkabeln hergestellt. Sie lassen sich allerdings nur einmal verwenden. Zum Öffnen müssen sie zerschnitten werden. Fesselungen von Personen sind ein Bestandteil in der Ausbildung vieler Truppengattungen.

 Mit dem Kauf der neuen Handschellen führt der Bund in der ganzen Armee eine neue Fesselungspraxis ein. Künftig sollen Soldaten und andere Armeeangehörige aller Truppengattungen Fesselungen nur noch mit Handschellen statt mit Kabelbindern durchführen. Dies sowohl in der Ausbildung wie auch bei Einsätzen. Damit will die Armee eine Vereinheitlichung der Fesselungsmethoden erreichen. Armeesprecher Reist begründet die Umstellung folgendermassen: "Die breite Verwendung von Kabelbindern als Einwegartikel verursacht hohe wiederkehrende Kosten." Kabelbinder haben laut Reist noch andere Nachteile: Sie bergen bei Verwendung als Fesselungswerkzeug Verletzungsgefahr - wegen Durchblutungsstörungen oder beim Aufschneiden der Kunststoffriemen. Zudem seien sie auch weniger sicher als Handschellen.

 Zu dicke Handgelenke

 Die Begründung der Armee, weshalb die vorhandenen 1500 Handschellen ersetzt werden, klingt im ersten Augenblick wie ein Scherz: Man habe festgestellt, dass "die bislang verwendete Handschelle dem heutigen Umfang von Handgelenken zunehmend nicht mehr genügt", sagt Armeesprecher Reist. Das sei nicht etwa ein Witz, das Handgelenk des Durchschnittsmenschen sei in den letzten Jahren tatsächlich kräftiger und damit breiter geworden, so Reist.

 Ausserhalb der Armee haben Kabelbinder als Fesselungsinstrument allerdings noch lange nicht ausgedient: Kantonspolizeien verwenden bei Demonstrationen oder ähnlichen Einsätzen bis heute sehr oft Kabelbinder statt Handschellen.
 
Mischa Aebi

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 Mehr Durchdiener

 Armee Immer mehr Armeeangehörige leisten ihren Dienst am Stück. 2010 wurden über 3800 Durchdiener rekrutiert, 75 Prozent mehr als im Vorjahr. Nicht verändert hat sich die Rate der Dienstuntauglichen.

 Im Jahr 2010 hat die Armee insgesamt 41 959 Stellungspflichtige rekrutiert, wie das Verteidigungsdepartement (VBS) am Donnerstag mitteilte. Dies sind rund 5 Prozent mehr als im Vorjahr. Ein Teil von ihnen wurde zurückgestellt.

 Von den am Ende 40 535 Beurteilten waren 66 Prozent für den Militärdienst und 16 Prozent für den Zivilschutz tauglich. Rund 18 Prozent waren weder für den Militärdienst noch für den Zivilschutz tauglich. Im Vergleich zum Vorjahr blieb die Rate damit konstant.

 Die Tauglichkeitszahlen lägen im Rahmen der letzten fünf Jahre, schreibt das VBS. Zugenommen hat - neben der Zahl der Durchdiener - die Zahl der Frauen: Im Jahr 2010 liessen sich 141 Frauen freiwillig rekrutieren, 2009 waren es 115. Bei den Frauen waren rund 77 Prozent tauglich.

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BIG BROTHER VIDEO
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NZZ 25.2.11

Virtuelle und reale Schauplätze polizeilich observieren

 Der Regierungsrat will neue Grundlagen im Polizeigesetz schaffen - und wartet dennoch ungeduldig auf eine Bundeslösung

 Unter anderem die Videoüberwachung und die Observation öffentlicher Räume, realer oder virtueller, sollen im kantonalen Polizeigesetz neu geregelt werden. Letzteres betrifft auch Chatroom-Überwachungen oder das Vorgehen gegen Drogendealer.

 brh. · Seit vergangenem Herbst wird in der Schweiz heftig darüber debattiert, warum in der neuen eidgenössischen Strafprozessordnung die rein präventive verdeckte Ermittlung nicht mehr geregelt wird. Es geht beispielsweise darum, dass die Strafverfolger in Internetforen oder in Chatrooms für Jugendliche als Teilnehmer mit falscher Identität (etwa als "Lara_13") auftauchen und abwarten, was geschieht. Mit solchen "fishing-expeditions" wollen sie herausfinden, ob sich in den Foren kriminelle Elemente mit unlauteren Absichten tummeln. Die Polizei hat Interesse daran, auch ausserhalb einer Strafuntersuchung tätig werden zu dürfen, und zwar ohne dass ein konkreter Tatverdacht besteht und ohne dass eine Anzeige erstattet wurde. Man will in einem frühen Stadium einschreiten können - bevor es zur Straftat kommt. Dieser Möglichkeit sieht sich die Polizei beraubt: wegen der Gesetzeslücke in der Strafprozessordnung, aber auch wegen des strengen Umgangs des Bundesgerichts mit der verdeckten Ermittlung.

 Vernehmlassung gestartet

 Vor diesem Hintergrund schlägt der Regierungsrat vor, die polizeiliche Observation und die polizeiliche Kontaktaufnahme mit einer falschen Identität neu im kantonalen Polizeigesetz zu verankern - und wartet trotzdem ungeduldig auf eine Bundeslösung. Der Vernehmlassungsentwurf für die vorgeschlagenen Gesetzesänderungen ist am Donnerstag veröffentlicht worden. Man gehe im Kanton Zürich weiterhin davon aus, dass präventive polizeiliche Fahndungen sowie das verdeckte Auftreten ohne konkreten Tatverdacht im Bundesrecht klar von der bewilligungspflichtigen verdeckten Ermittlung abgetrennt werden müssten, sagte Jolanda van de Graaf, Sprecherin der Sicherheitsdirektion. Mit der neuen Regelung im Polizeigesetz wolle man einfach parat sein, wenn die Lücke im Strafprozessrecht gestopft werde: "Der Bund wird mit unserer kantonalen Lösung nicht dispensiert." Die neuen Paragrafen sprechen den Polizeien die Kompetenz zu, den öffentlichen Raum offen oder verdeckt zu beobachten sowie Kontakte zu knüpfen, "ohne die wahre Identität und Funktion bekanntzugeben". Verboten bleibt nach wie vor, zur kontaktierten Person ein besonderes Vertrauensverhältnis aufzubauen.

 Doch was ändert sich in der polizeilichen Arbeit konkret, wenn die neuen, vom Regierungsrat vorgeschlagenen Paragrafen in Kraft treten? "Vorerst nichts", sagt die Sprecherin der Sicherheitsdirektion, "es ändert sich erst etwas, wenn der Bund die Strafprozessordnung ergänzt hat." Die heiklen Internetforen wie auch die heiklen Strassen und Plätze im öffentlichen Raum werden weiterhin beobachtet; aber eingreifen oder verdeckt teilnehmen darf die Polizei erst, wenn sie einen konkreten Tatverdacht hat oder wenn eine Anzeige erfolgte. Es könne nicht die Rede davon sein, so van de Graaf, dass die Polizei gar nichts mehr tue. Man observiere nach wie vor, einfach unter stark eingeschränkten Voraussetzungen. So wird etwa darauf verzichtet, sich unter falschen Angaben in einem Chatroom einzuloggen oder in einer Versteigerungsplattform mitzubieten - wenn dies nur rein präventiv geschieht, ohne Anzeige und ohne konkreten Verdacht.

 Regeln zur Videoüberwachung

 Die vom Regierungsrat vorgeschlagenen Änderungen des Polizeigesetzes betreffen nun aber nicht nur die verdeckte Fahndung. Die Exekutive musste auch die polizeiliche Videoüberwachung neu regeln, weil das Bundesgericht auf Beschwerde hin die alte Fassung als zu weitgehend und zu vage taxiert und die Norm deshalb aufgehoben hatte. Die neue Regelung ist um einiges ausführlicher und konkreter ausgefallen, allerdings ist sie ohne den kantonalen Datenschutzbeauftragten ausgearbeitet worden. Bruno Baeriswyl will sich nun im Rahmen der Vernehmlassung zur vorgeschlagenen neuen Lösung äussern, wie er am Donnerstag auf Anfrage sagte.

 Eine dritte Änderung des Polizeigesetzes betrifft den Umgang mit den Hotelmeldescheinen. 2008 führte der Kanton Zürich die elektronische Hotelkontrolle ein, was es der Polizei seither ermöglicht, sämtliche Neueingänge täglich mit schweizerischen und internationalen Polizeidatensystemen abzugleichen. Dank diesen Kontrollen, so der Regierungsrat, entdecke die Polizei jeden Monat bis zu 300 Personen, die zur Verhaftung ausgeschrieben seien.

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Landbote 25.2.11

Überwachung als Prävention?

 Zürich. Die Polizei darf im Kanton Zürich wegen eines Bundesgerichtsentscheids seit Dezember 2009 keine neuen Überwachungskameras mehr im öffentlichen Raum installieren. Jetzt soll diese Lücke geschlossen werden. Die Sicherheitsdirektion gibt eine Ergänzung zum Polizeigesetz in die Vernehmlassung. Darin soll festgeschrieben werden, wer wo zu welchem Zweck den öffentlichen Raum per Video überwachen darf. Wichtig ist die Gesetzesgrundlage vor allem dort, wo es um Aufnahmen geht, auf denen Personen erkennbar sind. Bei Grossveranstaltungen wie Demos oder Fussballmatches will die Polizei auch nicht auf Überwachung verzichten. Kameras würden präventiv auf Vandalen und Randalierer wirken, sagt Jolanda van de Graaf, Sprecherin der Sicherheitsdirektion.

 Viktor Györffy von den Demokratischen Juristen Zürich bezweifelt hingegen die Wirksamkeit der Videoüberwachung. "Ich halte sie für eine Illusion." Er kritisiert den Einsatz von Kameras bei Demonstrationen "vor allem im Zusammenhang mit dem Staatsschutz". (sa) Seite 21

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Umstrittene Überwachung neu geregelt
 

 Zürich. Der Kanton muss die Videoüberwachung im öffentlichen Raum detaillierter regeln. Um Straftaten zu verhindern, will die Polizei weiterhin an Grossanlässen wie Demos filmen dürfen. Eine Ergänzung zum Polizeigesetz geht jetzt in die Vernehmlassung.

Sabine Arnold

 Der Paragraf zur Videoüberwachung im kantonalen Polizeigesetz lautete früher äusserst schwammig: "Die Polizei darf zur Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben allgemein zugängliche Orte mit technischen Geräten offen oder verdeckt überwachen und soweit notwendig Bild- und Tonaufnahmen machen." Eine Beschwerde dagegen von links-grüner Seite - unter anderem von den Demokratischen Juristinnen und Juristen Zürich - war vor Bundesgericht erfolgreich. Dieses kippte im September 2009 die bisherige Bestimmung aus dem Gesetz. Sie sei zu vage und ohne Einschränkungen formuliert und tangiere die persönliche Freiheit der Bürger.

 Die Sicherheitsdirektion hat gestern eine Ergänzung des kantonalen Polizeigesetzes in die Vernehmlassung gegeben. Zur Stellungnahme eingeladen seien "alle Interessierten", sagt Jolanda van de Graaf, Sprecherin der Sicherheitsdirektion. Der Paragraf zur Videoüberwachung ist nun konkreter formuliert, vor allem dort, wo es um Aufnahmen geht, auf denen Personen identifizierbar sind. Die Polizei soll "begrenzte Örtlichkeiten" mit Videokameras überwachen dürfen, um strafbare Handlungen wie Sachbeschädigungen zu verhindern sowie Personen zu schützen. Kameras sollen auf öffentlichen Strassen und Plätzen, zum Beispiel vor Fussballstadien, zum Einsatz kommen, sagt van de Graaf. Dies darf nur auf Anordnung einer Polizeioffizierin oder eines -offiziers geschehen, und die Öffentlichkeit muss darüber informiert werden.

 Erlauben will die überarbeitete Bestimmung auch die technische Überwachung von Grossveranstaltungen wie Demonstrationen oder Sportanlässen durch Kameras oder Drohnen. Einerseits sei dies für die Steuerung der Sicherheitskräfte notwendig. Andererseits sollen die Kameras laut van de Graaf Randalierer und Vandalenakte verhindern, also präventiv wirken. Weil die Polizei damit das Grundrecht der Demonstrationsfreiheit antastet, muss sie die Aufnahmen "sofort" auswerten und vernichten, sofern sie nicht als Beweise in einem Strafverfahren dienen. Nach der alten Regelung mussten die Aufnahmen spätestens nach einem Jahr gelöscht werden; neu nach einer maximalen Aufbewahrungsdauer von 100 Tagen.

 In diesem Vorschlag seien zwar mehr Details zur Videoüberwachung geregelt, sagt Viktor Györffy von den Demokratischen Juristinnen und Juristen Zürich. "Dass sie wirksam ist, kann aber nach wie vor niemand beweisen. Ich halte diese Vorstellung für eine Illusion." Györffy hält die generelle Überwachung von Demonstrationen für "sehr bedenklich", vor allem im Zusammenhang mit dem Staatsschutz. In der letzten Fichenaffäre habe sich gezeigt, dass Personen, die dreimal an einer Demonstration in eine Kontrolle gerieten, bereits als staatsschutzrelevant galten.

 Pädophile im Internet

 Neben der Videoüberwachung will die Ergänzung vor allem das polizeiliche Handeln, das Straftaten verhindert, auf eine gesetzliche Grundlage stellen. Darunter fällt zum Beispiel die verdeckte Überwachung von Kommunikationsplattformen im Internet. Mit dieser wollten sie nicht nur Pädophilen in Chatrooms auf die Schliche kommen, sagt van de Graaf, sondern zum Beispiel auch Verkäufern von Hehlerware auf Versteigerungsplattformen.

 Die Vernehmlassungsfrist läuft noch bis zum 31. Mai. Der Kantonsrat wird sich in der zweiten Jahreshälfte mit dem Gesetz beschäftigen.

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20 Minuten 25.2.11

Überwachungen im öffentlichen Raum: Neue Regeln

 ZÜRICH. Wegen einer Lücke im Polizeigesetz darf die Polizei im Kanton Zürich seit Dezember 2009 keine neuen Überwachungskameras im öffentlichen Raum mehr installieren. Dies soll sich ändern dank einer Ergänzung des Gesetzes, die aber zuerst in die Vernehmlassung muss. Die neue Bestimmung regelt die Videoüberwachung detaillierter, insbesondere wenn Kameras zur Erkennung von Personen eingerichtet werden. Zudem soll es mit der Ergänzung des Gesetzes der Polizei auch wieder möglich sein, präventiv im Internet zu ermitteln, wenn etwa Verdacht auf Pädophilie besteht.

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BZ 24.2.11

Studen hat die ersten Videokameras installiert

Studen. Die Überwachungskameras sind montiert - insgesamt elf Stück bei Bahnhof und Feuerwehrmagazin. Studen übernimmt damit im Kanton eine Vorreiterrolle.

 Studen soll sicherer werden. Seit Anfang Jahr überwacht die Gemeinde als erste im Kanton ihre neuralgischen Plätze mit Kameras. Beim Feuerwehrmagazin sind drei, beim Bahnhof acht Geräte montiert. Der Bahnhof dient gemäss Gemeindepräsident Mario Stegmann (FDP) als beliebter Drogenumschlagsplatz. Auch beschwerten sich Einwohner regelmässig über Vandalismus.

 Die Vorfälle gingen in letzter Zeit zurück, konstatiert Stegmann. Dies aber schon, bevor die Überwachungskameras installiert waren. "Vielleicht genügte allein die Ankündigung", vermutet er. Die Kameras sind seit Januar in Betrieb. Der Gemeindepräsident ist stolz auf Studens Vorreiterrolle in Sachen Sicherheit. "Doch nun müssen sich die Geräte auch bewähren."

 Günstiger als Securitas

 Auf jeden Fall auszahlen wird sich die Anschaffung gemäss Stegmann in finanzieller Hinsicht:   In den letzten Jahren hat die Gemeinde jeweils rund 25 000 Franken für Securitas-Dienste ausgegeben. Die Installation der Kameras hat 45 000 Franken gekostet. Hinzu kommen Unterhaltskosten von jährlich rund 1500 Franken pro Anlage. Stegmann: "Der Nutzen der Überwachungskameras ist viel grösser. Sie sind 365 Tage 24 Stunden in Betrieb." Die Securitas-Leute hingegen patrouillierten einige Stunden pro Woche.

 Die acht Geräte beim Bahnhof sind gut verteilt: In den beiden Wartesälen, beim Veloständer und in der Unterführung hat es elektronische Augen. Gemeindeschreiber Ruedi Stuber verwaltet die Schlüssel zum Computerraum - einmal pro Monat schaut er da nach dem Rechten.

 Um die Privatsphäre der Leute zu wahren, hat die Gemeinde bewusst auf eine Liveüberwachung verzichtet. Die fix montierten Kameras zeichnen nur auf, wenn sich in ihrem Perimeter etwas bewegt. Sollte etwas vorfallen und jemand Anzeige erstatten, hat nur die Polizei Zugriff auf die Daten: Sie kopiert diese vor Ort auf eine CD oder einen USB-Stick. Die Daten auf der Festplatte werden spätestens nach 100 Tagen automatisch gelöscht. Auf blauen Schildern wird auf die Überwachung hingewiesen. Der Kanton schreibt das vor.

 Abfallsünder im Visier

 Studen genehmigte die Videoüberwachung an der Gemeindeversammlung im Sommer 2007. Vom Einreichen des Gesuchs an die Kantonspolizei bis zur Installation dauerte es ein Jahr. Studen bekam die Vorreiterrolle auch im behördlichen Papierkrieg zu spüren. "Geärgert hat mich, dass das Dossier ewig in der Schublade liegen geblieben ist, weil der kantonale Datenschützer auf die Ergebnisse des gemeindeeigenen Datenschützers warten musste", sagt Stegmann. Doch Mario Stegmann ist dennoch zufrieden. Und liebäugelt bereits mit neuen Standorten. Zum Beispiel bei der Sammelstelle für rezyklierbare Abfälle im Grien: "Es gibt Leute, die dort illegal ihren brennbaren Abfall deponieren. Das verursacht uns immense Kosten."

 Seit Mitte 2010 ist die kantonale Gesetzesgrundlage für die Videoüberwachung in Gemeinden geschaffen. Nebst Studen verfügen bis jetzt Münsingen und Busswil über eine Bewilligung, wie die Kantonspolizei auf Anfrage sagt. Sieben weitere Gemeinden haben ein Gesuch eingereicht. Andere klären ihren Bedarf an Kameras ab. Stegmann: "Ich bin überzeugt, dass sie von unseren Erfahrungen profitieren werden."

 Simone Lippuner

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Schaffhauser Nachrichten 23.2.11

Interview. Michael Zehnder setzt sich als Wissenschaftler mit dem Nutzen der Videoüberwachung auseinander

"Kaum sinnvoll, Bagatellfälle auszuwerten"

Schaffhauser Politiker fordern, dass die Videoüberwachung auch bei Bagateildelikten beigezogen werden soll.
Wir haben einen Experten gefragt, was er davon hält und was internationale Studien zur Wirksamkeit der Video-überwachung sagen.

VON JAN HUDEC

 Ist die Videoüberwachung ein wirksames Mittel gegen Kriminalität?

Michael Zehnder: Bisherige Studien - ein Grossteil davon wurde in Grossbritannien verfasst - zeigen ein gemischtes Bild. Die Wirksamkeit der Videoüberwachung hängt sehr stark vom Kontext ab. Also davon, welche Räume überwacht werden und auf welche Delikte man fokussiert. Evaluationsstudien haben gezeigt, dass die Kameras in abgeschlossenen Bereichen erfolgreicher sind als in offenen. So sind zum Beispiel Diebstähle in Parkhäusern und auf Parkplätzen dank Kameraüberwachung zurückgegangen. In stark frequentierten öffentlichen Räumen, zum Beispiel in Stadtzentren, sieht es anders aus, Hier gibt es auch in internationalen Studien keine eindeutigen Belege für die Wirksamkeit einer Kameraüberwachung. Es gibt Studien, die einen leichten Rückgang der Krimina-lität verzeichnen, andere stellen sogar eine  Zunahme fest.

 Sie erwähnten, die Wirksamkeit hänge auch von den Delikten Michael ab. Welche Taten können denn durch Kameraüberwachung vermindert werden?

Zehnder: Überwachungskameras wirken grundsätzlich besser gegen rational geplante Delikte, beispielsweise Taschendiebstahl und dergleichen. Dagegen wirken sie schlechter bei emotionalen, impulsiven Taten, zum Beispiel bei Gewaltübergriffen und Delikten im Zusammenhang mit Alkoholkonsum.

 In Schaffhausen geht es ja gerade um jene Delikte, die im Ausgang passieren (Schlägereien, Sachbeschädigungen, Littering). Man hat dann immer die präventive Wirkung betont. Was sagen die Studien dazu?

Zehnder: Die Evidenz dafür ist höchstens gemischt. Das heisst, wenn man die verfügbaren internationalen Studienresultate betrachtet, ist die Wirksamkeit der Kameras bei den besagten Delikten eher fraglich. Des Weiteren kann Kameraüberwachung als Nebeneffekt ~ auch zu einer Verschiebung von Kriminalität führen.

Das heisst?

Zehnder: Es gibt sehr unterschiedliche Formen dieses möglichen Verschiebungseffekts.
Primär werden territoriale, das heisst räumliche Verschiebungen von Kriminalität diskutiert. Es kann jedoch auch zu einer taktischen Verschiebung kommen. Bei einem Fall in Australien, wo versucht wurde, den Drogenhandel auf einem öffentlichen Platz durch Kameras einzuschränken, änderten die Täter ihr Vorgehen (Warenübergabe an einem anderen Ort) und trugen plötzlich Kopfbedeckungen, welche das Gesicht verbargen.

Das sind aber eher geplante Taten. Wie sieht es bei Affekthandlungen aus?

Zehnder: Für eine abschliessende Beurteilung gibt er hierzu noch nicht genügend Evidenz. Die Verschiebung birgt aber die Gefahr, dass die negativen Folgen von Kriminalität noch grösser werden. Dass zum Beispiel aus einem leichten Übergriff eine Vergewaltigung werden kann, wenn ein Übergriff an einem dezentraleren Ort stattfindet, wo sich sonst niemand aufhält.

Was halten Sie von der Schaffhauser Videoüberwachung?

Zehnder: Die Schaffhauser Umsetzung scheint relativ sinnvoll. Denn eine permanente Live-Überwachung bindet natürlich Ressourcen. Polizisten, die vor Kontrollraum-Bildschirmen sitzen, könnten auch vor Ort patrouillieren. Allerdings kann eine punktuelle Live-Überwachung bei kritischen Situationen nützlich sein.

 Schaffhauser Politiker fordern, die Aufnahmen der Videokameras auch bei Bagateildelikten auszuwerten. Wäre das sinnvoll?

Zehnder: Dies ist eine Frage von Kosten und Nutzen. Natürlich müssen die Aufnahmen der Kameras auch ausgewertet werden, sonst fehlt ihnen die Legitimation. Meiner Meinung nach ist dies jedoch bei Kleinst- und Bagatellvorfällen, welche strafrechtlich nicht verfolgt werden können (z. B. Littering), kaum sinnvoll. Man muss sich fragen, wofür das Geld sonst noch eingesetzt werden kann, zum Beispiel für mehr Polizeipräsenz. SoIche alternative Massnahmen müssen gegeneinander abgewägt werden.

 Sie evaluieren ja zurzeit die Videoüberwachung in Luzern. Was bräuchte es, um die Wirksamkeit der Kameras in Schaffhausen zu prüfen?

Zehnder: Man braucht in erster Linie detaillierte Kriminalitätsdaten. Die Delikte müssen sehr kleinräumig verortet werden können. Ausserdem müssen die Statistiken auch zeitlich (z. B. monatlich) differenziert sein, weil es ausgeprägte saisonale Schwankungen gibt. Im Sommer passiert mehr, weil mehr los ist auf der Strasse. Des Weiteren braucht man Kontrollgebiete. Also vergleichbare Orte, welche nicht kameraüberwacht sind. Damit lässt sich kontrollieren, ob die Kriminalität generell zu- oder abgenommen hat. Eine gewisse Schwierigkeit der Evaluation besteht jedoch auch darin, dass die Videoüberwachung oft Teil eines umfassenderen Massnahmenpakets ist. Teilweise wird die Polizeipräsenz erhöht, die Beleuchtung verstärkt oder mehr gereinigt. Es ist entsprechend schwierig zu identifizieren, wie gross der eigentliche Effekt der Videoüberwachung war. Statistisch kann man dies in den Griff bekommen, aber nur mit einer guten Datengrundlage.

 Das klingt sehr aufwendig. Braucht es die Evaluation überhaupt?
Zehnder: In der Schweiz wird bereits auf Verfassungsebene verlangt, dass bei möglichen Eingriffen in Grundrechte das Verhältnismässigkeitsprinzip gewahrt werden muss. Dies setzt de facto eine Evaluation voraus. Man muss fundiert untersuchen, ob eine solche Massnahme wirksam ist oder nicht.

 In Schaffhausen wird die Videoüberwachung von der Verwaltungspolizei zusammen mit der Schafjhauser Polizei und dem Datenschutzbeauftragten evaluiert. Ist das nicht heikel?

Zehnder: Unabhängigkeit, das zeigt auch die Forschung, wäre sicherlich wünschenswert. In England zum Beispiel wurden umfassende Evaluationen vom Innenministerium finanziert.
Wenn die Auswertung nun innerhalb der Polizei selber stattfindet, besteht natürlich die Gefahr von Interessenkonflikten. Es wäre sicher von Vorteil, wenn die Wirksamkeit der Videoüberwachung von einer externen, unabhängigen Stelle geprüft würde.

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Zur Person

MichaeL Zehnder

Michael Zehnder, geboren 1979, studierte Okonomie an der Universität Zürich und schloss 2005 mit dem Lizenziat ab. Er ist Assistent an der Universität Basel (Wirtschaft und Politik) und verfasst zurzeit - im Rahmen eines Nationalfondsprojekts - eine Dissertation zum Thema "Die Ökonomik von Kameraüberwachung und öffentlicher Sicherheit". Zudem evaluiert er das Videoüberwachungssystem der Stadt Luzern

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10vor10 sf.tv 22.2.11

Streit um das eigene Bild

Diese Woche kämpft der Schweizer Datenschutzbeauftragte Hanspeter Thür vor Bundesverwaltungsgericht gegen den amerikanischen Internetriesen Google. Der Streitpunkt: Google Street View.
http://videoportal.sf.tv/video?id=130fb100-d957-4b22-ac57-26f7711e515b

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St. Galler Tagblatt 24.2.11

Schuld sein will niemand

 Die Auseinandersetzung zwischen der Delta Security und FCSG-Fans im Letzigrund gibt zu reden. Wie sinnvoll ist es, Delta-Leute wegen einiger Pyrofackeln in einen Fansektor zu schicken?

 Daniel Walt

 st. gallen. Wenn es in Fussballstadien zu unschönen Szenen kommt, geht die Sicht der Beteiligten meist komplett auseinander. Das ist auch nach dem Gastspiel des FC St. Gallen im Zürcher Letzigrund nicht anders. Gesichert ist: In der Anfangsphase der Partie zündeten St. Galler Fans Pyrofackeln. Etwas später drangen Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes Delta Security in den Gästesektor ein. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Fans und den Sicherheitsleuten, die sich schliesslich zurückzogen.

 "Ohne aggressives Auftreten"

 Was genau ist vorgefallen? Wie die für die Sicherheit im Stadion verantwortliche Delta Group mit Hauptsitz in Weinfelden festhält, sei nach Spielbeginn festgestellt worden, dass im unteren Teil des St. Galler Sektors Pyrofackeln verteilt würden. Dann sei diskutiert worden, wie das Abbrennen verhindert werden könnte. Die Verantwortlichen sahen die Lösung darin, Sicherheitsleute in den St. Galler Sektor zu schicken - "präventiv und ohne aggressives Auftreten", so die Delta Group.

 Etwas später - die ersten Pyros waren bereits abgebrannt - begab sich der Delta-Frontmann in den St. Galler Sektor und wollte in den unteren Bereich gelangen. "Höflich" habe er sich durchgefragt, wie die Delta Group schreibt. Der obere Teil des Blocks habe sich aber unvermittelt umgedreht und die Delta-Leute angegriffen. In der Folge hätten diese die Aktion abgebrochen, um keine Eskalation zu provozieren. Weil der Delta-Frontmann aber von einigen Fans gefasst und nach unten in den Block gezogen worden sei, habe sich die Gruppe um dessen Schutz gekümmert. Nach einem Gerangel habe sich die Delta dann wieder zurückgezogen. Es sei nicht Tränengas, sondern Pfefferspray verwendet worden.

 Martin Bartholdi, Fanverantwortlicher des FC St. Gallen, äussert sich nach wie vor nicht zu den Ereignissen vom Samstag - die Vorfälle würden intern besprochen, um nach einer Lösung zu suchen. Wer sich in Fankreisen umhört, stösst allerdings auf Kritik am Vorgehen der Delta-Leute. So ist die Rede davon, dass beim Eindringen in den St. Galler Sektor Leute weggedrückt worden seien - unter anderem soll eine Frau einige Treppenstufen weiter nach unten gestossen worden sein. Im FCSG-Fanforum gab es denn auch Lob für den Zusammenhalt, den die Kurve gegenüber den Delta-Leuten gezeigt habe: "Alle, die im Stadion waren, wissen, wie die Geschichte wirklich war. Dass die Deltas ein aggressiver Schlägertrupp sind, haben sie der ganzen Schweiz nicht erst seit heute bewiesen", schreibt ein User.

 Kritik von den Fans

 Kritik aus Fankreisen an der Delta: Das ist nicht neu - solche Vorwürfe kommen regelmässig auch von Anhängern anderer Clubs. Das Unternehmen schreibt dazu: "Wir investieren jährlich einen mittleren sechsstelligen Betrag in die Rekrutierung sowie Aus- und Weiterbildung unserer Mitarbeiter. Mit unserem Rekrutierungssystem versuchen wir mit aller Konsequenz, gewaltbereite Leute auszusondern." Zum Fall eines Delta-Angestellten, der vor einiger Zeit via Facebook Fans Gewalt androhte, schreibt Delta, der Mann sei kurz nach seinen Äusserungen fristlos entlassen worden.

 War die Aktion nötig?

 Bleibt die Frage, ob es nötig war, wegen einzelner Pyros Delta-Leute in einen Block zu schicken und die Eskalation in Kauf zu nehmen. "Aufgrund unserer Erfahrungen, dass wir solche Präventionsmassnahmen bereits bei anderen Spielen praktiziert haben, ohne dass es zu Ausschreitungen kam, entschied sich unser Einsatzleiter, dies auch hier zu tun", so die Delta mit Verweis auf das Pyroverbot.

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Thurgauer Zeitung 26.2.11

Hooligans am Pranger

 Darf die Kantonspolizei St. Gallen Bilder von Fussball-Hooligans im Internet publizieren? - Seit zwei Jahren nimmt die Fachstelle für Datenschutz Stellung zu solch heiklen Fragen.

 Jeanette Herzog

 St. Gallen. Seit dem 12. Dezember 2008 stehen die Schweizer Grenzen für EU-Bürger offen, die Schweiz tauscht Fahndungsinformationen mit den EU-Ländern aus und arbeitet im Bereich Asylwesen mit der EU zusammen: Die Übereinkommen von Schengen und Dublin stellen ganz neue Anforderungen an den Datenschutz in der Schweiz.

 167 Anfragen im ersten Jahr

 Seit Anfang Januar 2009 verfügt der Kanton St. Gallen deshalb über ein eigenes Datenschutzgesetz und seit Anfang Februar 2009 auch über eine unabhängige Fachstelle für Datenschutz. Zwei Juristinnen im Teilpensum kümmern sich um Anfragen aus der Bevölkerung, vom Kanton und von den Gemeinden: Corinne Suter Hellstern ist Leiterin der Fachstelle und Claudia Hanimann Wenk ihre Stellvertreterin. Bereits im ersten Jahr haben die beiden Frauen 167 Anfragen beantwortet. "Wir waren gut ausgelastet, zumal wir uns auch noch um den Aufbau der Fachstelle kümmern mussten", sagt Suter. Von grossem öffentlichem Interesse war 2009 insbesondere die Publikation von mutmasslichen Fussball-Hooligans durch die Kantonspolizei im Internet. Die Fachstelle für Datenschutz nahm zu diesem Fall Stellung und kam zum Schluss, dass für eine Publikation von Fahndungsfotos neben den gesetzlichen Grundlagen auch die Verhältnismässigkeit gewahrt werden muss. Es muss sich also um eine schwere Straftat handeln und der Verdacht muss dringend sein. Zudem müssen erst alle anderen Massnahmen ausgeschöpft werden, die einen geringeren Eingriff in die Persönlichkeitsrechte bedeuten. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, darf die Polizei Hooligan-Bilder ins Internet stellen.

 Viel für ein 100-Prozent-Pensum

 Im Jahr 2010 verdichtete sich das Arbeitsvolumen der Fachstelle für Datenschutz weiter. "Es sind über 200 Anfragen zusammengekommen", sagt Corinne Suter. Dafür, dass die Fachstelle nur über ein 100-Prozent-Pensum verfüge, sei das viel. Zahlreiche Fragen stammen von den Gemeinden, die sich um den Aufbau ihrer eigenen unabhängigen Fachstellen bemühen.

 "Wir hoffen, dass die Installation der regionalen Fachstellen für uns eine Entspannung bringt", sagt Suter. Denn auch die Anfragen aus der Bevölkerung seien vielseitig. Eine Person habe sich erkundigt, ob es für eine Forschungsarbeit zulässig sei, Adressen der Einwohnerinnen und Einwohner zu erhalten, um daraus eine Personen-Stichprobe zu ziehen. Eine andere wollte wissen, ob die Arbeitslosenkasse Unterlagen wie Lohnabrechnungen, Kontoauszüge, Steuerveranlagungen bearbeiten dürfe.

 "Mir gefällt die Arbeit"

 Bei solchen Anfragen überprüfen wir zuerst, ob es eine gesetzliche Grundlage gibt und ob die Daten für die Aufgabenerfüllung notwendig sind", erklärt Corinne Suter. Sie kümmert sich aber nicht nur um Einzelfragen, sondern ist auch immer wieder mit Projekten beschäftigt. Sie hat beispielsweise das Mammographie-Screening des Kantons aus der Sicht des Datenschutzes begleitet. "Mir gefällt meine Arbeit sehr gut, weil wir uns auf der Fachstelle für Datenschutz mit einem spannenden Thema beschäftigen, das sich stetig weiterentwickelt", sagt sie.

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Langenthaleer Tagblatt 23.2.11

Noch 1100 Berner und 100 Organisationen fichiert

 Staatsschutz In einigen Fällen lief die Frist ab, in anderen wurden Datensätze bereinigt: Nun fichiert der Bund noch 1100 Bernerinnen und Berner sowie 100 bernische Organisationen.

 Ein Aufschrei ging durchs Land, als vor gut drei Jahren bekannt wurde, dass der Bund wieder im grösseren Stil Bürger-Daten sammelt - etwa über unbescholtene Basler Grossräte. Bei der Untersuchung der so genannten zweiten "Fichenaffäre" stiess die Geschäftsprüfungsdelegation der nationalen Räte auch auf "mindestens 1800 Datensätze" aus dem Kanton Bern, so der Berner Datenschützer damals zum az Langenthaler Tagblatt.

 Heute sind es weniger: Da einerseits fünfjährige Fristen zur Aufbewahrung der Daten abliefen, und andererseits Datensätze bereinigt wurden, haben noch 1100 Bernerinnen und Berner einen Eintrag im nationalen Staatsschutzinformationssystem.

 Weiter, so Berns Regierung in eben veröffentlichten Antworten auf Interpellationen Margreth Schärs (SP/Lyss) und Natalie Imbodens (Grüne/Bern), seien 100 Organisationen registriert.

 Keine Angaben zum Inhalt

 Gesammelt werden die Daten nicht nur vom Nachrichtendienst des Bundes (NDB), sondern auch von Mitarbeitern mit Staatsschutzaufgaben im Korps der Kantonspolizei Bern (Kapo). Letzten Juni sagte Polizeidirektor Hans-Jürg Käser im Grossen Rat, diese Arbeiten würden vom Bund mit 1,27 Millionen Franken jährlich abgegolten. Daher, so nun die Regierung, könne sie auch keine Angaben zu deren Inhalt machen. Es sei aber "noch nie" passiert, dass die Kapo Rückmeldungen erhielt, gemeldete Daten hätten keine Staatsschutzrelevanz gehabt oder seien unrechtmässig erhoben worden.

 Ferner hält die Regierung fest, seit Oktober sei die mit den anderen Kantonen erarbeitete bessere Daten-Kontrolle in Kraft. Von der Möglichkeit eines externen Kontrollorgans rät die Kantonsregierung aus Effizienz- und Effektivitätsgründen jedoch ab. (sat)

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POLICE VD
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Landbote 25.2.11

Polizist hat Amt missbraucht

 Lausanne. Das Lausanner Bezirksgericht hat gestern einen 39-jährigen Polizisten wegen Amtsmissbrauchs zu einer Geldstrafe von sieben Tagessätzen zu 85 Franken verurteilt - auf Bewährung. Dieser hatte einen Verdächtigen nachts an Lausannes Stadtrand ausgesetzt, nachdem der Mann am 8. Februar 2010 gegen 2.15 Uhr vor einer Patrouille geflohen war. Als die Polizisten den jungen Afrikaner stoppten und ihn später nach dem Grund seiner Flucht fragten, antwortete dieser lächelnd, er würde halt gerne rennen. Der Polizeibeamte liess sich offenbar provozieren und brachte ihn an den nördlichen Stadtrand Lausannes, der an einen Wald grenzt. Hier könne er sich seinem Sport widmen, sagte er. Der Afrikaner verirrte sich und musste den Notruf wählen. Der Polizist war darauf suspendiert worden, legte aber Berufung ein. (sda)

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20 Minuten 24.2.11

Amtsmissbrauch: Polizist rekurriert

 LAUSANNE. Weil er einen Verdächtigen mitten in der Nacht am Stadtrand von Lausanne ausgesetzt hatte (20 Minuten berichtete), musste sich gestern ein Polizist vor dem Lausanner Bezirksgericht wegen Amtsmissbrauch verantworten. Der Staatsanwalt verlangt eine bedingte Geldstrafe. Der 39-jährige angeklagte Polizist war im Juni 2010 suspendiert und später entlassen worden. Gegen seine Entlassung hatte er Rekurs eingelegt. Das Urteil des Lausanner Bezirksgerichts ist für heute vorgesehen.

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CLUBLEBEN LU
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Wilisauer Bote 25.2.11

Rassismus nicht tolerieren

 Postulat. Der Kantonsrat überwies mit 76:36 Stimmen unter Namensaufruf ein Postulat von Lathan Suntharalingam (SP, Luzern). Er forderte Massnahmen, damit in Luzerner Clubs nicht mehr Zutrittsverweigerungen aufgrund rassistischer Motive praktiziert werden können. Der Regierungsrat war bereit, das Postulat entgegenzunehmen und verwies in seiner Antwort auf eine laufende Bundesstudie. Die Regierung werde aufgrund dieser Studie entscheiden, welche Massnahmen im Kanton Luzern umgesetzt werden sollen. Guido Luternauer (SVP, Schenkon) stellte einen Ablehnungsantrag und wurde dabei von seiner Fraktion und vereinzelten Kantonsräten von CVP und FDP unterstützt. Der Begriff Rassismus sei zu schwammig und Einschränkungen bedeuteten einen Eingriff in die Gewerbefreiheit. Die Befürworter argumentierten hingegen, hier gehe es um die Würde des Mens chen. ca.

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20 Minuten 24.2.11

Clubs halten an ihrer Türpolitik fest

 LUZERN. Luzerner Clubbesitzer wollen sich nicht vorschreiben lassen, wen sie in ihre Clubs lassen: Wie eine Umfrage von 20 Minuten zeigt, reagieren sie mit Unverständnis auf den neuen Kantonsratsbeschluss, strengere Vorschriften für die Einlasskontrollen von Clubs zu erlassen. "Es sollte Sache des Betreibers bleiben, zu entscheiden, wer rein darf", findet Milos Kant, Inhaber des Clubs Opera. "Wir haben viel weibliches Publikum, das wir vor betrunkenen, aufdringlichen und aggressiven Gästen schützen." Auch Martin Knöpfel, Inhaber des Clubs The Loft, will sich weiter auf sein Gefühl verlassen - egal, was ihm vom Kanton "vorgeschrieben werde". Ähnlich tönt es aus dem Rok: "Aggressive und besoffene Personen möchten wir auch in Zukunft abweisen können. Unsere Gäste sollen sich wohl und sicher fühlen." Hintergrund des Beschlusses war die Vermutung der SP, dass viele Leute aus rassistischen Gründen von Clubs abgewiesen würden.  nop

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NLZ 22.2.11

Gegen Rassismus votiert
 Clubs

Lukas Nussbaumer

 Das Parlament bekennt sich klar gegen Rassismus - und erklärt ein Postulat der SP erheblich. Die SVP und Teile von CVP und FDP opponierten erfolglos.

 Lukas Nussbaumer

 lukas.nussbaumer@luzernerzeitung.ch

 Wer jemanden aus rassistischen Motiven nicht in seinen Nachtclub lässt, macht sich strafbar: Das war gestern Nachmittag im Kantonsrat unbestritten.

 Umstritten war dagegen, ob ein Postulat von Lathan Suntharalingam (SP, Luzern) erheblich erklärt werden soll. Suntharalingam verlangte von der Regierung Bericht darüber, welche Massnahmen zu ergreifen sind, damit in Luzerner Clubs keine Zutrittsverweigerungen aufgrund rassistischer Motive ausgesprochen werden.

 SVP und Grüne: Namensaufruf

 Der Antrag des SP-Parlamentariers, unterstützt von der Regierung, obsiegte nach längerer und emotional geführter Diskussion. Zu Stande kam das Stimmenverhältnis von 74 zu 36 nach einem Namensaufruf, den Katharina Meile (Grüne, Luzern) und Hanspeter Bucher (SVP, Römerswil) verlangt hatten - ihr Antrag erreichte das nötige Drittelquorum. Gegen die Erheblicherklärung stimmten sämtliche anwesenden SVP-Räte. Dazu widersetzten sich zehn CVP- und vier FDP-Parlamentarier der Mehrheitsmeinung in ihren Fraktionen. Bei SP und Grünen fiel das Ja einstimmig aus (siehe linke Spalte).

 Die Befürworter des Postulats argumentierten, der Vorstoss sei als Zeichen gegen Rassismus zu verstehen. Das Thema sei sehr wichtig, das anerkenne auch die Regierung mit ihrer Unterstützung des Vorstosses, sagte etwa CVP-Sprecher Michael Zeier-Rast (Luzern). Für Grüne-Sprecherin Katharina Meile geht es nicht an, "so zu tun, als ob nichts passiert wäre". Hinter Suntharalingam und dessen Anliegen stellten sich auch Romy Odoni (FDP, Rain), Trix Dettling (SP, Buchrain) und Giorgio Pardini (SP, Luzern), der sagte: "Hier geht es um die Würde des Menschen."

 SVP: Vorstoss "nicht brauchbar"

 Von den Gegnern der Erheblicherklärung meldeten sich ausschliesslich SVP-Vertreter zu Wort. Guido Luternauer (Schenkon) sagte, der Begriff Rassismus sei äusserst schwammig, es mache deshalb keinen Sinn, das Postulat zu befürworten. Sein Fraktionskollege Moritz Bachmann (Malters) meinte, es könnten doch nicht alle Türen offen sein, es gebe auch ein Recht auf Privatsphäre. Marcel Omlin (Rothenburg) bezeichnete den Vorstoss als "nicht brauchbar".

 Sozial- und Gesundheitsdirektor Guido Graf erklärte, der Kanton Luzern werde aufgrund von Studien entscheiden, welche Massnahmen zum Schutz vor Diskriminierung umgesetzt werden.

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RUHE & ORDNUNG
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St. Galler Tagblatt 28.2.11

SVP-Stadtrat und die Nulltoleranz

 FRauenfeld. Seit drei Monaten bekämpfen Politik und Polizei auf dem stark frequentierten Bahnhof Frauenfeld das Unsicherheitsgefühl von Passanten und Pendlern mit Nulltoleranz. Hängergruppen und Betrunkene waren für Belästigungen und Littering verantwortlich. Schliesslich wurde gar eine Frau fast vergewaltigt. Die Frauenfelder wollten das nicht länger tolerieren. SVP-Stadtrat Werner Dickenmann will an seiner rigiden Politik festhalten. Sagt aber auch, dass er nicht nur glücklich mit den derzeitigen Massnahmen sei. (pex) thurgau lokal 37

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Stadtrat hält an Nulltoleranz fest

 In Frauenfeld gibt ein Thema schon seit Wochen zu reden: Die Sicherheit auf dem Bahnhof. Bekanntlich gilt seit einem Monat Nulltoleranz. Zwischenbilanz: Die SVP Frauenfeld lud am Samstag zu einem Rundgang auf dem SBB-Gelände ein.

 Evi Biedermann

 Frauenfeld. Etwa 10 000 Menschen frequentieren täglich den Frauenfelder Bahnhof. Er ist damit Dreh- und Angelpunkt vieler Pendler, aber auch von Menschen, die ihn sich zum Treffpunkt machen. Eine so hohe Nutzung ruft nach einem tragbaren Sicherheitskonzept.

 Umso mehr, als sich die Frauenfelder in letzter Zeit einer wachsenden Zahl von Hängergruppen und Randständigen auf dem Bahnhofareal gegenübersahen. Verbunden damit kam es zu Abfallproblemen und Belästigungen.

 Es brauche Grundordnung

 Seit Anfang Dezember gilt deshalb auf dem Bahnhofareal die Nulltoleranz. Damit alle wissen, wie man es gerne hätte, wurde eine Bahnhofordnung aufgestellt. "Jedermann darf sich auf dem Bahnhofareal aufhalten", betont der Noch-Stadtrat Werner Dickenmann (SVP). Aber es brauche eine gewisse Grundordnung.

 Was sonst noch zur Nulltoleranz gehört und wie die Erfahrungen damit seit der Einführung sind, erklärte der für die öffentliche Sicherheit zuständige Leiter am Samstag an einem Informationsanlass auf dem Bahnhof gleich selbst: Die Verwaltung des Sicherheitsapparats bezeichnete er als eine "Querschnittaufgabe".

 Alle sind zuständig

 Dickenmann sagte: "öV, Verkehr, Werkhof, Sicherheit, Jugend, Soziales: Alle Abteilungen sind für den Bahnhof zuständig." Die privaten Eigentümer seien ebenfalls gefordert. Zum Sicherheitskonzept gehöre auch die Bewältigung des Abfalls, denn "wo eine Sauerei ist, entsteht Unsicherheit".

 So wird das Bahnhofareal heute täglich zweimal von den Männern des Werkhofs gereinigt. Abfallsünder werden zudem von Bahnhofpaten und der Bahnhofpolizei Securitrans auf ihr Fehlverhalten hingewiesen. Securitrans und die Kantonspolizei hätten zudem ihre Kontrolltätigkeit verstärkt. Das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung sollen auch die 13 Videokameras stärken, die auf dem Bahnhofareal installiert sind.

 Nulltoleranz bleibt

 Insgesamt gebe es derzeit eine spürbare Balance zwischen Prävention, Repression und Intervention, erklärte Dickenmann. "Die gefühlte Wahrnehmung jedoch weicht von der angestrebten Wahrnehmung ab." Man werde also auf Kurs bleiben, versicherte er. Die dadurch steigenden finanziellen Aufwendungen könne man verantworten.

 Wie häufig patrouilliere die Polizei auf dem Bahnhof? Laut Dickenmanns Auskunft etwa bis zu fünfmal pro Tag. Er räumte jedoch ein, es sei schwierig, eine exakte Zahl zu nennen. Dickenmann hofft in diesem Zusammenhang, dass von den nun bewilligten 50 Polizeistellen auch ein Teil an Frauenfeld gehe.

 Und wie steht es um ein noch härteres Durchgreifen? "Einsperren und am nächsten Tag wieder freilassen…, wo liegt da der Sinn?" war Dickenmanns Antwort. Darüber hinaus räumte der Stadtrat ein, auch nicht glücklich mit den derzeitigen Massnahmen zu sein.

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 Vergewaltigt

 27. November 2010: Eine Tat am Bahnhof sorgte endgültig für Nulltoleranz: Ein 32-Jähriger fiel eine Frau an, riss sie zu Boden und nötigte sie sexuell. Als sich Passanten näherten, flüchtete der Täter. Er wurde nach kurzer Fahndung gestellt und gestand die Tat. Die Frau wurde leicht verletzt. (tam)

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JUGENDPOLITIK
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Aargauer Zeitung 23.2.11

Securitas statt Ländlermusik

 "Hängerszene" Im Aarauer City-Märt soll urchige Musik Teenager fernhalten - in anderen Einkaufscentern hält man nichts davon

Maja Sommerhalder

 "Ländlermusik, um Jugendliche fernzuhalten? Ich weiss nicht so recht. Da gibt es andere Methoden", sagt Matthias Grieder vom Shoppi Tivoli. Was im Spreitenbacher Einkaufscenter nicht infrage kommt, ist im Aarauer City-Märt Realität. Hier setzt man ganz bewusst auf urchige Musik, um Junge fernzuhalten. Liegenschaftsverantwortliche Monika Frei formuliert es in der az Aargauer Zeitung vom 21. Februar so: "Wir lassen keine Popmusik laufen, um nicht unnötig Junge in die Mall zu locken." Denn: Es sei ja bekannt, dass es in der Vergangenheit schon Probleme gegeben habe mit Jugendlichen.

 "Jugendliche nicht vergraulen"

 Probleme mit Jungen kennt man auch im Shoppi Tivoli Spreitenbach, wie Grieder sagt: "Einige machen sich bei uns breit, essen und lungern stundenlang herum. Eine solche ‹Hängerszene› dulden wir nicht. Das gilt auch für Bettler." Dann schreite jeweils der Sicherheitsdienst ein. Im schlimmsten Fall gibt es Hausverbot. Etwa 30 Jugendliche und Erwachsene sind im Shoppi Tivoli davon betroffen: "Das bringt mehr als Ländlermusik." Die meisten Jugendlichen seien aber gute Kunden, die man nicht von vornherein fernhalten wolle.

 Auch Patrick Sutter, Infrastrukturverantwortlicher der Brugger, Badener und Bremgarter Migros-Märkte, hält nicht viel von Ländlermusik als Jugendabwehr: "Bei uns gibt es Überwachungskameras und wir setzen die Securitas ein, wenn es Probleme gibt." Herumlungernde Jugendliche werden aus den Einkaufszentren verwiesen. Vor allem Vandalismus ist in den Zentren immer wieder Thema: "Es wird Abfall liegen gelassen oder an Gegenstände geschrieben."

 "Bei Problemen suchen wir Dialog"

 Im Aarauer Telli Center und im Oftringer Einkaufscenter A1 werden hingegen herumlungernde Jugendliche toleriert, so lange sie sich an die Regeln halten, wie Centermanager Jörg Engeler erklärt. Bei Problemen schreite der Ordnungsdienst ein, das komme eher selten vor: "Jugendliche sind wichtige Kunden, die wir nicht vergraulen wollen." Deshalb laufe in den beiden Einkaufscentern auch Pop- statt Ländlermusik. Auch in den Coop-Centern in Würenlingen, Wettingen, Muri und Reinach werden die Kunden mit populärer Musik statt mit Ländler berieselt, wie Centerleiter Severin Hug bestätigt: "Wenn es Probleme gibt, suchen wir den Dialog. Das funktioniert gut."

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 Schrille Pfeiftöne haben ausgedient

 Ländermusik ist nur ein Mittel, um Jugendliche zu vertreiben. Vor einigen Jahren war ein Gerät der Renner, das hochfrequente Pfeiftöne aussendet. Die schrillen Töne können nur Jugendliche hören, die sie als äusserst unangenehm empfinden. Inzwischen ist das Interesse an dem Gerät aber abgeflacht. Die Schweizer Firma, die es vertrieb, will sich aus dem Geschäft zurückziehen. Auf angenehmere Töne setzt man seit dem letzten November im Bahnhof Heerbrugg (SG). Zur Beruhigung erschallt dort klassische Musik. So sollen die Passanten zum Weitergehen animiert werden und sich nicht mehr gruppieren. (som)

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20 Minuten 22.2.11

Jugendstrafen: Gesetz wird begrüsst

 BERN. Das neue kantonale Gesetz, das einschneidende Massnahmen in Kinder- und Jugendheimen regelt, stiess in der Vernehmlassung auf ein positives Echo. Gegenstand des Entwurfs sind etwa disziplinarische Massnahmen, die eingesetzt werden, wenn Jugendliche gegen Regeln verstossen. Dazu gehört als schwerwiegendste Sanktion der Einschluss in eine Disziplinarzelle bis zu sieben Tage. Dazu kommen Sicherungsmassnahmen wie Körperkontrollen sowie Urin- und Blutproben oder Zwangsmittel wie Fesselung und Reizstoffe. Das Parlament berät im Juni über das Gesetz.

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20 Minuten 22.2..11

Jugendliche werden überall vertrieben

 BERN. Harte Zeiten für Jugendliche: Im Aargau werden sie mit Ländlermusik aus Einkaufszentren vertrieben, im Thurgau sollen sie nicht mehr Bus fahren. Bereits in der Vergangenheit hat man sie mittels klassischer Musik von Bahnhofsplätzen vertrieben. Für SP-Vizepräsident Cédric Wermuth ein Skandal: "Indem man Jugendliche vertreibt, werden keine Probleme gelöst." Was es brauche, seien mehr Jugendhäuser.

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"Jugendliche haben zu wenig Aufenthaltsräume"

 BERN. Teenies nirgends willkommen: Sie werden aus Warenhäusern und Bussen vertrieben - etwa durch Ländlermusik.

 Bei der Stadtbusverwaltung Frauenfeld hat man die Nase voll: "Die Schüler benutzen den Bus als Treffpunkt und nehmen anderen Fahrgästen die Plätze weg", so Roland Büchi. In Frauenfeld hängen deshalb zur Zeit Plakate, die die Jugendlichen auffordern, nicht dauernd im Bus hin- und herzufahren, wie die "Thurgauer Zeitung" schreibt. Im Aargau vertreibt man die Jugendlichen derweil mit Ländlermusik: "Wir lassen keine Popmusik laufen, um Junge nicht in die Mall zu locken", sagt Monika Frei, Geschäftsführerin der Liegenschaftsverwaltung des City-Märt zur "Aargauer Zeitung". Grund dafür seien unter anderem Probleme mit Teenagern in der Vergangenheit. Im Hotel Chur hat man sich herumlümmelnde Jugendlichen bereits erfolgreich vom Hals geschafft - dank eines Gerätes, das hochfrequente Pfeiftöne aussendet, die nur Jugendliche hören. Und die Gemeinde Heerbrugg SG lässt seit dem Herbst am Bahnhof klassische Musik laufen, in der Hoffnung, Vandalismus und Littering in den Griff zu bekommen.

 Teenager werden landauf landab von öffentlichen Plätzen vertrieben - für SP-Vizepräsident Cédric Wermuth ein Skandal: "Jugendliche haben zu wenig Raum, wo sie sich aufhalten können, ohne konsumieren oder an einem Programm teilnehmen müssen." Die einzigen Orte, wo sie sich ausserhalb ihrer vier Wände aufhalten können, seien somit der Bahnhof oder eben Einkaufszentren.

 Einsperren statt präventiv vertreiben, fordert dagegen SVP-Nationalrat Ulrich Schlüer: "Die 48-Stunden-Einsperrfrist muss genutzt werden, damit sich jugendliche Delinquenten vor dem Arbeitgeber oder der Schulleitung rechtfertigen müssen."

Deborah Sutter

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 Was bewirken Verbote und Vertreibungen?

 Herr Gehrig*, was bringen solche Verbote und Vertreibungen?

 Leo Gehrig: Das Gegenteil der erwünschten Wirkung: Der Abenteuergeist der Jugendlichen wird damit nur angestachelt. Sie finden immer neue, ausgefallenere Orte, um rumzuhängen.

 Welche Massnahmen erbrächten die erwünschte Wirkung?

 Vielen Jugendlichen, die Probleme machen, fehlen echte Auseinandersetzungen. Erwachsene müssten sich wohlwollend, aber dennoch bestimmt und mit einer klaren Sprache etwa mit kiffenden Jugendlichen auseinandersetzen. Das erfordert aber einiges mehr an Engagement als das simple Anbringen von Plakaten.

 Was ist der Anreiz für Jugendliche, sich an Bahnhöfen oder in Einkaufszentren aufzuhalten?

 Jugendliche, denen zu Hause Geborgenheit, Halt und Wärme fehlen, suchen sich diese innerhalb der Clique. Die Gruppe wird so zur Ersatz-Familie.  sut

 *Leo Gehrig ist Jugendpsychologe und ehemaliger Lehrer.

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RANDSTAND BS
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Basler Zeitung 22.2.11

Randständige werden nicht vertrieben

 Ohne Dach. "Randständige Personen gehören zu unserer Gesellschaft, aus diesem Grund haben auch sie das Anrecht, sich im öffentlichen Raum aufzuhalten, solange sie gewisse Regeln einhalten." Dies schreibt der Regierungsrat in der Antwort auf eine Anfrage von SP-Grossrätin Tanja Soland. "Der Regierungsrat verfolgt deshalb auch keine Vertreibungspolitik, wie dies andere Städte kennen." Bei der Neugestaltung der Theodorsgrabenanlage wurde wegen eines abschlägigen Beschlusses der Stadtbildkommission auf einen Unterstand verzichtet (die BaZ berichtete 2009 darüber).

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20 Minuten 22.2.11

SP-Frau fordert mehr Platz für Randständige

 BASEL. Randständige werden in Basel immer mehr aus dem öffentlichen Raum vertrieben, so SP-Grossrätin Tanja Soland. In einer schriftlichen Anfrage an die Regierung wollte sie etwa wissen, ob bei Umgestaltungen bewusst unbequeme Sitzgelegenheiten und fehlende Überdachungen eingeplant werden. Nun antwortete ihr die Regierung. "Formell transparent, inhaltlich bin ich aber grösstenteils nicht einverstanden", so Soland gestern. So schreibt die Regierung etwa, dass eine fehlende Überdachung ästhetische Gründe habe. "Man sieht, dass die Regierung nicht wirklich Interesse an dem Thema hat", so Soland. Sie erwägt nun, einen konkreten Vorstoss zu lancieren, dass sich die Stadtentwicklung grundsätzlich des Themas annehmen soll.  lua

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DROGEN
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telem1.ch 28.2.11

Drogenhölle Bahnhof Aarau
http://telem1.ch/de/overlayplayer---0--0--0--T000317955.html

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Profil 28.2.11
http://www.profil.at/articles/1108/560/290032/drogenmissbrauch-sind-usa-rauschgiftkriminalitaet (26.2.11)

Drogenmissbrauch: Sind die USA für die Rauschgiftkriminalität verantwortlich?

Christlichen Amerikanern ist es gelungen, die ganze Welt für ihren Kreuzzug gegen Rauschmittel einzuspannen. Ergebnis: 30.000 Tote allein in Mexiko - aber nicht durch Drogen, sondern durch deren vermeintliche Bekämpfung.

Von Robert Buchacher

Seine Heimatstadt Ciudad Juárez habe sich "in ein Schlachthaus verwandelt", schreibt der mexikanische Journalist Arturo Chacon in einem Bericht, der im vergangenen Oktober von mehreren ausländischen Zeitungen, darunter vom Berliner "Tagesspiegel", übernommen wurde. "Die Mörder arbeiten rund um die Uhr, am helllichten Tag und mitten in der Nacht, auf Straßen, Plätzen und hinter verschlossenen Türen. Jede Woche exekutieren sie etwa 70 Menschen: Männer, Frauen, Jugendliche, Kinder. Die meisten werden erschossen, einige mit Klebeband auf Nase und Mund erstickt. Transparente kündigen an, wer als Nächstes dran ist."

In der 1,3-Millionen-Einwohner-Stadt an der mexikanisch-US-amerikanischen Grenze ist die öffentliche Ordnung zusammengebrochen. Jeder, der sich dem Drogenkartell in den Weg stellt oder sich weigert, dessen Interessen zu wahren, ob Polizisten, Staatsanwälte, Behördenvertreter oder Journalisten, ist des Todes. Allein im vergangenen Jahr wurden in der Stadt am Rio Grande mehr als 2000 Menschen von Mafiakillern umgebracht, teils auch in Kämpfen rivalisierender Banden, die einander eine der lukrativsten Drogen-Schmuggelrouten in die USA streitig machen. Mit 130 Morden pro 100.000 Einwohner und Jahr gilt Ciudad Juárez derzeit als gefährlichste Stadt der Welt. Aus Sicherheitsgründen wohnt der Bürgermeister in der texanischen Nachbarstadt El Paso auf der anderen Seite der Grenze.

In seinem neuen, diese Woche erscheinenden Buch "Drogenkrieg - (ohne) mit Ausweg" analysiert der profil-Kolumnist und ehemalige profil-Herausgeber Peter Michael Lingens die religiösen, sozialen und politischen Wurzeln des Krieges gegen Drogen, wie ihn christlich-konservative Kreise in den USA via UN der ganzen Welt aufgezwungen haben, und befasst sich eingehend mit der Frage, ob dieser Krieg aufgrund seiner Kollateralschäden nicht mehr schade als nütze und letztlich nur den Drogenkartellen in die Hände arbeite.

Anhand wissenschaftlicher Studien weist Lingens penibel nach, dass dieser Krieg, wenn überhaupt, immer nur vorübergehend erfolgreich war und dass die Berichte der in Wien ansässigen Drogenbehörde der Vereinten Nationen UNODC (United Nations Office on Drugs and Crime) ein schönfärberisches Zeugnis sind, das sich die Behörde selbst ausstellt, um damit ihre Existenzberechtigung zu unterstreichen. Die weltweite Drogenproduktion und der Drogenhandel seien nicht, wie behauptet, deutlich zurückgegangen, sondern zumindest gleich geblieben, wenn nicht sogar angestiegen - trotz Einsatzes von Abermilliarden an Kriegskosten. Sinkende Einzelhandelspreise seien dafür ein sicherer Indikator.

Die Heroinproduktion in Afghanistan läuft auf Hochtouren, weil die einst radikal drogenfeindlichen Taliban heute mit den Erlösen aus dem Heroinhandel ihre Waffen finanzieren. Und in Lateinamerika hat der Krieg gegen Drogen lediglich zu Umstrukturierungen und Verlagerungen der Kartelle geführt. Der blutige Drogenkrieg in Teilen Mexikos ist Folge einer solchen Verlagerung: Weil die Bekämpfung des Medellín- und anderer Drogenkartelle in Kolumbien Erfolge zeitigte, splitterten sich die Gangster in kleinere Einheiten auf. Kartelle in Mexiko übernahmen einen erhebliche Teil des Geschäfts - der große Drogenstrom in Richtung USA und Europa fließt wie eh und je.

Lehren ziehen

Die Welt, so Lingens, sollte aus den bisher gemachten Erfahrungen endlich die Lehren ziehen. Wie unter anderen schon von Arnold Schwarzenegger, manchen Drogenexperten und Wissenschaftern angedacht, plädiert auch Lingens für einen Strategiewechsel: Anstatt, wie in den USA praktiziert, Hunderttausende Kleindealer wegen Weitergabe von Marihuana ins Gefängnis zu stecken und dem Steuerzahler damit erhebliche Kosten aufzubürden, sollte man die vergleichsweise ungefährliche Droge nach dem Vorbild der Niederlande freigeben. Der Staat, so Lingens, könnte auch harte Drogen wie Kokain und Heroin selbst billig produzieren und über ein Staatsmonopol nur Apotheken abgeben. Eine solche Strategie würde die derzeitige exorbitante Handelsspanne von bis zu tausend Prozent beseitigen, damit den Drogenkartellen die Basis entziehen und das Problem massiv entschärfen.

Lingens liefert keine einfachen Bilder der Situation und erhebt mit seinen Vorschlägen auch keinen Anspruch auf ein Allheilmittel. Er wägt Vor- und Nachteile gegeneinander ab und ist als Skeptiker gegenüber staatlichem Wirtschaften am Ende doch überzeugt, dass im Fall Drogen kein Weg an staatlicher Intervention vorbeiführe. Fraglich bleibt, ob ein solcher Strategiewechsel politisch durchsetzbar wäre und ob sich die internationale Drogenmafia den staatlichen Entzug ihrer Geschäftsbasis, die jährlich viele Milliarden Dollar abwirft, kampflos gefallen lassen würde.

Eindrucksvoll verfolgt Lingens den Weg der Droge vom Genuss- und Heilmittel als Teil alter Kulturen bis hin zum weltweiten Sucht- und Kriminalitätsproblem, schildert, welche die richtungsweisenden religiösen, politischen und publizistischen Strömungen und Personen waren, die hinter der heutigen westlichen Drogenpolitik standen, und wie etwa die britische Regierung versucht hat, den maßgeblichen Teil eines wissenschaftlichen Berichts zu vertuschen, der einer Bankrotterklärung der herrschenden Drogenpolitik gleichkommt.

Er liefert dabei überraschende Details, wie etwa, dass amerikanische Farmer noch im 18. Jahrhundert gesetzlich verpflichtet waren, Hanf anzubauen, und dass es noch um 1850 in den USA mehr als 8000 Hanfplantagen gab. Immer wieder zieht er Parallelen zwischen früheren und heutigen Situationen: Die Einstellung der amerikanischen Mittelschicht des 19. Jahrhunderts gegenüber Alkohol entspreche der Einstellung der heutigen amerikanischen Mittelschicht gegenüber Marihuana, Heroin und Kokain.

Und in der Vergangenheit wie heute fanden die Menschen Ventile, um die Verbote zu unterlaufen. So wie heute in Salatbeeten, Blumenkisten und Kellern heimlich Marihuana angebaut wird, begannen viele Amerikaner nach Einsetzen der Alkohol-Prohibition Anfang der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts in der Badewanne Wein zu keltern. Der Obstverbrauch stieg deutlich an. Binnen weniger Jahre vergrößerte sich die Rebanbaufläche in Kalifornien um das Siebenfache. Durch "Selbstgebrannten" starben jährlich 10.000 Menschen.

Die Verteufelung von Suchtmitteln in den USA färbt auf die Gesetze ab: Bis heute werden Suchtdelikte in den Staaten strenger bestraft als in Europa. Das hängt mit den tiefen Ressentiments zusammen, mit denen das christlich-konservative Amerika Genuss- und Suchtmitteln von Anfang an begegnete. Aus ihrem Selbstbild als gottgefällige, rechtschaffene, tugendhafte Bürger wandten sich religiöse weiße Amerikaner gegen Drogen als etwas Unamerikanisches, etwas, das von Einwanderern von außen, quasi aus dem Reich des Bösen, eingeschleppt wird: Opiumpfeifen rauchende Chinesen, Koka kauende Latinos, Marihuana rauchende Mexikaner. Gebräuchliche Ausdrücke wie "Neger-Droge" illustrieren, wie sich Rassismus und Fremdenfeindlichkeit mit der Abwehr von Rauschmitteln vermischten.

Drogenkultur

Im Grunde haben die Amerikaner nie akzeptiert, dass der Gebrauch von Genuss- und Rauschmitteln zu jeder menschlichen Kultur gehört. So war beispielsweise das Kauen von Kokablättern in vielen Ländern Lateinamerikas über Jahrhunderte ebenso wenig ein Problem wie das Rauchen von Opiumpfeifen in China. Erst als die Briten in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts versuchten, Opium als Türöffner gegen chinesische Handelsbeschränkungen einzusetzen, verschärfte sich die Lage. Mithilfe massiver Einfuhren von bengalischem Opium wollten die Briten chinesische Beamte bestechen und möglichst viele Chinesen von ihren Lieferungen abhängig machen. Als sich Kaiser Daoguang mit der Beschlagnahme und Verbrennung von 22.000 Kisten britischen Opiums zur Wehr setzte, kam es zum Opiumkrieg (1839-42), in dem die Chinesen unterlagen. Hohe Entschädigungszahlungen und die Abtretung Hongkongs an die Briten waren der Preis für den Frieden. Zusätzlich hatten die britischen Einfuhren den Opiumkonsum in China angekurbelt, sodass sich das Kaiserhaus zu einer strikten Drogenpolitik veranlasst sah.

Als die USA im spanisch-amerikanischen Krieg 1898 die Philippinen besetzten, werteten sie die dort verbreitete Drogenkultur als Ursache für die Unterentwicklung des Inselreichs und griffen zu ähnlich strengen Maßnahmen gegen Suchtmittel wie schon zuvor die Chinesen. Die strikte Drogenpolitik der neuen Kolonialherren blieb nicht ohne Auswirkungen auf das amerikanische Mutterland, wo christliche Frauenvereine und Prediger bereits kräftig Stimmung gegen den Alkoholkonsum machten.

Die "Anti-Saloon-League", die mit dem Alkohol gleich alle übrigen Laster bekämpfte, welche in diesen Etablissements gediehen, wuchs zu einer politischen Kraft, ohne deren Unterstützung Politiker bei Wahlen chancenlos waren. Ein Bundesstaat nach dem anderen erklärte sich als "trocken", im Kongress stellten die "Dries" (Alkoholgegner) bald die Mehrheit gegenüber den "Wets" (Alkoholbefürworter) - so war der Weg in die Prohibition und in die Entstehung mafioser Strukturen vorgezeichnet: Schließlich versprach der Handel mit illegalen Alkoholika Milliarden gewinne.

Denn im benachbarten Kanada konnte Alkohol weiterhin legal produziert und verkauft werden. Daher kurbelten die dortigen Destilleure ihre Produktion an. Die Familie Bronfman (Seagrams Whiskey) beispielsweise begründete mithilfe der Prohibition ihren Reichtum. Findige Geschäftsleute schafften den begehrten Stoff in präparierten Waggons, auf Fregatten und Schnellbooten in die USA. "Hochprozentiger" wurde zu Preisen gehandelt wie heute Heroin und Kokain. Bald lieferten sich diverse Gangs wie etwa jene des Mafiapaten Al Capone blutige Revierkämpfe. Polizei und Justiz waren entweder bestochen - oder machtlos, weil sich für die Morde keine Zeugen fanden.

Das Alkoholverbot fiel 1932, nachdem die Demokraten unter Präsident Franklin D. Roosevelt in der Wirtschaftskrise erkannt hatten, dass durch die Prohibition viele Arbeitsplätze und Steuereinnahmen verloren gingen, während sich die Mafia und ausländische Produzenten goldene Nasen verdienten. Im Jahr 1916 gab es zum Beispiel in den USA 1300 Bierbrauereien, im Jahr 1926 keine mehr. Die einzige Lehre, welche die USA langfristig aus den Erfahrungen mit der Prohibition zogen, war die Erkenntnis, dass es nichts bringt, wenn man ein Verbot isoliert verhängt, während Länder rundum Produktion und Handel weiter betreiben. So reifte allmählich die Idee, es müsse irgendwann gelingen, eine weltweite Initiative gegen Suchtmittel zu starten.

Noch in der Ära der Alkohol-Prohibition begannen in den USA Kampagnen auch gegen andere Drogen, vor allem gegen Marihuana. Während es im 19. Jahrhundert Cannabis, Opium und Kokain zu medizinischen Zwecken wie etwa zur Schmerzbehandlung in den USA frei zu kaufen gab, verhängte in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein Bundesstaat nach dem anderen ein Anbauverbot für Hanf, weil man darin eine Quelle für eine neue, gefährliche Droge erblickte. Die Blätter des Zeitungszaren William Randolph Hearst berichteten regelmäßig Horrorgeschichten über angeblich unter dem Einfluss von Marihuana verübte Morde. Die gleichen religiösen und politischen Kreise, die schon zuvor den Kreuzzug gegen den Alkohol geführt hatten, wandten sich nun gegen die "tödliche Droge", wie Cannabis selbst in der "Washington Post" bezeichnet wurde.

Eine der zentralen Figuren der Hetze war ein Schweizer Einwanderer namens Harry J. Anslinger, der als erster "Drogenzar" in die Geschichte eingegangen ist und der nicht nur die Drogenpolitik der USA, sondern auch der gesamten Vereinten Nationen maßgeblich bestimmte. Als Leiter des Federal Bureau of Narcotics wurde er trotz Wirtschaftskrise mit einem stattlichen Budget ausgestattet, das er durch entsprechende Aktivitäten zu rechtfertigen trachtete. Er fand für diesen Zweck ein ideales Angriffsziel: Cannabis, das in seinem Auftrag fortan nur noch "Marihuana" genannt wurde. Auf diesen Stoff ließen sich viele Ressentiments des frommen Amerika fokussieren.

Schauer-Märchen

So wird Anslinger auch als Urheber folgender, in einem der Hearst-Blätter abgedruckten Behauptung angesehen: "Es gibt 100.000 Marihuana-Raucher in den USA, und die meisten davon sind Neger, Hispanics, Filipinos und Entertainer. Die satanische Musik, Jazz und Swing, beruht darauf, dass Marihuana konsumiert wird. Marihuana lässt weiße Frauen Sex mit Negern und Entertainern suchen."

Die Amerikaner glaubten die Mär ebenso wie Ans lingers Behauptung, das Wort "Haschisch" gehe auf das persische Wort "Hashashin" zurück, "von dem wir das englische Wort ‚assassin‘ (morden) haben".

Nach jahrelangem publizistischem Kampf schaffte es Anslinger, dass die Amerikaner Marihuana für eine völlig neue Droge hielten, die mit dem guten alten Hanf nicht das Geringste zu tun hätte. Nicht nur das: Er schaffte es auch, dass Marihuana in seiner Gefährlichkeit mit Drogen wie Kokain und Heroin gleichgesetzt wurde und folglich mit allen erdenklichen Mitteln zu bekämpfen sei. Als Vertreter einer Bundesbehörde brachte er im Kongress einen diesbezüglichen Gesetzesantrag ein, der von einem einzigen Abgeordneten, dem Arzt William C. Woodward, beeinsprucht wurde: Anslingers Behauptungen seien nichts als ein Sammelsurium von fragwürdigen Zeitungsartikeln, ohne jeden Beweis. Das Gesetz wurde beschlossen.

Während seiner gesamten Amtszeit hatte Anslinger für ein internationales Abkommen gekämpft, das seine Sicht übernahm. 1962 gelang es ihm als Repräsentant der Weltmacht USA, ein solches Abkommen bei der Narkotika-Kommission der Vereinten Nationen durchzusetzen. "Seither ist die ganze Welt gezwungen, Cannabis wie Heroin zu verfolgen", schreibt Lingens.
Aufgrund der in der US-Verfassung garantierten Freiheitsrechte ist der Konsum von Drogen erlaubt, nicht aber der Besitz. Wer zweimal auch nur mit einer kleineren Menge Marihuana erwischt wird, gilt bereits als Dealer und fasst eine unbedingte Freiheitsstrafe aus.

Als Folge davon sind die Gefängnisse notorisch überfüllt, mit 2,7 Millionen Strafgefangenen und weiteren vier Millionen auf Bewährung sind die USA heute die Nation mit den meisten Gefängnisinsassen der Welt - zu einem beträchtlichen Teil aufgrund der Drogenpolitik. Pro Jahr geben die Vereinigten Staaten 35 Milliarden Dollar für den Strafvollzug aus. Um die steigende Belastung zu begrenzen, wurden Gefängnisse privatisiert. Damit hat sich eine regelrechte Gefängnisindustrie etabliert, mit börsennotierten Unternehmen und eigenen Messen für Gefängnisbedarf. Davon leben viele Zulieferer und Arbeitnehmer, deren Jobs bei einer liberaleren Politik verloren gingen.

Die republikanischen US-Präsidenten Richard Nixon (1969 bis 1974) und Ronald Reagan (1981 bis 1989) sahen im Drogenproblem eine "Bedrohung der nationalen Sicherheit" und starteten daher einen "War on Drugs", einen Krieg gegen Drogen: Hilfszahlungen erhielten nur Länder, die diesen Krieg unterstützten. Auf diese Weise stieg Kolumbien zum Empfänger der höchsten US-Auslandshilfe nach Israel und Ägypten auf. Bedingung: Der Marihuana-Anbau musste durch Niederbrennen der Felder gestoppt werden.

Reines Kokain

Daraufhin wichen die Bauern auf Kokapflanzen aus. Anstatt die Blätter zu kauen, wie in Lateinamerika üblich, wurde jetzt in Geheimlabors reines Kokain hergestellt. In den USA wuchs die Nachfrage nach dem weißen Pulver, so baute Pablo Escobar das Medellín-Kartell auf. Er selbst gehörte als Herrscher über das Drogengeschäft in den USA bald zu den reichsten Männern der Welt, mit einem Besitz von Tausenden Hektar, Flugplätzen und Häfen.

So ein Imperium entsteht nicht auf Samtpfoten: Insgesamt sollen Escobars Auftragskiller 450 Polizisten und 30 Richter ermordet haben. Aus Angst vor der Rache des Kartells führten Richter ihre Prozesse in der Folge nur noch hinter Masken. Neben dem Justizminister starben weiterere kolumbianische Politiker unter den Kugeln des Kartells. Und in Bogotá flog sogar ein Zeitungsgebäude in die Luft.

Doch in Medellín wurde Escobar als Wohltäter verehrt. Er saß im Stadtrat und im Regionalparlament und sorgte für wohlplatzierte Investitionen, die ihm die Bewunderung der lokalen Bevölkerung sicherten. Auf Druck der USA erklärte sich die Regierung bereit, gegen Escobar vorzugehen. Im Zuge eines Gentlemen's Agreement kam es zu einer Verfassungsänderung, die dem Medellín-Boss eine Auslieferung in die USA ersparte. Offiziell erhielt er fünf Jahre Gefängnis, die er freilich in einer luxuriösen Villa verbrachte.

Die USA trainierten Spezialeinheiten, um seiner habhaft zu werden. Als sein Versteck entdeckt wurde und seine Flucht scheiterte, jagte er sich eine Kugel in den Kopf. Daraufhin übernahm das Cali-Kartell einen Großteil der Medellín-Marktanteile. Offiziell hat sich das Medellín-Kartell aufgelöst, aber es existiert in Form kleinerer Kartelle weiter. Es kam zu Umstrukturierungen und Verlagerungen, ohne dass Produktion und Handel dauerhaft litten. Das zentrale Ziel des Krieges gegen Drogen, das Angebot zu verringern, damit die Preise in die Höhe zu schrauben und dadurch den Stoff für potenzielle Konsumenten unattraktiv erscheinen zu lassen, wurde weder durch die Zerschlagung des Medellín-Kartells noch durch diverse neue Initiativen erreicht.

Clinton scheiterte

Nachdem eine Studie der Rand Corporation ergeben hatte, dass die Lieferung von Waffen, Kampfhubschraubern sowie die Bereitstellung von Ausbildungsprogrammen und all der Einsatz beträchtlicher Geldmittel nichts gefruchtet hatten, suchte Präsident Bill Clinton eine Kursänderung in Richtung vermehrte Behandlung von Süchtigen, scheiterte mit seinem Vorhaben aber im Kongress. Der Bevölkerung erschien der polizeiliche und militärische Kampf gegen Drogen zielführender.

Da erwies sich die von George W. Bush initierte "Andean Counterdrug Initiative", die zugleich linke Guerilleros, Terroristen und den Drogenhandel treffen sollte, zumindest militärisch als erfolgreicher: Unter dem kolumbianischen Präsidenten Alváro Uribe wurden die Kartelle zerschlagen, die Unterminierung des Rechtsstaats schien beendet. Aber: Der Drogenstrom versiegte nicht, er floss nur nicht mehr direkt in die USA, sondern nach Mexiko, wo neue Kartelle das Geschäft der alten kolumbianischen übernahmen. Ergebnis: Drei mexikanische Kartelle mit ihren Privatarmeen stehen heute 50.000 mexikanischen Soldaten gegenüber. Der Kampf forderte bisher 30.000 Tote, und die Spirale der Gewalt dreht sich immer weiter. Die Bevölkerung in den betroffenen Gebieten sehnt sich nach Zeiten zurück, in denen Politik, Polizei und Drogenkartelle in gutem Einvernehmen für Ruhe und Ordnung sorgten. Zwar konnte der Kampf der Regierung da und dort vor übergehende Erfolge erzielen, aber am Drogenangebot oder am Preisniveau hat das nichts geändert. Im Gegenteil: Im Jahr 2006 registrierte das US-Justizministerium 100 mexikanische Drogengroßhandelszentralen und Vertriebsorganisationen in den USA, im Jahr 2009 waren es doppelt so viele.

Unter lateinamerikanischen Politikern wachsen deshalb die Zweifel über die Sinnhaftigkeit des Krieges gegen Drogen: Der ehemalige Präsident Mexikos, Ernest Zedillo, der ehemalige Präsident Kolumbiens, César Gaviria Trujillo, und der ehemalige Präsident Brasiliens, Fernando Henrique Cardoso, erklärten in einer gemeinsamen Stellungnahme, die Drogenpolitik der USA dränge ganz Südamerika in eine Abwärtsspirale. Cardoso sagte öffentlich: "Der Krieg gegen Drogen ist ein verfehlter Krieg."

Unterdessen wird der Grundannahme der US-Drogenpolitik, dass Marihuana ähnlich gefährlich sei wie Heroin und Kokain, durch gleich mehrere britische Untersuchungen der Boden entzogen. Im Jahr 2005 legte eine Kommission unter der Leitung des langjährigen BBC-Direktors John Birt im Auftrag der britischen Regierung eine Studie über das Suchtpotenzial und damit die Gefährlichkeit verschiedener Drogen vor. Ganz oben auf der Liste stehen Heroin und Crack (je vier Punkte), in einer zweiten Gruppe rangieren Kokain, Amphetamine, Tabak und Alkohol (je drei Punkte), danach kommen Ecstasy und Cannabis (je zwei) und LSD (ein Punkt). Demnach rangieren legale Drogen wie Alkohol und Nikotin deutlich vor illegalen Drogen wie Cannabis oder LSD. Eine im Jahr 2007 im angesehenen Medizinjournal "Lancet" veröffentlichte Studie kam zu weitgehend übereinstimmenden Ergebnissen.
Als der Drogenberater der britischen Regierung, David Nunn, der an der "Lancet"-Studie federführend beteiligt war, im Jahr 2009 bei seiner von allen maßgeblichen Fachleuten geteilten Einschätzung blieb und von der britischen Regierung verlangte, die Gefahrenklassifizierung an die wissenschaftlichen Erkenntnisse anzupassen, erzwang die zuständige Staatssekretärin seinen Rücktritt. Was Nunn als "Spannungen zwischen Politik und Wissenschaft" abtut, hält Buchautor Lingens für "das zentrale Problem der Drogenpolitik: Sie wird nach politischen, nicht nach wissenschaftlichen Kriterien gemacht, und nach diesen Kriterien müssen illegale Drogen gefährlicher als legale sein."

Der Birt-Bericht verglich aber nicht nur das Suchtpotenzial der verschiedenen Drogen, sondern auch das Sterberisiko: Demnach sterben in Großbritannien pro Jahr im Schnitt 625 Menschen durch eine Überdosis oder Verunreinigung von Heroin, 97 durch Methadon, 25 durch Ecstasy, 20 durch Crack, zwölf durch Amphetamine, elf durch Kokain. Cannabis und LSD scheinen in der Totenstatistik nicht auf.

Alkohol hingegen verursachte pro Jahr in England unter 21 Millionen Konsumenten 6000 Todesfälle, wobei in dieser Zahl freilich sowohl die akuten wie die chronischen Verläufe enthalten sind, und chronisches Rauchen führte pro zu Jahr zu rund 100.000 Todesopfern unter geschätzten 9,4 Millionen Rauchern. Noch Fragen?

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Österreich 

Kunstgras 
rauchen

Die  Verbreitung  illegaler  Suchtmittel  ist  in  Österreich  seit  Jahren  konstant.  Die  wahre  Gefahr  geht  von  legalen  Substanzen  aus.

Koks  im  Wert  von  bis  zu  fünfhundert  Euro  zog  sich  Lisa  F.  (Name  von  der  Redaktion  geändert)  in  manchen  Nächten  durch  die  Nase.  "Ich  verkehrte  in  Kreisen,  in  denen  der  Konsum üblich  war.  Zuerst  habe  ich  gestaunt,  wie  viele  und  welche  Personen  Drogen  nehmen,  doch  dann  wurde  es  auch  für  mich  normal",  so  die  österreichische  Künstlerin.  Die  Wirkung  beschreibt  sie  als  "unglaubliche  Euphorie",  der  dann  der  Absturz  folgte.

Sie  versank  in  tiefe  Depression.  Erst  als  sie  realisierte,  wie  viel Geld  sie  bereits  für  die  Sucht  ausgegeben  hatte  und  dabei  vor  allem  ihre  Kinder  vernachlässigte,  wollte  sie  aufhören.  "Erst  dann  merkte  ich,  wie  tief  ich  bereits  in  der  Sucht  steckte  und  wie  schwer  es  ist,  davon  loszukommen.  Heute  nehme  ich  Antidepressiva,  um  meinen  Serotoninspiegel  zu  regulieren." 

Wie Lisa K. haben etwa 3,7 Prozent der Österreicher die zweitmeistverbreitete illegale Droge  Kokain zumindest einmal probiert. Damit liegt die Alpenrepublik unter dem EU-Durchschnitt (4,1 Prozent) und weit hinter den Spitzenreitern in Westeuropa. Beachtliche 9,4  Prozent der Briten und 8,3 Prozent der Spanier sollen schon einmal Koks probiert haben.

Die Verbreitung illegaler Drogen wie Koks sowie von Psychopharmaka beläuft sich laut Daten der Sucht- und  Drogenkoordination Wien  generell  auf  etwa  sechzehn  Prozent,  wobei  Cannabis  mit  Abstand  den größten  Teil  ausmacht.  Diese Rate blieb in den vergangenen Jahren -relativ konstant, nur beim Konsum von Cannabis ist ein leichter, aber kontinuierlich ansteigender Trend zu verzeichnen.
Laut Schätzungen der europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht haben 75,5 Millionen Europäer zumindest einmal in ihrem Leben Marihuana geraucht. Das entspricht in etwa -einem Fünftel der Bevölkerung im Alter zwischen 15 und 64 Jahren. Dabei ist allerdings zu beachten, dass sich Konsumgewohnheiten bei Cannabis und anderen illegalen Suchtmitteln deutlich nach Geschlecht, Wohnort und Bildungsgrad unterscheiden. So verfügt der Großteil der Marihuana-Konsumenten zumindest über einen Maturaabschluss, während die meisten Kokainkonsumenten nur einen Lehrabschluss haben (siehe Grafik).
Betrachtet man den Lebenszeitkonsum, der auch einmaliges Probieren einschließt, so liegt Österreich mit 23,8 Prozent knapp über dem -europäischen Durchschnitt (22,5). Absolute Spitzenreiter sind Dänemark (38,6 Prozent), die Tschechische Republik (34,2 Prozent), Italien (32 Prozent) und England (31,1 Prozent).
Auch Andreas Holzer, stellvertretender Leiter des Suchtmittelbüros im Bundeskriminalamt, bestätigt, dass die Verbreitung von illegalen Substanzen in Österreich bis auf Cannabis seit Jahren stabil ist:  "Der Anstieg des Marihuana-Konsums resultiert auch daraus, dass es immer mehr Indoor-Plantagen gibt und deshalb weniger aus dem Ausland bezogen werden muss."
Die Verbreitung anderer Substanzen ändert sich  -  je nach Trend -  saisonal. Modedrogen wie Ecstasy oder LSD waren in den neunziger Jahren en vogue, in den letzten zehn Jahren verschwanden sie fast wieder von der Bildfläche. Dafür kommen andere Substanzen ins Spiel, wie Holzer weiß: "Zurzeit ist beispielsweise vermehrt Ketamin im Umlauf. Das ist ein Narkosemittel, aus der Veterinärmedizin, das Nahtoderfahrungen auslösen kann."
Wie leicht sich Szenekenner solche -Substanzen zumindest in Großstädten wie Wien beschaffen können, glaubt der türkischstämmige Filmregisseur Hüseyin Tabak zu wissen, der für seine mehrfach preisgekrönte Doku "Kick Off" eine Gruppe von ehemaligen Drogensüchtigen und Alkoholkranken zur Fußballweltmeisterschaft der Obdachlosen nach Australien begleitet hat: "Ich habe mit vielen Süchtigen und Dealern gesprochen. Sie haben mir versichert, dass Insider innerhalb von fünf Minuten jeden Stoff besorgen können."
An klassischen Umschlagplätzen wie 
U-Bahn-Stationen geben sich Dealer Eingeweihten nur durch Blickkontakte und -bestimmte Verhaltensweisen zu erkennen, während die übrigen Passanten nichts mitbekommen.
Tabak, dessen Film "Kick Off" soeben auf DVD erschienen ist, will sich den Drogen auch weiterhin widmen. Zurzeit arbeitet er an einem Spielfilmdrehbuch zum Thema. "Ich fand die Lebensgeschichten der Protagonisten meiner Doku fesselnd, ich war beeindruckt, wie sie es aus dem Sumpf geschafft haben und wie sie täglich gegen einen Rückfall kämpfen. Denn das Verlangen scheint nie zu vergehen."
Derzeit bereiten Suchtexperten jedoch weniger illegale, sondern völlig legale Subs-tanzen die größten Sorgen, nämlich die so genannten "Legal Highs". Darunter fällt beispielsweise die aus synthetischen Cannaboiden bestehende Droge "Spice", die schneller und stärker wirkt als herkömmliches Marihuana, aber legal erhältlich ist, weil sie offiziell als Räucherwerk gehandelt wird. Auf der Packung wird lediglich davor gewarnt, die Mischung einzunehmen oder als Tee zu konsumieren.
Ähnlich ist die Situation beim Gamma-Butyrolacton (GBL), das in der Industrie vorwiegend als Lösungsmittel verwendet wird. Oral eingenommen, kann es rauschähnliche Zustände auslösen, wie sie auch durch Ecstasy hervorgerufen werden.
In Österreich sind zwar der Handel mit und die Weitergabe von Spice und GBL seit 2009 verboten, allerdings nicht gerichtlich strafbar nach dem Suchtmittelgesetz. Der Konsum ist damit legal, nur der Handel offiziell verboten. Allerdings gibt es im Internet durchaus zahlreiche mögliche Bezugsquellen. Die Seiten bestehen zumeist nur für kurze Zeit und tauchen später unter neuem Namen wieder auf. Die Konsumenten können für Online-Bestellungen nicht belangt werden, weil der Konsum nicht strafbar ist. Das zunehmend als Informations- und Bezugsquelle für Drogen genutzte Internet stellt auch erfahrene Ermittler vor völlig neue Hürden - und die Dealer vor ungeahnte Möglichkeiten.
Ohnehin sind die Strafen bei Verstößen gegen das Suchtmittelgesetz in Österreich milde. "Es wird der Grundsatz Therapie vor Strafe angewendet, Drogensüchtige müssen sich statt einer -Haftstrafe einer Therapie unterziehen. Das Bundeskriminalamt legt den Schwerpunkt auf die Verfolgung von internationalen Drogenhändlern", so Suchtmittelspezialist Holzer. Auch muss jemand mit größeren Mengen erwischt werden, 
um die geforderten Grenzmengen zu überschreiten. Bei Marihuana liegt die Grenze beispielsweise bei 20 Gramm reinem TCG-Gehalt, in der getrockneten Hanfplanze sind jedoch nur sechs bis elf Prozent davon enthalten.
Doch es scheint, als könnten die synthethischen Cannaboide dem Natur-Gras bald den Rang ablaufen. Auch die europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht, die ausdrücklich vor einem bevorstehenden Boom der Legal Highs warnt, räumt in ihrem aktuellen Jahresbericht ein, dass sich die Bekämpfung dieser Substanzen auf rechtlich dünnem Eis bewegt: "Schwierigkeiten ergeben sich daraus, dass einige dieser Substanzen zu legalen nichtmedizinischen Zwecken genutzt, zu angeblich legalen Zwecken vertrieben (...) werden können. Daher können selbst mit gut durchdachten Kontrollmaßnahmen nicht alle Probleme in diesem Bereich gelöst werden."
Drogenfahnder Holzer hält die Substanzen für gefährliche Newcomer: "Viele der Legal Highs sind noch nicht ausreichend getestet, was auch schwierig ist, da es sich um eine große Gruppe von ähnlichen Subs-tanzen handelt. Wir wissen nur aus 
der bisherigen Erfahrung, dass diese Stoffe durchaus gefährlich sind und mitunter sogar zu massiven Gesundheitsgefährdungen führen können."
Laut einer Ifes-Umfrage wittern die Österreicher die Suchtgefahr für Jugendliche anderswo: Die meisten von ihnen nennen nach Nikotin und Alkohol vor allem Computerspiele und Internet als die Bereiche mit dem größten Suchtpotenzial.
Tina Goebel

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Geschichte

Reich des Bösen

1808
Gründung der ersten "Temperance Association" in den USA (New York), welche Mäßigung beim Alkoholkonsum propagiert.

Um 1830
Beginn der industriellen Revolution. Der Schnapskonsum amerikanischer Arbeiter ist dreimal so hoch wie heute. Überall sind Betrunkene zu sehen.

1839-42
Opiumkrieg. Um die Handelsbeschränkungen der chinesischen Qing-Dynastie zu durchbrechen, Beamte zu bestechen und Chinesen süchtig zu machen, liefern die Briten als erstes Drogenkartell der Geschichte massenhaft bengalisches Opium nach China. Als die Chinesen den Handel verbieten und 22.000 Kisten des von Briten eingeführten Opiums verbrennen, schickt das British Empire eine Kriegsflotte. Die 
im Kampf unterlegenen Chinesen müssen hohe Entschädigungen für das verbrannte Opium zahlen und Hongkong an die Briten abtreten.

1850
Christliche Frauenvereine und Prediger erwirken im Bundesstaat Maine das erste Produktions- und Verkaufsverbot für Alkohol in den USA. 

1866
Die neu gegründete "Prohibition Party" kämpft für die Ausdehnung des Alkoholverbots auf alle US-Bundesstaaten.

1881
Der US-Bundesstaat Kansas ächtet Alkohol in der Verfassung.

1908
Verbot des nichtmedizinischen Konsums von Opium und Kokain.

1910
Nach der Revolution in Mexiko suchen Mexikaner vermehrt Arbeit in den USA. Viele Einwanderer rauchen Marihuana, ein Kraut, das die Amerikaner als "Neger-Droge" bezeichnen. 

1917
Bundesweites Alkoholverbot in den USA, das 1920 als 18. Amendment Verfassungrang erlangt. Getränke, die mehr als 0,5 Prozent Alkohol enthalten, gelten als "gifthaltig".

Ab 1920
Prohibition. Gerissene Geschäftemacher und kriminelle Gangs übernehmen den -Alkoholschmuggel, vor allem aus dem benachbarten Kanada, wo das Alkoholgeschäft legal ist. In den Städten entstehen so genannte "Speakeases", Klubs, in denen die Mitglieder jede Art von Alkohol bekommen. Allein in New York soll es 30.000 solcher Klubs gegeben haben. 

1929
Auswüchse der Prohibition: Beim Saint Valentine's Day Massacre in Chicago erschießen Mitglieder der Gang des Mafia-paten Al Capone sieben Rivalen.

1932
Aufhebung des im 18. Amendment festgelegten Alkoholverbots. Ausschlaggebend waren Arbeitsplatz- und Steuerargumente im Zuge der Wirtschaftskrise. Mit Ende des Alkoholverbots beginnen die Kampagnen gegen Marihuana, vor allem in den Blättern des Zeitungszaren Randolph Hearst, die über das an sich harmlose Kraut wahre Schauergeschichten zu berichten wissen. Sogar die seriöse "Washington Post" nennt Marihuana eine "tödliche Droge".

1937
Verbot des Hanfanbaus in allen Staaten der USA. Maßgeblicher Kopf hinter der entsprechenden Gesetzesinitiative war ein Schweizer Einwanderer namens Harry J. Anslinger, Chef des Federal Bureau of Narcotics, Erfinder vieler Gräuelgeschichten über Marihuana. 

1962
Den USA gelingt es, in der UNO den Beschluss zum weltweiten Kampf gegen Produktion und Handel von Drogen durchzusetzen. Der maßgebliche Kopf hinter dieser Strategie war wiederum Harry J. Anslinger.

1972
Präsident Nixon ruft einen "War on Drugs" aus, den Krieg gegen Drogen, der bis heute andauert.

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nzz.ch 28.2.11

Keine neue Abstimmung über Anlaufstelle in Winterthur

Bundesgericht zu umstrittenem Treffpunkt für Randständige

 Die Abstimmung über die Anlaufstelle für Randständige an der Zeughausstrasse in Winterthur muss nicht wiederholt werden. Das Bundesgericht hat die Beschwerde von Anwohnern abgewiesen.

 (sda) Das Winterthurer Stimmvolk hatte im November 2009 einen Kredit über 722'000 Franken bewilligt, um ein altes Haus an der Zeughausstrasse zu einer Anlaufstelle für Randständige umzubauen. Die Gegner des Projekts erhoben gegen den Urnengang Stimmrechtsbeschwerde, die das Zürcher Verwaltungsgericht vor rund einem Jahr abwies.

 Ihr Gang vors Bundesgericht ist nun ebenfalls erfolglos geblieben. Die Richter in Lausanne räumen zwar ein, dass die Argumente der Gegner in der Abstimmmungsbotschaft in einer kleineren Schrift abgedruckt wurden als die Empfehlung von Regierung und Parlament.

 Inhaltlich seien die Stimmberechtigten indessen objektiv über Vor- und Nachteile informiert worden. Angesichts des klaren Abstimmungsergebnisses   - die Vorlage war mit 62 Prozent Ja-Stimmen angenommen worden   - könne nicht davon ausgegangen werden, dass das Resultat ohne den gestalterischen Mangel anders ausgefallen wäre.

 Im vergangenen Jahr hatte das Verwaltungsgericht bereits die Beschwerde gegen die Baubewilligung abgewiesen. Die Gegner verzichteten allerdings darauf, auch diesen Entscheid beim Bundesgericht anzufechten.

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Sonntag 27.2.11

Drogenanlaufstelle: Rekurs abgelehnt

 Winterthur Niederlage für die Gegner der geplanten Winterthurer Randständigen-Anlaufstelle: Das Verwaltungsgericht hat ihren Rekurs gegen die städtische Baubewilligung abgelehnt. Das Gericht bestätigte damit einen Entscheid der Winterthurer Baurekurskommission, welche die Anwohner mit ihrem Rekurs ebenfalls abblitzen liess. Ein Sprecher der Stadt bestätigte einen entsprechenden Artikel des "Landboten". Das Projekt wurde an der Urne gutgeheissen: Die Stimmberechtigten von Winterthur erteilten mit 62 Prozent Ja-Stimmen grünes Licht für das Sozialprojekt. (sda)

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Basler Zeitung 26.2.11

Wo die kleinen Kugeln rollen

 "Die Schweiz ist die beste Stadt in Europa", sagt der Kokainhändler Josephus Mugundu

Michael Bahnerth

 Mit einer mehrmonatigen Aktion versuchte die Basler Polizei rund um den Jahreswechsel, den "Kügelidealern" Herr zu werden. Das Geschäft liegt vor allem in den Händen von dunkelhäutigen, jüngeren Männern, die sich oft als Asylbewerber in der Schweiz aufhalten.

 Sie hiess Aktion Soma und dauerte von Ende November bis Ende Januar. "Es war ein Erfolg", sagt Klaus Mannhart, Sprecher der Basler Polizei. "Soma" ist das Kürzel für "Sondermassnahmen", und die Sondermassnahme war, zwischen Claraplatz und Kaserne vermehrt Kontrollen durchzuführen und mit dieser "Vergällungspolitik" dem Heer der "Kügelidealer" Herr zu werden. 597 Personen sind kontrolliert worden. 451 von ihnen waren "dunkelhäutige Asylbewerber". 396 von ihnen kamen aus andern Kantonen. Es gab 55 Festnahmen. Der 37-jährige Josephus Mugundu war nicht unter ihnen.

 Josephus Mugundu kommt vom Gleis 17 im Zürcher Bahnhof. Es ist Sonntag, kalt. Er trägt eine blaue Lederjacke, darunter ein neues T-Shirt der verblassten Rockgruppe Kiss. Er ist schlank, mittelgross, und er besitzt ein Nokia-Handy, mittlere Preisklasse, prepaid. Seine Stimme ist sanft, man versteht ihn kaum im Café Federal, aber das ist nicht das Problem. Wahrheit ist das Problem.

 Wahrscheinlich heisst er nicht Josephus Mugundu. Ziemlich sicher hat er den Schweizer Behörden zumindest eine etwas aufgeblähte Geschichte erzählt von wegen Opposition, Verfolgung und Elend. Die Geschichte vieler der 1969 Nigerianer, die letztes Jahr in die Schweiz gelangten. Er erzählt nichts über das filigrane Netzwerk, das die nigerianische Mafia hier gespannt hat, um die Schweiz mit Kokain zu versorgen. Er sagt, natürlich, dass er nicht in die Schweiz gekommen sei, um zu dealen. Auf der anderen Seite, warum sollte er lügen? Auf dem Foto erkennt man ihn nicht, der Name ist nur ein Name, und Asylbewerber ohne Chance wird er auch danach bleiben.

 schwarzes gold. Er ist 37 Jahre alt, das ist sicher, seit 2007 Flüchtling, seit letztem Sommer in der Schweiz. Er war Busfahrer in Sapele, einer Hafenstadt, 140 000 Einwohner, im Nigerdelta gelegen, wo die Ölvorkommen sind. Mindestens 600 Milliarden Dollar wurden dort in den letzten 50 Jahren mit dem schwarzen Gold verdient, Geld, das am Volk vorbei auf die Konten von ein paar wenigen sprudelte. Seit einem Jahrzehnt wird, von Südamerika herkommend und in guter Zusammenarbeit mit der kolumbianischen Mafia, weisses Gold, also Kokain, auch im Hafen von Sapele gelöscht. Eine Komplizenschaft von Heer, Verwaltung und einheimischen Kriminellen sorgt für einen unbürokratischen Ablauf. In den Händen der nigerianischen Mafia, die wohl die mächtigste private Organisation Afrikas sein dürfte, gelangt das Kokain entweder über den Seeweg zur Küste Galiziens oder über den Landweg durch Nigeria, den Niger und Libyen nach Europa.

 Den Landweg hat auch Josephus hinter sich. Fast alle nehmen den "Sklaventrail", acht Nigerianer nur kamen letztes Jahr mit dem Flugzeug. Der Landweg, obwohl er mörderisch ist und gleich viel kostet wie ein Ticket, verspricht mehr Erfolg. Um zu fliegen, bräuchten sie einen Pass, den haben die meisten nicht. Und wenn sie Papiere hätten, könnte ihre Identität und ihre Geschichte relativ rasch abgeklärt werden und bei der europaweit restriktiven Asylpolitik gegenüber Nigerianern wärs das dann gewesen.

 schnauze voll? Schwer zu sagen, ob Mugundu aus wirklicher Not geflohen ist oder einfach nur die Schnauze voll hatte von den Zuständen im Delta. Vom Kampf der Banden um einen Anteil am schwarzen und weissen Gold. Von der Brutalität der Nigerian Police Force, die mit der "Order 237" ausstaffiert ist, die ihnen erlaubt, Verdächtige jederzeit "auf der Flucht" zu erschiessen.

 Auch Polizisten wollen ihren Anteil am Reichtum, errichten willkürlich Strassensperren, und das ist für einen Busfahrer fatal. Er wollte kein Schmiergeld mehr bezahlen. Sie zerschossen seine Reifen, verprügelten ihn und meinten, er könne sein Fahrzeug abholen, wenn er Geld hätte. Und vier neue Reifen, hahaha. "Du hast als Armer in Nigeria keine Rechte", sagt Josephus.

 Eines Abends im Jahre 2006 sah er Bilder von Jugendunruhen in Frankreich. Wie dort Jugendliche Steine warfen und Molotowcocktails. Sah, dass die Polizei die Demonstranten nicht gleich abknallte. "Wow", sagte er zu einem Freund, "was für ein Leben. Das ist das Paradies."

 Vielleicht kam Josephus im Auftrag der nigerianischen Drogenmafia nach Europa. Vielleicht war es nur wegen einer Lederjacke, dass er zum "Kügelidealer" wurde. Viele der nigerianischen Asylbewerber, kaum sind sie in der Schweiz, wollen eine. Und zwar eine, die was hermacht, die nach Klasse und Style aussieht und vor allem nicht nach Asylbewerber. Sie haben nicht eine Fahrt in und auf einem überfüllten, abgehalfterten Lastwagen durch die Sahara und eine Überquerung des Mittelmeeres in einem Zodiac für insgesamt 1500 Euro überlebt und im Schnitt fünf Menschen dabei draufgehen sehen, um hier in eine Rotkreuz-Altkleidersammlung-Jacke gesteckt zu werden. So funktioniert der Traum nicht.

 Der Traum funktioniert auch nicht im Durchgangszentrum Winterthur. Josephus im Sechserzimmer. Ein mit Tüchern verhangenes Bett. Wo das Paradies weiter weg zu sein scheint als seine Familie, die Eltern, sieben Geschwister, Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins, der ganze Clan von über 50 Leuten. Sie haben nicht einmal seine Telefonnummer. Er ruft sie an, einmal die Woche, sagt, es sei alles in Ordnung, die Schweiz "the best city in Europe", und dass er bald wieder Geld schicken werde.

 Von den elf Franken, die er als Asylbewerber täglich erhält, lege er sechs auf die Seite und überweise Ende Monat mit Western Union 180 nach Hause. Er werde mehr schicken in Zukunft, hatte er seiner Mutter vor ein paar Monaten gesagt. Er habe jetzt eine Arbeit, im "transportation business". Das ist nicht wirklich gelogen. Seine Mutter sagte: "Lass uns Gott danken." Und glaubt, er sei im Kurierdienst unterwegs. Sie fragte, ob das nicht gefährlich sei in der Schweiz mit den vielen Bergen und Kurven?

 Die Pakete haben die Grösse einer Fingerkuppe. Es ist Kokain, dick mit Frischhaltefolie ummantelt, transportiert im Magen und beim Empfänger elegant hochgewürgt. Das kann er. Macht irgendwie was, das aussieht wie Rülpsen, und dann sind die Kügelchen in seiner Mundhöhle. Wie viel von den 100 Franken, die ein Gramm Kokain kostet, in seine Tasche fliessen, sagt er nicht. Er sagt nur: "Nigerianische Mafia."

 Traumziel Schweiz. "Immer noch besser als betteln", fährt er fort. Drei Jahre hat er gebettelt, von 2007 bis 2010, in Italien. Behauptet er. Im italienischen Auffanglager stehen zehn Leute in einer Reihe, fünf erhalten eine vorläufige Aufenthaltsbewilligung. Er hat Glück, darf bleiben, darf Italien aber nicht verlassen. Er trifft Landsleute, solche, die in der Schweiz waren und zurückgeschickt wurden nach Italien. Sie sind anders als er. Haben Lederjacken und Geld für mehr als ein Bier und eine Pizza. Er will auch in die Schweiz. Er bettelt sich von Stadt zu Stadt, sagt er, bis er an der Grenze ist. Vorher versteckt er seine italienischen Papiere bei einem Freund, damit er von den Schweizer Behörden nicht sofort zurückgeschickt wird. Er hat den Hintereingang zur Wohlstandsfestung gefunden.

 umgehend zurück. Gerne würde er Bus fahren. Geht aber nicht. Die einzig legale Arbeit für einen Asylbewerber ist "Freiwilligenarbeit", Schneeschaufeln, Parks putzen. In Afrika arbeitete er für ganz wenig Geld, im Paradies soll er für keines arbeiten? Also tut er nichts. Ausser sich nicht unterkriegen lassen von dem, was ihm jene erzählen, die schon etwas länger hier sind. Dass die Aufnahmerate für Nigerianer bei knapp 0,1 Prozent liegt und dass drei Viertel seiner Landsleute sowieso umgehend in jene Länder zurückgeschickt werden, in denen sie Europa das erste Mal betreten haben. Es sind kostbare Tage in der Schweiz, trotzdem. Weil sie begrenzt sind. Die Schweizer Mühlen mahlen zwar langsam, aber sie mahlen. Er will aus dem Paradies so viel mitnehmen wie möglich, bevor er zurück nach Italien muss.

 Also Kokain-Business. Kein grosses Ding. Ein Freund führt ihn ein in eine kleine Zelle, wo einer der Boss ist und seinen "Runnern" die Ware zur Verfügung stellt. Er übt das Hochwürgen und gehört fortan zu den Handlungsreisenden. Er besitzt ein Generalabonnement 2. Klasse der SBB auf monatlicher Basis, weil nie gewiss ist, wann das Gastspiel im Paradies endet. Zürich-Basel-Olten-Luzern-Bern wahlweise und täglich. "Im Zug bin ich kein Asylbewerber, irgendwie", sagt er. Heute fährt er nach Basel, macht einen Umweg über Olten, vermutlich, um dort die Ware in Empfang zu nehmen. Olten und seine Nähe zu den Städten des Mittellandes ist als Verteilzentrum ideal. In Basel wird er den Kunden in dessen Wohnung treffen. Seit Soma läuft das Geschäft in mehr oder weniger privaten Bahnen. "Gut für mich. Nicht so gut fürs Geschäft."

 Was soll ihm schon passieren? Er ist noch im Asylprozess, die Ware in seinem Bauch. Der Zug geht in ein paar Minuten. Es gibt Probleme wegen des Fotos am Zürcher Hauptbahnhof. Trotz der Mütze und der eilig gekauften Sonnenbrille, er will jetzt nicht fotografiert werden. "Die Polizisten dort?" Er winkt ab: "Zu viele Afrikaner", sagt er, "nicht gut. Die könnten mich erkennen, und dann hab ich ein Problem. Nigerianische Mafia." Der Zug fährt ein und Mugundu verschwindet. Haften bleibt sein allerletzter Satz: "Du hast als Afrikaner in Europa ein Problem. Du hast als Afrikaner ja sogar eines in Afrika."

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NZZ am Sonntag 23.2.11

"Ich war fassungslos und schockiert"

 David Nichols ist einer der berühmtesten LSD-Forscher. Er erzählt, wie Drogenhändler seine Arbeit missbrauchen - mit tödlichen Folgen. Und warum Halluzinogene trotzdem besser sind als ihr Ruf

 NZZ am Sonntag: Seit Jahrzehnten erforschen Sie bewusstseinsverändernde Substanzen wie LSD oder MDMA, besser bekannt als Ecstasy. Was interessiert Sie an diesen Drogen?

 David Nichols: Als ich 1969 damit anfing, ging es mir um eine rein wissenschaftliche Frage: Ich wollte wissen, wie es möglich ist, dass diese Stoffe an denselben Rezeptoren im Gehirn andocken, obwohl sie chemisch unterschiedlich aussehen. Doch mit der Zeit begann ich mich intensiver mit der Wirkung dieser Substanzen zu beschäftigen. Und wenn mich die Leute fragen weshalb, erzähle ich ihnen gerne eine kleine Geschichte.

 Wir sind ganz Ohr.

 Denken Sie an Dinge, die Ihr Leben verändern: Sie können sich verlieben oder heiraten, vielleicht lassen Sie sich scheiden, oder eines Ihrer Kinder stirbt. Oder Sie nehmen LSD. Viele Leute, die diese Erfahrung gemacht haben, sehen danach die Welt völlig anders, zum Guten oder zum Schlechten. Wie ist es möglich, dass ein chemisches Molekül eine solche Wirkung hat, und wo genau im Gehirn findet das statt? Solche Fragen rühren an der Natur des Menschen: Wer sind wir, und was ist der Sinn des Lebens?

 Hatten Sie nie das Gefühl, Ihre Arbeit könnte nicht nur neue Erkenntnisse über die Psyche hervorbringen, sondern den Menschen auch schaden?

 In den USA waren psychedelische Substanzen vor allem während des Vietnamkrieges populär. Damals gab es viel Aufruhr und soziale Unruhen. Vermutlich hatte LSD dabei einen wichtigen Einfluss. Jede Technologie kann vernünftig verwendet oder missbraucht werden. Psychedelische Substanzen dürfen nur in angemessenem Kontext und mit entsprechender Vorbereitung eingesetzt werden, sonst können sie grossen Schaden anrichten.

 Wie sollte man sich denn auf den Konsum von LSD vorbereiten?

 Beschäftigen Sie sich wochenlang mit Mystik, dann ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass Sie eine mystische oder spirituelle Erfahrung machen, wenn Sie LSD in einem besinnlichen Rahmen einnehmen. Tun Sie das aber ohne Vorbereitung und gehen dann in einen Horrorfilm, wird Ihre Erfahrung ganz anders ausfallen. Psychedelische Substanzen sind die einzigen Drogen, deren Wirkung vom Zustand desjenigen abhängt, der sie konsumiert.

 Amateur-Chemiker durchforsten mit Vorliebe die wissenschaftliche Literatur, um Ideen für die Herstellung neuer Designerdrogen zu finden. Einer von ihnen hat kürzlich öffentlich erklärt, Ihre Forschungsarbeiten seien für ihn dabei besonders nützlich.

 Ich war mir immer bewusst, dass Substanzen, die wir im Labor herstellen, auch ausserhalb eingesetzt werden könnten. Ich dachte aber nicht, dass das zu einem wirklichen Problem würde. Denn die von uns entwickelten Stoffe unterschieden sich ziemlich von LSD. Doch dann, in den 1990er Jahren, starben einige Menschen, weil sie "Flatliners" oder MTA einnahmen - eine Substanz, die dem Ecstasy verwandt ist und über die wir einige Forschungsarbeiten publiziert hatten. Mit dem hätte ich nie gerechnet. Ich weiss auch von zwei oder drei anderen Fällen, wo Menschen starben, nachdem sie Stoffe einnahmen, die ursprünglich wir entwickelt hatten.

 Was für Stoffe waren das?

 Es ging dabei zum Beispiel um eine halluzinogene Substanz, die unter dem Namen "Bromo-Dragonfly" bekannt ist. Das Molekül ist extrem potent. Ich vermute, dass die Leute das unterschätzten und eine massive Überdosis konsumierten. Typen, die solche Substanzen nachbauen und vertreiben, scheren sich keinen Deut um die Sicherheit. Keiner dieser Stoffe wurde für den Gebrauch beim Menschen getestet, und die Produzenten hatten keine Ahnung, was geschehen könnte, wenn sie Tausende Dosen unter die Leute bringen. Das ist absolut unverantwortlich.

 Und worin besteht Ihre Verantwortung als Chemiker, der die Stoffe entwickelte?

 Ich kann nicht kontrollieren, was mit den Dingen geschieht, die ich publiziere. Das Paradigma der Wissenschaft besteht darin, Forschung zu betreiben, Wissen zu produzieren und in Publikationen öffentlich zu machen, so dass andere daraus weitere Erkenntnisse gewinnen können.

 Fühlten Sie sich schuldig, als Sie von diesen Todesfällen hörten?

 Als mir ein Kollege in einem Mail schrieb, Menschen seien wegen des Missbrauchs von MTA umgekommen, war ich fassungslos und schockiert. Es beschäftigte mich sehr, dass jemand starb aufgrund von Informationen, die ich publiziert hatte. Auch wenn ich über das Ganze keine Kontrolle hatte und wusste, dass die Betroffenen Überdosen konsumiert hatten.

 Hat das Verwenden von Forschungsdaten zu Drogenzwecken in der jüngsten Zeit zugenommen?

 Es macht zumindest den Anschein, dass die Leute vermehrt auf der Suche nach Legal Highs sind, also nach neuen und deshalb noch nicht verbotenen Drogen. Das ist wahrscheinlich eine direkte Folge des strikten Verbots von Substanzen wie LSD oder Ecstasy, die es seit langem gibt und die vermutlich um einiges sicherer sind.

 Wie schwierig ist es, die von Ihnen entwickelten Stoffe nachzubauen?

 Die Chemie der einfachsten Moleküle ist relativ simpel. Wer ein paar Kurse in organischer Chemie an der Uni belegte und bei der Laborarbeit gut war, kann die meisten dieser Moleküle nachbauen. Hinzu kommt, dass im Internet zahlreiche Ratschläge kursieren. Für die Herstellung der komplexeren Moleküle sind mehr Kenntnisse und Fähigkeiten nötig. Aber wer einen Master in organischer Chemie hat, kann auch das schaffen.

 Und wie steht es mit der Ausrüstung?

 Es braucht keine exotische Ausrüstung dazu. Vieles wird wohl in Chemielabors gestohlen, wo es niemandem auffällt, wenn ein Glaskolben verschwindet. Zumindest in den USA ist es fast unmöglich, dass ein Privater ausserhalb einer Institution Laborausrüstung oder Chemikalien kaufen kann. Das wird streng überwacht.

 Werden Sie manchmal auch von Drogenproduzenten um Hilfe angegangen?

 Im letzten Jahr erhielt ich vier oder fünf E-Mails. Ein paar Mal wurde ich um Details zur Synthese bestimmter Moleküle gebeten. Einmal ging es dabei um eine Substanz, über die wir praktisch nichts publiziert hatten. Solche Anfragen beantworte ich nicht. Und wenn ich nach der Dosierung einer Substanz gefragt werde, dann erkläre ich, dass wir die Moleküle nur bei Ratten, nicht aber bei Menschen getestet hätten und dass ihre Einnahme für Menschen gefährlich sein könnte.

 Haben Sie jemals darauf verzichtet, Erkenntnisse zu publizieren, weil sie zu gefährlich sein könnten?

 Als wir an Ecstasy beziehungsweise MDMA arbeiteten, beschloss ich, die Erforschung eines bestimmten Moleküls einzustellen. Ich war überzeugt, dass es ähnlich wie Ecstasy wirken und sehr populär werden würde. Es hätte möglicherweise schwere toxikologische Nebenwirkungen gehabt und zum Tod von Leuten führen können. Ich publizierte niemals etwas über dieses Substanz, erwähnte nicht einmal ihren Namen.

 Glauben Sie, dass solche Entwicklungen die Freiheit der Forschung bedrohen?

 Forschung ist ein offener Prozess, und es wird von Wissenschaftern erwartet, dass sie ihre Resultate veröffentlichen. Daran sollte sich auch in Zukunft nichts ändern. In der Forschung darf es keine Zensur geben.

 Welche Rolle spielen medizinische Anwendungen in Ihrer Forschung?

 Ich war sehr beeindruckt von Forschungsarbeiten, in denen Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre die Angstzustände sterbender Patienten mit LSD behandelt wurden. Und bereits in den 1950er Jahren hiess es in der Fachliteratur, LSD lasse sich bei der Behandlung von Abhängigkeiten und Alkoholismus einsetzen. Leider waren viele dieser Studien wissenschaftlich zu wenig überzeugend.

 Nach jahrzehntelangen Verboten wird LSD in der Schweiz in einem klinischen Versuch an zwölf Patienten erneut zur Behandlung von Ängsten eingesetzt. Erleben psychedelische Substanzen eine Wiedergeburt als Medikamente?

 Die Chance dafür besteht. Am Heffter Forschungsinstitut untersuchen wir Psilocybin zur Behandlung von Angst bei Krebskranken. Die Resultate einer ersten Studie waren vielversprechend, zwei grössere Studien sollen das nun belegen. MDMA war in der Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen bisher sehr erfolgreich. Leider denken immer noch viele Menschen, diese Substanzen seien bloss gefährliche Drogen. Gefährlich sind sie nur, wenn sie unangemessen und unkontrolliert eingesetzt werden. Niemand ist je an einer Überdosis LSD gestorben.

Interview: Patrick Imhasly

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 David Nichols

 David Nichols, 66, ist Professor für Pharmakologie an der Purdue University in Indiana und ein führender Experte für psychedelische Substanzen. Er wurde berühmt für Arbeiten, in denen er die Wirkungsweise von Rauschmitteln wie LSD oder Ecstasy untersuchte. Nichols ist Mitbegründer des Heffter-Instituts, das die Erforschung von Halluzinogenen zu medizinischen Zwecken fördert, unter anderem an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. (pim.)

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 Synthetische Drogen

 Ein Spiel auf Rausch und Tod

 Aus den Labors gelangen immer wieder neue Drogen auf den Markt. Die Behörden können kaum Schritt halten

 Sie kursieren unter Namen wie "Explosion", "Yucatan Fire" oder "Chill X" und versprechen euphorische Gefühle, klares Denken oder ganz einfach die totale Entspannung. Solche Stoffe waren früher als "Designer-Drogen" bekannt, heute redet man in der einschlägigen Szene eher von "Research Chemicals" oder "Legal Highs". Ob es sich nun um Stimulanzien oder Halluzinogene handelt, gemeinsam ist diesen Drogen, dass sie nirgends in der Natur zu finden sind. Vielmehr werden sie von Amateur-Chemikern oftmals in Küchen-Labors kreiert, die dafür die wissenschaftlichen Publikationen anerkannter Experten wie jene des amerikanischen Pharmakologen David Nichols plündern (siehe Interview).

 Auf zahlreichen Websites - manchmal auch in Head Shops, die Zubehör für die Cannabis-Szene anbieten - werden die Rauschmittel als "legal" vertrieben. Das stimmt in den meisten Fällen. Denn die Stoffe sind so neu, dass die Behörden ständig hinterherhinken, wenn es darum geht, sie toxikologisch zu untersuchen und bei Gefahr für Leib und Leben zu verbieten. Ausserdem sind die Drogenproduzenten clever genug, sich rechtlich zu schützen, indem sie die potente Ware als "Badesalz" oder "Dünger für Kakteen" vermarkten oder mit dem Zusatz "nicht zum Konsumieren geeignet" versehen.

 Freiwillige Versuchskanichen

 "Weil diese Substanzen zuvor selten beim Menschen getestet wurden, weiss man sehr wenig über Wirkung, Nebenwirkungen oder Langzeitfolgen", sagt Alex Bücheli, Drogenfachmann bei der Jugendberatung Streetwork der Stadt Zürich. "Die Konsumenten sind sozusagen Versuchskanichen." Nicht nur die ursprünglich von David Nichols zu Forschungszwecken entwickelten Moleküle "Flatliners" und "Bromo-Dragonfly" führten zu Todesfällen, auch das Stimulans Mephedrone soll für den Tod von drei Jugendlichen in Grossbritannien und Schweden verantwortlich sein. Seit dem 1. Dezember 2010 ist Mephedrone in der Schweiz verboten, wie in den meisten Ländern Europas. Für die Drogenhändler ist das kein Problem, stattdessen vertreiben sie über ihre Websites bereits wieder neue Rauschmittel aus dem Labor, zum Beispiel Synthacaine - ein lokales Anästhetikum, das dem Kokain chemisch verwandt ist und eine leicht stimulierende Wirkung haben soll.

 24 Substanzen in einem Jahr

 2009 wurden im Frühwarnsystem des EU-Monitoring-Zentrums für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) 24 neue, synthetische psychoaktive Substanzen erfasst - mehr als je zuvor in einem Jahr. Wie verbreitet Legal Highs in der Schweiz sind, darüber lässt sich nur spekulieren. Alex Bücheli sagt, dass sie zumindest unter jenen Leuten, die das Präventionsangebot von Streetwork nutzen, sich beraten und ihre Drogen bei Partys oder im Zürcher Drogeninformationszentrum (DIZ) testen lassen, "kaum ein Thema sind".

 Bücheli stellt in der Schweiz eine eher "konservative Haltung bei der Substanzenvielfalt" fest. "Wenn die Leute gute Erfahrungen mit ihren Drogen machen und diese Substanzen in einer gewissen Qualität käuflich sind, haben sie wenig Grund, etwas Neues auszuprobieren." Zudem könnte das Internet als Vertriebskanal für manche potenziellen Konsumenten eher eine Hemmschwelle darstellen, zumal sie bei einer Bestellung Namen und Postadresse angeben und per Kreditkarte bezahlen müssen.

 Um der ständigen Entwicklung neuer Drogen etwas entgegenzusetzen, wurde in den USA bereits 1986 ein Gesetz verabschiedet, das eine Substanz für den Gebrauch beim Menschen automatisch bannt, wenn ihre chemische Struktur einer bereits verbotenen Substanz ähnlich ist, sie keinen medizinischen Nutzen hat und das Potenzial für einen Missbrauch gross ist. Doch dieser Ansatz greift nicht bei gänzlich neuen Kreationen wie den synthetischen Cannabinoiden.

 Für solche Fälle geht die Schweizer Heilmittelbehörde jetzt einen neuen Weg. Swissmedic will die laufende Revision des Betäubungsmittelgesetzes nutzen, um eine Liste für ein provisorisches Verbot von Legal Highs einzuführen. Dort blieben die Substanzen vorsorglich stehen, bis die Untersuchungen über ihre Schädlichkeit abgeschlossen wären.

Patrick Imhasly

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24 Heures 21.2.11

Nouvelle loi sur les stupéfiants

 "Le cannabis bientôt vendu sur ordonnance médicale"

Martine Clerc

 Le chanvre médical sera légalisé avant l'été, mais restera sous haute surveillance. La fin d'un tabou pour le neurologue Claude Vaney

 Martine Clerc

 Fumer du cannabis récréatif reste interdit en Suisse. Pas question de dépénaliser, a répété le peuple en 2008. Par contre, la nouvelle loi fédérale sur les stupéfiants, qui devrait entrer en vigueur d'ici à l'été, ouvre la porte à une utilisation médicale de produits à base de chanvre. Le point avec le Dr Claude Vaney, chef du service de réadaptation neurologique de la Clinique Bernoise à Montana, et membre de la commission d'experts qui a préparé la loi. Il est l'auteur de la première étude en Suisse (2004) qui a permis de mettre en évidence l'effet du chanvre dans le traitement des symptômes de la sclérose en plaques.

 Vous pratiquez en Valais. Quel impact a eu l'affaire Rappaz sur la cause du chanvre médical?

 Difficile à dire. Le personnage en tout cas a irrité. Et même si Bernard Rappaz a certainement produit du chanvre à but thérapeutique, ce n'était probablement pas la source principale de son chiffre d'affaires…

 Que va changer la nouvelle loi sur les stupéfiants?

 En termes de chanvre médical, c'est la fin d'un tabou. Avec la nouvelle loi, il devrait être possible de prescrire du THC (tétrahydrocannabinol, le principal principe actif du cannabis) produit à base de cannabis en tant que plante, et non plus seulement du THC synthétique. Actuellement, en Suisse, nous ne pouvons prescrire que la préparation nommée Dronabinol (dénomination commune internationale du THC) produit de synthèse à base de pelures d'orange…

 Le cannabis médical: quels bienfaits et pour qui?

 Il donne de bons résultats pour le traitement de douleurs chroniques d'origine neurologique, notamment pour les gens souffrant de sclérose en plaques ou paraplégiques suite à un accident. Chez eux, le chanvre permet de réduire les spasmes musculaires et les crampes. Il stimule l'appétit chez les sidéens ou les cancéreux.

 Aujourd'hui déjà, des malades se soignent en automédication en infusant ou en fumant de l'herbe. Vous n'en avez jamais prescrit?

 Non, cela aurait été illégal et punissable. Je soigne une vingtaine de patients avec les gouttes de THC Dronabinol, mais je connais beaucoup de malades qui consomment du chanvre illégalement, en tisane par exemple. Je leur indique uniquement comment préparer leur infusion. Et soyons clairs, ces personnes ne cherchent pas à se shooter ou à ressentir des effets psychotropes. Elles cherchent à diminuer la douleur et à pouvoir mieux dormir.

 Cette loi n'est-elle pas la porte ouverte à l'autorisation de la "fumette", sous couvert d'usage médical?

 En aucun cas. La fumée est nocive et les médecins ne vont pas la favoriser. Par contre, la loi mettra les malades à l'abri du marché noir: ils ne devront plus aller se fournir chez des dealers qui proposent un chanvre avec un très fort taux de THC provoquant des effets psychotropes. Ils pourront aller dans une pharmacie avec une ordonnance et obtenir du cannabis élaboré dans des conditions médicales acceptables.

 Aujourd'hui, quelle est votremarge de manœuvre?

 Elle est réduite et elle le restera. Pour chaque prescription, une autorisation de l'Office fédéral de la santé publique est nécessaire(lire ci-contre).

 Il y a vingt ans, vous avez commencé à vous intéresser au chanvre thérapeutique. Quel a été le déclic?

 Tout est parti du témoignage d'un patient atteint de sclérose en plaques à la Clinique Bernoise. Il m'a dit que fumer un joint le soulageait en cas de crampes. Et nous avons constaté que la substance provoquait sur lui une relaxation objectivable. A cette époque, ce phénomène n'était que peu documenté. L'Office fédéral de la santé publique m'a encouragé à lancer une étude sur ce thème.

 Passez-vous pour un marginal aux yeux du milieu médical?

 Les neurologues sont aujourd'hui globalement ouverts à l'usage du chanvre dans certains traitements spécifiques, surtout lorsque les traitements habituels s'avèrent inefficaces. Mais je dois reconnaître que mes confrères avaient sourilorsque je leur avais présenté les résultats de mon étude!

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 Un cadre très restrictif

 Ce qui changera avec la nouvelle loi sur les stupéfiants qui devrait entrer en vigueur au 1er   juillet? Il sera possible de demander à Swissmedic l'homologation de médicaments à base de chanvre autorisés aujourd'hui dans des pays de l'Union européenne. D'autres préparations pourraient aussi être fabriquées en Suisse. Une prescription demeurera cependant obligatoire. Et pas question pour les malades de cultiver eux-mêmes leurs plants ou d'en acheter chez des cultivateurs. Ils devront passer par la case pharmacie. Pour quel type de pathologie?Sclérose en plaques, certaines douleurs chroniques surtout neurogènes ou encore la perte de poids en cas de cancer. Actuellement, l'Office fédéral de la santé publique (OFSP) autorise une cinquantaine de personnes à être traitées au THC synthétique, sur demande de leur médecin. Ce chiffre devrait augmenter, malgré des conditions qui resteront strictes. Pour obtenir une autorisation, les médecins devront, entre autres, prouver que la péjoration de la qualité de vie de leur patient est clairement liée à la maladie, que d'autres thérapies n'ont pas fonctionné et que le traitement visé est documenté dans la littérature médicale. L'autorisation ne sera délivrée que pour six mois, renouvelable. Pour l'heure, les caisses n'ont pas l'obligation de rembourser ces traitements.

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SEXWORK
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NLZ 28.2.11

Gehalten wie Sklavinnen

 Spanien

Ralph Schulze, Madrid

 Hölle statt Paradies: Mit Prügel werden Tausende Immigrantinnen zur Prostitution gezwungen. Nun versuchen die Städte mit Verboten der Prostitution zu begegnen.

 Ralph Schulze, Madrid

 nachrichten@luzernerzeitung.ch

 Prügel, Vergewaltigungen, Todesdrohungen, Erpressungen: Mit diesem kriminellen Instrumentarium werden Tausende afrikanische Einwanderinnen in Spanien zur Prostitution gezwungen. Wie die skrupellose Menschen-Mafia vorgeht, enthüllt ein Bericht der spanischen Kriminalpolizei. Den Beamten war es gelungen, eine Bande zu überführen, die Immigrantinnen aus Nigeria auf den Urlaubsinseln Gran Canaria und Mallorca in Bordellen gnadenlos ausbeutete. Die Frauen wurden wie Sex-Sklavinnen gehalten.

 Falsche Versprechen

 Die Prostitutionsmafia sucht sich ihre Opfer oft schon in den Heimatländern aus: Im konkreten Fall wurden in Nigeria hübsche junge Frauen aus einfachen Verhältnissen mit dem falschen Versprechen angeworben, ihnen "ein neues Leben in Europa" zu ermöglichen. "Beschützt" von Helfern der Mafia, die angeblich den Interessentinnen auch Arbeit auf dem europäischen Kontinent suchen wollten. Damit die Migrationswilligen Geld verdienen und ihre Familien in der Heimat unterstützen könnten. Von Prostitution war natürlich zunächst nicht die Rede.

 Gefährliche Bootsüberfahrt

 Für die Reise hatte die Bande zwei Routen: Entweder ging es mit falschen Einreisepapieren per Flugzeug nach Europa. Oder von der marokkanischen Küste aus mit kleinen motorisierten Booten übers Mittelmeer nach Südspanien. Vor der illegalen und lebensgefährlichen Bootsreise wurden die Nigerianerinnen in Marokko von ihren "Beschützern" immer wieder vergewaltigt - "bis sie schwanger waren", berichtet die Kripo. Weil schwangere illegale Migrantinnen von den spanischen Behörden nicht abgeschoben werden.

 Nach Geburt Babys geraubt

 Einmal in Spanien angekommen, wurden die Frauen auf den Kanaren und den Balearischen Inseln auf den Strich geschickt. Den Schwangeren raubte man nach der Geburt die Babys, die als Faustpfand in der Hand der Mafia blieben und von Handlangerinnen der Bande aufgezogen wurden. Die Frauen selbst mussten "täglich bis zur Erschöpfung ihren Körper verkaufen", um ihre "Schulden" bei den Menschenhändlern zu bezahlen. "Die Frauen lebten", so die Ermittler, "in völliger Gefangenschaft."

 Städte verbieten Prostitution

 In diesem Fall stammten die Opfer wie die Täter aus Nigeria. Neben Afrikanerinnen werden aber auch viele Frauen aus Lateinamerika, besonders Brasilien, und aus Rumänien mit Lügen über ein besseres Leben nach Europa gelockt. Die meisten der geschätzten 300 000 Prostituierten, die sich in Bordellen oder auf dem Strassenstrich in Barcelona, Bilbao, Madrid, Sevilla, Valencia und auf den Ferieninseln anbieten, sind Immigrantinnen.

 Immer mehr spanische Städte versuchen nun mit Verboten die sich vielerorts ausbreitende Strassenprostitution aus den Innenstädten und Wohnvierteln zu verdrängen. In der südspanischen Stadt Sevilla müssen die Kunden der Strassendirnen neuerdings mit hohen Strafen rechnen: Bis zu 3000 Euro knöpft die Polizei künftig jenen "Freiern" ab, die im öffentlichen Strassenraum erwischt werden.

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20 Minuten 28.2.11

Tribschen: Immobilienfirma ruft zum Mieterprotest auf

 LUZERN. Der Streit um die Prostituierten im Tribschenquartier geht weiter: Jetzt hat eine Immobilienfirma ihre Mieter zum schriftlichen Protest aufgerufen.

 Das Tribschenquartier kommt nicht zur Ruhe. Nachdem eine Anwohnerin die Prostituierten wegen Lärmbelästigung angezeigt hat (20 Minuten berichtete), wird nun eine Immobilienfirma aktiv: Sie hat ihren Mietern einen Brief geschickt, um Unterschriften zu sammeln, die anschliessend der Stadt zugestellt werden. Gefordert wird darin die Sperrung der Keller- und der Unterlachenstrasse sowie des Grimselwegs für den nächtlichen Suchverkehr. "Wir mussten etwas unternehmen, nachdem sich mehrere Mieter beschwerten, dass sie von Freiern und Prostituierten belästigt wurden", hiess es auf Anfrage bei der betroffenen Immobilienfirma. Diese vermietet im Tribschenquartier 64 Wohnungen - bereits 30 Mieter hätten die Forderung unterschrieben.

 Doch nicht alle Mieter begrüssen die Aufforderung der Hausverwaltung. "Ich befürchte, dass die Mietpreise steigen werden, wenn der Strassenstrich vertrieben wird", sagt einer von ihnen. Ein anderer meint, er habe inzwischen "gelernt, die Anmache zu ignorieren".

 Bei der Stadt will man sich zu der neuen Forderung nicht äussern. "Zu diesem Thema sind noch politische Vorstösse hängig. Bevor diese beantwortet sind, werden wir keine Auskunft geben", so Daniel Deicher, Stabschef der Sicherheitsdirektion.

Lena Berger

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Blick am Abend 23.2.11

LUZERN/ZUG

 Der vergessene Strassenstrich

 DROGEN

 Der Tribschen-Strich erhitzt die Gemüter. Doch beim Kreuzstutz ist das Elend grösser.

 stefan.daehler@ringier.ch

 Der Strassenstrich beim Tribschen-Quartier ist in aller Munde. Bereits wurden politische Vorstösse lanciert. Dabei geht vergessen, dass beim Kreuzstutz-Kreisel im BaBeL-Quartier ein weiterer Strassenstrich existiert, wo die Situation teilweise gar schlimmer ist als im Tribschen.

 Die Prostituierten beim Kreuzstutz-Kreisel sind offdrogenabhängig. Der Sex findet meistens im Freien statt, um Geld für ein Zimmer einzusparen. Warum ist dieser Strich kein Thema? René Fuhrimann vom Verein BaBeL sagt dazu: "Unser Quartier hat keine Lobby. Hier leben keine einfl ussreichen Leute." Es gäbe aber auch andere Gründe für die geringere Aufmerksamkeit. Die Prostituierten seien weniger zahlreich und auch weniger aufdringlich als im Tribschen-Quartier.

 Doch auch das BaBeLQuartier leidet unter dem Strassenstrich: "Manchmal werde ich von Freiern angesprochen, wenn ich auf den Bus warte", sagt eine Anwohnerin. Warum wehren sich die Anwohner nicht wie im Tribschenquartier? Laut Fuhrimann liegt das an der sozialen Zusammensetzung: "Hier wohnen viele Ausländer, die nicht wissen, wie man sich Gehör verschafft."

 Also setzt sich der Verein BaBeL für die Anwohner ein. Ziel ist es, bis im Sommer eine Lösung zu finden - dann ist die Situation am schlimmsten. Deshalb begrüsst Fuhrimann auch die Diskussion über den Strassenstrich im Tribschen-Quartier: "Es ist gut, wenn das Problem der Prostitution in Wohnquartieren zur Sprache kommt. Der politische Druck hilft auch uns."

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Solothurner Zeitung 22.2.11

Bordell vor den Schulhaustüren

 Breitenbach Fahrlehrer Peter Fricker will gegenüber der Oberstufen-Schule Grien in Breitenbach ein Bordell mit osteuropäischen Prostituierten eröffnen. Dies stösst bei Schulleitung und Gemeinde auf heftige Gegenwehr. Peter Fricker ist seit 14 Jahren Fahrlehrer. Nun will sich der 62-Jährige neu orientieren und sein Theorielokal am Rande der 3500-Seelen-Gemeinde für rund 0,5 Mio. Franken in einen Nachtklub umbauen.

 Acht Prostituierte aus Osteuropa sollen künftig in Frickers Bordell arbeiten. "Die geistige Elite aus dem Ostblock", wie Fricker sie gegenüber Tele M1 bezeichnet. Der dreifache Vater habe sich schon immer fürs Sexgewerbe interessiert.

 Das "Tropicana" liegt direkt gegenüber dem Oberstufen-Schulhaus Grien. Laut Fricker sei dies kein Problem, denn "ein Nachtklub ist ein Nachtklub, und kein Tagklub". Die beiden Betriebe würden sich gegenseitig nicht in die Quere kommen. Um 20 Uhr sei die Schule längst geschlossen. "Und die Mädchen rennen ja nicht nackt im Garten rum", sagte Fricker zu "Blick".

 Schule und Gemeinde opponieren

 Schulleiter Markus Meyer sieht dieses Argument zwar ein, will das Puff dennoch nicht tolerieren. "Schüler und das Umfeld wissen, was da passiert", sagt er gegenüber Tele M1. "Das macht uns schon Sorgen."

 Nicht nur der Schulleiter ärgert sich über Frickers Pläne. Sowohl Schule als auch die Gemeinde haben Einsprachen gegen das Projekt eingereicht. Auch die Eltern sehen Rot: Sie wollen eine Interessen-Gemeinschaft bilden und Unterschriften gegen Frickers Vorhaben sammeln.

 Da es sich um ein laufendes Verfahren handle, wolle die Baukommission keine Stellung zum Vorhaben nehmen, teilt dessen Präsident Fredy Cuennet-Dreier mit. (lds)

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NLZ 19.2.11

Bordellgesetz: Entscheid vertagt

 Prostitution


Luzia Mattmann

 Der Kanton Luzern entscheidet nicht in diesen Tagen, sondern erst nach den Fasnachtsferien, ob er die Prostitution künftig in einem speziellen Gesetz regeln will oder nicht. "Wir werden uns unter anderem nächste Woche mit Vertretern der Stadt treffen, um die Sache zu besprechen", sagt Madeleine Meier vom Justiz- und Sicherheitsdepartement auf Anfrage.

 Dabei soll es unter anderem um die Bewilligungspflicht von Salons und Studios gehen, aber auch darum, welche Massnahmen ohne ein spezielles Bordellgesetz umgesetzt werden können. "Hier denken wir vor allem an die Gesundheitsförderung und die Sozialversicherung der Prostituierten, die ja in 90 Prozent der Fälle nicht im Kanton Luzern wohnen."

 Strassenstrich: Gemeindesache

 Wie steht es um die in den letzten Tagen in der Stadt Luzern wieder aufgeflammte Diskussion um den Strassenstrich im Tribschenquartier? Diese Art der Prostitution sei primär Sache der Gemeinden und werde in einem allfälligen Gesetz wohl eher nicht geregelt. Madeleine Meier wendet auch ein, dass die Strassenprostitution im Vergleich zu Salons, Sex- oder Saunaclubs relativ klein ist. "Wir gehen von rund einem Dutzend Strassenprostituierten und etwa 380 Prostituierten in Etablissements aus", sagt sie. Ausserdem habe die Strassenprostitution in den letzten Jahren eher abgenommen - Kontaktbars seien grösstenteils an ihre Stelle getreten. Von den geschätzten 15 Kontaktbars befinden sich 10 in der Stadt und Agglomeration.

 In den letzten Tagen sind zum Thema Strassenstrich im Grossen Stadtrat Luzern zwei Vorstösse eingegangen: Die FDP will vom Stadtrat Antworten zum Problem, die CVP fordert, dass das Einrichten spezieller Zonen geprüft wird, in denen Strassenprostitution verboten werden kann.

 Luzia Mattmann
 luzia.mattmann@luzernerzeitung.ch

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Thurgauer Zeitung 19.2.11

Freier sollen bestraft werden

 Es sei wichtig, minderjährige Mädchen zu schützen und von der Prostitution fernzuhalten, meint der Regierungsrat. Die Forderung nach einem kantonalen Verbot lehnt er freilich ab.
 
Marc Haltiner

 frauenfeld. In Italien muss sich Ministerpräsident Silvio Berlusconi vor Gericht verantworten, weil er angeblich Sex mit der minderjährigen Ruby hatte. Aber auch in der Schweiz sei die Prostitution von Mädchen unter 18 Jahren ein gravierendes Problem, sagt EVP-Kantonsrätin Regula Streckeisen. Sie reichte deshalb im März letzten Jahres mit 64 Kantonsrätinnen und -räten eine Motion ein. Der Regierungsrat müsse die Öffentlichkeit und potenzielle Freier sensibilisieren, vor allem aber den Schutz der Minderjährigen verbessern.

 Mit dem Ende des Schutzalters

 Streckeisen fordert, dass die Freier von minderjährigen Prostituierten bestraft werden. Diese könnten sich über das Alter der oder des Prostituierten informieren, zumal die 16- bis 18-Jährigen in der Schweiz nicht geschützt seien. Die Prostitution sei nicht verboten und legal, sobald jemand mit 16 Jahren das Ende des Schutzalters erreicht habe. Die Jugendlichen selber sollen allerdings nicht kriminalisiert werden. Indirekt könne der Kanton so aber ein Verbot der Teenie-Prostitution erreichen.

 Mit den Aussagen Streckeisens zeigt sich der Regierungsrat einverstanden, wie er in seiner gestern veröffentlichten Antwort betont. Allerdings zeigt sich der Regierungsrat nicht bereit, die Motion umzusetzen. Der Grosse Rat solle sie nicht erheblich erklären. "Ein solches Vorgehen auf kantonaler Ebene erscheint nicht notwendig."

 Strafen sind die Voraussetzung

 Grund für das Nein ist die Haltung des Bundesrates, die sich geändert hat. Im Juni 2010 habe der Bundesrat das Übereinkommen des Europarates zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung ratifiziert, und auch National- und Ständerat dürften folgen, meint der Regierungsrat. Die Schweiz könne der Konvention aber nur beitreten, wenn sie die Freier unter Strafe stellt, welche die sexuellen Dienste von 16- bis 18-Jährigen gegen Geld oder Vergünstigungen beanspruchen.

 Mit einer einheitlichen schweizweiten Lösung könne der Bund zudem verhindern, dass minderjährige Prostituierte in Kantone ausweichen, die solche Strafen nicht kennen, so die Regierung. Die Konvention sehe einen europaweiten, umfassenden Schutz der ungestörten sexuellen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen vor. Und die Kantone sollen verpflichtet werden, Freier und Öffentlichkeit auf das Thema aufmerksam zu machen.

 Regula Streckeisen ist mit der Antwort zufrieden, auch wenn der Regierungsrat die Motion nicht annehmen will. "Die Ausgangslage hat sich komplett geändert. Es ist sinnvoll, dass der Bund gegen Teenie-Prostitution aktiv wird." Allerdings habe es den Druck von Vorstössen in mehreren Kantonsparlamenten gebraucht, damit die Schweiz endlich der Europaratskonvention beitrete. Streckeisen schliesst nicht aus, dass sie die Motion im Grossen Rat zurückziehen wird.

 Wenige Fälle bekannt

 Was das Ausmass der Kinderprostitution im Thurgau angeht, bleibt der Regierungsrat vage. "Bis anhin scheint die Prostitution Minderjähriger im ländlich geprägten Kanton Thurgau zahlenmässig kein relevantes Problem zu sein." Der Kantonspolizei seien seit 2002 lediglich zwei Fälle von Minderjährigen bekannt, die sich prostituiert haben (siehe Kasten). Die Fachstellen in Zürich hätten aber erklärt, dass sich die Dunkelziffer im Thurgau nicht auf dem gleichen Niveau der Grossstädte bewege. "Jeder Fall ist einer zu viel", entgegnet Streckeisen.

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 Opfer betreut

 Die Kantonspolizei kontrolliert die etwa 60 Bordelle und Clubs im Thurgau regelmässig, wie die Regierung betont. Bei den letzten Razzien habe die Polizei total 268 Personen kontrolliert und dabei eine 16jährige Ungarin entdeckt, die als Prostituierte arbeitete. In Absprache mit der Opferhilfe wurde das Mädchen von einer Fachstelle in Zürich betreut. (hal)

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tagesanzeiger.ch 18.2.11

Rekordzahl an Prostituierten stieg 2010 ins Rotlicht-Geschäft ein

20 Minuten / jcu

 Zürich ist bei Prostitierten äusserst beliebt. 1050 Neueinsteigerinnen wurden letztes Jahr registriert - ein Drittel mehr als im Jahr davor.

 Die Anzahl an Neueinsteigerinnen im Prostitutionsgewerbe in der Stadt Zürich ist im vergangenen Jahr erneut gestiegen. 1050 Neueinsteigerinnen zählte die Stadtpolizei im letzten Jahr. 2009 lag die entsprechende Zahl noch bei 795. Besonders auf Frauen aus Osteuropa hat die Limmatstadt eine grosse Anziehungskraft. Die Anzahl der sexgewerblichen Betriebe sank in der selben Zeit jedoch von 270 auf 252, wie die Stadtpolizei gegenüber Tagesanzeiger.ch sagte.

 Mit 413 Personen bilden die Ungarinnen die grösste Gruppe, gefolgt von den Rumäninnen (181). 51 stammen aus Polen und 48 aus Bulgarien. Rolf Vieli, Leiter von "Langstrasse Plus", erklärte gegenüber "20 Minuten": "Viele denken, hier sei das Paradies und sie könnten schnell viel Geld verdienen."

 Wieviele Prostituierte in Zürich insgesamt arbeiten kann die Polizei nicht beziffern. Wie Reto Casanova, Sprecher des Polizeidepartementes gegenüber der Gratiszeitung erklärt, sollen die Massnahmen mit der neuen Prostitutionsverordnung und dem Strichplan aber einen Rückgang erwirken. Die Polizei versuche zudem den Hintermännern das Leben schwerzumachen, damit Prostituierte gar nicht erst nach Zürich kommen.

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20 Minuten 18.2.11

1050 Frauen stiegen 2010 in Zürich in Prostitution ein

 ZÜRICH. Die Stadt Zürich wird von Prostituierten überschwemmt: 1050 Neueinsteigerinnen wurden letztes Jahr registriert - das ist ein Drittel mehr als noch ein Jahr zuvor.

 Die Anziehungskraft von Zürich ist für Prostituierte aus Osteuropa im letzten Jahr noch grösser geworden: "Viele denken, hier sei das Paradies und sie könnten schnell viel Geld verdienen. Das muss sich ändern", sagt Rolf Vieli, Leiter von Langstrasse Plus. Den Anstieg beweisen auch die neusten Zahlen: 1050 Neueinsteigerinnen zählte die Polizei im vergangenen Jahr. 2009 waren es noch 795 Neueinsteigerinnen gewesen. Bereits damals sprach Vieli von einem "Rekord". Nun ist die Anzahl erneut um einen Drittel gestiegen - noch mehr Prostituierte stammen dabei aus Osteuropa: 413 Frauen kommen aus Ungarn, 181 aus Rumänien, 51 aus Polen und 48 aus Bulgarien. Wie viele Prostituierte insgesamt in Zürich arbeiten, kann die Polizei nicht beziffern: "Sie müssen sich nicht ab- oder anmelden. Einige bleiben lange, andere gehen nach ein paar Wochen wieder. Die Dunkelziffer ist sehr hoch", sagt Stadtpolizei-Sprecherin Judith Hödl.

 Reto Casanova, Sprecher des Polizeidepartements, sagt: "Die Massnahmen mit der neuen Prostitutionsverordnung und dem Strichplan sollten nun einen Rückgang erwirken." Zudem versuche die Polizei, den Hintermännern das Leben schwerzumachen, damit sie gar nicht erst nach Zürich kommen. Während die Zahl der Prostituierten stieg, sank jene der Bordellbetriebe in der Stadt von 270 auf 252. Vieli: "Zwar gibt es weniger Betriebe, dafür aber mehr Frauen, die dort arbeiten."

David Torcasso

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Landbote 18.2.11

Immer mehr neue Prostituierte

 Thomas Schraner

 zürich. Die Zahl der Neueinsteigerinnen ins Prostitutionsgewerbe ist in der Stadt Zürich erneut gestiegen: 1050 Neueinsteigerinnen hat die Stadtpolizei gezählt, wie Sprecherin Judith Hödel gestern mitteilte. Vor einem Jahr lag die entsprechende Zahl bei 795 Personen. Wie in den Vorjahren stammen die neuen Prostituierten grösstenteils vom Balkan. Mit 413 Personen bilden die Ungarinnen die grösste Gruppe, gefolgt von den Rumäninnen (181), den Bulgarinnen (48) und den Polinnen (51). Im Vergleich zum Vorjahr hat sich die Zahl der Rumäninnen vervierfacht. Auch aus Ungarn kamen wiederum mehr Frauen als im Jahr zuvor, darunter viele Roma. Die Gesamtzahl der Prostituierten in Zürich kennt die Polizei nicht.

 Rückläufig ist laut Hödel die Zahl der Sexetablissements in Zürich. Das sind laut Polizei Bordelle, Sexkinos und Sexshops. 252 lautet hier die neueste Zahl (Vorjahr 270). (tsc)

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TRANSSEXUALITÄT
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Schweiz Aktuell sf.tv 28.2.11

Vom Chef zur Chefin

Andreas Meier, der Direktor des Hotels Schwefelbergbad im Berner Gantrischgebiet, tritt seit Kurzem als Frau auf. Mit seinem Coming-Out als Transsexueller überraschte er seine Lebenspartnerin, seine Eltern und die ganze Hotelbelegschaft gleichermassen.
http://videoportal.sf.tv/video?id=76d342e0-fa94-49df-b24c-14a9aa4701e7

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BZ 28.2.11

"Adieu Herr Meier - grüessech Frau Meier"

 Coming-out als TranssexuelleSeit Anfang Jahr ist Claudia Meier Direktorin des Viersternhotels Schwefelbergbad. Das heisst: eigentlich führt sie es schon seit 10 Jahren - seit sie das Hotel von den Eltern übernommen hat. Nur hiess sie bisher Andreas Meier und war ein Mann. Nun aber lebt sie als Frau.

 1 Meter 78, dank den hohen Absätzen noch grösser, schlank, schwarzes Deuxpièces, roter Lippenstift, beim Reden streicht sie sich die blonden Haare aus der Stirn: Das ist Claudia Sabine Meier, 42, Direktorin des traditionsreichen Viersternhotels Schwefelbergbad im Gantrischgebiet.

 Kräftiger Händedruck, tiefe, männliche Stimme. Wenn sie von Gästen erzählt, die sie nach einem "Adieu Herr Meier" am Telefon später im Hotel dann verblüfft mit "Grüessech Frau Meier" begrüssen, lacht sie: Auch das ist Claudia Sabine Meier.

 Obwohl die Perücke juckt, wäre Kratzen nicht erlaubt, weil diese sonst verrutscht. Den Kaffee trinkt sie mit Röhrli, damit der Lippenstift für die Fotos nicht verschmiert. Und sie rasiert sich mehrmals täglich, bis die Laserrasur den Bartwuchs endgültig hemmen wird. Claudia Sabine Meier war noch bis vor wenigen Wochen Andreas Heribert Meier. Nach "30 Jahren Lügen und Pokerface" hat sie ihr Coming-out als Transsexuelle und feiert seither "täglich Weihnachten und Geburtstag gleichzeitig". Viele Reaktionen habe sie erhalten, "bisher nur positive". Es gab auch Personen, die Mitleid ausdrückten, dass sie sich so lange habe verstecken müssen. Für Claudia Meier ist das falsch. "Mitleid will ich nicht. Ich darf endlich als Frau leben, das zählt."

 Bei der Réception liegen Flyer, auf denen steht, wer Claudia Sabine Meier ist und wer sie war. Sie geht sehr offen mit ihrer Transsexualität um, beantwortet gerne Fragen. So könne man dem "Gschnur" am besten begegnen. Sie will ihre Geschichte erzählen, denn jetzt sei "die Kokosnuss geknackt". Sie wolle zeigen, wie befreiend es sei, im "richtigen" Geschlecht leben und den Druck des Versteckens ablegen zu können.

 30 Jahre Versteckspiel

 Andreas Meier war noch im Vorschulalter, als er an einer 1.-August-Feier im Schwefelbergbad eine Erfahrung machte, die er nicht vergessen konnte. Seine Schwester trug ein Flamencokleid, er einen Cowboyanzug. "Ich beneidete sie unglaublich, konnte dieses Gefühl aber nicht einordnen." Während der ganzen Schulzeit war der damalige Andreas jener, der am Rand des Spielfelds stand und gehänselt wurde. In der Pubertät war er ein kompletter Einzelgänger. Dazu kam das Übergewicht. Noch vor 7 Jahren wog Andreas Meier 155 Kilo. Heute sind es 70. "85 Kilo Andreas sind weggeschmolzen", erzählt sie lachend.

 30 Jahre lang versteckte er Claudia, wie er "das Weib ihn mir" nach seinem Chatnamen taufte. Und er log sein Umfeld an. Im Internet bestellte er Frauenkleider für die fiktive Mitarbeiterin Claudia Mantel, "damit niemand die Päckli versehentlich öffnete". Spät abends oder früh morgens schlich er als Andreas mit einem Koffer aus dem Hotel, um sich als Claudia mit Gleichgesinnten zu treffen.

 Vor einigen Jahren reiste er alleine als Claudia in die Ferien nach Spanien. "Ich wollte herausfinden, ob ich eine Frau sein oder einfach Frauenkleider tragen will." Sie stellte fest: "Es ging mir um mehr als um die Kleider."

 Seit einiger Zeit schon geht sie zu einer Psychotherapeutin. Bis im Herbst wusste niemand ausser ihr von Claudia. Die Partnerin auch nicht. "Es war schwierig, zu lügen, und belastete mich enorm, aber es ging nicht anders."

 Das "Experiment Claudia 14"

 Letzten Herbst begann das "Experiment Claudia 14". Weil er, ausgelöst auch durch die Sitzungen mit der Therapeutin, gespürt habe, dass "etwas passieren" müsse. Erstmals lebte er 14 Tage durchgehend als Claudia in einem Hotel in der Schweiz. Nach der ersten Woche schob die Psychotherapeutin kurzfristig einen Termin ein, er erschien als Claudia. Sie begrüsste ihn mit "Frau Meier", ganz selbstverständlich. "Ich merkte: Es funktioniert." Jetzt musste er raus mit Claudia.

 An einem Abend im November erklärte er sich in einem Restaurant in Zürich seiner Partnerin, mit der er seit 8 Jahren zusammen ist. "Ich hätte Verständnis für jede Reaktion gehabt", sagt Claudia Meier heute. "Ich stahl ihr ja von einer Sekunde zur anderen den Mann." Andreas druckste an jenem Abend erst herum, fand die richtigen Worte nicht. Als er, der als Überbleibsel der Ferien Ohrstecker trug, von der Toilette zurückkam, fragte die Partnerin: "Willst du dich zur Frau umoperieren lassen? Ist es das?" Andreas nickte nur. Dann brachen beide in Tränen aus.

 "Das Ganze hat mich überrollt. Beim Tempo, das Claudia angeschlagen hat, ist es nicht immer einfach mithalten", sagt die Partnerin heute und lächelt, "so etwas braucht vor allem Zeit." Noch am Abend des Coming-outs versprach sie, Claudia "zu begleiten". Die beiden sind weiterhin ein Paar. Wenn sie zusammen shoppen oder im Ausgang sind, werden sie als gute Freundinnen wahrgenommen.

 Sich gegenüber den Eltern und der Schwester zu offenbaren, fiel Claudia schwer. Sie stiess aber auf Verständnis. Heute komme der Vater vorbei und erkundige sich nach "seinem Claudeli". An Silvester informierte Claudia Meier das Hotelpersonal, dass es eine neue Chefin gäbe, er aber trotzdem bleibe. Mit der Zeit verstanden alle, was gemeint war.

 Eine halbe Stunde braucht Claudia Meier heute fürs Schminken. Sie bewegt sich wie eine Frau und nimmt immer mehr Züge an, die man typischerweise einer Frau zuordnet. Sie könne nach wie vor laut werden. "Nur gehe ich überlegter vor, subtiler, eher mit Arsen und Spitzenhäubchen." Sie will eine elegante Frau sein, keinesfalls billig. Dazu passt ihre Begeisterung für Schuhe, vor allem für Stiefel.

 Auf den hoteleigenen Skilift klettert sie weiterhin, um zu kontrollieren, ob alles stimmt. Mit dem Traktor räumt sie Schnee vom Parkplatz. "Erst dachte ich, das geht doch nicht als Claudia. Aber natürlich geht das."

 Kampf mit den Behörden

 Als Andreas Meier setzte er sich vehement für die Gantrischregion ein. Gleich engagiert kämpft Claudia Meier nun für ihre Rechte als Transsexuelle. "Es belastet mich enorm, wenn ich öffentlich unter falschem Namen auftreten muss." Auf Kunden- und Bankkarten sowie auf dem Halbtax-Abo steht nach etlichen Briefwechseln nun der neue Name. Stets hat sie ein Schreiben der Psychotherapeutin dabei, das bestätigt, dass bei Andreas Heribert Meier eine Mann-zu-Frau-Transsexualität diagnostiziert ist. Das Erscheinungsbild stimme daher nicht mit dem Ausweisfoto überein.

 Die Identitätskarte ist hingegen noch die alte: alter Name, altes Bild. "Das beschert mir schlaflose Nächte", sagt Claudia Meier. Bald muss sie Verträge für das Hotel unterzeichnen, "das geht nicht als Andreas". Das Zürcher Institut für klinische Sexologie & Sexualtherapie (ZISS) hat zuhanden des Berner Bürgerrechtsdienst ein Schreiben verfasst. Darin steht, dass das Erscheinungsbild von Claudia Meier als Frau derart überzeugend und natürlich wirke, dass sie in einer männlichen Rolle unglaubhaft wäre. Sie leide unter dem männlichen Vornamen. Das Amt schrieb, dass es eine Bestätigung einer Hormonbehandlung brauche. "Das lasse ich mir nicht vorschreiben, ich fühle mich diskriminiert", sagt Meier. Das Gesuch ist zurzeit hängig.

 Operation aufgeschoben

 Claudia Meier ist gut gelaunt, geradezu euphorisch in diesen Tagen. Sie schläft wenig, weil sie viel auf Trab hält und sie bis früh morgens in ihrem Internetblog über das Leben als Claudia schreibt. Sie sei trotz der psychischen Umstellung "vollumfänglich orientiert und habe keinerlei Auffälligkeiten", schreiben die Experten des ZISS.

 Eine Hormonbehandlung ist in den nächsten Monaten geplant. Eine geschlechtsangleichende Operation (Gaop) steht aktuell nicht zur Diskussion, "aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben". Eine Gaop würde zwei Monate Ausfall bedeuten. "Das kann ich mir im Hotel nicht leisten." Zudem will sie ihrer Partnerin Zeit geben - um sich an Claudia zu gewöhnen.
 
Text: Wolf Röcken

 Bilder: Urs Baumann

 "Schweiz aktuell" (SF 1) berichtet heute (19 Uhr) ebenfalls über Claudia Meier.

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Transsexualität

 Transsexuelle sind biologisch klar männlich oder weiblich, fühlen sich psychisch aber dem anderen Geschlecht zugehörig. Einige wollen darum operativ ihr Geschlecht umwandeln. Bis letzten September musste eine Person davor zwei Jahre psychiatrisch beobachtet werden. Dann hob das Bundesgericht diese Zeitspanne als Pflicht auf.

Transsexualität gilt als Störung der Geschlechtsidentität. Die Krankenkassen bezahlen für gewisse Behandlungen.

 Eindeutige Zahlen zu Transsexuellen in der Schweiz gibt es nicht. Schätzungen gehen von 450 Personen aus. Zahlen aus dem Ausland zeigen, dass es viel mehr sein dürften.wrs

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INTERSEXUALITÄT
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Südostschweiz 24.2.11

Ein Zwist um Zwitter-Operationen

 Weder Bub noch Mädchen: Manche intersexuellen Kinder werden nach der Geburt   geschlechtsangleichend   operiert. Eine Gruppe von   Betroffenen will dies verbieten. Christian Kind, Chefarzt des Ostschweizer Kinderspitals, geht das zu weit.

 Von Jeanette Herzog

 St. Gallen. - Daniela Truffer ist als Zwitter geboren. Und wurde zum Mädchen gemacht. Ärzte entfernten ihr im Kindesalter einen kleinen Penis und in der Bauchhöhle liegende Hoden. "Die meisten intersexuellen Kinder werden genitalverstümmelt und kastriert", sagt Truffer erbost über geschlechtsangleichende Operationen.

 Die 45-jährige Zürcherin kämpft mit weiteren Betroffenen in der Menschenrechtsorganisation Zwischengeschlecht.org für ein Verbot von nicht lebensnotwendigen, also kosmetischen Genitaloperationen an intersexuellen Kindern. Die geschlechtsangleichenden Operationen und deren Folgen traumatisieren die Kinder laut Truffer und nehmen ihnen oftmals das sexuelle Empfinden.

 Entscheidung ist zwingend

 Auch im Ostschweizer Kinderspital in St.   Gallen wird eine kleine Anzahl intersexueller Kinder betreut. Für Chefarzt Christian Kind gehen die Forderungen von Zwischengeschlecht.org zu weit. Er ist gegen ein generelles Verbot von geschlechtsangleichenden Operationen.

 Unsere Gesellschaft kenne derzeit nur die zwei Geschlechter männlich und weiblich, begründet Christian Kind das Dilemma der Intersexualität. Deswegen muss auch innerhalb der ersten paar Monate nach der Geburt der Entscheid gefällt werden, ob das Kind männlich oder weiblich ist. Chirurgische Eingriffe würden primär vorgenommen, wenn für das Kind eine Gefährdung besteht und nicht, um das Geschlecht anzugleichen, sagt Kind.

 Dennoch würden sich Eltern gemeinsam mit Ärzten in seltenen Einzelfällen dafür entscheiden, auch nicht lebensnotwendige geschlechts-angleichende Operationen vorzunehmen. "Ein Kind beginnt sich mit zwei Jahren zu fragen, ob es nun Mutter oder Vater gleicht", erklärt Christian Kind. Wenn sein familiäres Umfeld mit den uneindeutigen Geschlechtsorganen nicht umgehen kann, werde das Anderssein für das Kind sehr traumatisierend.

 Trauma verhindern

 Daniela Truffer ist überzeugt, dass Anderssein weniger schlimm ist, als operiert zu werden. "Erhalten die Eltern psychologische Unterstützung und wird das Umfeld des Kindes aufgeklärt, kann es unbekümmert aufwachsen." Dies sei nicht immer einfach, aber Genitaloperationen und die nachfolgenden Behandlungen ermöglichten kein unbeschwertes Kindsein. "Ich kenne keinen operierten Zwitter, der glücklich ist. Wir sind alle psychisch und physisch versehrt." Truffer selbst hat über Jahre psychologische Betreuung in Anspruch genommen. Sie wünscht sich, sie wäre damals nicht operiert worden.

 Daniela Truffer und Zwischengeschlecht.org klagen die Ärzte des Ostschweizer Kinderspitals an, die Eltern zum Teil massiv unter Druck zu setzen. "Die Ärzte wollen die Kinder operieren", sagt Truffer.

 "Wir drängen niemanden"

 Der Chefarzt weist dies vehement zurück: "Wir drängen niemanden zu einem Eingriff." Im Ostschweizer Kinderspital wird bei der Behandlung eines intersexuellen Kindes ein multiprofessionelles Betreuungsteam beigezogen. Chromosomen, Hormone und Geschlechtsorgane werden überprüft, um allenfalls ein eindeutiges Geschlecht ausmachen zu können. Ist dies nicht möglich, beraten die Eltern mit dem Betreuungsteam, das aus Hormonspezialisten, Gynäkologen und Psychologen besteht, was das Beste für das Kind sein könnte. Die Entscheidung schliesslich ist eine gemeinsame, denn die Eltern müssen für eine Behandlung ihr Einverständnis geben, können aber gleichzeitig keinen Eingriff verlangen, den die Ärzte ablehnen. Ob bei einem Kind eine geschlechtsangleichende Operation vorgenommen wird, hat laut Christian Kind zum Grossteil mit den Eltern zu tun: "Wenn die Eltern ein intersexuelles Kind nicht annehmen können, dann kann es für das Wohl des Kindes besser sein, zu operieren."

 Daniela Truffer ist da anderer Meinung. "Die Unversehrtheit des Kindes muss oberste Priorität haben. Schreit ein Kind für den Geschmack der Eltern zu laut, entfernt man auch nicht seine Stimmbänder."

 Christian Kind sieht das pragmatisch: "Es ist mir lieber, wir behandeln die Kinder hier, als dass die Eltern in den Osten fahren und die Operationen dort vornehmen lassen." Betroffene Patienten - ob operiert oder nicht - würden über Jahre hinweg begleitet. In der Vergangenheit habe es bestimmt traumatisierende Eingriffe gegeben. Heute aber gehe man viel sensibler mit dem Thema Intersexualität um, sagt Kind.

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SQUAT ZH
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Tagesanzeiger 19.2.11

"Ich bin kein Immobilienhai und keine Spekulantin"

 Die Architektin Vera Gloor saniert in Zürich Wohnungen. Man hält ihr vor, an der Mietzinsspirale zu drehen. Sie sagt, sie tue Gutes.

 Mit Vera Gloor sprachen  Dario Venutti und Beat Metzler

 Die Zürcher Kreise 4 und 5 werden buchstäblich umgebaut. Alte Gebäude werden saniert oder ganz abgerissen und neue Wohnungen für Gutbetuchte hingestellt. Was die Befürworter dieser Entwicklung Aufwertung nennen, bezeichnen Kritiker als soziale Säuberung: Die Gentrifizierung in den Kreisen 4 und 5 treibe die Mieten in für alteingesessene und einkommensschwache Menschen unerschwingliche Höhen und zwinge sie zum Wegzug.

 Die Architektin Vera Gloor ist an diesem Prozess beteiligt. Weil sie auf dem Areal des Tessinerkellers an der Neufrankengasse und in Gebäuden an der Langstrasse symbolträchtige Liegenschaften saniert oder neue baut, richtet sich die Kritik gegenwärtig vor allem gegen sie.

 Der Tessinerkeller wurde in dieser Woche abgerissen. Zwei Jahre lang werden die SBB das Areal als Baustellenzufahrt für ihr Luxuswohnbauprojekt an den Geleisen nutzen. Dann will Vera Gloor dort einen Wohnblock bauen.

 Sie sind in bescheidenen Verhältnissen in einem Wohnblock in Zollikerberg aufgewachsen. Hätten sich Ihre Eltern eine Wohnung leisten können, wie Sie sie heute bauen?

 Ich wuchs in einer vierköpfigen Familie auf, die 1300 Franken für eine 4-Zimmer-Wohnung zahlte. Das war in den 60er-Jahren. Ich denke, meine Eltern hätten sich das leisten können. Aber sie hätten nicht im Stadtzentrum leben wollen.

 Auch einen Mietzins gegen 3000 Franken? So viel wird bei Ihnen eine 108 Quadratmeter grosse Wohnung an der Langstrasse kosten.

 Sagen wir einmal: das Doppelte von damals. Das wären dann 2600 Franken. Aber nochmals: Meine Wohnungen sprechen nicht ein Profil von Menschen an, das gar nicht im Stadtzentrum wohnen will.

 Sie betonen stets, Altes erhalten zu wollen, um den Aufwertungsdruck in den Kreisen 4 und 5 zu dämpfen. Trotzdem wurde diese Woche der Tessinerkeller abgerissen. Das ist ein Widerspruch.

 Der Tessinerkeller musste sowieso eines Tages abgerissen werden. Vor zwei Jahren hat das Stimmvolk entschieden, die Baulinie an der Neufrankengasse zu verschieben. Weil in naher Zukunft dort Busse durchfahren werden, gibt es keinen Platz mehr für das Restaurant. Wir hätten den Tessinerkeller sehr gerne noch einige Zeit stehen lassen. Das aber hätte vorausgesetzt, dass wir eine sinnvolle Zwischennutzung gefunden hätten, bis wir unser Projekt bauen können. Der bisherige Wirt wollte nicht weitermachen. Eine andere Nutzung liess sich nicht realisieren, also haben wir entschieden, das Objekt abzureissen und den SBB eine Baustellenzufahrt für die Überbauung Urbanhome zur Verfügung zu stellen.

 Kritiker werfen Ihnen vor, das Gebäude auf Vorrat abgerissen zu haben.

 Die Realität ist eine andere. In dieser Liegenschaft steckt Geld drin. Die Eigentümer haben nicht die finanziellen Möglichkeiten, das Objekt beispielsweise einem coolen Kulturprojekt zur Verfügung stellen zu können. Sie würden das selbstverständlich gerne machen, doch die Minimalkosten müssten gedeckt sein. Schliesslich haben sie Bankzinsen zu bezahlen.

 Sie sind Architektin und gewissermassen die Sprecherin der Eigentümer. Wem gehört die Liegenschaft?

 Es handelt sich um drei Privatpersonen aus Zürich, die ich persönlich kenne.

 Wie heissen sie?

 Ich weiss nicht, ob es nötig ist, ihre Namen zu nennen.

 Uns würde es interessieren.

 Ich mache keine Geheimnisse. Und ich bin klar für Transparenz und Offenheit. In diesem Fall möchte ich Diskretion wahren. Aus der Sicht der Eigentümer sind ihre Namen, der Kaufpreis der Liegenschaft und der Mietzins, den die SBB für die Baustellenzufahrt zahlen, nicht relevant.

 Sie versprechen, auf dem Areal des Tessinerkellers und in andern Gebäuden im Kreis 4 Wohnungen zu bauen, die bezahlbar sind. Was heisst das?

 Unsere Projekte sind wichtig für den Kreis 4. Leute, die nicht viel Geld verdienen, sollen die Möglichkeit haben, dort zu wohnen. Die Lebensqualität des Quartiers besteht gerade darin, dass dort verschiedene Leute leben. Sie unterscheiden sich in Bezug auf ihr Alter, ihre Kultur und ihr Einkommen. Das muss weiterhin möglich sein. Diese Durchmischung ist für mich der Inbegriff von Urbanität. Diese macht für mich den Reiz Zürichs aus.

 Sie bauen also Wohnungen, die sich sowohl der Topbanker wie auch die Migros-Kassierin leisten können?

 Es existieren bereits genügend andere Wohnbauprojekte, die Topbanker ansprechen. Also muss ich sie nicht unterstützen, damit sie eine Wohnung finden. Dann gibt es spannende Genossenschaftsprojekte, welche die Wohnbedürfnisse etwa einer Migros-Kassierin erfüllen. Wir hingegen wollen Wohnungen für jüngere und ältere Menschen bauen, die nach neuen, kreativen Wohnformen, etwa nach einer Alterswohngemeinschaft, suchen. Hätte ich selber keine Familie und keine Kinder, würde ich sofort in eine solche Wohnung einziehen.

 Das heisst also, dass eine Familie sich keine Wohnung leisten kann, die Sie bauen.

 Das würde ich so nicht sagen. Unsere Wohnungen zielen einfach nicht auf Familien ab. Wir bauen aber auch nicht für Doppelverdiener ohne Kinder, sondern für zeitgemässe Wohngemeinschaften: In diesen sogenannten Clustern hat jeder sein Zimmer und kann die gemeinsame Küche, das gemeinsame Bad und eine gemeinsame Lounge benützen. Dort können fünf Personen leben.

 Werden wir konkret: Im Gebäude des früheren St.-Paul-Cabarets, das Sie auch sanieren und umbauen, wird eine 108-Quadratmeter-Wohnung 2500 Franken kosten . . .

 (unterbricht) Es werden 2800 oder 2900 Franken sein.

 Geht man davon aus, dass die Miete nicht mehr als ein Drittel des Lohnes ausmachen soll, muss jemand fast 9000 Franken verdienen, um sich eine solche Wohnung leisten zu können.

 Mir ist klar, dass ein Doppelverdienerpaar das problemlos kann. Aber auch eine vierköpfige WG: Dann zahlt jeder 750 Franken.

 Nochmals: Eine vierköpfige Familie kann sich Ihre Wohnung nicht leisten.

 In einem Neubauprojekt ist das tatsächlich unrealistisch. Zum Glück gibt es ein anderes Finanzierungsmodell, das ich sehr clever finde: Das ist die Genossenschaft. Würden auch wir beispielsweise Vorzugszinsen erhalten, würden wir selbstverständlich tiefere Mieten verlangen. Wir haben aber kein Wohltätigkeitsgeld zur Verfügung. Und ich kann nicht zaubern. Ich kann nur alles dafür tun, um sozialverträgliche Wohnungen zu bauen.

 Kennen Sie viele Leute, die in solchen Wohngemeinschaften leben wollen?

 Natürlich. Ich rede ja ständig mit Leuten über ihre Wohnbedürfnisse und darüber, was sie zahlen können.

 Sie reden davon, die soziale Durchmischung erhalten zu wollen. Mit Mietzinsen von gegen 3000 Franken befördern Sie allerdings eine soziale Säuberung: Solche Wohnungen können sich Anwälte, Grafiker und Journalisten leisten, nicht Familien mit Migrationshintergrund.

 Der Immobilienmarkt wird ja nicht von mir gesteuert. Und ich bin keine Spekulantin und kein Immobilienhai. Ich mache alles, um günstig zu kaufen, günstig umzubauen und zu sanieren, damit ein vernünftiger Mietzins resultiert. Und ich möchte nachhaltig bauen, damit die Objekte nicht in 30 Jahren wieder abgerissen werden müssen.

 Woher wissen Sie eigentlich, wer im Kreis 4 wohnen will? Und wer soll in Ihre Wohnungen einziehen?

 Es gibt doch so viele junge Leute, die keine günstige Wohnung im Kreis 4 finden. Auf uns rollt eine Welle von Business-Appartements im Langstrassenquartier zu. Ich möchte dem Gegensteuer geben und Wohnraum für andere schaffen, die sich keine Luxuswohnung leisten können.

 Wer soll Ihrer Meinung nach darüber entscheiden, ob jemand in den Kreisen 4 und 5 wohnen darf? Allein der Markt?

 Es braucht Unterstützungsgelder, damit der Markt nicht entscheidet.

 Auf wie viel Geld verzichten Sie mit Ihren Mieten?

 Wir könnten sicher das Doppelte verlangen, weil der Markt im Langstrassenquartier überhitzt ist. Das wollen wir aber nicht. Wir sind zufrieden, wenn wir die Zinsen an die Banken zahlen und eine Rendite von vier bis fünf Prozent erzielen können.

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 Vera Gloor

 Über das Theater zur Architektur

 Vera Gloor ist 1963 als Tochter einer Schwedin und eines Norddeutschen geboren. Aufgewachsen ist sie in Zollikerberg, "aber nicht im schönen Teil", wie sie sagt. Nach der Matura studierte sie in Göteborg Theaterproduktion. Später schloss sie an der ETH ein Architekturstudium ab, wo sie heute auch als Gastkritikern auftritt. In ihrem Architekturbüro, das sie 1993 gründete, beschäftigt sie rund 20 Angestellte. Gloor wohnt und arbeitet in einer umgebauten Villa an der Krönleinstrasse am Zürichberg. Sie ist mit dem Tierarzt Christoph Gloor verheiratet und hat vier Kinder. Bei der Familie leben zudem mehrere Hunde und Katzen.(bat)

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tagesanzeiger.ch 18.2.11

Der Abriss der "Räuberhöhle"

Tina Fassbind

 Zwei Tage lang hat sich ein Abrissbagger durch das Gemäuer des Tessinerkellers gefressen. Die Bilder vom Ende der historischen Quartierbeiz im Kreis 4.

 Seit Mittwoch stand der Neuhollandbagger 85 mit Verstellausleger auf dem Areal an der Neufrankengasse 18 im Dauereinsatz. Stück für Stück frass er sich mit gewaltiger Kraft durch den 146 Jahre alten Bau. Am Donnerstagabend schlug das letzte Stündchen der ehemaligen "Räuberhöhle", wie das Restaurant Tessinerkeller liebevoll genannt wurde. Von dem historischen Gebäude ist ausser Schutt und Asche nichts mehr übriggeblieben.

 Sogar bei Hans-Ueli Kuster, Inhaber der Abrissfirma Kuster Rückbau, kam Wehmut über das Ende der beliebten Quartierbeiz auf. "Ich habe dort mit 14 Jahren zusammen mit meinem Vater mein erstes Bier getrunken", erinnert er sich. "Aber man kann nicht zu sehr in Nostalgie schwelgen. Das Haus war in einem sehr schlechten Zustand. Das Gehölz war morsch und verfault, es musste eingerissen werden."

 "Es war ein geordneter Rückbau"

 Der Abriss ging ohne Probleme vonstatten. "Es war ein geordneter Rückbau, bei dem Materialien wie zum Beispiel Holz, Metall und elektrische Leitungen getrennt entsorgt werden", so Kuster. Bis Montag werde das Areal nun noch planiert, dann übernehme ein Konsortium der SBB die Leitung der Baustelle.

 Die SBB benötigen die Parzelle als Bauplatz für ihr eigenes Projekt an der Neufrankengasse. Bis 2012 soll dann anstelle des Tessinerkellers ein Gebäude mit 28 Wohnungen entstehen.

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SQUAT GE
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Le Matin 25.2.11

Un article du "NewYork Times" Flingue Genève

Presse. Le quotidien new-yorkaisrevient sur le manque de lieux de sortie à Genève. Le tourisme américain dans la région mis à mal?

 "Ces dernières années n'ont pas été tendres avec la scène alternative genevoise", lance leNew York Times, dans son édition de mardi. Portrait aussi inattendu que peu reluisant de la vie nocturne du canton, en revenant sur les débats qui ont récemment agité le bout du lac: mise à mort des lieux de culture alternative et manque généralisé de lieux de sortie pour les jeunes, le quotidien assassine le canton. Insistant encore sur un récent sondage commandité par la Ville, qui indique que 94% des jeunes ne trouvent pas assez d'endroits où faire la fête, l'article ne risque pas de donner envie aux jeunes Américains de venir faire un tour du côté de Genève.

 Genève tourisme s'étonne

 "Nous reconnaissons devoir développer davantage le tourisme de loisir et nous y employons actuellement", commente Bernard Cazaban, responsable des relations publiques à Genève Tourisme, quelque peu étonné par l'article incriminant sa ville. L'homme ne se dit pourtant pas plus inquiété que cela par la teneur du papier qu'il juge entre "juste et démesuré". Il insiste de plus qu'en partenariat avec la ville, son organisme travaille afin de pallier à cette tendance d'appauvrissement des lieux de sorties.

 "L'origine du malaise remonte à la fermeture de nombreux squats entre 2007 et 2008", argumente leNew York Times. En l'occurrence, la fermeture de Rhino ou de La Tour. Selon l'expert en tourisme, le phénomène ne serait pas que genevois. Zurich ou Berlin subiraient le même sort. En cause, "les politiques du logement purement fondé sur la rentabilité portant préjudice à l'existence de lieux alternatifs pour la vie nocturne".

 fêtards en danger

 Soit. Mais, pour l'instant, ce n'est bien que Genève qui se prend une claque. L'article allant même jusqu'à mentionner Lausanne comme l'une des rares options de sortie pour les pauvres Genevois éplorés.

 Bernard Cazaban rappelle encore qu'en 2010 la part de touristes nord américains a continué son évolution constante atteignant près de 10% et brandit l'enquête internationale Mercer 2010, qui plaçait Genève au 3e rang mondial en matière de qualité de vie.

 Il n'empêche que s'il fait bon vivre aux abords du jet d'eau, quand il s'agit de faire la fête, c'est une autre paire de manches. Et leNew York Timesde mentionner que l'Usine est aujourd'hui la seule option genevoise de lieu de détente pour fêtards en mal de culture alternative. Sachant que les partis de droite et diverses associations des voisinages rêvent de la voir un jour fermer ses portes, les jeunes Américains feraient bien de se mettre à apprécier le cinéma suisse ou de se découvrir vite fait une passion pour le lancer de drapeau.

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ASYL
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St. Galler Tagblatt 25.2.11

Gewalt im - Polizei muss öfters eingreifen

 In Kreuzlingen soll es Übergriffe von Securitas- Mitarbeitern gegen Asylbewerber gegeben haben. Die Polizei spricht auch vom umgekehrten Fall.

Marina Winder

 kreuzlingen. Die Kantonspolizei Thurgau rückt mehrmals im Monat zum Empfangszentrum für Asylbewerber in Kreuzlingen aus. Gemäss inoffiziellen Polizei-kreisen sind es sogar mehrere Male in der Woche. Bei den Einsätzen geht es gemäss Mediensprecher Daniel Meili meist um "Hilfestellungen vor Ort, beispielsweise wenn Streitigkeiten eskalieren".

 Wie er schildert, kommen in den meisten Fällen die Asylbewerber alkoholisiert aus dem Ausgang zurück und halten sich dann nicht an die interne Hausordnung. "Dabei werden nicht selten Tätlichkeiten gegenüber den Securitas-Mitarbeitern und anderen anwesenden Asylbewerbern verübt", sagt Meili. Die Polizei nehme die aufmüpfigen Bewerber in Gewahrsam und bringe sie vorübergehend im Untersuchungsgefängnis unter.

 Auch Amnesty International (ai) hat einen schlechten Eindruck vom Empfangszentrum in Kreuzlingen. Immer wieder gehen bei der Menschenrechtsorganisation Klagen wegen physischer und psychischer Gewalt von Mitarbeitern der Securitas gegen Asylbewerber ein. Eine ai-Mitarbeiterin spricht von einer "extremen Eskalation". Das Bundesamt für Migration hat auf die Vorwürfe reagiert und Massnahmen getroffen. Es korrigierte gestern aber seine ursprüngliche Aussage und meinte, die Vorwürfe gegen die Securitas-Mitarbeiter hätten sich nicht bestätigt. Trotzdem erhält ai von nun an ungehinderten Zugang zu allen Empfangszentren. Zudem hat das Bundesamt das Auswahlverfahren für Securitas-Mitarbeiter verschärft. ostschweiz 33

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Kritik am Empfangszentrum

 Gemäss Amnesty International läuft es im Empfangs- und Verfahrenszentrum in Kreuzlingen wesentlich schlechter als an den anderen Standorten in der Schweiz. Eine Mitarbeiterin spricht sogar von einer "extremen Eskalation".

Marina Winder

 kreuzlingen. Amnesty International (ai) konkretisierte gestern die Vorwürfe gegen das Empfangs- und Verfahrenszentrum (EVZ) für Asylbewerber in Kreuzlingen. Ihre Kritik richtet sich vor allem gegen Mitarbeiter der Securitas. Die Firma erfüllt im EVZ im Auftrag des Bundesamtes für Migration (BFM) Sicherheitsaufgaben. Immer wieder seien bei der Menschenrechtsorganisation Klagen wegen physischer und psychischer Übergriffe auf Asylbewerber eingegangen. "Wir haben mit verschiedenen Menschen geredet. Ihre Aussagen haben sich gedeckt, auch jene von Leuten, die sich gegenseitig nicht kannten", sagt Denise Graf, Koordinatorin bei ai. Sie spricht von einer "extremen Eskalation" im EVZ in Kreuzlingen Anfang Jahr.

 Gemäss Graf wurden im Verlaufe des letzten Jahres mindestens drei Securitas-Mitarbeiter von ihren Posten abgezogen. "Wir hätten auch strafrechtlich gegen sie vorgehen können, haben das aber unterlassen, weil solche Prozedere für die Betroffenen zermürbend sind und sehr lange dauern", sagt Graf. Sie spricht aus Erfahrung: Im Jahr 2005 wurde gegen einen Securitas-Mitarbeiter in Kreuzlingen Klage erhoben. Erst 2008 wurde er in erster Instanz verurteilt. "Dieses Mal wollten wir das anders lösen."

 Versetzt, nicht entlassen

 Gemäss Securitas sind in Kreuzlingen keine Mitarbeiter entlassen worden. Näher auf die Vorfälle eingehen will die Sicherheitsfirma nicht. Das BFM sprach am Mittwoch noch von personellen Massnahmen, die wegen der Vorfälle in Kreuzlingen getroffen wurden. Gestern krebste die Mediensprecherin aber zurück und korrigierte ihre Aussage: "Fakt ist, dass wir die Vorwürfe von ai gemeinsam mit Securitas eingehend untersucht haben. Die Vorwürfe gegen die Securitas-Mitarbeiter haben sich aber nicht erhärtet." Wie sie weiter sagt, seien zwei namentlich erwähnte Mitarbeitende während der Dauer der Untersuchungen zwar in anderen Bereichen eingesetzt worden. "Es sind aber aus diesen Abklärungen weder Disziplinierungen noch Entlassungen erfolgt."

 Die Organisation ai bleibt bei ihren Vorwürfen. Sie bedauert, dass keine unabhängige Untersuchung geführt wurde. "Es wäre wichtig gewesen, umfassende Befragungen zu machen."

 Graf betont aber auch, dass die erwähnten Vorfälle nur einzelne Securitas-Mitarbeiter betreffen. Ihre Intervention dürfe nicht als genereller Vorwurf gegen alle Mitarbeitenden der Sicherheitsfirma verstanden werden. "Wir sind uns durchaus bewusst, dass diese Leute einen äusserst schwierigen Job zu erledigen haben." Zu diesem Job gehöre es auch, dass die Sicherheitsangestellten bei Auseinandersetzungen körperlich eingreifen. "Um so wichtiger ist es, dass für diese Aufgabe kompetente Leute eingesetzt werden, die alleine schon wegen ihrer Persönlichkeit deeskalierend wirken", sagt Graf. Sie begrüsst deshalb den Entscheid des BFM, dass die Mitarbeiter der Securitas, die im EVZ eingesetzt werden, künftig auch ein Einstellungsgespräch mit einem Mitarbeiter des BFM führen müssen.

 Ausbruch oder Ausflug?

 Seit die Aufenthaltsdauer im EVZ verlängert wurde, habe sich das Problem verschärft, sagt Denise Graf. Die Asylbewerber leben während 90 Tagen auf engstem Raum, ohne Privatsphäre. Viele von ihnen erhalten in dieser Zeit einen negativen Bescheid, der all ihre Hoffnungen zunichte macht. "Die Eskalationen haben zugenommen."

 Bezüglich eines Vorfalls im Januar gehen die Aussagen von ai und dem Mediensprecher der Polizei aber weit auseinander. Während die ai-Koordinatorin von einem "Ausbruch" von 20 Asylbewerbern spricht, die es im Heim nicht mehr ausgehalten hätten, spricht der Polizei-Mediensprecher von einem Ausflug von 20 Asylbewerbern, der ohne weitere Zwischenfälle am Bahnhof in Kreuzlingen endete. Wieder anders tönt es aus inoffiziellen Polizeikreisen: Dort wird der Umgang mit den Asylbewerbern als extrem schwierig beschrieben. Sie müssten mehrmals in der Woche ausrücken wegen Sachbeschädigungen, Diebstählen, tätlichen Auseinandersetzungen - oder um betrunkene Asylbewerber, die sich nicht mehr an die Hausordnung halten, im Untersuchungsgefängnis unterzubringen. Oft komme es zu Tätlichkeiten gegenüber Securitas-Mitarbeitern und anderen Asylbewerbern. Letzteres bestätigt auch der offizielle Mediensprecher der Kantonspolizei.

 Schlimme Zustände im Thurgau

 Denise Graf zeigt sich erfreut über das Zugeständnis des Bundesamtes, wonach ai fortan ungehinderten Zugang zu allen Empfangszentren in der Schweiz erhält. "So können wir uns selber ein besseres Bild vor Ort machen." Ihre bisherigen Beobachtungen hätten gezeigt, dass es an allen anderen Standorten besser läuft als in Kreuzlingen. Sie will nun die Gründe dafür herausfinden.

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20min.ch 24.2.11

Flüchtlingszentren: Securitas wird künftig stärker überwacht

 Mitarbeiter der Sicherheitsfirma sollen sich mit Tritten und Beleidigungen an Flüchtlingen in Kreuzlingen vergangen haben. Das Bundesamt für Migration hat nun Massnahmen ergriffen.

Lukas Mäder

 Die Vorwürfe sind hart: Mehrere Securitas-Mitarbeiter sollen im Flüchtlingszentrum Kreuzlingen Übergriffe gegen Asylbewerber begangen haben. Schläge, Tritte sowie Beleidigungen hätten sie ausgeteilt, so der Vorwurf von Amnesty International. Nachdem das Bundesamt für Migration (BFM) die Vorwürfe abgeklärt hat, sollen zwei Mitarbeiter entlassen worden sein, schreibt die "Thurgauer Zeitung". Doch diese Informationen sind falsch. "Die Vorwürfe in zwei konkreten Fällen gegen zwei Mitarbeiter von uns haben sich nicht erhärtet", sagt der Kommunikationsleiter von Securitas, Urs Stadler, zu 20 Minuten Online. Es habe weder Disziplinarmassnahmen noch Entlassungen gegeben.

 "Verfehlungen im von Amnesty geschilderten Ausmass konnten keine festgestellt werden", schreibt auch das Bundesamt für Migration (BFM) auf Anfrage von 20 Minuten Online. Die konkreten Vorwürfe gegen zwei Securitas-Mitarbeitern hätten sich nicht erhärtet. Stadler weiss nicht, ob die beiden Angestellten, die zwischenzeitlich an anderen Orten eingesetzt wurden, bereits wieder in Kreuzlingen arbeiten. Ebenfalls wisse er nicht, wie die konkreten Vorwürfe gegen die Securitas-Mitarbeiter gelautet hätten. In weiteren Fällen von pauschalen Vorwürfen hätte man Präzisierungen verlangt, die noch nicht eingetroffen seien.

 Keine Gespräche mit Securitas

 Bei Amnesty lösen diese Aussagen Verwunderung aus. "Es gibt mehr als zwei Fälle, bei denen Zeit und betroffene Person bekannt sind", sagt Flüchtlingskoordinatorin Denise Graf zu 20 Minuten Online. Von angeforderten Präzisierungen weiss sie nichts. Die Securitas nimmt das Problem offenbar nicht besonders ernst, sagt Graf. So habe die Firma bereits früher nicht reagiert, als Amnesty um ein Gespräch gebeten hatte.

 Die Menschenrechtsorganisation habe sich auch überlegt, Strafanzeige gegen die betroffenen Securitas-Mitarbeiter einzureichen, sagt Graf. "Wenn ich nun die jüngsten Aussagen der Securitas höre, bereue ich, das nicht getan zu haben." Tatsächlich kam es nach einem mutmasslichen Übergriff 2005 zu einem Gerichtsverfahren. Der Sicherheitsmann wurde 2008 vom Bezirksgericht wegen leichter Körperverletzung verurteilt, dann aber in zweiter Instanz freigesprochen. In einem anderen Fall befand die Kreuzlinger Staatsanwaltschaft, die Stiefelspuren auf dem Rücken eines Asylbewerbers stammten zwar von einer Streitigkeit, bei der es aber nicht zu strafbaren Handlungen gekommen sei.

 Brief an Bundesamt für Migration

 Im letzten Jahr hatte Amnesty von verschiedener Seite erneut Hinweise auf Missstände in Kreuzlingen erhalten. Im November habe ein erstes Gespräch mit dem BFM stattgefunden, sagt Graf. Als sich die Situation bis Mitte Januar weiter zuspitzte, schrieb Amnesty einen Brief an das BFM, in dem es eine Untersuchung und Sofortmassnahmen verlangte. "Da das BFM unsere Vorwürfe ernst genommen und schnell reagiert hat, haben wir die Öffentlichkeit nicht informiert", sagt Graf.

 Das BFM betrachtet die aktuellen Vorwürfe offenbar aber trotz allem nicht als völlig haltlos. Darauf weisen Massnahmen hin, die das Amt ergriffen hat. Ab sofort erhält Amnesty ungehinderten Zugang zu den vier Flüchtlingszentren in der Schweiz. Das ermögliche ihnen, bei Meldungen die Vorwürfe vor Ort abzuklären beziehungsweise nachzustellen, sagt Graf. Als zweite Massnahme will das BFM zweimal jährlich Treffen organisieren, an denen Mitarbeiter der Flüchtlingszentren sensibilisiert werden. Bereits seit dem 1. Januar hat das Amt das Rekrutierungsverfahren für Securitas-Mitarbeiter geändert. Neu kann das BFM bei der Auswahl mitreden. Zudem erhaltende die Securitas-Angestellten eine weiterführende Ausbildung im Bereich Migration. Graf von Amnesty ist erfreut, dass das BFM die Problematik ernst nimmt: "Das ist eine gute Basis für eine konstruktive Zusammenarbeit."

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Basler Zeitung 18.2.11

"Das Dublin-Verfahren zeigt Wirkung"

 Wegen des Abkommens werden weniger Asylgesuche materiell geprüft, sagt Rolf Rossi

Interview: Katrin Roth

 Baselland verzeichnet einen sprunghaften Anstieg der Zahl von Asylbewerbern mit einem Nichteintretensentscheid. Rolf Rossi erklärt die Gründe für dieses Phänomen.

 BaZ: In der Asylstatistik ist nachzulesen, dass die Zahl der Nichteintretensentscheide bei Asylbewerbern im Baselbiet von 32 im Jahr 2008 auf 107 im Jahr 2010 angestiegen ist. Wieso?

 Rolf Rossi: Diese Entwicklung ist auf das Dublin-Verfahren zurückzuführen, das langsam, aber sicher Wirkung zeigt. Seit dem 12. Dezember 2008 wird dieses Verfahren in der Schweiz umgesetzt. Es sieht vor, dass jedes Asylgesuch jeweils nur von einem der 30 Dublin-Staaten behandelt wird. Dadurch soll vermieden werden, dass ein asylsuchender Mensch mehrere Gesuche in unterschiedlichen Staaten einreicht. Asylsuchende, die ein Binnenland wie die Schweiz erreichen, haben meist schon anderswo Asyl beantragt. Entsprechend nimmt der Bund weniger materielle Prüfungen von Asylgesuchen vor - und das hat einen Anstieg der Nichteintretensentscheide zur Folge.

 Was sind die Folgen eines solchen Entscheides für die betroffenen Menschen?

 Dann gibt es einen Sozialhilfestopp, das heisst, diese Menschen erhalten statt Sozialhilfe nur noch Nothilfe. Von dieser ebenfalls 2008 eingeführten Massnahme erhofft man sich eine abschreckende Wirkung auf Asylsuchende.

 Und? Welche Erfahrungen haben Sie im Baselbiet gemacht?

 Das muss man differenziert anschauen. Grundsätzlich ist es so, dass schnelle Entscheide eine kurze Aufenthaltsdauer bewirken, weil der Integrationszeitraum kurz ist. Bei Personen, die rasch einen abschlägigen Bescheid bekamen, zeigt diese Massnahme darum sicher eine gewisse Wirkung. Durchschnittlich schätze ich die Aufenthaltsdauer von Nothilfebezügern auf rund zweieinhalb Jahre. Aber wir haben auch - einige wenige - langjährige Nothilfe-Bezüger im Kanton, die zum Teil noch in den 90er-Jahren einreisten. Sie stellen allerdings eine Ausnahme dar.

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NOTHILFE
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NZZ 26.2.11

Das System Nothilfe

 Weggewiesene Asylbewerber werden im Kanton Zürich rund um die Uhr betreut - Tagesstruktur gibt es aber keine

 Im Kanton Zürich leben rund 1200 abgewiesene Asylbewerber, welche die Schweiz verlassen müssten. Ein Grossteil von ihnen ist in Nothilfeunterkünften untergebracht. Dort kümmert man sich zwar um sie, Tagesstruktur gibt es aber keine.
 
Fabian Baumgartner

 Nur ein paar junge, mehrheitlich dunkelhäutige Männer steigen an diesem winterlich-kalten Morgen an der Bahnstation ausserhalb von Adliswil aus und spazieren mit Einkaufstüten zu einer unscheinbaren und etwas trostlosen Containersiedlung. Sie wohnen in der Nothilfeunterkunft Adliswil. Weil ihr Asylgesuch abgewiesen wurde, befinden sie sich illegal in der Schweiz.

 Mehrere Jahre im Land

 Wenn es nach dem Willen des Kantons ginge, würden sie die Unterkunft jeweils rasch wieder verlassen und in ihre Heimatländer zurückkehren. Die Realität sieht jedoch etwas anders aus. Viele Abgewiesene bleiben oft über mehrere Jahre im Land. Im Kanton Zürich beziehen zurzeit rund 1200 Personen Nothilfe. 800 davon, hauptsächlich junge Männer, sind auf sieben, zum Teil unterirdische Unterkünfte verteilt. Die übrigen 400, vor allem Kranke und Familien mit Kleinkindern, leben aus Platzgründen nicht in den kantonalen Einrichtungen, sondern werden von den Gemeinden placiert und unterstützt.

 Amnesty International und Flüchtlingsorganisationen kritisieren namentlich die prekäre gesundheitliche Lage sowie die Perspektivlosigkeit der Betroffenen. Mit einer Kampagne haben die NGO Anfang Februar auf die Lage von weggewiesenen Asylbewerbern in den Zürcher Nothilfeunterkünften aufmerksam gemacht (NZZ 8. 2. 11). In Absprache mit dem Zürcher Sozialamt hatten Vertreter der Organisationen zuvor die Unterkünfte besucht.

 Die Organisationen fordern ein Überdenken des Regimes der blossen Nothilfe. Ruedi Hofstetter, Chef des Zürcher Sozialamts, widerspricht den Vorwürfen von Amnesty International und der Flüchtlingsorganisationen. Es handle sich bei der Nothilfe um ein rechtsstaatliches Verfahren. Zudem sei die Regelung im Kanton Zürich im Vergleich zu anderen Kantonen sehr liberal. Man müsse sich auch im Klaren darüber sein, dass diese Menschen illegal hier seien und das Land eigentlich verlassen müssten. Letztlich sei es daher inkonsequent, Asylsuchende nach einem rechtskräftigen negativen Entscheid weiterhin den Lebensunterhalt in der Schweiz zu finanzieren.

 Ein Kapazitätsengpass

 Die Massnahmen, mit denen der Druck auf die abgewiesenen Asylbewerber erhöht werden sollte, werden zurzeit allerdings nur zum Teil vollzogen. Eine strengere Handhabung verhindert vor allem ein Engpass bei den Nothilfeunterkünften, da der Kanton Zürich Mühe hat, geeignete Liegenschaften zu finden. Seit Jahren wehrt sich beispielsweise Eglisau vehement gegen den Bau eines Asylzentrums. Ironischerweise verhindern damit gerade jene politischen Kräfte eine härtere Linie, die sonst für Strenge im Umgang mit abgewiesenen Asylbewerbern plädieren. Der Kapazitätsengpass hat laut Hofstetter nicht nur dazu geführt, dass die Zahl der Personen - betroffen sind vor allem junge Männer -, die jeweils nach einer Woche in eine andere Notunterkunft wechseln mussten, stark gesunken ist. Waren es am Anfang über 100 Personen, so sind zurzeit weniger als 50 Personen von dieser Massnahme betroffen.

 Die Containersiedlung in Adliswil ist mit 140 Plätzen die grösste ihrer Art im Kanton. Im Gegensatz zu anderen Zentren wohnen die Menschen hier nicht in Massenlagern, sondern in Vierer- und Achter-Zimmern, nach Herkunftsregion eingeteilt. Geführt wird das Zentrum von der privaten ORS-Service-AG, die sechs der sieben kantonalen Einrichtungen betreibt und auch für den Bund Betreuungsaufgaben im Asylbereich übernimmt. Insgesamt 13 Mitarbeiter sind 24 Stunden pro Tag für die Betreuung der Bewohner zuständig.

 Unter den Bewohnern befinden sich viele alleinstehende junge Männer, vor allem aus afrikanischen Ländern. In Adliswil ist aber auch eine relativ grosse Gruppe aus der Mongolei untergebracht. Das Zentrum in Adliswil ist neben demjenigen in Altstetten das zweite im Kanton Zürich, welches Frauen und Kinder beherbergt. Zwölf Familien mit Kindern sowie einige alleinerziehende Frauen wohnen hier. Von Montag bis Freitag, jeweils von 9 bis 12 Uhr, werden den Bewohnern Migrosgutscheine abgegeben. Insgesamt 60 Franken erhalten die Bewohner so pro Woche. Wer zu spät komme, der erhalte keine Gutscheine mehr, sagt Zentrumsleiter Heinz Bachmann: Das sei vom Kanton so autorisiert. Das Einhalten von Regeln sei beim Zusammenleben von so vielen Menschen unterschiedlicher Herkunft auf engem Raum zentral. Eine eigentliche Tagesstruktur oder Beschäftigungsmöglichkeiten wie Sprachkurse gibt es hingegen nicht. Das würde das Ziel, die Menschen zur Ausreise zu bewegen, unterlaufen, sagt Heinz Bachmann.

 Kinder und Jugendliche dürfen immerhin die öffentliche Schule besuchen. Die abgewiesenen Asylbewerber können sich zudem etwas hinzuverdienen, wenn sie Arbeiten in der Unterkunft, beispielsweise die Reinigung der Wäsche oder der Toiletten, übernehmen. Einige Bewohner werden von Verwandten oder Landsleuten unterstützt, wie Bachmann sagt. Zudem gebe es finanzielle Hilfe von Kirchen und Hilfswerken. Es gebe manchmal aber auch Personen, die durch Schwarzarbeit oder Kleinkriminalität zu Geld gelangten. In den Unterkünften finde die Polizei bei ihren Razzien allerdings meist nichts, sagt Bachmann. Und was ausserhalb des Zentrums geschehe, könne er nicht beeinflussen. Ob die Bedingungen der Nothilfe human oder inhuman sind, will Heinz Bachmann nicht bewerten. Man halte sich bei der Betreuung an die kantonalen Richtlinien.

 Kaum Auseinandersetzungen

 Zu Spannungen kommt es eher selten, wie Bachmann sagt. Und wenn, dann bleibe es meist bei verbalen Auseinandersetzungen. Schlägereien gebe es nur in Ausnahmefällen, auch weil harte Konsequenzen drohten. Die Beteiligten würden nach solchen Vorfällen mit einem Hausverbot belegt und vorübergehend oder dauerhaft in anderen kantonalen Unterkünften placiert. Da sich das Zentrum ausserhalb von Adliswil befindet, halten sich auch die Beschwerden von Anwohnern in Grenzen. Wie Bachmann sagt, ist die Unterkunft in der Gemeinde mehrheitlich akzeptiert.

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Blick am Abend 24.2.11

BERN

 "Nothilfe ist Schikane mit Konzept"

 PROTEST

 Asylanten erhalten täglich 8.50 Franken. Zu wenig, findet "Solidarité sans frontières".

 markus.ehinger@ringier.ch

 Flüchtlinge leben im Kanton Bern im Elend und leiden unter Repression. Dieser Meinung ist die Organisation "Solidarité sans frontières" (Sosf). Moreno Casasola von Sosf: "Die Nothilfe ist Schikane mit Konzept. Sie versucht die Leute aus dem Land zu zwingen - aber das funktioniert nicht. Die Menschen werden weiter schikaniert, kriminalisiert und zermürbt - absichtlich."

 Im sogenannten Sachabgabezentrum "Casa Alpina"auf dem Brünig erhalten die Asylanten jeden Tag Gutscheine im Wert von 6 bis 8.50 Franken. "Da wird die Wahl zwischen persönlicher Hygiene und einem Stück Käse zur absurden Schikane", sagt Casasola. Ausserdem würden die Flüchtlinge auf dem Brünig isoliert. "Sie werden quasi weggesperrt, ein Zugticket können sie sich nicht leisten."

 Solidarité sans frontières"machte heute beim Bahnhof Bern auf die Situation in der Nothilfe aufmerksam. Passanten konnten in einem improvisierten Einkaufsladen Produkte für den täglichen Bedarf einkaufen und erfuhren erst an der Kasse, wie wenig Geld sie zur Verfügung hatten, "eben so wie auf dem Brünig ", sagt Casasola.

 Das Durchgangszentrum "Casa Alpina" war schon vermehrt in den Schlagzeilen. Im letzten Dezember führte die Sondereinheit Enzian der Kapo Bern eine Razzia durch. Von 40 Bewohnern wurden 13 wegen Drogenhandels angezeigt und sechs verhaftet.

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SANS-PAPIERS
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Le Temps 26.2.11

Poussés par l'hiver, des sans-papiers squattent les jardins ouvriers

 Face à l'occupation sauvage de leurs cabanes, les occupants des lopins familiaux réagissent diversement. Reportage

 "Mersi buko, filen dance." Ce sont les mots, griffonnés à la hâte, que deux jeunes sans-papiers ont laissés à ce retraité pour le remercier de les avoir laissés occuper sa maisonnette de jardin, durant le mois de janvier. Ils étaient entrés par effraction dans ce cabanon situé en bordure des jardins familiaux de Villars, à Genève. Mais Gérard*, 87   ans, n'a pas eu le cœur de les mettre à la porte ni de prévenir la police. "Il gelait à pierre fendre ce jour-là, j'ai eu pitié d'eux. Ce n'étaient que des gamins entre 20 et 25   ans. Ils ne faisaient de mal à personne", confie-t-il en évoquant sa rencontre avec les deux hommes, à la fin de décembre 2010.

 Ce cas n'est pas isolé. Samedi dernier, à Berne, un homme de 19   ans, originaire d'Afrique du Nord et résidant illégalement en Suisse, a perdu la vie dans l'incendie d'une maison de jardin semblable à celle de Gérard. Les jardins ouvriers, où se croisent de nombreux immigrés installés de longue date en Suisse, semblent en passe de devenir les nouveaux refuges des clandestins.

 Gérard se livrait à un contrôle anodin de son cabanon et de son jardinet de 250   m2 qu'il loue depuis trente-deux   ans. Vivant en appartement, comme la plupart des usagers des 249 autres maisonnettes que regroupent les jardins de Villars, il profite de sa petite parcelle de campagne plantée au milieu de la ville pour bichonner ses rosiers, faire pousser ses propres légumes et rêvasser sur le petit banc défraîchi placé devant la bâtisse.

 En arrivant sur place, il remarque que le verrou du cabanon a été forcé. Il frappe à la porte. Un jeune homme grand et mince vient timidement lui ouvrir. Le retraité découvre alors un campement de fortune dans son abri de jardin. "Ils avaient installé un sommier deux places avec des coussins de chaises longues en guise de matelas, et une petite cuisinière à gaz qu'ils laissaient allumée en permanence pour se réchauffer. Ils avaient aussi pris soin de placer des linges devant la fenêtre et derrière la porte pour se prémunir des courants d'air et surtout pour éviter que les passants ne voient s'en échapper de la lumière", explique Gérard.

 "Avec leurs trois mots d'allemand et des gestes, ils m'ont expliqué qu'ils étaient Russes, que leur ancien logement de Vernier avait été rasé et qu'ils ne savaient pas où aller. Comme ils avaient l'air corrects, je les ai autorisés à rester durant encore dix jours pour peu qu'ils ne mettent pas le feu et rendent les lieux en l'état", poursuit le locataire du cabanon. Il va finalement les autoriser à rester jusqu'au 31   janvier. Mais quand il revient leur faire une visite à quelques jours de l'échéance, personne. "Ils avaient laissé toutes leurs affaires et la porte était ouverte. J'ai simplement trouvé ce petit mot me remerciant. Quelques jours plus tard, j'ai entendu une rumeur disant que deux requérants d'asile avaient été arrêtés dans le quartier. Peut-être s'agissait-il de mes deux squatters", avance Gérard, qui n'a jamais revu les deux hommes.

 Même si ces abris de jardin font souvent l'objet de vandalisme et de vols mineurs, selon les dires de Jean-Paul Gigly, directeur de la Fédération genevoise des jardins familiaux (FGJF), peu de gens voudraient y passer plus d'une nuit. Liées à l'histoire du jardin ouvrier apparu au XIXe siècle, ces bâtisses symbolisant la maison de rêve au grand air mais à portée de tous restent cependant des abris sommaires. La plupart ne sont alimentées ni en eau ni même en électricité.

 Autre expérience, cette fois plus traumatisante, avec Cécile*, habitante de Bernex qui s'est vu squatter, par deux fois, sa cabane de jardin située aux abords de la forêt communale. Cette mère de deux adolescents s'est aménagée, il y a des années, un petit paradis idéal pour jardiner et profiter, entre amis, des longues soirées d'été. Mais aujourd'hui, elle redoute de se rendre sur sa propriété de peur de tomber sur des squatters.

 En mars 2010, Cécile voit de la fumée s'échapper de la cheminée de son cabanon. Elle contacte immédiatement les employés municipaux afin qu'ils aillent y jeter un œil. Ces derniers y découvrent six Géorgiens endormis. Effrayés, les hommes s'échappent dans la forêt toute proche, laissant la cabane dans un état innommable. "Des restes de nourriture traînaient sur le sol et les meubles, le four et la cuisine étaient dans un état irrécupérable et j'ai retrouvé des seringues un peu partout", raconte la propriétaire. Choquée, la mère de famille laisse tout un été s'écouler avant d'oser remettre les pieds dans son cabanon.

 Le 14   janvier dernier, Cécile se rend compte que sa propriété est à nouveau occupée. En voulant ouvrir la porte, elle découvre que le verrou a été changé. La voilà incapable d'entrer. L'intervention de la police est demandée. Les agents arrêtent trois Géorgiens âgés de 29 à 45   ans, endormis sur le canapé-lit. A nouveau, des immondices partout et un grand désordre témoignent que le lieu a été occupé durant plusieurs jours. "Ces intrusions m'ont vraiment choquée. Ça fait mal, c'est un viol de l'autorité et de la propriété", confie-t-elle.

 Ce que la citoyenne de Bernex craint le plus, c'est que l'adresse de son cabanon soit désormais inscrite dans le "guide du routard" des sans-papiers roumains. Nichée dans un lieu idyllique très prisé des promeneurs, la maisonnette a déjà fait l'objet de nombreuses propositions d'achat. Mais l'habitante de Bernex n'y a jamais donné suite. Jusqu'à aujourd'hui, où la question commence à se poser.

 Des personnes sans domicile fixe qui trouvent refuge dans des maisonnettes de jardins familiaux, il y en a de plus en plus, selon Jean-Paul Gigly: "Cet hiver, beaucoup de gens occupent les chalets à cause du froid", déclare-t-il. Du côté de Bernex, on estime à cinq ou six les cas de squat de cabanes, sur 230 infractions (vols, effractions) en 2010. "Dans ces situations, nous recommandons aux locataires d'appeler la police. Avant, c'était de temps en temps. Mais aujourd'hui, ça a l'air de se généraliser", explique Eric Frieden, président du complexe.

 *Prénoms fictifs.

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NLZ 21.2.11

Die Meldepflicht bleibt ein rotes Tuch

Sans-Papiers

Kari Kälin

 Eine Meldepflicht für Schulen führe nicht automatisch zur Wegweisung, sagt Bundesrätin Sommaruga. Doch der Widerstand gegen die Idee ist nicht vom Tisch.

 Kari Kälin

 kari.kaelin@luzernerzeitung.ch

 Sollen Schulen die Ausländerbehörden orientieren, wenn sie Kinder von Sans-Papiers Lesen und Schreiben beibringen? Seit der Bundesrat das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) beauftragt hat, diese Frage bis Ende 2011 zu prüfen, gehen die Wogen hoch. "Lehrer müssen die Kinder unterrichten und nicht verpfeifen", sagt Dominique Föllmi.

 Der ehemalige CVP-Bildungsdirektor des Kantons Genf ist ein Vorkämpfer für die Sans-Papiers. Er sorgte Ende der 1980er-Jahre dafür, dass Kinder ohne Aufenthaltsbewilligung eingeschult werden durften. Auch Beat W. Zemp, Präsident des Schweizer Lehrerverbandes, wehrt sich gegen eine mögliche Meldepflicht: "Die Lehrer können ihren Bildungs- und Erziehungsauftrag nur dann wahrnehmen, wenn ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis zwischen Lernenden und Lehrenden vorhanden ist", sagt er.

 "Dinge werden sich klären"

 Doch würden die Sans-Papiers überhaupt automatisch des Landes verwiesen, wenn sie im Unterricht ertappt würden? "Nein", sagt Justizministerin Simonetta Sommaruga. Der Staat habe Kenntnis über ganz viele Menschen ohne Aufenthaltsrecht, handle aber trotzdem nicht. "Wenn mein Departement den Bericht zum Datenaustausch vorlegt, werden sich die Dinge rasch klären", so die SP-Magistratin. Sie habe nichts dagegen, zu prüfen, ob Schulen Kinder von Personen ohne Aufenthaltsrecht in der Schweiz melden sollen, aber: "Daten zu liefern, ist das eine. Doch die Frage lautet: Welche Konsequenzen hat das für jene Personen, deren Daten den Behörden übermittelt werden?"

 Trotz der bundesrätlichen Worte ebbt die Kritik nicht ab. "Eine Meldung muss natürlich nicht zur Ausweisung führen - aber sie kann", sagt Elsbeth Steiner, Sprecherin der Eidgenössischen Kommission für Migrationsfragen (EKM). "Darum befürchtet die EKM, dass bei einer Meldepflicht viele Kinder von Sans-Papiers nicht mehr in die Schule geschickt würden."

 Auch Dominique Föllmi interpretiert Sommarugas Votum nicht als Entwarnung. "Das beruhigt mich überhaupt nicht", sagt der Genfer Politiker. "Eine Meldepflicht gefährdet das Recht der Kinder auf Bildung, das die Verfassung und die UNO-Kinderrechtskonvention garantieren."

 Lustenberger für Meldepflicht

 Dass der Bundesrat diverse Aspekte zum Datenaustausch unter die Lupe nimmt, geht auf ein Postulat von Nationalrat Ruedi Lustenberger zurück. Der Luzerner CVP-Mann plädiert für eine Meldepflicht von Schulen, sieht diese deswegen "nicht in der Rolle von Denunzianten". In jeder Schulklasse werde bekanntlich ein Schülerverzeichnis geführt. "Und weil jede Gemeinde auch eine Einwohnerkontrolle führt, findet man beim Abgleichen der beiden Register sofort unangemeldete Personen, welche sich dann beim näheren Hinschauen allenfalls als Sans-Papiers herausstellen. Auf diese Angaben soll die Ausländerbehörde Zugang haben", sagt Lustenberger. Die Lehrer hätten in diesem Ablauf also nicht anderes zu tun, als ihre Schülerverzeichnisse richtig auszufüllen. Der Rest sei Sache der Verwaltung und nicht der Schule.

 Doch sollen Sans-Papiers danach ausgeschafft werden? "Wenn einmal der Status Sans-Papiers festgestellt ist, geht jeder Fall seinen ordentlichen Rechtsweg. Dies kann entweder in einem Aufenthaltsstatus - eventuell sogar unter Anrufung der Härtefallklausel - oder dann in der Ausweisung münden", so Lustenberger.

 Karin Keller-Sutter, Präsidentin der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorenkonferenz (KKJPD) und St. Galler Regierungsrätin, teilt Lustenbergers Ansicht. Die KKJPD befürworte eine Meldepflicht, betont sie im Gespräch mit unserer Zeitung. Dies bedeute nicht eine automatische Wegweisung. "Es findet immer eine Einzelfallprüfung statt. Je nach Ergebnis kann eine Familie im Rahmen der Härtefallregelung aufgenommen werden", argumentiert Keller-Sutter.

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SCHEINEHE
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Newsnetz 24.2.11

Ihre neue Aufgabe bleibt den Zivilstandsbeamten schleierhaft

Claudia Blumer

 Mit den neuen Bestimmungen zur Zwangsheirat kommt eine weitere grosse Aufgabe auf die Zivilstandsbeamten zu. Die Ermittlungsarbeit ist für sie neu.

 Zwangsheirat wird unter Strafe gestellt. Gestern verabschiedete der Bundesrat die Botschaft zur Gesetzesänderung, mit der Simonetta Sommaruga jahrelangen Forderungen von Parlamentariern und ausserparlamentarischen Gruppierungen nachkommt.

 Durch die neuen Bestimmungen sind vor allem Zivilstandsbeamte in der Pflicht. Sie müssen vor der Eheschliessung prüfen, ob das Gesuch tatsächlich dem freien Willen der Verlobten entspricht. Und sie müssen künftig eine Strafklage einreichen, wenn sie einen Zwang feststellen.

 "Wir haben grosse Vorbehalte"

 Mit dieser zusätzlichen Verantwortung ist der schweizerische Verband für Zivilstandswesen alles andere als glücklich. "Gegen Zwangsheiraten vorzugehen ist sehr schwierig", sagt Präsident Roland Peterhans zu .

 Der Verband werde sich nach interner Absprache wahrscheinlich an die Adresse der Politik richten, sagt Peterhans, der das Zivilstandsamt der Stadt Zürich leitet. "Wir haben grosse Vorbehalte, was die Umsetzbarkeit betrifft. Es nimmt uns Wunder, wie das in der Praxis gehen soll."

 Die betroffene Person nicht in Gefahr bringen

 Peterhans gibt zu Bedenken, dass Zivilstandsbeamte nicht oder nur ungenügend für die Ermittlungsarbeit vor dem Hintergrund interkultureller Probleme ausgebildet sind. "Einen Verdacht auszusprechen, kann weitreichend sein." Der Zivilstandsbeamte setze damit nicht nur sich selber einer Gefahr aus, sondern auch die betroffene Person, die zwangsverheiratet werden soll. "Dieser Person wird nachher vorgeworfen, sie habe sich so verhalten, dass die Behörden etwas bemerkt hätten. Es ist uns ein Anliegen, die Frauen nicht in Gefahr zu bringen."

 Hinzu komme, dass die Person, die wider Willen verheiratet werden soll, im langen Heiratsverfahren von ihrer Familie derart bearbeitet worden sei, dass sie vor dem Zivilstandsbeamten nichts mehr sage.

 "Völlig neue Aufgabenfelder"

 Seit Anfang Jahr 2011 sind die Zivilstandsbeamten bereits im Kampf gegen Scheinehen in der Pflicht. Hier gelten neue Bestimmungen, und die Zivilstandsämter müssen abklären, ob Heiratswillige in der Schweiz bleibeberechtigt sind. Können diese die Rechtmässigkeit ihres Aufenthalts nicht beweisen, müssen die Beamten dies den Ausländerbehörden melden.

 Gegen die Zusatzaufgaben wegen Scheinehen hat sich der Verband der Zivilstandsbeamten erfolglos gewehrt. "Für uns sind das völlig neue Aufgabenfelder", sagt Peterhans. "Eine Ziviltrauung vollziehen oder einen Familienschein ausstellen ist etwas komplett anderes, als gegen Zwangs- und Scheinehen zu ermitteln."

 Ausbildung soll ergänzt werden

 Dem soll im Zuge der Gesetzesänderung Rechnung getragen werden, wie Falco Galli, Informationschef des Bundesamts für Justiz, auf Anfrage von sagt: "Es ist vorgesehen, die Grund- und Weiterbildung der Zivilstandsbeamten so zu ergänzen, dass Zivilstandsbeamte Zwangsheiraten bessern verhindern beziehungsweise beim Verdacht auf eine Zwangsheirat angemessen vorgehen können."

 "In Zukunft werden sich die Zivilstandsbeamten im Ehevorbereitungsverfahren vergewissern müssen, dass die Verlobten die Ehe aus freiem Willen schliessen wollen", bestätigt Galli. Die Beamten seien aber nicht verpflichtet, in der Privatsphäre der Verlobten zu ermitteln. "Sie werden die Eheschliessung nach wie vor nur dann verweigern, wenn das Gesuch der Verlobten aufgrund von klaren Indizien offensichtlich nicht ihrem freien Willen entspricht."

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HÄRTEFÄLLE
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beobachtungstelle.ch 22.2.11

Bundesrat sieht Klärungsbedarf in Sachen Härtefallregelung

Der Bundesrat hat die Interpellation Schenker (17.12.2010) zur uneinheitlichen Härtefallregelung der Kantone beantwortet. Schenker verlangte in ihrem Vorstoss eine Stellungnahme des Bundesrats zur so genannten "Härtefall-Lotterie" in den Kantonen und wollte zudem wissen, ob diesbezüglich Harmonisierungsbestrebungen geplant sind und wie die Situation in den einzelnen Kantonen genau aussieht.

Der Bundesrat hält in seiner Antwort fest, dass umfangreiche Weisungen des Bundesamts für Migration den behördlichen Ermessensspielraum definieren und den Kantonen "verbindliche Leitlinien für die Regelung von schwerwiegenden persönlichen Härtefällen im Einzelfall" geben. Gleichzeitig räumt er jedoch implizit ein, dass die kantonalen Unterschiede trotz dieser Weisungen immer noch beträchtlich sind. Es seien zusätzliche Abklärungen nötig, um die Gründe für diese Unterschiede aufzudecken. Eine genaue Analyse der Situation in den Kantonen setzte die Durchführung einer Studie voraus. Aus diesem Grund soll das BFM bis Ende 2011 eine entsprechende Untersuchung in Auftrag geben.

Die SBAA begrüsst diesen Schritt und hofft, dass mit dieser Massnahme der kantonalen Ungleichbehandlung von Härtefallgesuchen Einhalt geboten werden kann. Die Schweizerische Beobachtungsstelle hat im vergangenen Herbst einen Fachbericht zum Thema "Familien im Härtefallverfahren" verfasst und auf dessen Grundlage Entwürfe für politische Vorstösse ausgearbeitet.

* Interpellation Schenker und Antwort des Bundesrats
http://beobachtungsstelle.ch/fileadmin/user_upload/pdf_divers/Vorstoesse_Deutsch/10.4114_schenker_br.pdf

* SBAA-Bericht "Familien im Härtefallverfahren"
http://beobachtungsstelle.ch/index.php?id=446

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Sonntag 20.2.11

Markante Abnahme bei den Härtefallgesuchen

 Neue Zahlen des Bundesamtes für Migration zeigen: Weniger Asylsuchende und Sans-Papiers erhalten durch die Regelung eine Aufenthaltsbewilligung

von Sarah Weber

 Insgesamt waren es fast fünfhundert Härtefallgesuche weniger, die das Bundesamt für Migration (BfM) im vergangenen Jahr beurteilen musste. Am stärksten ist die Abnahme bei den Härtefallgesuchen von abgewiesenen Asylbewerbern: Waren es 2009 noch 458 Gesuche, wurden 2010 von den Kantonen nur noch 294 Gesuche an das Bundesamt für Migration weitergeleitet.

 Mit der Härtefallregelung können abgewiesene Asylsuchende, vorläufig Aufgenommene und Sans-Papiers nach fünf Jahren in der Schweiz eine Aufenthaltsbewilligung beantragen. Dafür müssen Kriterien wie beispielsweise gute Integration oder schwerwiegende persönliche Notlage bei einer Rückkehr in die Heimat, erfüllt sein. Weshalb die Zahl der Härtefallgesuche gesamtschweizerisch stark zurückgingen, weiss man beim zuständigen BfM nicht und verweist auf die Kantone. Diese müssen die Gesuche in erster Instanz bewilligen, bevor sie ans BfM gelangen, das den definitiven Entscheid fällt. Wie viele Gesuche insgesamt bei den Kantonen eingereicht wurden, ist nicht erfasst.

 Den Grund für den Rückgang der Gesuche sieht Claudia Dubacher von der Schweizerischen Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht bei der restriktiveren Beurteilung durch die Kantone. Es würden nicht weniger Gesuche eingereicht, ist Dubacher überzeugt, "viel eher ist der Rückgang eine Folge davon, dass in vielen Kantonen die Schraube angezogen worden ist". Geteilt wirddiese Einschätzung auch von den verschiedenen kantonalen Rechtsberatungsstellen für Asylsuchende. Die Praxis bei der Beurteilung von Härtefallgesuchen in den Kantonen sei klar strenger geworden. Vielen Gesuchstellern wird deshalb von den Rechtsberatern nicht mehr empfohlen, ein Härtefallgesuch einzureichen.

 Donato Del Duca, Rechtsanwalt bei der Rechtsberatungsstelle Aargau: "Wir spüren eine Änderung bei der Rechtsprechung: Junge Männer, die alleinstehend sind, haben praktisch keine Chance auf einen positiven Entscheid." Dafür habe der Kanton Aargau angefangen, ausreisepflichtige Familien mit Chancen auf einen positiven Entscheid, direkt anzuschreiben, so Del Duca.

 Auf den Migrationsämtern wehren sich die Zuständigen gegen den Vorwurf der Verschärfung: Man halte sich an die Weisungen des Bundesamtes für Migration und habe die Praxis nicht verschärft, heisst es auf Anfrage bei verschiedenen Kantonen. Viel mehr seien die Zahlen abhängig von der aktuellen Zusammensetzung der Asylsuchenden. "Zurzeit sind viele Asylsuchende aus Nigeria in der Schweiz und die haben selten Anspruch auf eine Härtefallregelung", erklärt Bruno Zanga, Amtsleiter des Migrationsamtes St. Gallen. Der Bund bemühe sich zudem, die Verfahren schneller zu erledigen und deshalb gebe es weniger Pendenzen. Dies sei die Erklärung, warum die Zahl der Gesuche sinke. Dass zusätzliche Hürden eingeführt wurden, räumt man nur beim Migrationsamt in Baselland ein. "Wir verlangen, dass die Gesuchsteller einen Sprachkurs oder eine Prüfung machen, damit mindestens das Sprachniveau A1 erfüllt ist", sagt Martin Bürgin vom Amt für Migration Baselland.

 Kritisiert wird immer wieder die unterschiedliche Auslegung des Gesetzes in den einzelnen Kantonen. Dies anerkennt nun auch der Bundesrat. Er reagierte vergangene Woche auf die Interpellation der Basler Nationalrätin Silvia Schenker (SP) und will noch 2011 eine Studie in Auftrag geben, die die Situation in den Kantonen analysiert.

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AUSSCHAFFUNGEN
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20 Minuten 25.2.11

Schickt Bund Familie von Ex-Muslimen in den Tod?

 ZÜRICH. Eine kurdisch-syrische Familie wird seit dem Übertritt zum Christentum in ihrer Heimat mit dem Tod bedroht. Trotzdem soll sie ausgeschafft werden.

 Nach drei negativen Asylentscheiden leiden Horiya (33), Faruq Hassu (30) und Töchterchen Tireej (18 Monate) Todesangst vor ihrer Ausschaffung. Weil sie in der Schweiz zum Christentum konvertiert sind, trachtet ihnen ihre Familie nach dem Leben. Schon in Syrien habe sich das Paar zum Christentum hingezogen gefühlt, so Faruq Hassu. Nach ihrer Flucht in die Schweiz, wo 2009 ihre Tochter Tireej zur Welt kam, sind sie konvertiert. Zurzeit besuchen sie regelmässig die Gottesdienste der Freien Evangelischen Gemeinde Langenthal.

 Für ihre Familie sind die Hassus seither so gut wie tot. Faruqs Vater drohte am Telefon: "Ich bitte Allah darum, dass ihr zurückkommt, damit wir euch wie Hunde töten können."

 Dennoch soll die Familie raus aus der Schweiz: "Der Asylentscheid ist rechtskräftig", teilt das Bundesamt für Migration mit. Daniel Gerner, Sprecher der Organisation Open Doors, die sich weltweit für verfolgte Christen einsetzt, ist empört: "Uns sind weitere Fälle bekannt, in denen konvertierte Christen mit dem Tod bedroht wurden. Dies ist ernst zu nehmen." Auch EVP-Präsident Heiner Studer kann den Entscheid nicht begreifen: "Ich kenne den Fall und verstehe nicht, dass Familie Hassu kein Aufenthaltsrecht erhält."

 In einem offenen Brief bitten die Hassus nun Bundesrätin Sommaruga, ihr Leben zu retten. Es ist ihre letzte Hoffnung. "Ich wäre bereit, für meinen Glauben zu sterben. Aber ich kann meine kleine Tochter nicht alleine zurücklassen. Alles, was ich wünsche, ist in Sicherheit zu leben", sagt Horiya unter Tränen.

Zora Schaad

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 Gericht sieht keine Gefahr

 BERN. Die Tonaufzeichnungen der Todesdrohungen von Faruqs Familie liegen dem Bundesverwaltungsgericht vor, ebenso die Aussage eines syrischen Anwalts, der den Haftbefehl gegen Horiya bestätigt. Diese Dokumente wurden nicht gewichtet: "Das Bundesamt für Migration geht grundsätzlich davon aus, dass Christen in Syrien nicht verfolgt werden - auch im Falle einer Konvertierung", sagt Sprecher Michael Glauser gegenüber dem "Langenthaler Tagblatt".

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WoZ 24.2.11

Ausschaffung

 Bedrohte Homosexuelle

 Weil er mit Heroin handelte, will das Bundes amt für Migration einen schwulen Iraner ausschaffen. Nach zwei abgelehnten Asylgesuchen lebte der Mann ab 2003 mit einem Schweizer zusammen, seit drei Jahren in ein getragener Partnerschaft. Gegen die Ausweisung legte er Beschwerde ein: Das Leben Homosexueller sei im Iran schwer bedroht. Das Bundesverwaltungsgericht verneinte:   Homosexualität werde dort geduldet, "wenn sie nicht in möglicherweise Anstoss erregender Art öffentlich zur Schau gestellt wird".

 Amnesty International (AI) bezeichnet diese Aussage als "nicht akzeptabel": "Der Zwang, die eigene sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität aufzugeben oder zu verheimlichen, kann selbst eine Form der Verfolgung sein." Auch die Verurteilung wegen Drogenhandels gefährdet den Mann: Die iranische Justiz kann dafür die Todesstrafe verhängen. Neben AI protestieren auch der Schwulendachverband Pink Cross und die Homosexuellen Arbeitsgruppen Basel gegen das Urteil. Der Anwalt des Iraners und AI wollen das Urteil weiterziehen, wenn nötig bis zum Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Strassburg. Seit Anfang Jahr wurden im Iran laut AI schon mindestens 86 Menschen hingerichtet. DYT

http://www.queeramnesty.ch

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BZ/Berner Oberländer 24.2.11

Wirbel um Abschiebung

 BrienzEin 30-jähriger Kurde aus Brienz, der seit neun Jahren in der Schweiz lebt, steht vor der Abschiebung in den Irak. Am Dienstag wurde er von der Polizei in Gewahrsam genommen und zur Ausschaffung nach Bern gebracht.

 Die ehemalige Chefin des Flüchtlings im Seehotel Bären in Brienz, Monique Werro, die ihm nach wie vor Kost und Logis gewährt, ist empört über diese Ereignisse: "Er hat seinen Lebensmittelpunkt hier, ist arbeitsam, spricht sehr gut Deutsch, ist assimiliert und hat eine saubere Weste. Andere machen krumme Geschäfte und dürfen trotzdem bleiben."jez Seite 3

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Kurde soll zurück in den Irak

 brienzDie Inhaberin des Hotels Bären, Monique Werro, wehrt sich gegen die bevor-stehende Ausschaffung eines ehemaligen Mitarbeiters. Der Kurde wurde in Gewahrsam genommen. Ihm droht die Abschiebung in den Irak.

 Am Dienstag seien zwei Polizisten gekommen, um Haisam Barwari abzuholen, schildert Monique Werro. Barwari stellt sie als kurdischen Flüchtling aus dem Irak vor, der von 2006 bis Oktober 2009 in ihrem Hotel Bären in Brienz gearbeitet hat. Seit November 2009 habe der heute 30-Jährige jedoch keine Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis mehr und erhalte im Seehotel Unterkunft und Logis. "Er hat seither nie einen Rappen Sozialhilfe, noch RAV-Gelder bezogen", berichtet Monique Werro. "Alle Mitarbeiter des Hotels sammeln monatlich Geldbeträge ein, damit er zumindest ein kleines Taschengeld hat." Eine Anfrage auf Wiedereinstellung im Bären sei in Bearbeitung.

 Pulverfass arabischer Raum

 Doch nun scheint eine Wiederbeschäftigung in weite Ferne gerückt. "Haisam wurde von der Polizei in Gewahrsam genommen und nach Bern zur Ausschaffung gebracht", erzählt Monique Werro besorgt, die sich gegen eine bevorstehende Abschiebung des Kurden ausspricht. "Wie wir alle wissen, ist eine Ausschaffung zurzeit absolut unmöglich. Der ganze arabische Raum ist ein Pulverfass. Bürgerkriege sind dort überall wahrscheinlich", verweist die Hotelchefin auf die aktuellen Ereignisse in Libyen und anderswo.

 "Das Ganze ist eine Lotterie"

 Monique Werro hofft noch, dass ihr Mitarbeiter, der seit mittlerweile neun Jahren in der Schweiz lebt, nicht in den Irak zurückkehren muss. "Er hat seinen Lebensmittelpunkt hier, ist arbeitsam, spricht sehr gut deutsch, ist assimiliert und hat eine saubere Weste. Andere machen krumme Geschäfte und dürfen trotzdem bleiben. Das Ganze ist eine Lotterie, wer bleiben darf und wer nicht." Vom Migrationsdienst des Kantons Bern war keine Stellungnahme zu bekommen, lediglich der Hinweis, dass die Stelle keine Auskunft zu Einzelfällen erteile.

 Claudius Jezella

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NZZ 23.2.11

Zweitgutachten zu Herzleiden?

 Kritik an Obduktionsbericht zu Todesfall in Ausschaffungshaft

 fsi. · Viktor Györffy, der Anwalt der Familie des 29-jährigen Nigerianers, der am 17. März 2010 kurz vor seiner Zwangsausschaffung nach Lagos auf dem Flughafen Zürich starb, fordert von der Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland ein neues Obduktionsgutachten. Das Institut für Rechtsmedizin (IRM) der Universität Zürich hatte ein zuvor nicht erkanntes schweres Herzleiden als Hauptursache angeführt. Aber auch ein der Ausschaffung vorangegangener Hungerstreik habe zum Tod beigetragen, ebenso wie der akute Erregungszustand, in welchem sich der Mann befunden habe. Der Todesfall gab den Anstoss für die neuen Regeln für Zwangsausschaffungen mit Sonderflügen, die unter anderem den Beizug unabhängiger Beobachter vorsehen.

 Györffy liess einen Kardiologen das Gutachten des IRM überprüfen. Dieser kam zum Schluss, dass Diagnose und postulierte Todesursache ein Konstrukt seien. Der Anwalt beantragte darauf im August bei der Staatsanwaltschaft ein weiteres Obduktionsgutachten; am Montag lieferte er die ausführliche Begründung nach. An einer gemeinsamen Medienkonferenz mit Vertretern der Menschenrechtsgruppe Augenauf vom Dienstag im Zürcher Volkshaus nannte Györffy als Grund für sein Vorgehen juristische und medizinische Mängel des Obduktionsgutachtens. Ausserdem warf er dem an der Universität Zürich angesiedelten IRM wegen Behördennähe Parteilichkeit vor. Die Rechtsprechung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs verlange, dass solche Todesfälle von unabhängigen Instanzen untersucht würden.

 Der Nigerianer habe bei seinem sechswöchigen Hungerstreik einen Drittel seines Gewichts verloren und er habe während vier Wochen mit niemandem mehr ein Wort gewechselt, erklärte der Anwalt. Nicht ein Herzfehler, sondern die Folgen des Hungerstreiks und der emotionale Stress während der Fesselung des Mannes seien daher als Todesursache anzunehmen. Nur mit einem zweiten Gutachten lasse sich feststellen, ob das Strafverfahren weitergeführt oder eingestellt werden solle.

 Der zuständige Staatsanwalt Christian Philipp von der Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland bestätigte auf Anfrage den Erhalt von Györffys Ergänzung zur Eingabe vom August 2010. Es sei allerdings noch zu früh, um zu einzelnen Kritikpunkten Stellung zu nehmen. Philipp betonte aber, dass an der Unabhängigkeit des Obduktionsgutachtens des IRM keine Zweifel bestünden.

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Landbote 23.2.11

Toter Nigerianer: Zweitgutachten gefordert

 Anna Wepfer

 Zürich. Ein angeborener Herzfehler sei es gewesen, der einen nigerianischen Ausschaffungshäftling im März 2010 das Leben kostete. Das geht aus einem Gutachten des Rechtsmedizinischen Instituts der Universität Zürich hervor. Der Anwalt der Hinterbliebenen glaubt aber nicht an diesen Befund. Er hat die Ergebnisse der Obduktion von einem Herzspezialisten überprüfen lassen. Dieser kommt zum Schluss, dass ein Herzfehler nicht belegbar sei. Vielmehr habe ein sechswöchiger Hungerstreik den 29-Jährigen so geschwächt, dass er den Stress und die bei Zwangsausschaffungen übliche Fesselung nicht überlebt habe.

 Nun verlangt der Anwalt der Familie vom zuständigen Staatsanwalt, er solle ein zweites Gutachten in Auftrag geben. Dieses würde in Bezug auf die Todesursache Klarheit schaffen. Fakt ist, dass die Polizisten, die die Ausschaffung durchführen sollten, nicht wussten, wie schlecht der körperliche Zustand des Häftlings war. Dass er sich kaum rührte und Fragen nicht beantwortete, interpretierten sie als passiven Widerstand. Die gerufene Ärztin konnte bei ihrem Eintreffen nur noch den Tod des Mannes feststellen. (awe) Seite 27

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Anwalt glaubt nicht an Herzfehler

 Anna Wepfer

 Zürich. Im Falle des Nigerianers, der im März 2010 vor seiner Ausschaffung am Flughafen verstarb, will der Anwalt der Familie ein neues medizinisches Gutachten. Entgegen bisherigen Annahmen sei ein schwerer Herzfehler als Todesursache nicht erwiesen, sagt er.

 "Gravierende Mängel" will Rechtsanwalt Viktor Györffy im Obduktionsgutachten zum Todesfall vom vergangenen März gefunden haben, als ein 29-jähriger Ausschaffungshäftling während einer Fesselung am Flughafen Zürich verstarb. Die Mängel seien juristischer und vor allem auch medizinischer Art, sagte Györffy, Anwalt der Familie des Verstorbenen, gestern an einer Medienkonferenz. Insbesondere die im Gutachten genannte Todesursache sei wissenschaftlich nicht abgestützt, sagt er. Dass der Nigerianer tatsächlich an einem Herzfehler gestorben sein soll, glaubt Györffy nicht. Von der zuständigen Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland fordert er darum ein zweites Gutachten.

 Das erste Gutachten hat das Rechtsmedizinische Institut der Universität Zürich (IRM) im Auftrag von Staatsanwalt Christian Philipp erstellt. Der Gutachter kommt zum Schluss, die Ursache für den Tod des Häftlings sei ein angeborener schwerer Herzfehler. Vermutlich habe der Stress des Ausschaffungsprozederes das Herzversagen zusätzlich begünstigt. Zudem hatte sich der 29-Jährige bis zum Zeitpunkt der Ausschaffung mindestens sechs Wochen im Hungerstreik befunden und über 30 Kilo abgenommen, was ihn zusätzlich schwächte.

 Das Gutachten entkräftet damit den Verdacht, die involvierten Polizeibeamten hätten den Häftling zu brutal behandelt oder gravierende gesundheitliche Probleme missachtet.

 Wesentliche Merkmale fehlen

 Györffy hat das Gutachten sowie die Befunde und Fotografien der Obduktion einem Herzspezialisten vorgelegt. Der Kardiologe - ein ausgewiesener Praktiker, wie Györffy betont - kommt zu einem anderen Schluss als das IRM: Die vorliegenden Veränderungen am Herzmuskel taugten nicht, um einen vererbten Herzfehler zu belegen. Im Gegenteil: Wesentliche Merkmale eines so geschädigten Herzes lägen nicht vor.

 Der Kardiologe nennt eine andere Todesursache: Der massive Gewichtsverlust der vorangegangenen 40 Tage Hungerstreik könne zusammen mit dem Stress einer Ausschaffung zum Tod führen - "und zwar auch bei einer Person, die kein vorgeschädigtes Herz hat". Das wirft die Frage auf, weshalb der abgemagerte Häftling trotz seines schlechten körperlichen Zustandes als transportfähig eingestuft wurde.

 Bei einer Zwangsausschaffung wie im vorliegenden Fall wird der Häftling nach einer Leibesvisitation mehrfach an einen Rollstuhl gefesselt (siehe Kasten). Der Nigerianer trug einen Helm und ein Netz über dem Kopf. Das sei ein "brutaler Vorgang", sagte Christoph Hugenschmidt von der Menschenrechtsorganisation "augenauf". "Das würde auch einen gesunden Mann zutiefst erschüttern."

 Nun soll ein zweites Gutachten zeigen, ob der Gesundheit des Nigerianers genügend Rechnung getragen wurde. Diesen Antrag hat Györffy der Staatsanwaltschaft bereits im August gestellt und gestern mit einer ausführlichen Begründung nachgedoppelt. Er verlangt, dass nicht nur ein Pathologe wie am IRM das Gutachten verfasst, sondern auch Spezialisten für Kardiologie und Psychologie beigezogen werden, welche sich zum Beispiel mit Folgen von Essstörungen auskennen.

 Allerdings soll das Gutachten nicht mehr vom IRM erstellt werden, findet Györffy. "Das IRM ist nicht unabhängig, da es überwiegend für die Justiz des Kantons Zürich tätig ist", sagt er. Dass nun dasselbe Institut beurteilen müsse, ob Vertreter der Zürcher Justiz Fehler begangen hätten, führe zu einem Interessenkonflikt, moniert er.

 Karin Keller-Sutters Mann

 Pikant: Der Verfasser des IRM-Gutachtens - Morten Keller-Sutter - ist der Mann der ehemaligen Bundesratskandidatin Karin Keller-Sutter (FDP). Die St. Galler Regierungsrätin ist Präsidentin der Schweizer Polizeidirektorenkonferenz (KKJPD) und dort zusätzlich zuständig für die Schulung von Polizisten. Damit trägt sie Mitverantwortung für das Know-how der Polizisten im Dienst.

 Dass nun ihr Mann klären soll, woran der Häftling gestorben ist, findet Staatsanwalt Philipp unproblematisch. Er sieht keine Anhaltspunkte, dass Morten Keller-Sutter "aufgrund seiner Partnerschaft die Neutralität nicht wahren kann". Ob Philipp ein Zweitgutachten in Auftrag geben wird, sagt er noch nicht. Erst müsse er die gestern eingereichte Eingabe studieren. Nach der Klärung der zentralen medizinischen Fragen werde er auch entscheiden, ob gegen einzelne Beteiligte ein Strafverfahren einzuleiten sei.

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 "Ich dachte, er spielt etwas vor"

 Anna Wepfer

 Die Menschenrechtsorganisation "augenauf" hat anhand der Akten den Ablauf der geplanten Ausschaffung rekonstruiert. "Den Polizisten war nicht klar, wie schlecht es dem Häftling ging", sagt Christoph Hugenschmidt. Sie wussten nichts vom Hungerstreik, nur dass der 29-Jährige "mehrere Tage" nichts gegessen hatte. Als sie den Häftling an den Stuhl fesselten, stellten die Beamten fest, dass er "passiv wirkt", und "der Kopf nach vorne hängt", wie sie zu Protokoll gaben. Dass er keine Antwort gab, werteten sie als passiven Widerstand. Die Polizisten befürchteten, er simuliere, und fesselten auch weiter, nachdem sie den Arzt gerufen hatten. Hugenschmidt hat dafür ein gewisses Verständnis. "Der Druck auf die Polizei ist gross", sagt er. Denn die politische Vorgabe laute: Ausschaffen um jeden Preis. "Mit der Möglichkeit, dass eine Ausschaffung scheitern könnte, wird gar nicht gerechnet." (awe)

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 AUCH WIEDER FLÜGE NACH NIGERIA

 Anna Wepfer

 Nach dem Tod eines nigerianischen Ausschaffungshäftlings im März 2010 stoppte der Bund vorläufig sämtliche Ausschaffungsflüge. Erst nachdem das medizinische Gutachten vorlag, wurden die Flüge im Juni wieder aufgenommen. Flüge nach Nigeria sind erst seit Anfang 2011 wieder möglich. Zuvor hatte die dortige Regierung die nötige Bewilligung verweigert. Wie viele Ausschaffungsflüge es seit dem Todesfall gab, war gestern beim Bund nicht zu erfahren. (awe)

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Zürichsee-Zeitung 23.2.11

Familie fordert Zweitgutachten

 Zürich. Der Anwalt der Angehörigen des nigerianischen Ausschaffungshäftlings, der im März 2010 starb, zweifelt daran, dass ein Herzfehler schuld an dessen Tod war.

 Anna Wepfer

 Ein angeborener Herzfehler sei es gewesen, der einen nigerianischen Ausschaffungshäftling im März 2010 das Leben kostete. Das geht aus einem Gutachten des Rechtsmedizinischen Instituts der Universität Zürich hervor.

 Der Anwalt der Hinterbliebenen glaubt aber nicht an diesen Befund. Er hat die Ergebnisse der Obduktion von einem Herzspezialisten überprüfen lassen. Dieser kommt zum Schluss, dass ein Herzfehler nicht belegbar sei. Vielmehr habe ein sechswöchiger Hungerstreik den 29-Jährigen so geschwächt, dass er den Stress und die bei Zwangsausschaffungen übliche Fesselung nicht überlebt habe.

 Nun verlangt der Anwalt der Familie vom zuständigen Staatsanwalt, er solle ein zweites Gutachten in Auftrag geben. Dieses würde in Bezug auf die Todesursache Klarheit schaffen. Fakt ist, dass die Polizisten, die die Ausschaffung durchführen sollten, nicht wussten, wie schlecht der körperliche Zustand des Häftlings war.

 Dass er sich kaum rührte und Fragen nicht beantwortete, interpretierten sie als passiven Widerstand. Die gerufene Ärztin konnte bei ihrem Eintreffen nur noch den Tod des Mannes feststellen. Seite 15

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Limmatthaler Tagblatt 23.2.11

Der Anwalt glaubt nicht an einen Herzfehler

Anna Wepfer

 Ausschaffung Im Falle des Nigerianers, der im März 2010 vor seiner Ausschaffung am Flughafen verstarb, will der Anwalt der Familie ein neues medizinisches Gutachten. Entgegen bisheriger Annahmen sei ein schwerer Herzfehler als Todesursache nicht erwiesen, sagt er.

 "Gravierende Mängel" will Rechtsanwalt Viktor Györffy im Obduktionsgutachten zum Todesfall vom vergangenen März gefunden haben, als ein 29-jähriger Ausschaffungshäftling während einer Fesselung am Flughafen Zürich verstarb. Die Mängel seien juristischer und vor allem auch medizinischer Art, sagte Györffy, Anwalt der Familie des Verstorbenen, gestern an einer Medienkonferenz. Insbesondere die im Gutachten genannte Todesursache sei wissenschaftlich nicht abgestützt, sagt er. Dass der Nigerianer tatsächlich an einem Herzfehler gestorben sein soll, glaubt Györffy nicht. Von der zuständigen Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland fordert er darum ein zweites Gutachten.

 Das erste Gutachten hat das Rechtsmedizinische Institut der Universität Zürich (IRM) im Auftrag von Staatsanwalt Christian Philipp erstellt. Der Gutachter kommt zum Schluss, die Ursache für den Tod sei ein angeborener schwerer Herzfehler. Vermutlich habe der Stress des Ausschaffungsprozederes das Herzversagen begünstigt. Zudem hatte sich der 29-Jährige bis zum Zeitpunkt der Ausschaffung mindestens sechs Wochen im Hungerstreik befunden und über 30 Kilo abgenommen, was ihn schwächte. Das Gutachten entkräftet damit den Verdacht, die involvierten Polizeibeamten hätten den Häftling zu brutal behandelt oder gesundheitliche Probleme missachtet.

 Wesentliche Merkmale fehlen

 Györffy hat das Gutachten sowie die Befunde und Fotografien der Obduktion einem Herzspezialisten vorgelegt. Der Kardiologe - ein ausgewiesener Praktiker, wie Györffy betont - kommt zu einem anderen Schluss als das IRM: Die vorliegenden Veränderungen am Herzmuskel taugten nicht, um einen vererbten Herzfehler zu belegen. Im Gegenteil: Wesentliche Merkmale eines so geschädigten Herzes lägen nicht vor. Der Kardiologe nennt eine andere Todesursache: Der massive Gewichtsverlust der vorangegangenen 40 Tage Hungerstreik könne zusammen mit dem Stress einer Ausschaffung zum Tod führen - "und zwar auch bei einer Person, die kein vorgeschädigtes Herz hat". Das wirft die Frage auf, weshalb der abgemagerte Häftling trotz seines schlechten körperlichen Zustandes als transportfähig eingestuft wurde. Bei einer Zwangsausschaffung wie im vorliegenden Fall wird der Häftling nach einer Leibesvisitation mehrfach an einen Rollstuhl gefesselt. Der Nigerianer trug einen Helm und ein Netz über dem Kopf. Das sei ein "brutaler Vorgang", sagte Christoph Hugenschmidt von der Menschenrechtsorganisation "augenauf". "Das würde auch einen gesunden Mann zutiefst erschüttern."

 Nun soll ein zweites Gutachten zeigen, ob der Gesundheit des Nigerianers genügend Rechnung getragen wurde. Diesen Antrag hat Györffy der Staatsanwaltschaft bereits im August gestellt und mit einer ausführlichen Begründung nachgedoppelt. Er verlangt, dass nicht nur ein Pathologe wie am IRM das Gutachten verfasst, sondern auch Spezialisten für Kardiologie und Psychologie beigezogen werden. Allerdings soll das Gutachten nicht mehr vom IRM erstellt werden, findet Györffy. "Das IRM ist nicht unabhängig, da es überwiegend für die Justiz des Kantons Zürich tätig ist", sagt er.

 Pikant: Der Verfasser des IRM-Gutachtens, Morten Keller-Sutter, ist der Mann der ehemaligen Bundesratskandidatin Karin Keller-Sutter (FDP). Die St. Galler Regierungsrätin ist Präsidentin der Schweizer Polizeidirektorenkonferenz (KKJPD) und dort zusätzlich zuständig für die Schulung von Polizisten.

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Langenthaler Tagblatt 23.2.11

"Müssen wir nach Syrien, werden wir umgebracht"

 Bollodingen Der Asylantrag von Faruq und Horiya wurde abgelehnt. Am Donnerstag erfahren sie den Ausschaffungstermin

Andrea Marthaler

 Im Jahr 2008 kamen Faruq und Horiya Hassu-Abdulkader in die Schweiz. Sie waren aus ihrem Heimaltland Syrien geflohen. Denn Faruq und Horiya gehören der Minderheit der Kurden an, die in Syrien unterdrückt werden. In gebrochenem Deutsch, immer wieder nach Worten suchend, erzählen die beiden ihre Geschichte: Faruq war wegen Verdachts auf Diebstahl in Syrien ungerechtfertigt verhaftet und anschliessend im Gefängnis gefoltert worden. Horiya, die in Syrien Pharmazie und Kunst studiert hatte, nahm an Demonstrationen für die kurdische Minderheit teil. Als 2004 bei einer solchen Demo ihre Cousine getötet wurde, fühlte sie sich in Syrien nicht mehr sicher. Sie flüchtete gemeinsam mit ihrem Cousin. Kurz bevor die beiden das Land verliessen, heirateten sie.

 Mittlerweile hat sich ihre Situation noch verschärft. Zum einen haben sie heute eine 18 Monate alte Tochter - Tireej. Zum anderen waren sie in der Schweiz weiterhin politisch aktiv. Im Herbst 2008 und ein Jahr später gab Horiya im kurdischen Widerstandskanal "Roj TV" ein Interview. Darin sprach sie über die Unterdrückung der Frau und die Benachteiligung der Kurden in Syrien. Seither wird sie in ihrem Heimatland von den Behörden gesucht. Mehrmals tauchte die Sicherheitspolizei in ihrem früheren Zuhause auf. "Kehren wir nach Syrien zurück, werden wir verhaftet", sagt Horiya fast flüsternd.

 Verwandte drohen mit dem Tod

 Nicht nur vom Staat droht Horiya und Faruq aber Gefahr. Auch mit ihren Familien haben die beiden gebrochen. Denn in der Schweiz sind sie zum Christentum konvertiert. Nun haben sie Angst vor der Reaktion ihrer Verwandten. In aufgezeichneten Telefongesprächen wünscht der Vater von Faruq ihnen den Tod: "Wir können unsere Köpfe nicht mehr erheben und unsere Ehre nicht wieder erlangen, ausser durch euren Tod." Auch Horiyas Onkel drohte, sie umzubringen. Denn die Konvertierung und Abwendung vom Islam empfindet die Familie als Verrat und Verlust ihrer Ehre. Faruq nimmt die Drohung ernst: "Müssen wir nach Syrien zurück, werden wir von unserer Familie umgebracht."

 Ganz anders sehen dies die zuständigen Behörden. Dreimal haben Faruq und Horiya ein Asylgesuch gestellt. Dreimal wurde dies vom Bundesamt für Migration (BFM) abgelehnt. "Das BFM geht grundsätzlich davon aus, dass Christen in Syrien nicht verfolgt werden - auch im Falle einer Konvertierung", schreibt der Pressesprecher des BFM, Michael Glauser, auf Anfrage. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte am 7. Februar den Entscheid des BFM. Die Geschichte der syrischen Familie sei "ausgesprochen realitätsfremd"; die aufgezeichneten Telefongespräche erfunden. Auch durch Horiyas Fernsehinterviews hätte sie nichts zu befürchten. "Diese haben zu wenig öffentlichen Charakter", steht im Gerichtsurteil.

 Christentum wird missbilligt

 Dennoch haben Horiya und Faruq noch nicht aufgegeben. Unterstützung erhalten sie vom Aktionskomitee "gegen die strategische Islamisierung der Schweiz". Deren Pressesprecher Daniel Zingg, hat sie kurzerhand zu sich nach Hause nach Bollodingen geholt. Im mit schweren Holzmöbeln ausgestatteten Wohnzimmer des Riegelhauses wirken die Syrer seltsam fremd. Nur das verstreute Kinderspielzeug zeigt, dass sie seit zehn Tagen dort wohnen. "Für die Wahrheit ihrer Geschichte lege ich meine Hand ins Feuer", so Zingg, der Faruq und Horiya seit gut drei Monaten kennt. Mit dem Gang an die Öffentlichkeit will er bewirken, dass die Behörden ihre Meinung ändern und die Familie doch in der Schweiz bleiben kann. Es eilt. Am Donnerstag wollen die Zürcher Behörden informieren, wann die Ausschaffung stattfinden soll.

 Mittlerweilen sind auch Flüchtlingsorganisationen auf den Fall der syrischen Familie aufmerksam geworden. Unter anderem "Open Doors", die sich für verfolgte Christen einsetzen. Syrien liege auf Rang 38 ihres Weltverfolgungsindex. "Christen sind in Syrien zwar anerkannt", sagt Sprecher Daniel Gerber, "doch die Konvertierung vom Islam zum Christentum wird missbilligt." Gerber bestätigt, dass es deswegen immer wieder Ehrenmorde gebe.

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Tagesschau sf.tv 22.2.11

Tod des Ausschaffungshäftlings untersucht

Vergangenen März ist ein junger Ausschaffungshäftling am Flughafen verstorben. Der Nigerianer starb er an einem Herzfehler. Die Menschenrechtsgruppe "Augenauf" hat den Fall nun eingehend untersucht.
http://videoportal.sf.tv/video?id=b78edd03-f4e7-4ea6-b67d-768e3a8c686f

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sf.tv 22.2.11

Tod eines Ausschaffungshäflings: Fesselung war mit Schuld

sf

 Die Kontroverse um den Tod eines nigerianischen Ausschaffungshäftlings geht weiter: Eine Menschenrechtsgruppe widerspricht dem rechtsmedizinischen Obuktionsbefund, der die Behörden entlastet. Der junge Mann sei im März 2010 nicht an einem Herzfehler gestorben.

 Die Menschenrechtsgruppe "Augenauf" hat den Fall eingehend untersucht. Sie präsentierte heute in Zürich ein neues medizinisches Gutachten - das der Diagnose Herzfehler dezidiert widerspricht.

 Laut dem Anwalt der Hinterbliebenen liegt die wahrscheinliche Todesursache wohl in diesem lange dauernden Hungerstreik. "Der Betroffene hat mehr als ein Drittel seines Körpergewichts verloren. Es gab auch gewisse Folgen einer mangelnden Flüssigkeitszufuhr. Die Folgen dieses Hungers, verbunden mit dem grossen Stress einer Level-4-Ausschaffung, mit der ganzen Fesselung, das ist die wahrscheinliche Todesursache."

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Thuner Tagblatt 21.2.11

Nigerianer muss die Schweiz verlassen

 Region ThunEin in Steffisburg lebender Nigerianer muss die Schweiz verlassen. Die Rückkehr in sein Land sei ihm zuzumuten, entschied das Verwaltungsgericht.

 Der in Steffisburg lebende Nigerianer darf nicht in der Schweiz bleiben, obwohl er bereits seit zehn Jahren hier lebt und drei Jahre mit einer Schweizerin verheiratet war. Dies hat das Verwaltungsgericht entschieden. Vor gut zehn Jahren reiste der Mann "aus Angst um sein Leben", wie er selber angab, aus Nigeria in die Schweiz ein und stellte erfolglos ein Asylgesuch. Die Wegweisung konnte jedoch mangels Ausweispapieren nie vollzogen werden.

 Im Oktober 2005 heiratete er dann eine Schweizerin, woraufhin ihm der Aufenthalt in der Schweiz bewilligt wurde. Während seines Aufenthaltes in der Schweiz nahm der Nigerianer an einem Beschäftigungsprogramm, einem Sprachkurs und einem Bewerbungstraining teil. Ab 2006 arbeitete er an verschiedenen Orten temporär, vor drei Jahren fand er schliesslich eine Festanstellung. Weil seine Ehe mit der Schweizerin aber bereits Anfang 2008 scheiterte, verweigerte ihm das Amt für Migration 2009 die erneute Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung.

 Mindestens drei Jahre Ehe

 Dagegen erhob der Nigerianer Beschwerde bei der Polizei- und Militärdirektion und nun auch beim Verwaltungsgericht in Bern. Vergangenen Dienstag publizierte das Gericht seinen Entscheid. Darin erklärten die Richter zuerst die Rechtslage: "Ausländische Ehegatten haben Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung." Dieser Anspruch bleibt auch nach Auflösung der Ehe bestehen, sofern die Ehe mindestens drei Jahre gedauert hat und zudem eine erfolgreiche Integration vorliegt.

 Zu wenig lange verheiratet

 Die erste Voraussetzung - eine mindestens drei Jahre andauernde Ehe - sei in diesem Fall nicht erfüllt, es fehlen zehn Monate. Der Hinweis des Beschwerdeführers, er habe schon ein Jahr vor der Hochzeit mit seiner Ehefrau zusammengelebt, half ihm nicht weiter: "Die Berechnung der dreijährigen Dauer beginnt erst mit dem Eheschluss und endet mit der Aufgabe der Haushaltsgemeinschaft", erläuterte das Gericht.

 Rückkehr ist zumutbar

 Der Nigerianer machte geltend, dass eine Rückkehr nach Nigeria für ihn unzumutbar wäre. Das Gericht war anderer Meinung: "Er hat 30 Jahre dort gelebt und ist mit der Kultur und der Sprache seines Landes vertraut", heisst es im Urteil. Der Mann habe dort die Schule besucht und während zehn Jahren in einem gut bezahlten Job gearbeitet. "Es wird ihm ohne weiteres möglich sein, sich gesellschaftlich und wirtschaftlich in Nigeria wieder zu integrieren", befanden die Richter.

 Die vom Nigerianer behauptete Gefährdung der Wiedereingliederung ins Herkunftsland sei damit nicht gegeben. Mit Blick auf die familiären und freundschaftlichen Kontakte des Mannes könne man ausserdem nicht sagen, es bestehe eine solch enge Beziehung zur Schweiz, dass eine Rückkehr nach Nigeria unzumutbar wäre.

 Beschwerde abgewiesen

 Auch sämtliche weiteren Vorbringen des Mannes konnten die Richter nicht überzeugen: "Die Vorinstanz hat korrekt entschieden." Es liege auch kein Härtefall im Sinne einer persönlichen Notlage vor.

 Das Interesse an einer restriktiven Einwanderungspolitik erlaube es den Ausländerbehörden, die Voraussetzungen für einen Härtefall streng zu handhaben, so die Richter. Sie wiesen deshalb die Beschwerde des Nigerianers ab und setzten ihm eine neue Ausreisefrist an. Ihm bleibt nun als letzte Möglichkeit der Gang ans Bundesgericht in Lausanne.

 Nora Scheidegger

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Blick am Abend 21.2.11

Nigerianischer Dealer stirbt in Zürcher Zelle

 TOT

 Der 30-jährige Afrikaner hat zuvor mit Drogen gefüllte Fingerlinge geschluckt.

 In einer Zelle der Zürcher Polizeikaserne ist heute Morgen ein Häftling tot aufgefunden worden. Der 30-jährige Nigerianer war gestern Sonntag wegen Verdachts auf Drogendelikte verhaftet worden, wie die Kantonspolizei heute Mittag mitteilte.

 Erste Abklärungen hätten den dringenden Verdacht nahegelegt, dass der Mann sogenannte Fingerlinge gefüllt mit Drogen geschluckt hatte. Ob solch ein Fingerling geplatzt ist, will nun das Institut für Rechtsmedizin abklären.

 Bereits am 17. März 2010 starb ein nigerianischer Häftling im Ausschaffungsgefängnis am Zürcher Flughafen. Die Schweiz sistierte darauf die Rückschaffungen. SDA/bö

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Basler Zeitung 21.2.11

Überfüllte Gefängnisse

 Behörden bauen lange Häftlings-Wartelisten ab

 Mischa Hauswirth

 Im Ausschaffungsgefängnis Bässlergut schafft Basel-Stadt weitere Plätze für den Strafvollzug. Auch im Baselbiet suchen die Behörden Lösungen für einen raschen Massnahmenvollzug.

 Im vergangenen Jahr verschärfte sich die Situation: Die Gefängnisse waren schweizweit bereits ausgebucht, und die Liste mit Häftlingen, die auf den Antritt ihres Strafvollzugs warteten, wurde länger und länger. Ende 2010 fehlten in den Nordwest- und Innerschweizer Kantonen rund hundert Massnahmevollzugsplätze (die BaZ berichtete).

 Statt in eine der Deutschschweizer Haftanstalten, Thorberg, Pöschwies oder Lenzburg, überführt zu werden, müssen Häftlinge in den Untersuchungs- und Bezirksgefängnissen bleiben. Klaus Mannhart, Sprecher des Justiz- und Sicherheitsdepartements Basel-Stadt, sagt: "Die Insassen bleiben länger als geplant in Untersuchungshaft und blockieren die Zellen."

 Rückstau

Die Gefängnisse in der Region sind aber nicht für den Strafvollzug eingerichtet. Dies hat zur Folge, dass die Häftlinge nicht arbeiten können, wie dies in Strafanstalten üblich ist. Verschärfend kommt hinzu, dass die 120 Gefängnisplätze, über die Basel-Stadt in Bostadel (ZG) verfügt, ausgebucht sind und der Bedarf in den vergangenen Monaten um bis zu dreissig Plätze höher lag. Die Folge: Im Basler Gefängnis Waaghof komme es zu einem Rückstau, so Klaus Mannhart.

 Eine ähnlich angespannte Situation zeigt sich im Baselbiet. Dominik Fricker von der Sicherheitsdirektion Basel-Landschaft spricht ebenfalls von einem "Rückstau an Klienten". Im 2010 seien die Bezirksgefängnisse sehr stark belegt gewesen, so Fricker. Und die Wartefristen für geschlossene Anstalten seien nach wie vor lang. Fricker sagt: "Dies kann sich erfahrungsgemäss aber rasch nach unten oder oben verändern."

 Der Kanton Basel-Stadt reagiert nun auf den Engpass. Im März werden zwölf Gefängnisplätze im Ausschaffungsgefängnis Bässlergut für den Massnahmenvollzug zur Verfügung stehen. Bisher waren die Plätze an andere Kantone vergeben gewesen. Der Kanton Basel-Landschaft wendet zur Entlastung wenn möglich besondere Haftmassnahmen wie elektronische Fussfesseln oder gemeinnützige Arbeit an.

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Sonntagszeitung 20.2.11

"Vorsicht vor Fehlanreizen"

 Polizeidirektoren-Präsidentin Karin Keller-Sutter warnt vor Rückkehrhilfe an renitente Asylsuchende

 Zürich Die St. Galler Polizeidirektorin Karin Keller-Sutter reagiert skeptisch auf die Absicht des Bundesamtes für Migration (BFM), Rückkehrhilfen an renitente Asylsuchende und Kleinkriminelle ohne Aufenthaltsstatus zu zahlen: "Wir müssen aufpassen, dass wir nicht auf Fehlanreize setzen." Immerhin würde so regelwidriges Verhalten belohnt.

 Als Präsidentin der Konferenz der kantonalen Polizei- und Justizdirektoren ist Keller-Sutter eine zentrale Figur in der Migrationspolitik. Sie plädiert dafür, dass ein solches Projekt erst als Versuch durchgeführt und genau evaluiert wird: "Wenn das BFM zeigen kann, dass Fehlanreize verhindert werden können, kann man die Sache genauer anschauen." Letztlich sei die Gewährung von Rückkehrhilfen immer eine Gratwanderung.

 Gemäss "Tages-Anzeiger" lässt BFM-Direktor Alard Du Bois-Reymond zurzeit prüfen, ob der Bund auch Leuten bei der Rückkehr in ihr Heimatland helfen soll, die in Ausschaffungs- oder Durchsetzungshaft sitzen.

 Dazu müsste die zugrunde liegende Verordnung umgeschrieben werden. Rückkehrhilfen an straffällig gewordene Asylsuchende schliesst die Regelung nicht aus.  

Matthias Halbeis

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Sonntagsblick 20.2.11

Schweiz will Dauer der Asylverfahren um zwei Drittel verkürzen

 Nach einem Jahr bleiben oder raus!

 VON  MARCEL ODERMATT

 Eine neue Studie zeigt: Es dauert im Schnitt 1000 Tage, bis ein abgewiesener Asylbewerber das Land verlässt.

 Die Unzufriedenheit in der Schweizer Asylpolitik ist seit Jahren gross. Vor allem darüber, dass die Verfahren zu lange dauern. Zu diesem Befund kommt nun auch SP-Justizministerin Simonetta Sommaruga - ebenso wie ihre bürgerlichen Vorgänger Eveline Widmer-Schlumpf (BDP), Christoph Blocher (SVP), Ruth Metzler (CVP) und Arnold Koller (CVP).

 Und wieder setzt das Parlament den Bundesrat unter Druck.

 Bis Ende März soll Bundesrätin Sommaruga im Auftrag der staatspolitischen Kommission des Ständerats prüfen, wie Asylverfahren wesentlich verkürzt werden können.

 Inzwischen hat das zuständige Bundesamt für Migration (BFM) erstmals mit einer Studie untersucht, wie lange Asylbewerber in der Schweiz bleiben, bis ein rechtskräftiger Entscheid gefällt ist. Die Ergebnisse werden in den nächsten Wochen präsentiert. Und sie lassen aufhorchen:

 Wenn ein Asylbewerber Rechtsmittel gegen einen ablehnenden Bescheid einlegt, bleibt er durchschnittlich 750 Tage in der Schweiz.

 Von der Antragstellung bis zur Ausreise vergehen in diesen Fällen rund 1000 Tage.

 Ein unhaltbarer Zustand, wie BFM-Direktor Alard du Bois-Reymond im Gespräch mit SonntagsBlick darlegt:

 Herr du Bois-Reymond, drei Jahre sind eine lange Zeit.

 Alard du Bois-Reymond: Das macht die Glaubwürdigkeit des Asylsystems kaputt. In dieser langen Zeit fangen die Leute an, Kontakte zu knüpfen, Deutsch zu lernen oder einen Job zu finden. Ihr Umfeld lernt diese Personen kennen und schätzen. Wenn wir dann die Ausweisung vollziehen wollen, das heisst diese Personen aus dem Land schicken, dann versteht das niemand mehr. Deshalb müssen wir viel schneller werden.

 Wie schnell?

 Unser Ziel ist: Ein Verfahren muss von der Einreichung des Gesuchs bis zum Vollzug unter einem Jahr abgewickelt werden können.

 Wie wollen Sie das erreichen?

 Wir wollen nicht, dass Personen, die keine Flüchtlinge sind, in die Schweiz kommen und lange bleiben. Es muss aber Raum geschaffen werden für tatsächliche Flüchtlinge. Die vielen Probleme im Asylbereich erschweren es, den wirklich Schutzbedürftigen zu helfen.

 Aber auch, dass viele rechtskräftig Abgewiesene einfach in der Schweiz bleiben, macht das Asylwesen unglaubwürdig.

 Ich bin mit Ihnen einverstanden. Unsere Erfahrung ist, dass diese Leute viel besser kooperieren, wenn der Entscheid schnell gefällt wird. Aber das ist einfacher gesagt als getan. Wenn Länder wie jetzt zum Beispiel Algerien diese Personen nicht zurücknehmen, dann haben wir ein Problem.

 Haben Sie hier beim BFM einen möglichen Lösungsansatz?

 Eine Möglichkeit sind Migrationspartnerschaften, wie wir sie gerade mit Nigeria abgeschlossen haben. Dies kann helfen.

 Nach Nigeria wurden ja wieder Leute zurückgeschafft. Finden weitere Flüge statt?

 Ja, es wird weitere geben.

 Nigerianer bekommen maximal 6000 Franken Rückkehrhilfe. Viele meinen, das sei zu viel.

 Was ist die Alternative? Wir wollen Anreize setzen, damit die Personen freiwillig zurückkehren. Zahlen wir Geld, sind die Chancen gut, dass sie ausreisen. Bleiben sie hier, besteht die Gefahr, dass sie straffällig werden. Das kostet uns viel mehr. Wie soll ein Nigerianer, der illegal hier ist, seinen Lebensunterhalt legal verdienen? Ein Tag im Gefängnis kostet den Staat 400 Franken. Dann zahlen wir lieber 6000 Franken.

 Es gibt Organisationen, die abgewiesene Asylbewerber dabei unterstützen, im Land zu bleiben.

 Es ist wichtig, dass uns Organisationen wie Amnesty International auf die Finger schauen. Manchmal übertreiben sie aber. Ich habe kein Verständnis dafür, dass die Flüchtlingshilfe jetzt gegen die Nothilfe protestiert. Wir geben diesen Leuten sogar noch Geld und unterstützen sie vor Ort mit Ausbildungen, wenn sie das Land verlassen. Ich verstehe nicht, dass sich gewisse Organisationen für Flüchtlinge einsetzen, die gar keine sind.

 Warum muss die Schweiz eigentlich im Verhältnis fünfmal mehr Asylbewerber aufnehmen als Deutschland oder England?

 Das Dublin-Abkommen hilft, die Lasten zu verteilen. Heute können wir Leute, die in einem anderen Land ein Gesuch stellten, wieder dorthin zurückschicken, im letzten Jahr waren es 5000 Asylbewerber; übernommen haben wir rund 800. Aber schauen Sie die zwei Länder Griechenland und Italien an. Diese Länder haben viel grössere Probleme als wir. Ein weitergehender Lastenausgleich als Dublin ist deshalb nicht realistisch.

 Sollte sich du Bois-Reymond durchsetzen, steht die Schweizer Asylpolitik vor einer Trendwende. Ihr Augenmerk soll von Wirtschaftsflüchtlingen auf wirklich Verfolgte gerichtet werden. Dazu passt auch der jüngste Vorstoss seiner Chefin Simonetta Sommaruga, die 35 Kontingentsflüchtlinge aus dem Irak und Pakistan aufnehmen will - zum Teil verfolgte Christen.

 Bei diesem Ansatz werden Flüchtlinge - insbesondere Frauen und Kinder - direkt in ihren Heimatländern ausgewählt, dann bringt man sie in die Schweiz. BFM-Direktor du Bois-Reymond: "Es stimmt, dass jene, die unsere Hilfe am meisten benötigen würden, oftmals gar nicht in die Schweiz kommen."

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Bund 19.2.11

Rückkehrhilfe auch für Häftlinge?

 Der Bund lässt prüfen, ob auch Asylsuchende in Ausschaffungs- und Durchsetzungshaft finanzielle Unterstützung für die Heimkehr bekommen sollen. Bislang wurde Rückkehrhilfe bei "missbräuchlichem Verhalten" nicht gewährt.

 Fabian Renz

 Der Bund setzt heute auf eine Zuckerbrot-und-Peitsche-Kombination, um Asylsuchende, deren Gesuch abgelehnt wurde, zur Rückkehr in ihre Heimatländer zu bewegen. Als Peitsche stehen etwa verschiedene Formen der Inhaftierung zur Verfügung. Das Zuckerbrot hingegen, die sogenannte Rückkehrhilfe (je nach Nationalität bis zu 6000 Franken pro Ausreisendem), gibt es nur unter bestimmten Bedingungen. Keinerlei Anspruch darauf haben "Personen, die straffällig geworden sind oder die sich während oder nach dem Verfahren offensichtlich missbräuchlich verhalten", wie es auf der Website des Bundesamts für Migration (BFM) heisst.

 Nun erwägt das BFM, von diesen strikten Grundsätzen abzurücken, wie BFM-Direktor Alard du Bois-Reymond bestätigt. Er lässt im Rahmen eines Prüfungsauftrags abklären, ob man individuelle Rückkehrhilfe künftig auch Asylsuchenden gewähren soll, die in Ausschaffungs- oder gar Durchsetzungshaft sitzen. Solche Zwangsmassnahmen werden gegenüber Ausreisepflichtigen angewandt, die ihre Wegweisung durch renitentes Verhalten verhindern. Um ihnen künftig finanzielle Hilfe gewähren zu können, müsste die zugrunde liegende Verordnung umgeschrieben werden.

 Weniger Haftkosten

 "Wir haben Häftlinge, bei denen wir wissen: Erhielten sie finanzielle Unterstützung, dann würden sie in ihre Heimatländer zurückkehren", erläutert du Bois-Reymond. Die Schweiz könnte sich dadurch die durch die Haft entstehenden Kosten und Umstände sparen.

 Grundsätzlich wolle man "kooperatives Verhalten" belohnen, betont der BFM-Direktor. Häftlinge könnten also nicht mit dem Maximalbeitrag von 6000 Franken rechnen, der für die Rückkehrhilfe einer einzelnen Person vorgesehen sei. Gleichzeitig müsste der Zustupf doch hoch genug sein, damit ein monetärer Ansporn zur Rückkehr entstehe.

 Vorschlag löst Kontroversen aus

 Du Bois-Reymonds Vorschlag polarisiert. Unterstützung findet er bei der SP und bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. "Die Idee klingt sinnvoll", sagt SP-Nationalrat Andy Tschümperlin (SZ). "Es nützt allen, wenn man die Haftzeit verkürzen kann." Laut Beat Meiner, Generalsekretär der Flüchtlingshilfe, entsprechen die BFM-Pläne einer alten Forderung seiner Organisation. "Viele Asylsuchende haben sich hoch verschuldet, um in die Schweiz zu kommen. Ein Geldbeitrag kann einen Anreiz für die Heimkehr schaffen."

 Vehementer Widerstand kommt dafür vom Ausländerexperten der FDP, Nationalrat Philipp Müller (AG). "Die Idee des BFM liefe darauf hinaus, dass man jene Asylsuchenden belohnt, die sich unkooperativ verhalten. Das ist völlig daneben, da fehlt mir wirklich jedes Verständnis." Für Müller ist vielmehr angezeigt, das System der Rückkehrhilfe grundsätzlich auf seine Effektivität hin zu überprüfen und gegebenenfalls zurückzufahren. Er werde in der kommenden Frühjahrssession einen entsprechenden Vorstoss einreichen.

 Programm für Kleinkriminelle

 Das BFM denkt noch über ein weitergehendes Projekt nach - eines, bei dem sogar straffällig gewordene Asylsuchende von Rückkehrhilfe profitieren könnten. Laut du Bois-Reymond prüft man derzeit zusammen mit dem Kanton Genf ein Rückkehrhilfeprogramm, das dazu dienen soll, notorische Kleinkriminelle aus Nordafrika loszuwerden. In Genf und Waadt bestehe ein akutes Problem mit Asylsuchenden aus dem Maghreb, die straffällig geworden seien - und die ihre Ausschaffung durch Verneblung ihrer Identität und Staatszugehörigkeit blockierten.

 Das angedachte Programm sähe vor, dass diese Personen bei einer Rückkehr in ihre Herkunftsländer von spezifischen Integrationsprojekten profitieren könnten, welche von Bund und Kantonen finanziert würden. Für ein solches Programm wäre keine Verordnungsänderung notwendig.

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 Ausreise gegen Geld

 Wie die Rückkehrhilfe funktioniert

 Bares für einen Neuanfang zu Hause: Die Rückkehrhilfe wurde in den 90er-Jahren nach dem Bosnien-Krieg lanciert, um den Zehntausenden von Bosniern die Rückkehr in ihre Heimat schmackhaft zu machen. 10 000 Menschen meldeten sich damals für den finanziellen Zustupf. Vom Programm für Kosovo profitierten gar 40 000 Personen.

 Grundsätzlich existieren heute zwei Formen von Rückkehrhilfe: zum einen die individuelle, die auf 3000 Franken pro Person limitiert ist und die unabhängig von der Nationalität gewährt werden kann. Zum andern gibt es für bestimmte Staaten spezielle Länderprogramme, beispielsweise für Nigeria, dessen Emigranten kaum je einen anerkannten Asylgrund präsentieren können. Sie bekommen bis zu 6000 Franken vom Bund, sofern sie nachweisen, dass sie in ihrer Heimat ein Geschäft aufbauen wollen oder eine Ausbildung antreten. Nigeria ist derzeit das wichtigste Herkunftsland von Asylsuchenden in der Schweiz. Weitere Länderprogramme laufen derzeit etwa für Georgien und den Irak.

 Hilfe für Schulen und Betriebe

 Rückkehrhilfe kann beantragen, wer einen abschlägigen Asylbescheid bekommen hat. Daneben dürfen aber auch anerkannte Flüchtlinge, Opfer von Menschenhandel oder ausgebeutete Tänzerinnen um Geld nachsuchen.

 Zusätzlich zu den individuellen Rückkehrhilfeleistungen bietet die Schweiz in machen Ländern sogenannte Strukturhilfe an: Sie fliesst in Projekte für Schulen und Kleinbetriebe und in Programme zur Bekämpfung von Menschenhandel.

 Politisch geraten die Rückkehrhilfe und die Höhe der entsprechenden Leistungen immer wieder unter Druck. Grund dafür sind in erster Linie Missbrauchsfälle. (vv)

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gr.be.ch 16.2.11

Fragwürdige Bedingungen bei der Ausschaffungspraxis
Geschäfts-Nr.:     2010-9504
Geschäftstyp:     Interpellation 155-2010
Eingereicht durch:     Schärer Corinne Debora, Grüne, Bern  
Federführung:     POM Polizei- und Militärdirektion
Dringlichkeit beantragt:     Nein  
Vorstoss eingereicht am:     08.09.2010
http://www.gr.be.ch/etc/designs/gr/media.cdwsbinary.DOKUMENTE.acq/a1d5ecefec5147a9b44aaccd67ff3ba3-332/2/PDF/2010-9504-Vorstossantwort-D-35186.pdf

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MIGRATION CONTROL
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telezueri.ch 28.2.11

Flüchtlingswelle: Hans Hollenstein über die Konsequenzen für den Kanton Zürich
http://www.telezueri.ch/index.php?id=6820&show_uid=9385&yyyymm=2011.03&cHash=3063340d46

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sf.tv 28.2.11

Schweizer Grenzwächter kontrollieren in Süd-Italien

sda/sf/rufi

 Heute werden zwei Schweizer Grenzwächter nach Italien entsandt, um die erwartete Flüchtlingswelle aus Nordafrika zu kontrollieren. Die Schweiz kommt einer Anfrage der europäischen Grenzagentur Frontex nach. Es handelt sich um den ersten Einsatz von Schweizer Grenzwächtern an der Schengener Aussengrenze.

 Die Experten sind entsandt worden, um im süditalienischen Festland Flüchtlinge zu kontrollieren. Dies bestätigt Walter Pavel, Sprecher der eidgenössischen Zollverwaltung gegenüber "tagesschau.sf.tv".

 Die beiden Grenzwächter aus dem Wallis und dem Jura würden eingesetzt, um zu prüfen, ob die mitgeführten amtlichen Dokumente echt seien. Zudem sollen bei diesen Kontrollen Herkunft und Reiseroute der Migranten abgeklärt und Erkenntnisse über Schleuser gewonnen werden.

 Ein dritter Experte stehe auf Abruf bereit, wie Pavel sagt. Dieser dritte Mann aus dem Tessin ist zur Überwachung aus der Luft und der Auswertung der Bilder von technischen Hilfsgeräten, etwa Wärmebildkameras, vorgesehen.

 Die Einsatzführung vor Ort liegt bei den italienischen Behörden. Der Einsatz ist in einer ersten Phase auf vier Wochen befristet.

 Erster Einsatz der Schweiz

 Die Schweiz kann seit Ende Januar operativ bei Frontex mitwirken, da das Grenzwachtkorps und die EU-Agentur zu diesem Zeitpunkt die letzte dafür nötige Vereinbarung unterzeichnet haben.

 Für Einsätze im Ausland sind 30 Schweizer Grenzwächterinnen und Grenzwächter ausgebildet. Maximal kommen jeweils fünf bis sechs Mitarbeitende zum Einsatz.

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BZ 28.2.11

Justizdirektoren fordern: Flüchtlinge gleich zurückweisen

 KantoneKarin Keller-Sutter, Präsidentin der kantonalen Justizdirektoren will, dass der Bund Wirtschaftsflüchtlinge aus Tunesien gar nicht erst auf die Kantone verteilt, sondern in einem Bundeszentrum unterbringt oder gleich zurückweist.

 Die oberste Verantwortliche für das Schweizer Flüchtlingswesen warnt vor Panik. Was auf die Schweiz zukommt, ist laut Bundesrätin Simonetta Sommaruga noch unklar. Die Kantone nehmen aber den Bund in die Pflicht: Wirtschaftsflüchtlinge soll er sofort zurückweisen. In mehreren Interviews in der Sonntagspresse sagte Karin Keller-Sutter, Präsidentin der kantonalen Justizdirektoren, der Bund dürfe Wirtschaftsflüchtlinge namentlich aus Tunesien gar nicht erst auf die Kantone verteilen, sondern müsse sie umgehend zurückweisen. Gefragt sei vor allem auch die EU, hielt die St. Galler Regierungsrätin fest: Sie müsse dafür sorgen, "dass Personen, die kein Recht auf Asyl haben, nicht in einen anderen europäischen Staat gelangen können".

 Notsituation möglich

 Die Kapazität beim Bund selbst ist knapp: Derzeit stünden Plätze für 1200 bis maximal 1800 Asylbewerber zur Verfügung, um die ersten Verfahrensschritte möglichst rasch abzuschliessen, sagte Eveline Gugger Bruckdorfer, Vizedirektorin des Bundesamts für Migration (BFM), in einem Interview mit der Zeitung "Sonntag". "Sollten sehr viele Flüchtlinge kommen, sind wir in einer absoluten Notsituation", fügte sie an. In diesem Fall müssten Zivilschutzanlagen umgenutzt werden. Der Bund suche zwar nach Möglichkeiten, "letztlich müssten aber die Kantone ihre Strukturen ausbauen".

 Justizministerin Simonetta Sommaruga versuchte in der "Samstagrundschau" auf Schweizer Radio DRS, die Kantone zu beruhigen: "Wir werden alles dafür tun, dass wir die Leute nicht in die Kantone verteilen müssen." Sie räumte jedoch ein, dass wahrscheinlich "eine schwierige Situation" auf die Schweiz zukomme. Das Treffen der betroffenen Bundesstellen, den Kantonen und der Armee sei ein erster wichtiger Schritt im Hinblick auf ankommende Flüchtlinge gewesen, sagte sie. Niemand wisse aber, wie sich die Lage entwickelt. Justizministerin Sommaruga und auch Keller-Sutter machten aber auch klar, dass es sehr wohl Menschen gebe, etwa aus Libyen, die Asylgründe vorlegen könnten. Diese könnten auf die Kantone verteilt werden.

 Hilfe über IKRK

 Vorerst sei aber Hilfe vor Ort nötig, sagte Sommaruga. Tunesien und Ägypten bräuchten direkte Unterstützung, damit sie mit den vielen Menschen umgehen könnten, die aus Libyen flüchten. Nur wenn beim Aufbau der dortigen Strukturen geholfen werde, könnten die geflüchteten Menschen dereinst wieder in ihre Heimat zurückkehren. Nicht vergessen gehen dürfe, was auf den Strassen in Libyen derzeit passiere, sagte Sommaruga weiter. Das sei "grauenhaft". Auch die Schweiz müsse ihre Verantwortung wahrnehmen: "Zusammen mit anderen Ländern müssen wir schauen, wie wir helfen können."

 Einen ersten Schritt dazu kündigte am Samstag das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) an. Je ein Team der humanitären Hilfe wird an die ägyptische und die tunesische Grenze zu Libyen geschickt. Sie sollen die Lage abklären und erste Sofortmassnahmen einleiten.

 Schweizer Geschäftsträger zurück

 Den umgekehrten Weg hat der Schweizer Geschäftsträger ad interim in Libyen eingeschlagen;   er hat Tripolis verlassen. Der Diplomat befinde sich auf dem Weg in die Schweiz, teilte das EDA gestern mit. Sobald es die Situation erlaube, werde wieder ein Vertreter nach Tripolis entsandt, hiess es weiter. Die meisten in Libyen wohnhaften Schweizer entschieden sich unterdessen in dem nordafrikanischen Land zu bleiben. Gegenwärtig befinden sich nach Kenntnissen des EDA noch 42 Schweizer - davon 40 Doppelbürger - in Libyen.
 sda

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Bund 28.2.11

Wer nur Arbeit sucht, soll rasch abgewiesen werden

 Karin Keller-Sutter will verhindern, dass viele Wirtschaftsflüchtlinge in die Schweiz kommen.

 Verena Vonarburg

 Das Flüchtlingscamp im italienischen Lampedusa ist voller junger Männer aus Tunesien, die die Umwälzungen in ihrer Heimat zum Anlass nehmen, um nach Europa aufzubrechen - in der Hoffnung auf einen Job. Höchstwahrscheinlich hätten die wenigsten von ihnen Aussicht auf Asyl in der Schweiz, sagt Karin Keller-Sutter, Präsidentin der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren, in der "SonntagsZeitung".

 Michael Glauser, Sprecher des Bundesamts für Migration, verweist auf Informationen aus Lampedusa, wonach es sich bei den Flüchtlingen vorwiegend um arbeitslose Tunesier handle: "Gemäss ihren eigenen Angaben sind es zum grössten Teil Wirtschaftsflüchtlinge". Es bestehe ein Interesse, dass man die Gesuche jener Personen, "bei denen der Fall klar ist, prioritär behandelt und die Betreffenden möglichst rasch zurückschickt".

 Keller-Sutter will wenn immer möglich verhindern, dass diese Menschen in die Schweiz einreisen. Die Flüchtlinge sollten "beispielsweise schon auf Lampedusa geprüft werden", so die St. Galler Justizdirektorin. Der Fachausschuss "Asylverfahren und Unterbringung", dem verschiedene Bundesstellen angehören, wird innert zweier Wochen abklären, ob mit der EU und Italien eine solche Lösung getroffen werden kann.

 Die Kantone wehren sich schon vorsorglich dagegen, dass ihnen allenfalls Wirtschaftsflüchtlinge aus Nordafrika zugeteilt werden. Alle Asylbewerber werden zunächst einer Unterkunft des Bundes zugeteilt. "Der Idealfall ist, dass man dort so rasch es geht Entscheide fällen kann", sagt Glauser vom Migrationsamt. Gleichzeitig sei aber nicht auszuschliessen, dass sich unter den Tunesiern auch Männer befänden, die einen Asylgrund vorweisen könnten.

 "Eine humanitäre Tragödie"

 Hier setzt auch Adrian Hauser, Sprecher der Flüchtlingshilfe, an. Er verlangt eine "sorgfältige und faire Einzelfallprüfung" und warnt vor einer Stigmatisierung der Flüchtlinge aus der Krisenregion. Eine Asylprüfung bereits in Lampedusa beurteilt Hauser skeptisch. Italien sei jetzt schon überfordert von der Flüchtlingswelle, und niemand dürfe "durch die Maschen fallen".

 Justizministerin Simonetta Sommaruga sprach in der "Samstagsrundschau" von Radio DRS von schwierigen Situationen, die wahrscheinlich auch auf die Schweiz zukämen. Sie sagt aber ebenso, man müsse "aufpassen, nicht Panik zu machen". Man wisse nicht, wie sich die Situation entwickeln werde. Die Bundesrätin ruft dazu auf, keinesfalls zu vergessen, was in den Ländern selbst, etwa in Libyen, geschehe. Sommaruga spricht von einer "humanitären Tragödie". Auch die Schweiz sei gefordert, zu helfen.

 Laut ihren Informationen aus Brüssel anlässlich eines Treffens mit den Justiz- und Innenministern der Schengen-Staaten leben in Libyen ungefähr 2,5 Millionen Flüchtlinge aus Schwarzafrika. Da die libyschen Grenzen nach Tunesien und Ägypten offen sind, flüchten sehr viele von ihnen nun dorthin weiter.

 In Bezug auf die Schweiz verspricht Sommaruga, man werde alles daransetzen, die Asylverfahren rasch abzuschliessen. In erster Linie sei Hilfe in Tunesien selbst wichtig. Was Flüchtlinge aus Libyen betreffe, werde man eventuell Ausnahmelösungen treffen, wie man sie während der Kosovo-Krise fand, als Zehntausende vorübergehend in der Schweiz bleiben durften.

 Immer wieder wird diskutiert, ob in der Schweiz die Armee unterstützend eingesetzt werden könnte. FDP-Nationalrat Philipp Müller sagt im "Sonntag", die Armee wäre seiner Einschätzung nach in der Lage, Unterkünfte für 7000 Flüchtlinge anzubieten. Das Verteidigungsdepartement gibt dazu keinen Kommentar ab und verweist auf die Arbeit der Asylgruppe des Bundes. Jürg Noth, Chef des Grenzwachtkorps, spricht sich in der "SonntagsZeitung" gegen Armeeangehörige an der Grenze aus. Dafür sei speziell ausgebildetes Personal erforderlich.

 Der interimistische Geschäftsträger der Schweizer Botschaft in Tripolis ist laut Aussendepartement am Sonntagabend aus Libyen ausgereist. Die meisten in Libyen wohnhaften Schweizer entschieden sich, im nordafrikanischen Land zu bleiben. Bis Samstag unterstützte die Schweizer Botschaft neun Schweizer bei der Ausreise.

 Weitere Berichte Seiten 2 und 3

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NZZ 28.2.11

Migrations-Aussenpolitik gewinnt an Gewicht

 Die interdepartementale und internationale Zusammenarbeit wird auch bei den Libyen-Flüchtlingen relevant sein

 Der Umgang mit regulärer und irregulärer Migration und die Hilfe im Ausland sind näher zusammengerückt. Botschafter Eduard Gnesa fördert die Nutzung von Synergien und den Dialog auf internationaler Ebene.

 C. W. · Als sich Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf im Mai 2009 vom damaligen Direktor des Bundesamts für Migration, Eduard Gnesa, trennte und ihn zum Sonderbotschafter für internationale Migrations-Zusammenarbeit ernennen liess, erschien der neue Posten als Konstrukt, dessen Rolle noch zu finden war. Inhaltlich entspricht die Aufwertung des externen Aspekts der Asyl- und Ausländerpolitik aber einer längerfristigen und sinnvollen Tendenz.

 Umfassende Sicht

 Dass in Migrationsfragen Kooperation der Staaten gefragt ist, ergibt sich schon aus der Natur der Sache. So bringt es letztlich wenig, wenn sich die europäischen Staaten Asylbewerber gegenseitig zuzuschieben versuchen. Oder es kann die Rückführung von Abgewiesenen bei den Herkunftsstaaten auch deshalb auf Widerstand stossen, weil deren Einwohnerbehörden technische Unterstützung benötigen. Wenn von Armutsflüchtlingen die Rede ist, stellt sich die Frage nach der Rolle der Entwicklungshilfe. Und bei der regulären Arbeitsmigration wäre darauf zu achten, dass sie nicht nur dem Einwanderungsland dient, sondern auch dem Herkunftsland einen Nutzen in Form von Geld (Rimessen) oder beruflicher Erfahrung bringt.

 Allmählich sind auf der Grundlage solcher Zusammenhänge verschiedene Instrumente entwickelt worden. Im europäischen Rahmen ist der Einbezug in das Dublin-System zur Verhinderung von Zweitgesuchen das wichtigste Element. Es wird gegenwärtig durch die Überforderung Griechenlands und die erwarteten Flüchtlinge aus dem Maghreb auf eine Probe gestellt. Nach dem Ende des Bosnien- und des Kosovokrieges wurde in grossem Stil und mit Erfolg Rückkehr- und darauf abgestimmte Wiederaufbauhilfe geleistet. Gestützt auf das neue Ausländergesetz ist die Schweiz bisher vier Migrationspartnerschaften eingegangen: mit Bosnien, Serbien, Kosovo und kürzlich mit Nigeria. Es handelt sich um Absichtserklärungen über eine breite und ausgewogene Kooperation. Am letzten Mittwoch hat der Bundesrat einen Bericht zur Kenntnis genommen, der den Stand der Migrations-Zusammenarbeit darlegt.

 Globaler Dialog

 Massnahmen im Ausland sind Sache mehrerer Stellen, vor allem des Bundesamts für Migration (BfM), der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) und der Abteilung für menschliche Sicherheit im Aussendepartement. Eduard Gnesa wirkt an der Koordination mit und nimmt Mandate nach aussen wahr. Er vertritt die Schweiz beim Uno-Hochkommissariat für Flüchtlinge, bei der Internationalen Organisation für Migration und im Globalen Forum für Migration und Entwicklung. Das Letztgenannte besteht seit 2006 als unverbindliche Plattform und wird inzwischen von 160 Staaten benützt. Wie Gnesa erläutert, ist in dem Forum eine sachbezogene Diskussion möglich - zumal heute viele Staaten (etwa die Türkei, Mexiko oder Mali) zugleich Auswanderungs-, Einwanderungs- und Durchgangsländer sind. Die jährlichen Konferenzen dienen der Sensibilisierung für Probleme und dem Austausch konkreter Erfahrungen. Letztes Jahr ging es auch um Fragen wie Statistiken, die Information von Auswanderungswilligen zur Vermeidung von Enttäuschungen oder die Aufsicht über Rekrutierungsfirmen. Gegenwärtig hat die Schweiz den Vorsitz des Forums inne. Sie führt statt eines grossen Treffens mehrere regionale Tagungen durch, um den Praxisbezug noch zu verstärken. Ausserdem wird im Mai in der Uno eine informelle Debatte stattfinden.

 Viele Aktivitäten, kein Budget

 Die Schweiz selber lässt gemäss ihrem Ausländergesetz aus Nicht-EU-Ländern nur besonders qualifizierte Arbeitskräfte zu, bietet aber die Möglichkeit von Aus- und Weiterbildungsaufenthalten. Sie könnte zum Beispiel an 18-monatigen Stages von philippinischem Pflegepersonal interessiert sein, sagt Gnesa; ein geltendes Abkommen wurde noch wenig benützt. Für Nigerianer prüft man Möglichkeiten landwirtschaftlicher Praktika. Ausgewählte Kosovaren erhalten einen Studienplatz. Im Weiteren kann man den "Migrationspartnern" Expertisen bieten. Kosovo wünschte beispielsweise Beratung bei der Bekämpfung des Menschenhandels.

 Während solche Aktionen und die Programme der Rückkehrhilfe einen engen Bezug zur Migration in die Schweiz haben, ist die seit langem geleistete Hilfe an Flüchtlinge in der Nähe ihre Herkunftsstaats allgemeiner ausgerichtet. Neuere Beispiele sind Projekte für Somalier in Jemen und der Schulbau für Iraker in Syrien. Als etwas aussergewöhnlichen Fall erwähnt Gnesa den freiwilligen Rücktransport von Äthiopiern, die an der Grenze zwischen Jemen und Saudiarabien blockiert waren. Seit einigen Jahren wird in Marokko gestrandeten Migranten Hilfe geboten. Solche Aufgaben könnten sich nun auch in Libyen stellen, wo eine enorme Zahl nach Europa strebender afrikanischer Migranten in Lagern lebt.

 Für die Steuerung und Koordination der Massnahmen bestehen die "interdepartementale Arbeitsgruppe Migration" und weitere Gremien. Deren Struktur soll nun etwas vereinfacht werden. Offen ist teilweise die Frage der Finanzierung. Die Deza wehrte sich zumindest in der Vergangenheit dagegen, ihre langfristigen Prioritäten und ihre für die Armutsbekämpfung bestimmten Mittel mit Blick auf spezifische Interessen der Schweiz zu verlagern, baut heute allerdings selber ein "Globalprogramm Migration" auf. Für den Westbalkan hatte der Bundesrat 1999 dem BfM einen mehrjährigen Rahmenkredit von rund 200 Millionen Franken bewilligt. In Zukunft müssten migrationspolitische Projekte entweder aus einem neuen Kredit mit weiter gefasster Zweckbestimmung oder vermehrt aus den Budgets der beteiligten Ämter finanziert werden. Ohne Ressourcen lässt sich der vielversprechende Weg jedenfalls nicht beschreiten.

 Meinung & Debatte, Seite 17

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Limmattaler Tagblatt 28.2.11

Warten auf die Flüchtlings-Zahlen

Matthias Scharrer

 Flüchtlinge Die Anzahl der Asylgesuche aus Nordafrika dürfte steigen. "Der Kanton Zürich ist gewappnet", heisst es dazu beim Kanton Zürich.

 Der Bund erwartet angesichts der Situation in Libyen und Nordafrika insgesamt eine Zunahme der Asylgesuche. Noch ist unklar, wie schnell dies eintritt - und wie stark der Kanton Zürich davon betroffen sein wird. "Wir haben noch keine Zahlen aus Bern erhalten", sagt Jolanda van de Graaf, Sprecherin der kantonalen Direktion für Sicherheit und Soziales. Fachleute gingen davon aus, dass etwa in fünf Wochen die ersten Flüchtlinge einträfen. Vorher seien genauere Angaben nicht zu erwarten.

 Van de Graaf beruhigt: "Es besteht noch kein Grund zur Sorge. Der Kanton Zürich ist gewappnet." Zwar seien die sechs Asyl-Durchgangszentren und sieben Notunterkünfte des Kantons mit ihren gesamthaft rund 1400 Plätzen schon heute belegt. Doch der Kanton habe noch Kapazitäten, die er notfalls innert nützlicher Frist aktivieren könne. Infrage kämen dazu beispielsweise Zivilschutzanlagen.

 Auch die Gemeinden könnten verstärkt einbezogen werden, um eine allfällige Flüchtlingswelle aufzufangen. Normalerweise sind sie verpflichtet, eine Anzahl Flüchtlinge aufzunehmen, die 0,5Prozent ihrer Bevölkerung entspricht. Dieser Ansatz könnte laut van de Graaf erhöht werden.

 In erster Linie Bundessache

 Allerdings sei die Flüchtlingsaufnahme in erster Linie Bundessache. Erst wenn die Kapazitäten des Bundes nicht mehr ausreichten, kämen die Kantone an die Reihe. Und erst danach die Gemeinden.

 Die Strukturen des Bundes sind derzeit auf 1300Asylgesuche pro Monat ausgerichtet. Mithilfe der Kantone könnte diese Kapazität auf 1800 Fälle erhöht werden, hiess es an einer Medienorientierung des Bundesamts für Migration vom vergangenen Donnerstag. Falls sich die Zahl der Asylgesuche um monatlich mehr als 600 erhöhen würde, müssten die Kantone einspringen.

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Migros-Magazin 28.2.11

Auf ein Wort
 
Schweizer Grenzwächter erstmals an der EU-Grenze

 "Wir schützen künftig die EU-Aussengrenzen mit"

 Erstmals kommen mehrere der insgesamt 1927 Schweizer Grenzwächter im Ausland zum Einsatz. Jürg Noth (52), Chef des Schweizer Grenzwachtkorps (GWK), sagt, wie die Operation in Süditalien funktioniert und welche Auswirkungen Schengen hat.

 Jürg Noth, wann kommen die ersten Schweizer Grenzwächter in Italien zum Einsatz?

 Zwei Experten fliegen am 28. Februar nach Italien. Sie werden auf Sizilien und in Apulien arbeiten. Das hat die EU-Grenzschutzbehörde Frontex entschieden.

 Wie funktioniert der Einsatz?

 Die beiden unbewaffneten Dokumentspezialisten werden in der zweiten Kontrolllinie, hinter der eigentlichen Landesgrenze, eingesetzt, um zu prüfen, ob die mitgeführten Dokumente echt sind. Zudem sollen diese Kontrollen die Herkunft und die Reiseroute der Migranten abklären. Ein dritter Experte ist als Helikopterspezialist für die Luftüberwachung und die Bilderauswertung von Hilfsgeräten, etwa Wärmebildkameras, vorgesehen. Er steht auf Abruf bereit.

 Und wie arbeitet die Schweiz mit Italien zusammen?

 Die Frontex koordiniert die Einsätze. Vor Ort sind die italienischen Behörden verantwortlich.

 Was hat Schengen für Konsequenzen?

 An den Schweizer Grenzen finden nach wie vor Zollkontrollen statt. Unser Hauptauftrag besteht auch mit Schengen aus den Zollaufgaben. Dazu gehören fiskalische und sicherheitspolizei- liche Kontrollen sowie solche im Migrationsbereich. Da sind dem GWK mit Schengen neue Aufgaben übertragen worden. Unter anderem wird die Schweiz künftig die EU-Aussengrenzen mitschützen, wie das Beispiel Süditalien zeigt. Ein Einsatz erfolgt nur auf Gesuch von Frontex, etwa an internationalen Flughäfen im Schengen-Raum und an Landesgrenzen in Südosteuropa.

 Wie gross sind die Ressourcen des GWK?

 Wir haben einen Pool von 30 Mitarbeitenden, die für Einsätze im Ausland speziell ausgebildet sind. Zeitgleich werden aber jeweils höchstens fünf bis sechs Leute delegiert.

 Kommt es beim GWK zu einem personellen Engpass?

 Unsere Bestände sind knapp. Wir haben zusätzlich insgesamt 35 Stellen beantragt. Davon wurden bisher elf bewilligt. Bereits jetzt können wir aber schnell auf Veränderungen reagieren.

 Beispielsweise in Chiasso.

 Wir sind bereit, die Südgrenze bei Chiasso zu verstärken. Mehr kann ich dazu nicht sagen.

 Was bringt der Einsatz unbemannter Drohnen?

 Drohnen sind ein nützliches Hilfsmittel, um die grenzüberschreitende Kriminalität, den gewerbsmässig organisierten Schmuggel und die illegale Mig- ration zu bekämpfen. Aktuell sind keine Drohnen im Einsatz.

 Gibt es zusätzlich ein nationales Krisenmanagement?

 Wir stimmen die Massnahmen bundesweit ab. Das Bundesamt für Migration (BFM) hat in einer Sondersitzung mit den Departe- menten und Kantonsvertretern erklärt, dass es bei einem grösseren Flüchtlingsanstieg auf die zusätzliche Unterstützung der Kantone angewiesen ist.

 Machen sich die Unruhen in Nordafrika in gestiegenen Asylanträgen bemerkbar?

 Das ist laut dem BFM noch nicht der Fall. Nur ändert sich die Lage von Tag zu Tag. Bisher war die Schweiz kein Zielland für Asylsuchende aus nordafrikanischen Ländern.

 Justizministerin Sommaruga rechnet mit bis zu 300 000 Flüchtlingen in Europa. Wie kann die Schweiz dem standhalten?

 Der Migrationsdruck an der Südgrenze besteht seit Langem. Über weitere Massnahmen muss der Bundesrat entscheiden.

 Interview Reto E. Wild

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20min.ch 27.2.11

Schweizer Notfallplan: Flüchtlinge sollen in Armee-Unterkünfte

 Die Polizeidirektoren wollen die Verteilung von Flüchtlingen auf die Kantone verhindern. Sie fordern schnelle Rückführungen. Italien verschärft allerdings die Rücknahme.

 Die Kantone fürchten sich vor der drohenden Flüchtlingswelle aus Nordafrika und fordern vom Bund ein strikteres Vorgehen: Er soll Wirtschaftsflüchtlinge in Bundeszentren unterbringen, anstatt sie auf die Kantone zu verteilen. Mit der Zuweisung in die Kantone werde der Prozess "unnötig verlängert", sagt Karin Keller-Sutter, Präsidentin der kantonalen Justizdirektorenkonferenz, der "SonntagsZeitung". Sie fordert deshalb eine möglichst frühe Prüfung des Asyls. Die Flüchtlinge könnten bereits auf der Insel Lampedusa auf Asyl geprüft werden. Im Moment handle es sich vorwiegend um Tunesier, die ihr Land aus wirtschaftlichen Gründen verlassen hätten und deshalb sowieso kein Anspruch auf Asyl haben.

 Der Bund soll zudem dafür sorgen, dass in Italien bereits registrierte und in die Schweiz eingereiste Flüchtlinge wieder zurückgenommen werden, wie es die so genannten Dublin-Regeln vorsehen. Laut der Kantone kann die Schweiz seit neustem nur noch wenige Flüchtlinge zurück nach Italien schicken. Wie viele Dublin-Fälle aber Italien tatsächlich ablehnt, blieb unklar. Das Bundesamt für Migration bestätigte nur, dass Italien am Flughafen Rom Einschränkungen mache. Auf keinen Fall dürften deshalb die Dublin-Fälle auf die Kantone verteilt werden, sagt Keller-Sutter im Interview mit der "NZZ am Sonntag". Es wecke einerseits falsche Hoffnungen bei den Flüchtlingen, dass sie doch noch bleiben dürften, andererseits sei die Gefahr höher, dass sie verschwinden.

 FDP: "Armee-Unterkünfte sind ideal für die Flüchtlinge"

 Die Regierungsrätin warnte allerdings vor Panik: "Es ist nämlich nicht sicher, dass es tatsächlich zu grösseren Flüchtlingsströmen in die Schweiz kommt", so Keller-Sutter in der "NZZaS" weiter. Sollte es aber tatsächlich soweit kommen, wird gemäss dem Bundesamt für Migration ein Notszenario benötigt: Kämen plötzlich 5000 Flüchtlinge pro Monat, sei es schwierig, die Strukturen auszudehnen, sagt Eveline Gugger Bruckdorfer, Vizedirektorin des Bundesamts für Migration, in einem Interview mit der Zeitung "Der Sonntag". "Wir würden Gebäude benötigen, die wir zurzeit nicht haben."

 Eine mögliche Lösung hat FDP-Nationalrat Philipp Müller erarbeitet. Er hat über 30 Armee-Unterkünfte ausgemacht, die insgesamt rund 7000 Flüchtlinge aufnehmen könnten, wie "Der Sonntag" schreibt. "All diese Truppenunterkünfte, welche die Armee auch für Schullager anbietet, fassen zwischen 100 und 500 Personen", sagt Müller, "Sie sind ideal." Er hat deshalb ein Papier erarbeitet und fordert wie Keller-Sutter, dass "die Zentren für Asylsuchende in Bundeshoheit bleiben". Die Flüchtlinge dürften auf keinen Fall auf Kantone und Gemeinden verteilt werden.

 Notszenario von Blocher und Schmid ist mangelhaft

 Eine Lösung könnten auch Zivilschutzanlagen sein: 20 000 bis 25 000 Betten sind gemäss Christoph Flury, Chef Konzeption des Bundesamts für Bevölkerungsschutz, sofort verfügbar. "Wenn alle Stricke reissen, kann man auf sie zurückgreifen." Sie verfügen über Betten, sanitäre Einrichtungen und zum Teil über Duschen. Mit entsprechendem Vorlauf für feuerpolizeiliche Verbesserungen könnte die Zahl gar auf mindestens 40 000 erhöht werden. Das Bundesamt für Migration wird es mit Freude zur Kenntnis nehmen: Gemäss Vizedirektorin Gugger Bruckdorfer ist das BfM auf der Suche nach solchen Möglichkeiten. Das Nothilfekonzept der Justiz- und Verteidigungsminister Christoph Blocher und Samuel Schmid von 2007 sah 90 Armee-Unterkünfte vor. Die Detailabklärungen hätten aber gezeigt, "dass viele Objekte bereits verkauft waren und die Armee die restlichen selbst benötigte", so Gugger in der "SonntagsZeitung". "Für Asylsuchende blieben keine übrig." (fum/amc)

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Sonntagszeitung 27.2.11

Flüchtlingsdrama: Kantone machen Druck

 Sie wollen Verteilung auf eigene Lager verhindern - Italien schränkt Rücknahme aus der Schweiz ein - WEF geht auf Distanz zu Ghadhafi-Sohn

Von Pascal Tischhauser Und Martin Spieler

 BERN Die Kantone fürchten sich vor der drohenden Flüchtlingswelle aus Nordafrika und fordern vom Bund ein strikteres Vorgehen. Das haben die Kantone dem Bund vergangene Woche klargemacht.

 "Flüchtlinge können bereits auf der Insel Lampedusa auf Asyl geprüft werden", sagt Karin Keller-Sutter, Präsidentin der kantonalen Justizdirektorenkonferenz. Der Bund soll mutmassliche Wirtschaftsflüchtlinge in Bundeszentren unterbringen, anstatt sie auf die Kantone zu verteilen. So hätte man Kapazitäten für echte Flüchtlinge, sollten diese aus Libyen in die Schweiz gelangen.

 Zudem soll der Bund dafür sorgen, dass in Italien bereits regis-trierte und in die Schweiz eingereiste Flüchtlinge wieder zurückgenommen werden, wie es die sogenannten Dublin-Regeln vorsehen. Laut den Kantonen kann die Schweiz seit Neustem nur noch wenige Flüchtlinge zurück nach Italien schicken.

 Der UNO-Sicherheitsrat kündigte an, in der Nacht auf Sonntag Sanktionen gegen das libysche Regime in Kraft zu setzen. Zuvor hatte das Gremium die Zustimmung der libyschen Delegation in New York eingeholt.

 In der Schweiz geht WEF-Gründer Klaus Schwab auf Distanz zu Saif al-Islam Ghadhafi. Der Sohn des libyschen Diktators gehörte dem Netzwerk der Young Global Leaders des WEF an. "Wir haben jetzt entschieden, seine Mitgliedschaft mit sofortiger Wirkung zu suspendieren", bestätigt WEF-Sprecher Yann Zopf.

 Inzwischen hat das Schweizer Aussenministerium je ein Team für humanitäre Hilfe in ägyptischen und tunesischen Grenzregionen zu Libyen geschickt. Sie sollen erste Hilfsmassnahmen einleiten.Seite 2,3 und 13

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"Die Schweizer Kollegen sind mehr als willkommen"

 Frontex-Direktor Ilkka Laitinen über arabische Flüchtlinge und Schweizer Experten

Von Elsbeth Gugger, Brüssel

 General Laitinen, Sie sind als Direktor von Frontex oberster Grenzschützer aller EU- und Schengen-Staaten, also auch der Schweiz. Wegen der drohenden Flüchtlingswelle aus den arabischen Unruheregionen arbeiten ab morgen auch zwei Schweizer für Frontex. Was bedeutet das für Sie?

 Die Schweizer Kollegen sind mehr als willkommen. Sie haben schon vor dem Schengen-Beitritt der Schweiz beim Austausch von Informationen und bei Trainings mitgemacht. Sie sind bekannt für ihre hohe Motivation und ihre guten Kenntnisse.

 Wo werden sie eingesetzt?

 Sie helfen mit, Beweise zu sammeln über die Motive von irregulären Einwanderern in Süditalien. Und sie helfen bei den Vorbereitungen für eine Rückkehr aller Flüchtlinge ohne Aufenthaltsrecht in der EU oder im Schengen-Raum und der Schweiz.

 Wünschen Sie sich mehr Schweizer Beteiligung an Frontex?

 Es werden noch mehr Schweizer Spezialisten kommen. Sie sollen eingesetzt werden bei Operationen an der Grenze zwischen Griechenland und der Türkei, zwischen Polen und der Ukraine sowie zwischen der Slowakei und der Ukraine. Wir machen bei der Zusammenarbeit mit der Schweiz gerade die ersten Schritte. Es gibt noch viele Möglichkeiten, die Zusammenarbeit zu vertiefen.

 Die Internationale Organisation für Migration spricht von bis eineinhalb Millionen Flüchtlingen, die in Europa eintreffen könnten. Sind Sie dafür bereit?

 Frontex steht zur Stelle, wenn es darum geht, Pläne zu machen. Aber die Verantwortung trägt immer der betroffene EU-Staat. Und dort stossen wir auf unterschiedliche Kapazitäten, nicht nur beim Personal, sondern auch bei der Ausrüstung. Diese Aufgabenteilung ist eher kompliziert. Frontex selber hat keine eigenen Flugzeuge oder Boote. Alles ist im Besitz der Staaten und wird auch von ihnen eingesetzt.

 Was fordern Sie?

 Frontex braucht ein operationelles Reserveteam mit eigenem Material, mit Helikoptern, Flugzeugen und Booten. Dieses Team sollte unter dem Kommando und der Kontrolle von Frontex stehen. Dass dies nötig ist, zeigt das Beispiel Lampedusa: Die Situation erfordert rasches Handeln. Aber die Planung und der Verhandlungsmechanismus, den wir mit der EU und den Schengen-Ländern haben, sind sehr langsam.

 Wo liegt das Problem?

 Wir haben nicht genügend operationelle Beweglichkeit. Dasselbe gilt für die Experten. Wir möchten sie sofort und unbürokratisch aufgrund ihrer Kompetenzen einsetzen. Zudem möchten wir, dass Frontex bei den Operationen mitreden darf und nicht dem Kommandanten des jeweiligen EU-Staates untersteht.

 Wie stellen Sie sich das vor?

 Wir möchten wenigstens eine Art Vetorecht, um eine Kursänderung durchzubringen oder eine Aktion zu stoppen. Denn letztlich machen wir die Pläne, wir stellen die Informationen zur Verfügung, und wir bezahlen die Rechnung. Unter dem Strich sind wir deshalb auch verantwortlich.

 Fängt Frontex die Flüchtlinge schon auf hoher See ab?

 Im Fall von Lampedusa werden die irregulären Immigranten, die mit kleinen und überfüllten Booten kommen, von den italienischen Kollegen bis in den Hafen von Lampedusa eskortiert, um Unfälle zu vermeiden. Dann muss festgestellt werden, ob die Flüchtlinge unter internationalen Schutz fallen. Bisher haben wir aber gesehen, dass das nur für ein paar wenige gilt. Die italienischen Behörden untersuchen, ob jemand in Italien bleiben darf oder nicht. Für diejenigen, die nicht bleiben dürfen, wird die Rückkehr eingeleitet.

 Rechte Politiker sagen, 90 Prozent seien Wirtschaftsflüchtlinge.

 Im Fall von Lampedusa geht es um etwa 5500 Personen, die seit Anfang des Jahres auf der Insel ankamen - wobei der Grossteil in den letzten Tagen eintraf. Wir müssen verhindern, Vorurteile zu kreieren. Aber es ist interessant, zu beobachten, dass diese grosse Gruppe, die die Grenze illegal überquert hat, homogen zu sein scheint in Bezug auf Alter und Geschlecht. Weniger als zehn Prozent kommen für ein Asylgesuch infrage.

 Die Grünen werfen Ihnen vor, Frontex sei die hässliche Antwort auf Migrationsprobleme.

 Es ist nicht das erste Mal, dass wir kritisiert werden. Man sieht uns hier eher als Symbol aller Aspekte von Grenzmanagement. Wir versuchen, so transparent und fair wie nur möglich zu sein. Aber was ich sicher weiss, ist, dass Grenzkontrollen nicht die Lösung sind für irreguläre Migration.

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Bundeszentren für Migranten

 Kantone wollen Flüchtlinge aus Nordafrika nicht unterbringen - und fordern mehr Geld für Asylsuchende

Von Pascal Tischhauser und Titus Plattner

 Bern Die Kantone sind wegen der drohenden Flüchtlingswelle aus Nordafrika im Streit mit dem Bund. Sie wollen nicht, dass vor allem sie unter der Flüchtlingswelle aus Nordafrika zu leiden haben, und fordern deshalb ein anders Asylmanagement. Das zeigen Recherchen der SonntagsZeitung.

 Konkret soll der Bund vermutete Wirtschaftsflüchtlinge in Bundeszentren unterbringen, anstatt sie auf die Kantone zu verteilen. Das hat der Generalsekretär der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren (KKJPD), Roger Schneeberger, nach dem Gipfeltreffen mit Vertretern des Bundesamts für Migration (BFM), des Aussen- sowie des Militärdepartements und des Grenzwachtkorps klargemacht. Er findet, man müsse "die richtigen Signale aussenden" und frühzeitig klären, welche Flüchtlinge keine Chance auf Asyl hätten. Die KKJPD-Präsidentin Karin Keller-Sutter doppelt im Interview (siehe rechts) nach, Wirtschaftsflüchtlinge müssten bereits auf Lampedusa ausgemustert werden, weil mit einer Zuweisung in die Kantone der Prozess "unnötig verlängert" werde.

 Zudem wollen die Kantone für ihre Kosten im Asylwesen besser entschädigt werden. Ein Kantonsvertreter machte am Treffen klar, dass es mit den ordentlichen Tagespauschalen für Asylbewerber nicht getan sei. Die Kantone müssten kostspielige Vorkehrungen für eine allfällige Flüchtlingswelle treffen. So würden etwa zusätzlich angemietete Unterbringungsplätze nicht abgegolten. Solche wollen die Kantone entschädigt haben.

 In der gestrigen "Samstagsrundschau" auf Radio DRS 1 mochte Justizministerin Simonetta Sommaruga nicht auf Geldforderungen eingehen.

 Schliesslich erwarten die Kantone, dass die Justizministerin mehr Druck auf Italien ausübt. Der Nachbarstaat habe sich an die Dublin-Regeln zu halten. Wie verschiedene Seiten bestätigen, nimmt Italien zurzeit nur noch eine begrenzte Zahl an Dublin-Fällen zurück. Als solche gelten Flüchtlinge, die vor der Einreise in die Schweiz bereits in einem anderen Schengen-Land registriert worden sind. In diese Länder kann die Schweiz Asylbewerber zurückschicken.

 Das Grenzwachtkorps will die Armee nicht an der Grenze

 Italien kommt seinen Verpflichtungen aber nicht mehr voll nach. Die Aussagen dazu sind widersprüchlich. Die Rede ist von zwei bis fünf Personen, die Italien pro Tag nur noch akzeptiert. Die St. Galler Regierungsrätin Keller-Sutter spricht von vier respektive fünf Flüchtlingen - je nachdem, ob diese aus Genf oder Zürich nach Italien gebracht werden.

 Das BFM bestätigt nur, dass Italien auf dem Römer Flughafen Einschränkungen mache. Die Kantone befürchten jetzt, dass die italienische Praxis die Flüchtlingssituation in der Schweiz zusätzlich verschärfen wird.

 Noch ist die Zahl der Flüchtlinge verkraftbar, zumal ein Grossteil von ihnen wieder nach Nordafrika zurückkehren muss. Anders könnte das aufgrund der Entwicklung in Libyen aussehen. Dort leben je nach Quelle 1,5 bis 3 Millionen Migranten aus der Subsahara. Sommaruga spricht von 2,5 Millionen. Diese drängen in die Nachbarländer. Dass diese dereinst nach Europa gelangen, davor fürchten sich viele, allen voran die SVP. Sie verlangt einen Armeeeinsatz an der Grenze mit systematischer Grenzkontrolle.

 Der Chef des Grenzwachtkorps, Jürg Noth, winkt ab: Selbst wenn Schengen ausser Kraft gesetzt würde und systematische Grenzkontrollen vorübergehend wieder eingeführt würden, brauche es im Migrationsbereich "speziell ausgebildetes Personal, sprich Grenzwächterinnen und Grenzwächter".

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 Islamisten auf der Flucht

 Der Schweizer Nachrichtendienst fürchtet, dass mit der Flüchtlingswelle aus Nordafrika radikale Islamisten in die Schweiz gelangen. Diese Befürchtung hat ein Vertreter am Asylgipfel vom Donnerstag geäussert. Er verlangte, dass frühzeitig darüber informiert werden müsse, wer in die Schweiz einreisen wolle, damit der Nachrichtendienst rechtzeitig die Personalien überprüfen und die Einreise von Islamisten verhindern könne. Der Nachrichtendienst befürchtet, ob der grossen Zahl an Flüchtlingen selbst an Grenzen zu stossen. Während der Aufstände in Tunesien, Ägypten und Libyen konnten zahlreiche Islamistenführer aus der Gefangenschaft entweichen. Der Nachrichtendienst kommentiert eine allfällige Gefährdung durch islamistische Flüchtlinge jedoch nicht.

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"Flüchtlinge auf Lampedusa prüfen"

 Karin Keller-Sutter über die Haltung der Kantone zu Asylsuchenden

 Italien warnt vor einer riesigen Flüchtlingswelle aus Nordafrika. Sind die Kantone darauf vorbereitet?

 Ob es eine Flüchtlingswelle gibt und wie gross diese sein wird, weiss derzeit niemand. In den Kantonen bestehen noch Reserven an Unterbringungsplätzen. Diese Reserven sind aber unterschiedlich gross. Wichtig ist mir jedoch: Bei den Menschen, die bislang auf Lampedusa eingetroffen sind, handelt es sich vorwiegend um Tunesier. Dabei dürften dies mehrheitlich Personen sein, die ihr Land aus wirtschaftlichen Gründen verlassen haben.

 Sie meinen, diese Leute würden sowieso kein Asyl in der Schweiz erhalten?

 Höchstwahrscheinlich die wenigsten von ihnen. Deshalb ist es den Kantonen so wichtig, dass Menschen ohne asylrelevante Gründe, sollten sie denn dereinst in die Schweiz kommen, gar nicht erst auf die Kantone verteilt werden.

 Wieso nicht?

 Weil die Verteilung auf die Kantone den Asylprozess bei denjenigen Leuten, bei denen schon von vornherein klar ist, dass sie die Flüchtlingseigenschaft nicht erfüllen, unnötig verlängert. Die Prüfung muss deshalb schon vorher erfolgen, sodass nur noch diejenigen Asylsuchenden den Kantonen zugewiesen werden, die auch eine reelle Chance auf Asyl haben.

 Und die andern sollen in Bundeszentren untergebracht werden?

 Ja, oder noch besser schon vor Ort behandelt werden.

 In Tunesien?

 Nein, aber die Flüchtlinge könnten beispielsweise schon auf Lampedusa geprüft werden.

 Asylbewerber aus Lampedusa, die den Weg in die Schweiz dennoch finden, könnte die Schweiz ja als sogenannte Dublin-Fälle nach Italien zurückschicken.

 Das funktioniert schon heute nicht mehr richtig. Italien akzeptiert nur noch einmal täglich einen ordentlichen Flug mit einer begrenzten Zahl an Dublin-Fällen: mit fünf Personen, wenn der Flug aus Zürich stammt, und mit vier, falls er aus Genf kommt. Sonderflüge akzeptiert Italien nicht mehr. Damit haben wir heute schon Wartezeiten von mehr als einem Monat. Wenn die Flüchtlingszahlen tatsächlich steigen, wird das zur Belastungsprobe für das Dublin-System. Ich gehe davon aus, dass der Bund mit Italien das Gespräch sucht.
 Interview: P. Tischhauser

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Sonntag 27.2.11

Flüchtlinge in Armee-Zentren

 FDP schlägt vor, 30 Militärunterkünfte bereitzustellen

 Wegen der Krise in Arabien droht eine Flüchtlingswelle. Für diesen Fall soll die Schweiz mit Bundes-Armee-Zentren reagieren. Das fordert Nationalrat Philipp Müller in einem Papier zuhanden der FDP. Er hat über 30 Armee-Unterkünfte ausgemacht, die insgesamt rund 7000 Flüchtlinge aufnehmen könnten. "All diese Truppenunterkünfte, welche die Armee auch für Schullager anbietet, fassen zwischen 100 und 500 Personen", sagt Müller. "Sie sind ideal."

 Auch Zivilschutzanlagen könnten eine Lösung sein. 20000 bis 25000 Betten sind gemäss Christoph Flury, Chef Konzeption des Bundesamts für Bevölkerungsschutz, sofort verfügbar. "Wenn alle Stricke reissen, kann man auf sie zurückgreifen." Sie verfügen über Betten und sanitäre Einrichtungen. Mit entsprechendem Vorlauf für feuerpolizeiliche Verbesserungen könnte die Zahl gar auf mindestens 40 000 erhöht werden.

 Gemäss dem Aussendepartement befinden sich noch 42 Schweizer in Libyen, 40 davon sind Doppelbürger. Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey verurteilt die Gewalt gegen die Demonstrierenden aufs Schärfste.

 Arabien-Krise: Seiten 2/3, 16/17

 Von Othmar von Matt

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Armee-Unterkünfte könnten 7000 Flüchtlinge aufnehmen

 Die Schweiz ist schlecht vorbereitet auf einen möglichen Asylbewerberstrom aus arabischen Krisenländern

von Othmar von Matt

 Der Bund hat keine Notunterkünfte für eine Flüchtlingswelle. FDP-Nationalrat Philipp Müller fordert nun Bundeszentren in leer stehenden Armeelagern. Auch 25000 Zivilschutzbetten stünden zur Verfügung.

 Für Philipp Müller ist klar, was als Erstes geschehen muss, sollte die Flüchtlingswelle aus Nordafrika tatsächlich die Schweiz erreichen: "Wir müssen auf Dublin beharren." Was das heisst, zeigt er in seinem Papier zur Libyen-Krise auf, das der FDP-Parteivorstand am Montag verabschieden soll. "Bei fast allen Migranten aus Tunesien und Ägypten handelt es sich um Wirtschaftsflüchtlinge, die sofort zurückgeschickt werden müssen." Die Schweiz müsse Druck auf die EU machen, "damit die Migranten rasch aus Italien nach Nordafrika zurückgeführt werden können".

 Doch auch dem FDP-POlitiker ist klar, dass dies kaum genügt. Umso mehr, als er betont, dass es sich bei libyschen Flüchtlingen schon eher um Gewaltflüchtlinge handeln könnte. Dort herrsche Bürgerkrieg. Deshalb fordert er neu Bundeszentren für den Flüchtlingsstrom, sollte er die Schweiz wirklich erreichen.

 Müller hat über 30 Armee-Unterkünfte ausgemacht, die insgesamt rund 7000 Flüchtlinge aufnehmen könnten. Truppenunterkünfte wie jene in Schwarzsee FR (627 Betten), Lenk BE (450), Grandvillard FR (311) und Gluringen VS (290). "All diese Truppenunterkünfte, welche die Armee auch für Schullager anbietet, fassen zwischen 100 und 500 Personen", sagt Müller. "Sie sind ideal." Die Angaben zu den Anlagen hat er einer Liste des VBS von Februar 2009 entnommen.

 Das überrascht, denn im Bundesamt für Migration (BFM) geht man davon aus, dass die Armee keine Unterkünfte zur Verfügung stellen kann. Und das VBS muss erst prüfen, ob es Anlagen zur Verfügung stellen kann. Noch Ende 2007 hatten die damaligen Justiz- und Verteidigungsminister Christoph Blocher und Samuel Schmid ein Nothilfekonzept verabschiedet. Es sah 90 Armee-Unterkünfte vor im Fall einer Flüchtlingswelle. "Das war das Ziel", sagt Vizedirektorin Eveline Gugger Bruckdorfer (siehe Interview Seite 4). "Die Detail-Abklärungen zeigten jedoch, dass viele Objekte bereits verkauft waren und die Armee die restlichen selbst benötigte. Für Asylsuchende blieben keine übrig."

 Diese Aussagen zeigen: Die Schweiz ist schlecht vorbereitet auf eine Flüchtlingswelle. Die Arbeitsgruppe Notkonzept blieb bis 2011 praktisch untätig. Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf forderte die Kantone auf, selbst Reserven anzulegen und sprach ihnen dafür 25 Millionen zu. Obwohl klar war: Der Bund muss im Falle einer Flüchtlingswelle die Betreuung des ersten Monats sicherstellen. Dafür stehen heute 1200 Plätze zur Verfügung, die auf maximal 1800 ausgeweitet werden können. Bund und Kantone wollen in den nächsten zwei Wochen ein Konzept ausarbeiten.

 Das Versäumnis stösst auf Kritik. "Wenn man realisiert, dass man das Nothilfekonzept nicht einhalten kann, dann besteht generell Handlungsbedarf", betont Heinz Brand, Präsident der Vereinigung der kantonalen Migrationsämter. "Dass man nicht handelte, ist als Befund nicht unproblematisch. Es braucht generell eine Lösung für ausserordentliche Situationen, unbesehen von der aktuellen Problemstellung."

 Zivilschutzanlagen könnten die Lösung sein. 20000 bis 25000 Betten sind gemäss Christoph Flury, Chef Konzeption des Bundesamts für Bevölkerungsschutz, sofort verfügbar. "Wenn alle Stricke reissen, kann man auf sie zurückgreifen." Es geht nicht um öffentliche Schutzräume, die oft bei Schulhäusern liegen und meist belegt sind. Sondern um Schutzanlagen für Organisationen wie Planungsstäbe und um geschützte Sanitätshilfsstellen. Sie verfügen über Betten, sanitäre Einrichtungen und zum Teil Duschen. Mit feuerpolizeilichen Verbesserungen könnte die Zahl gar auf mindestens 40000 erhöht werden.

 Für Philipp Müller ist klar: "Die Zentren für Asylsuchende müssen in Bundeshoheit bleiben." Die Flüchtlinge dürften auf keinen Fall auf Kantone und Gemeinden verteilt werden. "Sonst beginnen sie, sich zu assimilieren: über den Kriminalbereich, den Arbeitsmarkt und über Kinder in den Schulen." Das senke die Chancen massiv, abgewiesene Asylbewerber auszuschaffen: auf 20 Prozent.

 Seite 4: Interview mit derBFM-Vizedirektorin

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Was, wenn 5000 Flüchtlinge kommen?

 Die Vizedirektorin des Bundesamts für Migration über die Vorbereitungen auf mögliche Asylbewerber-Ströme aus Nahost

Von Othmar von Matt

 Frau Gugger Bruckdorfer, Ende 2007 hatten Christoph Blocher und Samuel Schmid ein Nothilfekonzept verabschiedet. Es sah 90 Armee-Unterkünfte vor. Was ist mit ihnen?

 Eveline Gugger Bruckdorfer: Das war damals das Ziel. Man ging davon aus, dass die Armee viele Unterkünfte zur Verfügung stellen könnte. Die Detailabklärungen zeigten jedoch, dass viele Objekte bereits verkauft waren und die Armee die restlichen selbst benötigte. Für Asylsuchende blieben keine übrig.

 Das Konzept war untauglich?

 Es war eine Sackgasse.

 Bis heute tat man nichts mehr, um Alternativen zu finden?

 Wir kehrten zurück zum alten System. Die Kantone sollten selbst Reserven aufbauen. Dafür erhielten sie vom Bund 25 Millionen.

 Heute kann der Bund maximal 1800 Asylbewerber pro Monat bewältigen?

 Diese Aussage ist verkürzt. Dem Bund stehen heute total 1200 Plätze zur Verfügung, um die ersten Verfahrensschritte schnellstmöglich abzuschliessen. Dann werden die Asylbewerber auf die Kantone verteilt. Zurzeit können wir die Bundesstruktur auf maximal 1800 Plätze steigern.

 Und wenn plötzlich 5000 Flüchtlinge pro Monat kommen?

 Die Strukturen sind schwierig auszudehnen. Wir würden Gebäude benötigen, die wir zurzeit nicht haben. Wir suchen aber nach Möglichkeiten. Letztlich müssten aber die Kantone ihre Strukturen ausbauen.

 Im Zivilschutzbereich sind bis zu 25000 Betten sofort greifbar, im Notfall gar fast 50000.

 Diese Zahlen freuen mich. Wir planen nun in den nächsten zwei Wochen im Detail und werden auch mit dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz sprechen. Sollten sehr viele Flüchtlinge kommen, sind wir in einer absoluten Notsituation. Dann müssen wir Strukturen wie etwa Zivilschutzanlagen temporär umnutzen. Niemand will aber seine Reserven zu früh öffentlich "verkaufen". Und Zivilschutzanlagen haben ein grosses Problem: Familien etwa kann man nicht monatelang darin unterbringen.

 Sie geben sich drei Wochen Zeit für die Planung. Ist das nicht zu blauäugig?

 Es dauert vier bis fünf Wochen, bis Flüchtlinge bei uns eintreffen würden. Das entspricht unseren Erfahrungswerten.

 Bei der Kosovo-Flüchtlingswelle musste Jean-Daniel Gerber händeringend um Unterkünfte betteln.

 Das war eine Extremsituation. Wir hatten 40000 Gesuche, es suchten sehr viele Leute gleichzeitig Schutz. Damals war aber allen klar, wie gross die Not war. Die Türen gingen auf. Man schaffte in unglaublich kurzer Zeit unglaublich viel.

 Welches Klima stellen Sie heute fest?

 Die involvierten Behörden sind sich sehr bewusst, dass etwas auf uns zukommen kann. Und sie wollen ihre Verantwortung übernehmen.

 Tat man insgesamt zu wenig für einen solchen Krisenfall?

 Bis 2007 war man intensiv mit dem Thema beschäftigt. Herr Blocher konnte danach keinen Beitrag mehr leisten. Armeeunterkünfte zu suchen war richtig.

 Hat sich das Bundesamt für Migration zwischen 2008 und 2010 zu sehr mit Reorganisationen statt mit tauglichen Krisenkonzepten beschäftigt?

 Nein. Die Frage ist, wie viele Reserven man sich leisten will. Es wäre Alarmismus und Aktivismus gewesen, Reserven für 25000 Gesuche zu schaffen. Das wäre viel zu teuer gewesen.

 Holland mit seinen zentralen Strukturen gilt als Musterbeispiel. Auch für die Schweiz?

 Wir schauten uns das Modell an. Es ist sehr interessant, weil es ein Gesamtsystem ist. Alles ist in den Zentren integriert, Unterbringung, Verfahren, Rechtsmittelsystem. Bundesstrukturen. Das bringt Tempo in die Verfahren. Der Vorteil unseres föderalistischen Systems ist die breite Abstützung. Wir kommen via Kantone schnell und über die ganze Schweiz verteilt zu Betten. Das spricht für die Krisentauglichkeit unseres Systems. Das holländische Gesamtsystem wäre für uns ein gewaltiger Systemwechsel. Die Umstellung würde 10 Jahre dauern. Für heute ist es keine Lösung.

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Solidarisch wie 1956 und 1968

 Grüne, SP und FDP wollen libysche Flüchtlinge aufnehmen

 Die Schweiz müsse echte Flüchtlinge im Sinne ihrer Gesetzgebung und der Flüchtlingskonvention aufnehmen, sagt René Rhinow, Präsident des Schweizerischen Roten Kreuzes und früherer FDP-Ständerat. "Wie die Situation jetzt aussieht, sind die meisten aus Libyen flüchtenden Menschen wohl echte Flüchtlinge." Gleicher Meinung sind auch Parlamentarier wie der grüne Nationalrat Josef Lang: "Die Schweiz soll an ihre humanitäre Tradition wie 1956 im Fall von Ungarn und 1968 der Tschechoslowakei anknüpfen." Zudem stünden die westlichen Staaten - nicht nur die Schweiz - in einer besonderen Schuld: "Erstens liessen wir uns mit Öl beliefern. Zweitens wurden Waffensysteme geliefert. Und drittens liessen wir uns von dieser Region vor Flüchtlingen schützen", sagt Lang. "Und es geht auch um die Honorierung einer demokratischen Revolution." Auch SP-Nationalrat Hans-Jürg Fehr will libysche Flüchtlinge aufnehmen: "Wir müssen uns vorbereiten auf eine Situation wie damals beim Kosovo-Krieg." Es würden Tausende von Flüchtlingen kommen. "Die Schweiz mit ihrer humanitären Tradition sollte ein Signal setzen und nicht nur mauern."

 Sogar FDP-Nationalrat Philipp Müller, der sonst in Migrationsfragen einen harten Kurs fährt, betont: In Libyen "herrscht Bürgerkrieg. Wenn wirklich libysche Flüchtlinge den Weg in ie Schweiz finden, können sie nicht sofort zurückgeführt werden. Das würde gegen das Non-Refoulement-Prinzip verstossen". Zudem habe die Schweiz selbst unter dem GaddafiRegime gelitten. (fv/att)

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Zentralschweiz am Sonntag 27.2.11

"Die Lage ist unvorstellbar schrecklich"

Interview von Jürg Auf der Maur

 Europa müsse mit riesigen Flüchtlingsströmen rechnen, heisst es immer wieder. Das sei übertrieben, sagt die Flüchtlingsexpertin. Sorgen bereiten ihr aber die vielen Flüchtlingslager in Libyen.

 juerg.aufdermaur@zentralschweizamsonntag.ch

 Denise Graf, Europa und der Schweiz drohe eine Flüchtlingswelle "biblischen Ausmasses", betonte die italienische Regierung in den vergangenen Tagen mehrmals. Rechnen Sie mit 200 000 oder gar mit 1 Million Flüchtlingen aus Libyen?

 Denise Graf*: Amnesty International stellt keine Zahlen in den Raum. Wie viele Flüchtlinge am Schluss tatsächlich kommen, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Die Rede vom "biblischen Ausmass" halte ich aber für grob übertrieben. Laut der Internationalen Migrationsorganisation sind sie masslos übertrieben und sogar unverantwortlich.

 Schrauben Sie die Befürchtungen in Europa bewusst herunter?

 Graf: Ich will nicht in Abrede stellen, dass durch die Umwälzungen im arabischen Raum und durch einen allfälligen Sturz von Ghadhafi Menschen aus Afrika nach Europa kommen werden. Aber was die europäische Politik derzeit macht, ist übertrieben. Da wird auf Stimmung gemacht.

 Müssen wir damit rechnen, dass Kriminelle aus Ghadhafis Umfeld nach Europa kommen wollen?

 Graf: Das nächste Umfeld Ghadhafis wird nicht kommen. Es würde auch nicht aufgenommen, wie das Beispiel der Gattin von Hannibal zeigt. Sie ist Libanesin, und trotzdem hat sich der Libanon geweigert, sie aufzunehmen. Auch die Tochter von Ghadhafi durfte nicht auf Malta landen. Möglich ist, dass die mittleren Ränge versuchen werden, sich nach Europa abzusetzen, weil sie Angst vor den Konsequenzen des Umsturzes haben. Das wären dann aber sehr anspruchsvolle Dossiers, die es genau zu prüfen gälte.

 Was passiert mit den Gefangenenlagern in der libyschen Wüste?

 Graf: Das ist eine offene Frage. Man weiss, dass in Libyen insgesamt 16 Lager existieren, in denen die Menschen unter absolut desolaten Umständen inhaftiert sind. Insgesamt leben in Libyen rund 1,7 Millionen Migrantinnen und Migranten. Wie viele von ihnen in diesen Camps leben müssen, ist unklar. Im vergangenen Sommer sollen 4000 entlassen worden sein. Ich gehe davon aus, dass mehrere tausend Menschen in solchen Migrations-Camps leben müssen.

 Weshalb hat Ghadhafi solche Camps gebaut?

 Graf: Das hat man schon bei Hamdani und Göldi gesehen: Gemäss libyschem Gesetz braucht es ein Visum, damit man einreisen darf. Dieses enthält einen Zweckartikel. Das Visum darf später nicht zweckentfremdet verwendet werden. Die meisten Migranten kamen über die "grüne" Grenze ins Land, also ohne Visum. Sie wurden festgenommen, in Camps gesteckt und im besten Fall als billige Arbeitskräfte toleriert.

 Und was passierte mit ihnen im schlechtesten Fall?

 Graf: Im schlechtesten Fall wurden die nicht inhaftierten Migranten ausgenutzt und für ihre Arbeit nicht bezahlt. In den Camps herrschen absolut schlimme Zustände. Systematische, schwere Menschenrechtsverletzungen waren an der Tagesordnung. Die Leute wurden geschlagen, es gab schwere Übergriffe. Sie wurden in den völlig überbelegten Lagern eingepfercht. Die hygienische Situation ist unvorstellbar schrecklich und nur schon, wer den Wunsch nach medizinischer Betreuung oder Versorgung äusserte, wurde brutal zusammengeschlagen. Am schlimmsten aber war, dass in diesen Camps sogar Kinder festgehalten wurden. Das habe ich erst am Donnerstag auf Fotos gesehen.

 Weshalb hat die Öffentlichkeit das nicht gewusst?

 Graf: In Europa wusste man das. Die EU hatte Kenntnis von diesen Lagern. Es gibt auch Berichte über Libyen, in denen sie erwähnt werden. Ghadhafi selbst hat immer damit gedroht, entweder den Ölhahn zuzudrehen oder den Migrationshahn zu öffnen. Dadurch wurde die Kritik stark eingedämmt.

 Auch jetzt tut sich der Westen schwer. Die UNO konnte sich erst nach mehreren Tagen durchringen, Massnahmen gegen Ghadhafi zu ergreifen. Was ist zu tun?

 Graf: Es braucht dringend Sanktionen gegen Libyen. Wir fordern ganz klar, dass die Schweiz und die EU jetzt die libysche Opposition und damit den Freiheitskampf der Bevölkerung unterstützen. Es braucht anschliessend auch Hilfe beim Aufbau der Zivilgesellschaft. Die Schlinge um Ghadhafi wird immer enger. Es ist wichtig, dass nun alle Staaten ihm den Geldhahn zudrehen und keine Waffen mehr geliefert werden. Solange er Geld hat, kann er seine Söldner finanzieren. Sonst kann es plötzlich schnell gehen. Wir rufen die Regierungen dazu auf, klare Positionen zu beziehen und Ghadhafi öffentlich zu verurteilen. Die internationale Gemeinschaft hat bis jetzt zu stark gezögert und muss nun ihre Pflicht wahrnehmen. Europa ist von Italien stark gebremst worden. Dabei waren hier viele Eigeninteressen im Spiel. Italien bezieht 34 Prozent seines Erdöls aus Libyen und unterhält wichtige wirtschaftliche Beziehungen mit diesem Land und ist damit also direkt abhängig.

 Sollen, wie im Balkankrieg, kriegerische Mittel ergriffen werden?

 Graf: Wahrscheinlich wird es nicht notwendig sein, so weit zu gehen, weil sich die Situation vorher zu Ungunsten Ghadhafis entscheidet.

 Was soll die Schweiz tun?

 Graf: Wir begrüssen den Entscheid des Bundesrates, das Vermögen von Ghadhafi eingefroren zu haben. Das Asylrecht gilt es einzuhalten. Das heisst, all jene, die per Boot in Italien ankommen, müssen an Land gelassen werden, und sie müssen das Recht erhalten, ein Asylgesuch zu stellen. Die Schweiz muss sich dafür einsetzen. In einer weiteren Phase müssen sich die Schweiz und ganz Europa dafür einsetzen, dass es zu einer weitgehenden Demokratisierung kommt und eine Verfassung verabschiedet wird, die Parteien zulässt und Grundrechte garantiert. Nur so kann sich eine gesunde Zivilgesellschaft entwickeln und sich ohne Risiken an diesem Prozess beteiligen. Gesundheits- und Erziehungssystem müssen massgeblich verbessert werden, und der Reichtum muss gerechter verteilt werden. Er darf nicht einfach von Ghadhafi an die Stammesherren übergehen.

 Das können weit mehr sein, als Sie selber vermuten.

 Graf: In der Kosovo-Krise kamen in einem Jahr 47 000 Menschen in die Schweiz. Das war nicht einfach, aber wir wurden mit der Situation fertig. Ich gehe aber davon aus, dass es dieses Mal nicht so viele sind.

 Ist die Schweiz überhaupt in der Lage, eine Flüchtlingswelle zu bewältigen?

 Graf: Die notwendige Infrastruktur wäre heute nicht sofort vorhanden. Das ist die direkte Folge der Politik von Ex-Bundesrat Christoph Blocher. Vorher hatte man für solche Krisen, wie sie nun diskutiert werden, Reserven. Blocher wollte sparen, strich den Kantonen das Geld und hielt sie an, keine zusätzlichen Aufnahmeplätze in Reserve zu halten, wie dies früher der Fall war. In der Folge wurden viele Objekte geschlossen, die Strukturen abgebaut, Mitarbeiter entlassen und Mietverträge gekündigt.

 Dann müsste man diese halt wieder einrichten.

 Graf: Das ist nicht so einfach. Heute ist es extrem schwierig, ein neues Asylzentrum zu eröffnen. Selbst jene Immobilien, die man damals besass, stünden heute nicht mehr bereit. Solche Vorhaben würden am Widerstand der Bevölkerung scheitern. Nicht zuletzt deshalb muss Bundesrat Ueli Maurer nun prüfen, ob man Kasernen, andere Armeeeinrichtungen oder Zivilschutzanlagen öffnen könnte. Wenn die Asylzahlen gleich hoch wie in der Balkankrise wären, wären wir heute nicht in der Lage, die Situation so gut zu lösen wie damals. Es müssten massiv mehr Zivilschutzanlagen geöffnet werden.

 Das ist doch weiter nicht schlimm. Auch Schweizer Soldaten leben in diesen Bunkern.

 Graf: Es gibt eben massive Unterschiede, ob ein solcher Aufenthalt drei Wochen oder mehrere Monate dauert, ob es ganze Familien sind, die während Tagen und Wochen in diesen engen Räumen ohne Tageslicht und Frischluft untergebracht sind und nicht einmal im gleichen Raum schlafen können. Kämen wirklich Libyer in die Schweiz, wären viele von ihnen zudem stark traumatisiert. Eine Zivilschutzanlage ist kein Ort für Traumatisierte.

 * Denise Graf ist Flüchtlingskoordinatorin bei Amnesty International.

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 Libyen-Ticker

 sda. Eine Übersicht über die jüngsten Ereignisse rund um die Revolution in Libyen:

 Schweiz leistet Hilfe: Das Schweizer Aussenministerium hat je ein Team der humanitären Hilfe an die ägyptische und an die tunesische Grenze zu Libyen geschickt. Sie sollen die Bedürfnisse im von einem grossflächigen Aufstand gegen Diktator Muammar el Ghadhafi ergriffenen Land vor Ort abklären und erste Sofortmassnahmen einleiten.

 Beziehung abgebrochen:Frankreich hat gestern Abend seine Beziehungen zum Regime von Ghadhafi abgebrochen. Das teilte das Aussenministerium mit. Auf Distanz ging gestern auch Italiens Präsident Silvio Berlusconi."Es scheint, dass Ghadhafi die Situation in Libyen nicht mehr kontrolliert", sagte der Cavaliere gestern in Rom und erklärte, der Freundschaftsvertrag zwischen Italien und Libyen sei auf Eis gelegt.

 Sanktionen verhängt: Noch vor der UNO und der Europäischen Union haben die USA Sanktionen gegen die libysche Führung verhängt. Auf Anordnung von US-Präsident Barack Obama sollen die Vermögen der Führungsriege um Ghadhafi eingefroren werden, auch die der Kinder des Staatschefs und aller Personen, die an Menschenrechtsverstössen gegen Regierungsgegner beteiligt waren. Die UNO wollte noch in der Nacht auf Sonntag Strafmassnahmen beschliessen. Die EU verständigte sich prinzipiell auf ein Sanktionspaket.

 Kontrolle verloren: Immer mehr Ghadhafi-Anhänger wechseln die Seite. Wie der Nachrichtensender El Dschasira berichtete, zeigen Amateur-Video-Aufnahmen aus der Stadt Az Zawiyah, rund 50 Kilometer von Tripolis entfernt, wie libysche Soldaten zu den Demonstranten überlaufen.

 Ausland sei schuld: Für Saif al- Islam, ein Sohn Ghadhafis, ist "das Ausland" schuld an den Unruhen in Libyen. Die Demonstranten seien "vom Ausland manipuliert" worden, sagte er gestern dem arabischen Fernsehsender El Arabija.

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Südostschweiz 27.2.11

Nordafrika-Flüchtlinge sollen   Graubünden nicht erreichen

 Der Bund soll dafür sorgen, dass die Flüchtlingsströme früh kanalisiert werden. Das fordert die Bündner Justizdirektorin   Barbara Janom   Steiner.

 Von Olivier Berger und Gil Bieler

 Chur/Bern/Tripolis. - Die Flüchtlinge aus Nordafrika und dem Nahen Osten sollen die Asylverfahren bereits an der EU-Aussengrenze durchlaufen:   Die Bündner Justizdirektorin Barbara Janom Steiner fordert den Bund auf, bei der EU   auf eine entsprechende Lösung hinzuwirken. Im   Gegenzug solle die Schweiz der EU bei der Bewältigung des Ansturms helfen.

 Sollte es nicht gelingen, die Flüchtlingsströme schon vor dem Eintritt   in den   Schengen-Raum zu stoppen, müssten die Asylverfahren in den Aufnahmezentren des Bundes durch   geführt werden, so Janom   Steiner. "Wenn sie erst einmal in den Kantonen sind, können selbst Personen ohne triftigen Fluchtgrund nur noch schwer in ihre Heimat zurück   geschickt werden."

 Graubünden sei auf den erwarteten Anstieg der Asylgesuche aber gut vorbereitet, so Janom   Steiner. Die Platzreserve in den   Unterkünften reiche vorläufig sicher aus.

 Die Lage in Libyen beruhigte sich auch gestern nicht. In der Hauptstadt Tripolis, wo sich Diktator Muammar el Gaddafi verschanzt hält, lieferten sich Oppositionelle und Gaddafi-   getreue Streitkräfte heftige Gefechte. Der Orientalist Arnold Hottinger sieht keine möglichen   Gaddafi-Nachfolger.   Berichte Seiten 3, 17 und 22

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Wenn die Flüchtlinge kommen,   ist Graubünden vorbereitet

 Der Kanton Graubünden ist auf einen möglichen Flüchtlings   strom aus Nordafrika und dem Nahen Osten vorbereitet. In den Asylunterkünften ist genug Platz vorhanden. Trotzdem   verfolgt der Kanton die   Entwicklung mit Sorge.

 Von Olivier Berger

 Chur. - Kurzfristig dürften in der Schweiz rund die Hälfte mehr Personen um Asyl nachsuchen als gewöhnlich:   Dieses Szenario erachtet das Bundesamt für Migration als möglich, wie es in einem Rundschreiben an die Kantone festhält. Der Grund für den erwarteten   Anstieg sind die aktuellen politischen Entwicklungen in   Nordafrika sowie im Nahen und Mittleren Osten. Sollte sich die Situation in den arabischen Staaten längerfristig nicht beruhigen, rechnet der Bund mit einem Anstieg der Asylgesuche in der Schweiz um ein Mehrfaches (Ausgabe vom Freitag).

 Graubünden ist vorbereitet

 Die Bündner Regierung verfolgt die Entwicklung in den nordafrikanischen Staaten "mit Sorge", wie die kantonale Justizdirektorin Barbara Janom Steiner erklärt. Bisher sei allerdings kein massgeblicher Anstieg der Asylgesuche verzeichnet worden. Und selbst wenn sich das mittel   fristige Szenario des Bundes mit einer Zunahme um 25   Prozent bewahrheiten würde, wäre Graubünden vorbereitet. "Derzeit haben wir eine ausreichende Reserve an Plätzen in den Unterkünften", betont Janom   Steiner.

 Strategie zahlt sich aus

 Tatsächlich würden selbst die kurzfristigen 25-Prozent-Prognosen des Bundes bedeuten, dass Graubünden - gemäss dem geltenden Verteilschlüssel nach Bevölkerungsgrösse - binnen Jahresfrist rund 100 zusätzliche Asylsuchende betreuen müsste. Rund 180 freie Plätze sind laut Janom Steiner bereits in den bestehenden Unterkünften frei. "Unsere langfristige Immobilienstrategie, die solche möglichen   Schwankungen berücksichtigt, zahlt sich jetzt aus." Dies gelte beispielsweise für die Unterkunft in Davos-Laret, die man von Anfang an als "Teil der strategischen Reserve   eingeplant" habe.

 Personal lässt sich einfacher finden

 Auch Heinz Brand, Vorsteher des kantonalen Amts für Polizei und Zivilrecht, rechnet nicht damit, dass Graubünden durch eine verstärkte Zuwanderung aus Nordafrika und dem Nahen   Osten kurz- und mittelfristig vor Probleme gestellt würde. Ausser den erwähnten Reserveplätzen bestehe auch die Möglichkeit, "Unterkünfte in Notsituationen kurzfristig verdichteter zu belegen", so Brand.

 Kein Problem sei es ausserdem, bei einer Zunahme der Asylbewerber geeignetes Personal zu finden. "Im Vergleich zur Suche nach geeigneten Standorten für Unterkünfte ist die Personalrekrutierung einfacher - die Suche nach Unterkünften geht meist mit viel politischer Begleitmusik einher."   Es habe sich in der Vergangenheit bewährt, "unsere bereits im Asylbereich tätigen Mitarbeiter durch kurzfristig angestelltes Personal zu   ergänzen" und so den Mehransturm aufzufangen.

 Weniger als im   Kosovo-Krieg

 Ein   Vorteil für Graubünden sei, dass der Personalbestand bei starker Zuwanderung nicht übermässig aufgestockt werde und danach wieder heruntergefahren werden müsse, so Brand. "Das führt dazu, dass bei uns viele Personen arbeiten, die bereits über langjährige Erfahrungen auch mit solchen starken Zuwanderungsströmen haben." Brand verweist in diesem Zusammenhang auf die Zeit des Kosovo-Kriegs. Rechnet der Bund jetzt mit bis zu 450 Asylsuchenden in Graubünden pro Jahr, wurden in den Kosovo-Kriegsjahren 1998 und 1999 über 1000   Personen aufgenommen.

 Trotzdem sieht man die längerfristige Entwicklung in Nordafrika bei den Bündner Behörden mit einem mulmigen   Gefühl. Brand verweist auf die bisherige "Dammfunktion" der Region gegenüber Flüchtlingen von südlich der Sahara, welche jetzt wegfalle, was zum Problem werden könne. Und Janom   Steiner meint:   "Wenn man bedenkt, dass in diesem Raum das weltweit grösste Bevölkerungswachstum besteht und dass dort bis in zehn Jahren 50 Millionen Menschen arbeitslos sein werden, dann können wir uns vorstellen, was auf uns zukommen kann."

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Le Matin dimanche 27.2.11

Les réfugiés sont encore en Afrique, mais les cantons et la Confédération se chamaillent déjà

 Les cantons ne veulent pas payer pour les réfugiés

Titus Plattner

 PLANIFICATION Ces prochaines semaines, la Suisse s'attend à un afflux massif de réfugiés, en particulier en provenance de Libye, où 2,5   millions de Noirs africains étaient jusque-là retenus dans des camps. Réunis jeudi pour élaborer des scénarios de crise, cantons et Confédération débattent déjà âprement de qui va devoir payer quoi.

 Les quelques milliers de Tunisiens qui sont arrivés en Italie ne sont qu'un début. Car, ces prochaines semaines et prochains mois, des centaines de milliers de réfugiés suivront. Des Noirs africains principalement, jusque-là maintenus dans seize camps par le régime libyen. Selon le Haut-Commissariat des Nations Unies pour les réfugiés, ils seraient 1,5   million; 3   millions, selon Muammar Kadhafi. Interrogée hier sur les ondes de la Radio alémanique, la ministre de Justice et Police, Simonetta Sommaruga, avançait pour sa part le chiffre de 2,5   millions de personnes. "Maintenant que les frontières avec la Tunisie et l'Egypte ont été ouvertes, expliquait-elle, beaucoup tenteront de fuir la guerre civile. " Selon Frontex, l'agence européenne pour la gestion des frontières extérieures, entre 500 000 et 1   million de personnes pourraient finalement poser le pied sur sol européen.

 Face à cette urgence humanitaire, les responsables des cantons ne perdent toutefois pas le nord. Réunis jeudi à Berne pour élaborer des scénarios de crise, ils ont tenté de s'assurer qu'ils ne paieraient pas un centime de plus que ce qu'ils devraient. Il faut savoir que c'est la Confédération qui est responsable financièrement des demandeurs d'asile, mais les cantons s'occupent de leur hébergement. Berne leur verse donc une indemnité de quelque 55 francs par personne et par jour.

 Seulement voilà, maintenant qu'on demande aux cantons d'anticiper, en prévoyant des capacités d'accueil pour l'avenir, ceux-ci veulent aussi se faire dédommager. "Louer un hôtel vide, pour peut-être s'en servir dans deux ou trois mois, cela coûte cher", explique un représentant cantonal. Voilà pourquoi le comité d'experts chargé d'élaborer une planification concrète "tiendra également compte des aspects financiers", comme le laissait laconiquement entrevoir le communiqué de presse diffusé jeudi par l'Office fédéral des migrations. Outre ces considérations pécuniaires, les experts réunis jeudi ont dessiné trois scénarios.

 Scénario 1: statu quo

 Cela peut sembler incroyable, mais le premier scénario part sur la base d'un statu quo, c'est-à-dire environ 1300 demandes d'asile par mois. Car les autorités suisses, les cantons en premier, espèrent encore que les règles de Dublin s'appliqueront pleinement. En clair: que le premier pays européen sur lequel ces migrants auront posé le pied se chargera de la procédure d'asile. Mais l'Italie a déjà commencé à faire obstruction, à limiter le nombre de "cas Dublin" qu'elle accepte en retour. Voilà pourquoi, en Suisse, beaucoup espèrent que ces réfugiés n'arrivent même pas jusqu'ici. "Si possible, les arrivants doivent déjà être triés sur place, par exemple à Lampedusa", indique ainsi Karin Keller-Sutter, présidente de la Conférence des directeurs cantonaux de justice et police.

 Procédures accélérées

 Les deux autres scénarios misent sur une augmentation, l'un à "1800 demandes par mois" et l'autre à "plus de 1800 demandes par mois", sans limite vers le haut. C'est bien ce dernier qui risque de se réaliser.

 Afin de pouvoir y faire face, tout le monde semble s'accorder pour accélérer au maximum la procédure d'asile. "Personne ne sait combien il y aura de réfugiés, mais ce qui est certain, a indiqué la conseillère fédérale Simonetta Sommaruga, c'est que les procédures devront être les plus rapides possibles, afin de refouler tout de suite les réfugiés économiques. " Elle-même privilégie une aide sur place, d'abord en Egypte et en Tunisie, où la situation est plus stable: "Il faudra une aide financière de ces pays. Nous pouvons aussi aider dans le processus de démocratisation, dans l'organisation d'élections par exemple. "

 La cheffe du Département de justice et police s'attend toutefois à devoir prendre des mesures exceptionnelles, surtout pour les réfugiés libyens ou actuellement réfugiés en Libye, mais venant d'Afrique subsaharienne. "En cas de situation exceptionnelle comme pendant la crise du Kosovo, a-t-elle déclaré, la Suisse a déjà su faire preuve de solidarité. " Le pays avait accueilli 47 000 réfugiés.

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 BERNE CRAINT L'ARRIVÉE D'ISLAMISTES RADICAUX

 SERVICE DE RENSEIGNEMENT Parmi les milliers de demandeurs d'asile qui pourraient arriver ces prochains mois, le Service de renseignement de la Confédération (SRC) craint l'arrivée d'islamistes radicaux. Jeudi à Berne, lors de la séance spéciale du comité d'experts "Procédure d'asile et hébergement", un cadre du SRC, spécialisé dans la lutte contre le terrorisme international, s'en est inquiété auprès de ses collègues, indiquent plusieurs personnes présentes à la réunion. L'agent C. D. , vingt ans d'expérience avec les groupes islamistes, voulait s'assurer que ses services disposeraient suffisamment tôt des informations d'identité concernant les nouveaux arrivants en provenance d'Afrique du Nord. Le SRC a peur d'être débordé par un trop grand nombre de contrôles à effectuer. Contacté, le porte-parole du SRC n'a pas souhaité commenter nos informations. Sous couvert de l'anonymat, un haut responsable du SRC indique toutefois que "ces vérifications font partie de la procédure standard". Il faut savoir que, jusqu'au bout, les régimes de Moubarak, de Ben Ali ou de Kadhafi ont fermement réprimé les islamistes. Ces dernières semaines, nombre de leurs leaders radicaux sont sortis de prison à la faveur des mouvements de libération. "La question n'est pas de savoir si des islamistes viendront en Suisse, mais comment on fera pour les identifier", s'inquiète le conseiller national UDC et inspecteur de police Yvan Perrin. x

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 SIX QUESTIONS À JÜRG NOTH Chef du Corps des gardes-frontière

 L'UDC veut que l'armée vienne soutenir le Corps des gardes-frontière. Serait-ce utile?

 Un recours à l'armée n'est pas prévu. Même si on réintroduisait des contrôles systématiques à la frontière - comme le permettraient en ultime recours les Accords de Schengen - il faut du personnel spécialement formé. Pour contrôler les migrants ou lutter contre la criminalité transfrontalière, les gardes-frontière sont nécessaires.

 Mais, en cas d'afflux massif de réfugiés, il vous faudra de l'aide…

 A ce stade, nous n'avons constaté aucun changement en raison des événements en Afrique du Nord. En cas de besoin, le Corps des gardes-frontière peut déjà transférer du personnel d'autres régions vers les zones concernées. Si une vague de migration importante a effectivement lieu, je peux tout au plus m'imaginer une aide de l'armée pour la surveillance aérienne(hélicoptères, drones)ou éventuellement une aide logistique.

 Pourrait-il aussi s'agir de miliciens?

 Il est hors de question de recourir à des soldats de milice pour la surveillance des frontières. Pour cette tâche, il faut des professionnels formés et expérimentés.

 Mais vous êtes déjà aujourd'hui en manque de personnel…

 Nos effectifs sont serrés. Sur les 35 postes que nous avons demandés au Conseil fédéral, onze ont été accordés…

 Alors que ferez-vous en cas de situation de crise?

 Je peux très bien m'imaginer un soutien à travers les organisations partenaires des pays voisins, sur la base des accords policiers et douaniers bilatéraux.

 Vous voulez dire que des gardes-frontière étrangers viendraient surveiller les frontières suisses?

 L'accord avec l'Allemagne le permettrait, mais ce n'est pas l'idée. Il s'agit d'abord d'intensifier encore la collaboration, en échangeant par exemple des analyses de la situation ou en faisant des patrouilles communes là où c'est possible(avec les Français et les Allemands,ndlr). Cela permettrait de dégager des moyens pour les régions où nous manquerions de personnel, par exemple au Tessin.

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Tagesanzeiger 26.2.11

Zürich hat zu wenig Betten für Flüchtlinge aus Nordafrika

 Die Durchgangszentren für Asylsuchende sind voll, die Notunterkünfte ebenso. Für eine Flüchtlingswelle aus Libyen ist der Kanton Zürich noch nicht gerüstet.

 Von Stefan Häne

 Zürich - Eilends hat Sicherheitsdirektor Hans Hollenstein (CVP) gestern seinen Stab zusammengetrommelt. Thema der Sitzung: die Hunderttausenden von Menschen, die in den nächsten Wochen aus Nordafrika nach Europa flüchten könnten. Fachleute des Bundesamts für Flüchtlinge rechnen landesweit mit bis zu 1800 Asylgesuchen pro Monat, zusätzlich zu den 1000 bis 1300 Gesuchen, die normalerweise monatlich eingehen. Davon betroffen wäre auch der Kanton Zürich: Vom Schweizer Kontingent muss er 17   Prozent der Flüchtlinge aufnehmen.

 Die Schweizer Asylstrukturen sind derzeit auf rund 17 000 Gesuche pro Jahr ausgelegt. Der Kanton Zürich unterhält sechs Durchgangszentren mit total 728 Plätzen für Asylbewerber, die vorläufig aufgenommen wurden. Dazu kommen sieben Notunterkünfte mit 692 Plätzen. Benutzt werden sie von Asylbewerbern, die einen abschlägigen Bescheid erhalten haben. Sie beziehen zur Existenzsicherung Nothilfe und müssten das Land verlassen. Dass sie es nicht tun, hat einen Grund: Sie warten auf die Reisepapiere aus ihrem Heimatland, wie Jolanda van de Graaf, Sprecherin der Sicherheitsdirektion, sagt.

 Städte reagieren verzögert

 Das bleibt nicht folgenlos. "Die Plätze in den Durchgangszentren und Notunterkünften sind alle besetzt", sagt van de Graaf. Sicherheitsdirektor Hollenstein hat deshalb eine schwierige Aufgabe zu meistern: Er muss neuen Platz schaffen. Doch wo? Das Verteidigungsdepartement prüft zwar, ob die Armee Unterkünfte zur Verfügung stellen kann. Eine Lösung ist für den Kanton Zürich aber noch nicht gefunden. Das kantonale Sozialamt sucht deshalb auch bei den Gemeinden nach freien Betten. Dass dies schwierig ist, zeigt sich exemplarisch an der Gemeinde Eglisau, die sich seit Jahren gegen den Bau eines Asylzentrums wehrt.

 Hinzu kommt, dass der Liegenschaftenmarkt ausgetrocknet ist, was die Suche erschwert. "Wir können Wohnraum für Asylsuchende nicht auf Vorrat schaffen", sagt Thomas Kunz, Direktor der Asyl-Organisation der Stadt Zürich. Deshalb bleibt den Städten und Gemeinden nichts anderes übrig, als verzögert auf die Aktualität zu reagieren.

 Bereits am Donnerstag hat das Bundesamt für Migration gemeinsam mit Kantonsvertretern die Lage analysiert. Für die Massnahmenplanung sei der Kanton Zürich auf die Einschätzungen des Bundes angewiesen, sagt van de Graaf. In die Planung einfliessen werden die Erfahrungen, die der Kanton Zürich mit den Flüchtlingen während des Kosovokriegs Ende der 90er-Jahre gemacht hat. Damals stiegen die Asylzahlen sprunghaft auf 47 000 pro Jahr an. Der Kanton Zürich nahm damals jährlich 7000 Asylsuchende auf. Weil die Unterkünfte überfüllt waren, mussten Flüchtlinge teilweise in Unterführungen, Bahnhöfen oder im Wald übernachten.

 "Man muss nur wollen"

 Entschärfen liesse sich die Lage, wenn die Behörden stärker mit Kirchen oder zivilgesellschaftlichen Netzen zusammenspannen würden. Dies sagt Moreno Casasola, Generalsekretär der Menschenrechtsorganisation Solidarité sans Frontières. Der Bund soll seiner Ansicht nach sein Geld besser "in solch eher unübliche Ansätze" stecken, statt etwa die Grenzwache auszubauen. "Es gibt immer Möglichkeiten, Flüchtlinge unterzubringen. Man muss nur wollen."

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Aargauer Zeitung 26.2.11

Wie gross wird die Flüchtlingswelle?

 Libyen-Krise Kanton lotet die Kapazitäten für die Aufnahme von Flüchtlingen aus Nordafrika aus

Urs Moser

 Die Aargauer Behörden üben sich in Zurückhaltung bei der Beurteilung der Signale aus Bern, das Dubliner Asylabkommen sei im Hinblick auf zu erwartende Flüchtlingsströme aus Nordafrika vielleicht nicht ganz buchstabengetreu umzusetzen, da Italien nicht unbedingt Tausende Flüchtlinge aufnehmen könne. "Dafür sind wir nicht zuständig, daher ist es auch nicht an uns, dazu eine Haltung einzunehmen", sagt Markus Rudin, Leiter des Aargauer Migrationsamtes.

 Enger zusammenrücken

 Niemand weiss zurzeit, wann eine Flüchtlingswelle die Schweiz erreicht und wie gross sie genau sein wird. Fest steht aber: Mit einer starken Zunahme der Asylgesuche ist zu rechnen. "Der kantonale Sozialdienst prüft intensiv, wie eine steigende Zahl von Zuweisungen von Asylsuchenden an den Kanton Aargau bewältigt werden kann", bestätigt Balz Bruder, Kommunikationschef des Departements Gesundheit und Soziales. Konkreteres gibt es zum jetzigen Zeitpunkt aber kaum zu sagen. Ausser vielleicht dies: Zusammenrücken heisst zunächst einmal die Devise. Es läuft eine Bestandesaufnahme in allen der rund 50 Asylunterkünfte des Kantons, um abzuklären, wie stark sich die Belegung "verdichten" lässt. "Wir sind daran, das Potenzial zu quantifizieren", so Bruder. In einzelnen Unterkünften liege schon noch eine grössere Belegung drin, ohne dass man von nicht mehr zumutbaren Lebensverhältnissen sprechen müsste. Aber man macht sich beim Kanton keine Illusionen: Man wird mit Sicherheit einen grösseren Platzbedarf einplanen müssen.

 Unter Umständen einen erheblich grösseren. Die Belegung der 50 Asylunterkünfte des Kantons lag im letzten Jahr bei 86 Prozent. In den vom kantonalen Sozialdienst zur Verfügung gestellten Strukturen leben derzeit rund 2000 Personen, deren Asyl- oder Beschwerdeverfahren hängig ist oder die über eine vorläufige Aufnahme verfügen. Beim ersten Koordinationstreffen mit den Kantonen am Donnerstag war seitens des Bundesamtes für Flüchtlinge von Szenarien mit bis zu 1800 zusätzlichen Asylgesuchen die Rede - pro Monat. Bleibt es bei der jetzigen Praxis, dass dem Kanton Aargau 7,7 Prozent der Asylsuchenden zugewiesen werden, würde das auf einen Bedarf von über 130 zusätzlichen Plätzen monatlich hinauslaufen. Die Zahl der jährlichen Zuweisungen würde sich gegenüber den in den letzten Jahren ohnehin schon wieder deutlich angestiegenen Zahlen weit mehr als verdoppeln.

 Aber eben: Zum heutigen Zeitpunkt ist nicht erkennbar, mit wie vielen Flüchtlingen die Schweiz tatsächlich konfrontiert sein wird. Und es ist auch nicht entschieden, wie der Bund bei einem sprunghaften Anstieg der Asylzahlen die Verteilung auf die Kantone zu organisieren gedenkt. Deshalb "können im jetzigen Zeitpunkt konkrete Massnahmen nicht umgesetzt werden", heisst es aus dem Departement Gesundheit und Soziales.

 Wieder in Zivilschutzanlagen

 Absehbar ist, dass man wie in den Jahren 2008 und 2009 wieder auf die Unterbringung von Asylsuchenden in Zivilschutzanlagen wird zurückgreifen müssen. Allerdings ist das nur eine Lösung auf eine mehr oder weniger eng beschränkte Zeit. Bei einer Verfahrensdauer von zwei bis drei Jahren im Asylwesen wird man also kaum darum herumkommen, auch zusätzliche Unterkünfte für eine dauerhaftere Unterbringung einzurichten. Einerseits baue man dabei auf das Verständnis der Bevölkerung für die Notsituation, so Balz Bruder. Anderseits ist man natürlich bemüht, das Problem so spannungsfrei wie möglich zu lösen. Für die in Prüfung befindliche "Verdichtung" der Belegung bestehender Unterkünfte fallen zum Beispiel die problembehafteten Standorte Holderbank und Oftringen ausser Betracht. Dort sind ohnehin die Asylbewerber untergebracht, die bereits einen negativen Entscheid haben und das Land verlassen müssen.

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Südostschweiz 26.2.11

Italien will die Flüchtlinge in Eigenregie verteilen

 Enttäuscht über ausbleibende Unterstützung der EU-   Partner erwägt Rom, ankommende Flüchtlinge einfach weiterreisen zu lassen - nach Frankreich, nach Deutschland, nach   Österreich, in die Schweiz.

 Von Dominik Straub

 Rom. - In Rom ist die Verbitterung über die schroffe Ablehnung einer Verteilung der zu erwartenden Libyen-Flüchtlinge auf die EU-Partnerländer gross. "Die mittel- und nordeuropäischen Ländern können sich nicht in ihrem Egoismus abschotten", betonte gestern Verteidigungsminister Ignazio La   Russa. Einfach so zu tun, als ginge sie das Ganze nichts an, befinde sich "an der Grenze zum Zynismus", schrieb der "Corriere della Sera" an die Adresse Deutschlands und Schwedens, die sich am Treffen der EU-Innenminister vom Donnerstag besonders kühl gezeigt hatten.

 Rom soll schon Pläne schmieden

 Die Italiener werden die Verweigerungshaltung in Brüssel nicht einfach so hinnehmen. Der "Corriere della Sera" meldete mit Verweis auf Quellen aus dem italienischen Innenministerium, dass Roms Antwort bereits vorgespurt sei: Auffang   lager ohne Überwachung, aus denen sich die Flüchtlinge jederzeit entfernen können. "Es ist vorhersehbar, dass diejenigen Immigranten, die in Lampedusa oder in Sizilien landen, aber in andere EU-Länder weiterreisen wollen, nicht zurückgehalten werden", schreibt das Mailänder Blatt. Und genau das - weiterreisen nach Frankreich, Deutschland, Österreich und die Schweiz - werden die meisten der Flüchtlinge wollen.

 Vieles davon, was nördlich der Alpen gegen eine Verteilung der Flüchtlinge vorgebracht wird, tönt in italienischen Ohren fadenscheinig und verlogen. Wer Italien beispielsweise vorrechnet, dass es in den letzten Jahren weniger Asylbewerber aufgenommen habe als andere EU-Länder, vergisst die Tatsache, dass es ausser dem Asylverfahren noch andere Möglichkeiten gibt, Einwanderern aus Nicht-EU-Ländern den Aufenthalt zu ermöglichen: die humanitäre Aufnahme oder - in Italien besonders beliebt - die "Sanierung" von oft mehr auf Hunderttausend "Clandestini" auf einen Schlag. Fakt ist, dass Italiens ausländische Bevölkerung seit 2008 jedes Jahr um rund 400   000 Personen gewachsen ist - und   jene Schwedens, das sich mit seiner grosszügigen Asyl   politik brüstet, um wenige Tausend.

 Wie umgehen mit Flüchtlingen?

 Das Asyl-Argument ist ohnehin Augenwischerei: Bei den meisten der Afrikaner, die möglicherweise in den nächsten Monaten an Europas Tür klopfen werden, handelt es sich um Armutsflüchtlinge, nicht um politisch Verfolgte. Europa - und nicht die Mittelmeer-Anrainer, die zufällig Afrikas Nachbarn sind - muss sich endlich Gedanken darüber machen, wie mit diesen Menschen umzugehen ist. Selbst wenn man die Auffassung vertritt, dass politisch nicht verfolgten Flüchtlinge wieder in ihre Heimat abzuschieben seien, ist nicht einzusehen, warum nur den südeuropäischen Ländern die vorläufige Aufnahme und Betreuung, Gesuchbehandlung und Zwangsabschiebung der Flüchtlinge aufgebürdet werden soll.

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 Schweizer Politiker "pochen auf Dublin"
 
Von Sermîn Faki

 Bern. - Wenn Italien seine Drohung wahrmacht und nordafrikanische Flüchtlinge einfach durchlässt, könnte es für die Schweiz eng werden. Über 730   Kilometer gemeinsame Grenze machen es wahrscheinlich, dass ein Teil der Flüchtlinge in die Schweiz kommt. Für den Zürcher SVP-Nationalrat Hans Fehr steht fest: "Das ist ganz klar eine Drohung an die EU." Diese müsse endlich das Dublin-Regime durchsetzen - dieses besagt, dass jenes Mitgliedsland, in das ein Asylbewerber zuerst eingereist ist, das Asylverfahren durchführen muss - und Italien dabei unterstützen, seinen Verpflichtungen nachzukommen. Da Brüssel das offensichtlich nicht schaffe, müssten die Schweizer Südgrenzen dicht   gemacht werden. "Es braucht einen dringenden Bundesbeschluss, um die Grenzwächter allenfalls durch die Armee zu verstärken."

 Auch der Aargauer FDP-Nationalrat Philipp Müller hat kein Verständnis für die Position Italiens: "Wir pochen auf Dublin." Die Haltung Roms erstaunt ihn aber nicht. Italien würde die Dublin-Verordnung schon seit Jahren unterlaufen. Dass dort jährlich nur rund 6500   Asylgesuche registriert würden, zeigt für ihn: "Dublin funktioniert nicht." Auch Müller plädiert dafür, das Grenzwachtkorps im Tessin zu verstärken.

 Die Schweizer Grenze dichtzumachen, hält Geri Müller für puren Aktionismus. Der grüne Aargauer Nationalrat ist sich sicher, dass Italien die Drohung so gar nicht wahrmachen wird. Ferner weist er darauf hin, dass man nicht einerseits die "Revolutionen" in Nordafrika unterstützen und andererseits bei den dadurch ver   ursachten Flüchtlingswellen wegschauen kann: "Wir dürfen jetzt nicht sagen: ‘Das geht uns nichts an.'" Daher begrüsst Müller auch, dass das Bundesamt für Migration bereits am Donnerstag signalisiert hat, sich auf eine Flüchtlingswelle vorzubereiten und gleichzeitig die Schweizer Aufnahmekapazitäten genannt hat. Für Hans Fehr hingegen ist das ein weiteres Zeichen einer verfehlten Migrationspolitik: "Das ist ja quasi eine Einladung gewesen."

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Landbote 26.2.11

Arbeitskräfte aus Afrika

 BERN. Seit geraumer Zeit fordert das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten ein Umdenken in der Migrations- und Flüchtlingspolitik. So liess Botschafter Thomas Greminger, Chef der Schweizer Delegation bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, im letzten Jahr verlauten, dass man wegkommen solle von einer Migrationspolitik, die stark auf Rückübernahmeabkommen mit Drittweltstaaten ausgerichtet ist. Es gehe vielmehr darum, künftig auch Arbeitskräfte aus Afrika zu rekrutieren - um beispielsweise so den Notstand im Gesundheitswesen zu beheben.

 Zumindest teilweise in diese Richtung zielt jene Migrationspartnerschaft, die die Schweiz vor wenigen Tagen mit Nigeria eingegangen ist. Das Land soll für seine Kooperation bei der Rücknahme von Asylbewerbern einen Gegenwert erhalten. Geplant ist etwa, dass jungen Nigerianern in der Schweiz Ausbildungsplätze und Stages angeboten werden. (tm)

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Ausbildungsplätze für Afrikaner
 
Thomas Münzel

 BERN. Die zu erwartenden Migrations- und Flüchtlingsströme machen vielen Angst. Andere wiederum sehen darin auch Chancen. Denn mittels Migrationspartnerschaften mit Drittstaaten könnte für alle Beteiligten eine "Win-win-win"-Situation entstehen.

 Jugendliche aus Nicht-EU-Staaten sollen in der Schweiz unbesetzte Lehrstellen annehmen - und danach in ihre Heimat zurückkehren. Diesen Vorschlag präsentierte Aussenministerin Micheline Calmy-Rey vor vier Jahren an einer EDA-Tagung und erntete damals mehr Spott und Kritik, als Applaus. Doch die Idee, dass man Drittstaaten im Rahmen einer Migrationspartnerschaft einen kontrollierten, temporären Zugang zum Schweizer Lehrstellen- und Weiterbildungsmarkt gewährt, ist nicht vom Tisch. Im Gegenteil: Angesichts der anschwellenden Migrations- und Flüchtlingströme scheint sie gar aktueller denn je.

 Konkret könnten so beispielsweise unbesetzte Lehrstellen in Handwerksberufen durch jugendliche Immigranten besetzt werden, die anschliessend mit Hilfe von Stütz- und Reintegrationsmassnahmen in ihre Heimat zurückgeschickt würden. "Ein solches Modell könnte zu einer Win-win-win-Situation für die Schweiz, das Partnerland und die Migranten werden", argumentierte Calmy-Rey schon damals.

 Umfassende Partnerschaft

 In der Zwischenzeit wurde die Idee der Aussenministerin weiterentwickelt und nimmt immer mehr Gestalt an. Aus- und Weiterbildungsprojekte finden sich heute gleich in mehreren Absichtserklärungen (Memorandum of Understanding), die die Schweiz in den letzten zwei Jahren zusammen mit mehreren Balkanländern - und vor wenigen Tagen nun auch mit Nigeria - unterzeichnet hat. Insbesondere die angestrebte Migrationspartnerschaft mit Nigeria ist ausserordentlich umfassend und kommt einem eigentlichen Entwicklungshilfeprojekt gleich.

 Zwar geht es der Schweiz bei der Partnerschaft mit Nigeria primär darum, abgewiesene Asylbewerber von einer freiwilligen Rückkehr zu überzeugen. Doch diese Absicht ist gekoppelt mit einem ganzen Bündel von Projekten und Programmen, die einen konkreten Bezug zu Einwanderungs- und Auswanderungsfragen haben. So will die Schweiz freiwilligen Rückkehrern nicht nur finanziell unter die Arme greifen und ihnen bei der Wiedereingliederung in ihrer Heimat mit Mikrokrediten helfen, sondern ihr Herkunftsland Nigeria auch

 • bei der Bekämpfung des Menschenhandels- und schmuggels unterstützen,

 • mittels Informationskampagnen präventiv gegen irreguläre Migration vorgehen,

 • im Bereich der staatlichen Strukturen Hilfe anbieten (Einwanderungsbehörden),

 • bei Menschenrechtsfragen in die Pflicht nehmen (Menschenrechts- dialog).

Nigeria eine Perspektive geben

 Zudem sind in Sachen Aus- und Weiterbildung laut dem Bundesamt für Migration derzeit die nachfolgenden Projekte für Nigeria in Planung:

 • akademische Austauschprogramme,

 • ein Ausbildungsprojekt im Bereich Landwirtschaft für junge Nigerianer,

 • Ausbildungs- und Weiterbildungsmodule, in Zusammenarbeit mit Schweizer Firmen (wie etwa Nestlé).

 "Mit der Etablierung einer Migrationspartnerschaft mit einem so wichtigen afrikanischen Land wie Nigeria nimmt die Schweiz eine Vorreiterrolle innerhalb der europäischen Staaten ein", sagt Michael Glauser, Sprecher des Bundesamtes für Migration. Er betont dabei insbesondere den hohen Stellenwert der Aus- und Weiterbildungsangebote für Nigerianer. Junge Menschen könnten so ihre beruflichen Kenntnisse vertiefen, um diese dann in der Heimat einsetzen zu können. "Auf diese Weise wird ein Wissenstransfer stattfinden, welcher der Entwicklung des Partnerstaates zugutekommt und die Perspektiven der Menschen vor Ort verbessert", erklärt Glauser.

 Langfristige Projekte

 Doch noch sind diese langfristigen Projekte nur Gegenstand von Gesprächen zwischen den Experten beider Seiten. Ein erster fachlicher Migrationsdialog soll Ende März in Nigerias Hauptstand Abuja stattfinden. Allfällige Aufenthalte zur Aus- und Weiterbildung in der Schweiz sollen im Rahmen des Ausländergesetzes abgewickelt werden und sich zahlenmässig eher im kleinen Rahmen bewegen, meint Glauser. "Es werden also nicht Hunderte Personen sein."

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 Migrationspartnerschaften mit Tunesien und Libyen?

 Nach Einschätzung der Politikwissenschaftlerin und Migrationsfachfrau Sandra Lavenex sind Migrationspartnerschaften ein "wichtiges Instrument des Dialogs zwischen Herkunfts- und Destinationsländern und eine Hinwendung zu mehr Kooperation im Bereich internationaler Migration". Lavenex verweist in diesem Zusammenhang auf bereits bestehende Migrationspartnerschaften, wie zum Beispiel jene von Frankreich und Spanien mit verschiedenen afrikanischen Ländern. "In deren Rahmen sind auch Kontingente für Arbeitsmigranten und Ausbildungsmassnahmen vereinbart worden."

 Da stellt sich die Frage, inwieweit es nicht sinnvoll wäre, wenn die Schweiz - gerade angesichts des zunehmenden Flüchtlings- und Migrationsdrucks - in naher Zukunft mit Ländern wie Tunesien, Libyen, Algerien, Marokko und Ägypten umfassende Migrationspartnerschaften eingehen würde. Das Bundesamt für Migration äussert sich zu dieser Frage zurückhaltend. "Über eine allfällige Aufnahme von Verhandlungen mit weiteren Staaten wird erst zu einem späteren Zeitpunkt entschieden", heisst es dazu lediglich.

 Klarer Stellung bezieht hingegen Sandra Lavenex: "Aussenpolitisch wären Migrationspartnerschaften mit diesen Ländern sehr sinnvoll. Auch ökonomisch liesse sich eine gesteuerte Migrationspolitik durchaus zum Vorteil der Schweiz gestalten", so Lavenex. Innenpolitisch stünden dem aber Ressentiments entgegen. "Ein Wandel des politischen Diskurses wäre vonnöten, der die breitere gesellschafts- und weltpolitische Bedeutung von Migration und Mobilität betont, auch aus friedenspolitischer Sicht", erklärt Lavenex. Zudem warnt sie aber vor einem Wunderglauben.

 "Es darf nicht zu viel von solchen Instrumenten erwartet werden. Es wäre falsch, sich zu erhoffen, dass damit die ungewollte Einwanderung völlig unterbunden würde", hält Lavenex fest. "Aussen- und entwicklungspolitisch haben solche Instrumente aber einen grossen Nutzen und sie tragen zum Ansehen der westlichen Welt und zum Abbau von Spannungen bei, wenn sie gut und im partnerschaftlichen Dialog ausgestaltet sind." (tm)

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Bund 25.2.11

Schweizer Grenzwächter nach Süditalien

 Erstmals beteiligt sich die Schweiz an einer Operation zum Schutz der EU-Grenze: Zwei Grenzwächter werden in Süditalien zur Befragung von Flüchtlingen eingesetzt.
 
Daniel Foppa

 Seit Tagen sind drei Schweizer Grenzwächter auf Abruf bereitgestanden. Gestern ist das Ersuchen der EU-Grenzschutzagentur Frontex eingetroffen: Zwei Spezialisten für Dokumentenprüfung werden nun nach Süditalien entsandt. Der dritte Mann, ein Luftüberwachungsspezialist, wartet weiterhin auf sein Aufgebot.

 Laut Walter Pavel von der Eidgenössischen Zollverwaltung reisen die beiden Grenzwächter am Montag ab. Sie werden an der Frontex-Operation Hermes teilnehmen, die seit Sonntag läuft. Damit versucht die EU, den Flüchtlingsstrom aus Nordafrika einzudämmen. Gestartet wurde die Operation mit etwa 50 Spezialisten aus 12 Ländern. Ihre Zahl soll kontinuierlich erhöht werden. Die Frontex-Spezialisten sind der italienischen Grenzschutzbehörde unterstellt.

 Einsatz in Sizilien und Apulien

 Ein Schweizer wird im Auffangzentrum von Caltanissetta (Sizilien) eingesetzt, der andere in einem Camp in Bari (Apulien). Ihre Aufgabe ist es, Flüchtlinge zu befragen und deren Papiere zu prüfen. "Man will herausfinden, woher die Flüchtlinge kommen, ob sie gefälschte Papiere vorweisen und was ihr Ziel war", sagt Pavel. Auch gehe es darum, Erkenntnisse über Schleuser zu gewinnen. Der Einsatz der beiden Schweizer dauert vorläufig vier Wochen.

 Als Schengen-Mitglied ist die Schweiz seit 2008 auch Mitglied von Frontex. Damit kann der Bund verpflichtet werden, Grenzwächter für Einsätze an der EU-Aussengrenze zur Verfügung zu stellen. Laut Pavel könnte die Schweiz theoretisch einen Einsatz ablehnen - wenn etwa nicht genügend Kapazitäten zur Verfügung stünden. Die Schweiz zahlt pro Jahr zwischen 2,3 und 2,7 Millionen Franken an Frontex.

 Weitere Operationen geplant

 Für Frontex-Einsätze steht ein Pool von 30 speziell geschulten Grenzwächtern bereit. Laut Pavel wird die Schweiz dieses Jahr an mindestens zwei und maximal neun weiteren Operationen teilnehmen. Geplant ist, dass künftig fünf bis sechs Grenzwächter permanent im Frontex-Einsatz stehen.

 Die Grenzschutz-Operationen werden auch kritisiert. "Frontex prüft nicht, ob sich unter den Flüchtlingen schutzbedürftige Personen mit Anrecht auf Asyl befinden", sagt Magdalena Urrejola von Amnesty International. Spüre Frontex auf See Flüchtlinge aus Ländern auf, mit denen EU-Rückübernahmeabkommen bestehen, lasse man diese Menschen gar nicht erst an Land. Vielmehr werde das Herkunftsland avisiert, damit es die Flüchtlinge zurückhole. "So wird ihnen verunmöglicht, ein Asylgesuch zu stellen. Das widerspricht der Flüchtlingskonvention", sagt Urrejola. Frontex hält dem entgegen, man zwinge keine Flüchtlinge zur Umkehr - sondern rette sie vielmehr und bringe sie in Auffanglager.

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NZZ 25.2.11

Vorbereitung auf allfällige Flüchtlinge aus Nordafrika

 Sondersitzung von Vertretern von Bund und Kantonen

 Die Schweiz rechnet mit einem Anstieg der Asylgesuche wegen der Umstürze in Nordafrika. Nun wird geprüft, wie die Kapazitäten erhöht werden könnten. Elementar sind für die Schweiz auch die Beschlüsse auf der EU-Ebene.

 Niklaus Nuspliger, Bern

 Die Freude über die demokratischen Revolutionen in Ägypten, Tunesien und Libyen ist bei Schweizer Behörden und Medien rasch Ängsten gewichen, die Schweiz könnte von einem Ansturm von Flüchtlingen erschüttert werden. Zwar ist noch kaum absehbar, wie sich die Lage in Libyen weiterentwickeln wird und wie viele Menschen tatsächlich nach Europa und in die Schweiz zu gelangen versuchen werden. "Doch ist davon auszugehen, dass die Zahl der Asylsuchenden aus Nordafrika und den Maghreb-Staaten steigt", erklärte der Direktor des Bundesamts für Migration (BfM), Alard du Bois-Reymond, am Donnerstag an einem Point de Presse in Bern. Zudem besteht die Möglichkeit, dass ein Auseinanderbrechen der staatlichen Strukturen in Libyen auch einen Strom von Migranten aus südlicheren Regionen Afrikas zur Folge hätte.

 Ausmass des Anstiegs unklar

 Unter Federführung des BfM traf sich am Donnerstag der "Fachausschuss Asylverfahren und Unterbringung" zu einer ausserordentlichen Sitzung. Beteiligt waren Vertreter der Kantone, des Aussen- und des Verteidigungsdepartementes sowie des Grenzwachtkorps. Da über das Ausmass eines allfälligen Anstiegs der Asylgesuchszahl nur gemutmasst werden könne, seien diverse Szenarien diskutiert worden, sagte du Bois-Reymond. In den nächsten zwei Wochen soll nun eine Planung entwickelt werden. Aufgrund von Erfahrungen wird damit gerechnet, dass eine allfällige Flüchtlingswelle in einigen Wochen in der Schweiz eintreffen würde.

 Die Strukturen des Asylwesens sind auf rund 15 000 Gesuche pro Jahr ausgerichtet. In den fünf Empfangszentren des Bundes können bis zu 1300 Asylgesuche pro Monat bearbeitet werden. Diese Kapazität könnte mit Hilfe der Standortkantone auf 1800 Gesuche pro Monat erhöht werden, so du Bois-Reymond. Sollten aber monatlich deutlich mehr als zusätzliche 600 Asylsuchende in der Schweiz eintreffen, müssten auch die Kantone Asylsuchende unterbringen. Dazu sind die Kantone bereit, auch wenn die Generalsekretärin der Konferenz der kantonalen Sozialdirektoren (SODK) über Pläne zur Unterbringung noch keine Angaben machen konnte. Das Verteidigungsdepartement prüft seinerseits, ob vorübergehend Armeeunterkünfte genutzt werden könnten.

 Die Kantone drängen aber darauf, dass der Bund seine Kapazitäten bündelt und über möglichst viele Gesuche in den Empfangszentren befindet. Roger Schneeberger, Generalsekretär der kantonalen Polizei- und Justizdirektorenkonferenz (KKJPD), betonte, Asylgesuche aus der Maghreb-Region seien prioritär zu behandeln. Menschen, die ihr Land aus wirtschaftlichen Gründen verlassen hätten, müssten die Schweiz so rasch wie möglich wieder verlassen. Du Bois-Reymond erklärte, Asylgesuche von Tunesiern könnten vermutlich rasch behandelt werden, im Falle Libyens sehe die Situation angesichts der herrschenden Gewalt aber anders aus.

 Entscheidend für die Schweiz ist vor allem auch, wie die EU mit einer Flüchtlingswelle umgehen würde (siehe Artikel unten). Das Dublin-Abkommen erlaubt es der Schweiz, Asylsuchende, die zuvor etwa in Italien ein Asylgesuch gestellt haben, dorthin zurückzuschicken. Du Bois-Reymond meinte indes, in einer ausserordentlichen Situation könne man das Abkommen womöglich "nicht formalistisch" auslegen.

 2 Grenzwächter nach Italien

 Wie bei der Presseorientierung weiter bekannt wurde, verstärkt das Grenzwachtkorps die Kontrollen an der Grenze im Tessin sowie in Genf. Zudem teilte es mit, aufgrund der Anfrage der europäischen Grenzschutzagentur Frontex würden am Montag nun zwei Experten nach Süditalien entsandt. Sie kommen bei der Prüfung von Reisedokumenten zum Einsatz und sollen auch Erkenntnisse über Schlepper-Routen gewinnen. Ein dritter Experte zur Luftraumüberwachung steht auf Abruf bereit.

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 Die Schweiz setzt auf Vernetzung mit der EU

 Bundesrätin Sommaruga bei den Innenministern in Brüssel

 Peter Winkler, Brüssel · Die Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements, Bundesrätin Sommaruga, hat am Donnerstag in Brüssel am Gemischten Schengen-Ausschuss teilgenommen und wurde danach auch an den Arbeitslunch der EU-Innenminister eingeladen, bei dem es um die Krise in Nordafrika ging. Es sei allen Beteiligten klar gewesen, fasste Sommaruga die Diskussion vor den Medien zusammen, dass sich die europäischen Länder dieser Situation nur gemeinsam stellen könnten. Sie habe sowohl mit ihrer Teilnahme als auch mit ihren Äusserungen unterstreichen wollen, dass die Schweiz Teil dieser europäischen Länder sei. Es sei wichtig, dass die Schweiz dabei sei und sich äussere.

 Umfangreiche Vorkehrungen

 Man dürfe angesichts der Vorgänge in Nordafrika allerdings nicht nur von Sorgen sprechen, sondern sich auch darüber freuen, dass "mutige Menschen auf die Strasse gegangen sind, um für Demokratie zu kämpfen". Viele hätten dafür ihr Leben riskiert oder sogar gegeben. Angesichts dessen, dass vor allem die Lage in Libyen grössere Flüchtlingsströme auslösen könnte, sei man sich einig gewesen, dass man jenen, die Schutz brauchten, diesen auch gewähren werde. Wirtschaftsflüchtlinge würden natürlich zurückgeschickt, doch müsse man helfen, dass diese in ihrer Heimat eine Perspektive erhielten. Zugleich gelte es, die eigene Bevölkerung zu schützen, da ein allfälliger Zustrom von Kriminellen die Sicherheit der Bevölkerung gefährden würde.

 Enger Kontakt mit Italien

 Im bilateralen Gespräch mit dem italienischen Innenminister Maroni habe sie vereinbart, dass die beiden Nachbarländer in engem Kontakt bleiben. Konkrete Unterstützungswünsche habe Maroni keine geäussert, doch sei man übereingekommen, einander über alle Ereignisse rasch zu informieren. Die europäischen Mittelmeerländer seien in einer exponierten Lage, und die Schweiz würde als direkter Nachbar Italiens von allfälligen Migrationsströmen mit Sicherheit mitbetroffen. Die Schweiz müsse sich bewusst sein, dass sie in diesem Fall nicht nur vor der Herausforderung stehe, Solidarität spielen zu lassen. Sie könnte auch in die Lage geraten, Solidarität in Anspruch nehmen zu müssen. Die EU verfüge - etwa mit Frontex und Europol - über Instrumente, die auch der Schweiz nützen könnten.

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Basler Zeitung 25.2.11

Gaddhafi macht die Schweiz nervös

 Vorbereitungen auf Flüchtlinge aus Nordafrika

 Philipp Loser, ALAN CASSIDY, Bern

 Bund und Kantone bereiten sich auf einen Anstieg von Asylgesuchen aus Nordafrika vor. Offen ist das Ausmass des Anstiegs. Sicher ist: Die Revolte in Libyen wird zur ersten Belastungsprobe für das Dublin-Abkommen.

 Egal, wen man in der Verwaltung anrief. Egal, welche News-Seite im Internet man besuchte. Egal, welche Mitteilung einer politischen Partei man durchlas - es war überall dasselbe. Die Euphorie für die Taten des libyschen Volks, das sich endlich gegen seinen Diktator Muammar al-Gaddhafi auflehnt, ist Nervosität gewichen. Der Westen befürchtet, von flüchtenden Libyern wahlweise überflutet, überrannt oder überschwemmt zu werden.

 Der italienische Aussenminister Franco Frattini rechnet mit mindestens 300 000 Asylsuchenden alleine aus Libyen, gar eine Million Flüchtlinge sieht der italienische Innenminister Roberto Maroni auf sein Land zukommen. In diese überbordende Stimmungslage passt auch die Aussage von Alard du Bois-Reymond, Chef des Bundesamtes für Migration (BFM), dass als Schweizer Sofortmassnahme gegen die Flüchtlingsmassen die Grenzen im Tessin und in Genf per sofort stärker bewacht würden. "Davon wissen wir nichts", sagte Walter Pavel, Sprecher des Grenzwachtkorps, gestern Abend. Die Grenzwächter hätten zwar Vorkehrungen getroffen, Personal sei aber bisher nicht verschoben worden.

 Keine Panik. Man werde die Situation weiter beobachten, versicherte Pavel und sprach damit die erste Gewissheit des gestrigen Tages aus. "Wir sollten nicht auf Panik machen", sagte auch Justizministerin Simonetta Sommaruga vor ihrem Treffen mit den Innenministern der EU in Brüssel (vgl. Text rechts). Niemand könne wissen, wie viele Menschen in den nächsten Wochen oder Monaten kommen würden.

 Das war auch das Fazit des Krisengipfels des "Fachausschusses Asylverfahren und Unterbringung", der gestern in Bern stattfand. Vertreter des Bundes und der Kantone nahmen eine Einschätzung der Lage vor: Noch ist kein Anstieg von Asylgesuchen aus Nordafrika und dem Maghreb-Gebiet zu vermelden, allerdings wird damit gerechnet. In den kommenden zwei Wochen will der Ausschuss konkret planen, wie mit den zusätzlichen Flüchtlingen umzugehen sei. Die Strukturen des Asylwesens sind laut Angaben des BFM auf 1300 Asylgesuche pro Monat ausgelegt. Mit der Unterstützung der Kantone könne die Kapazität auf 1800 Gesuche pro Monat ausgebaut werden. "Dabei sollen Asylgesuche von Personen, die vermutlich nur aus wirtschaftlichen Gründen nach Europa migriert sind, prioritär behandelt werden. Diese Personen müssen die Schweiz so rasch als möglich wieder verlassen", heisst es in der Mitteilung. Sollte es zu einem grösseren Anstieg kommen, brauche es zusätzliche Unterkünfte in den Kantonen. Entsprechende Abklärungen laufen, gleichzeitig prüft das Verteidigungsdepartement, ob vorübergehend Armeeunterkünfte verfügbar gemacht werden können.

 Scheinheilig. Flüchtlingsorganisationen reagierten verhalten positiv auf die Ankündigung des Bundesamts für Migration: "Bund und Kantone müssen sich jetzt auf einen Anstieg der Gesuche vorbereiten. Das ist der richtige Schritt", sagt Adrian Hauser, Sprecher der Schweizer Flüchtlingshilfe. Kritischer äussert sich Moreno Casasola, Geschäftsführer von "Solidarité sans frontières". Es sei scheinheilig, der Revolution in Libyen aus der Distanz zu applaudieren und gleichzeitig die eigenen Grenzen möglichst dicht zu machen.

 Genau das Gegenteil ist von der SVP zu hören - ihr ist die Grenze viel zu löchrig. Per Bundesbeschluss will die SVP die Armee zur Unterstützung des Grenzwachtkorps heranziehen: "Wir müssen die Überwachung unserer Südgrenze massiv verstärken", sagt SVP-Nationalrat Hans Fehr (ZH), der die Ankündigung des BFM für ein "falsches Signal" hält: "Klar kommen die Leute, wenn wir öffentlich einen Ansturm ankündigen." SVP-Politiker Fehr hofft darum für einmal auf die EU. Deren Aussengrenze müsse "rigoros" kontrolliert werden. Er spricht damit indirekt die zweite Gewissheit des gestrigen Tages aus: Die Ereignisse in Libyen werden zur ersten Belastungsprobe für das Dublin-Abkommen, wonach hauptsächlich Italien für die über das Mittelmeer flüchtenden Menschen zuständig wäre. "Die erste Flüchtlingswelle wird dank dem Dublin-Abkommen sicher gebrochen", sagt FDP-Nationalrat Peter Malama (BS), "aber erst danach sehen wir, ob das Abkommen unseren Erwartungen entspricht."

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St. Galler Tagblatt 25.2.11

Bund wappnet sich für Flüchtlingswelle

 Um eine Flüchtlingswelle aus Nordafrika bewältigen zu können, klärt der Bund mögliche Szenarien ab. Als Sofortmassnahme wurde bereits die Grenzwache bei Genf und im Tessin verstärkt.

 bern. Man sei sich einig, dass die Schweiz mit einem gewissen Anstieg der Flüchtlingszahlen rechnen müsse, sagte Alard du Bois-Reymond, Chef des Bundesamtes für Migration (BFM), gestern vor den Medien. Unklar sei aber, womit man rechnen müsse. Um auf alles vorbereitet zu sein, wird ein Fachausschuss mögliche Szenarien abklären und jeweils die Verantwortlichkeiten klären, wobei vor allem der Bund und die Kantone miteinander absprechen müssen, wer sich der Probleme annimmt. In diesem Fachausschuss sitzen neben dem BFM die kantonalen Polizei- und Justizdirektoren, kantonale Asylkoordinatoren sowie Vertreter der Armee und des Departements für auswärtige Angelegenheiten.

 Für Roger Schneeberger, den Generalsekretär der kantonalen Polizei- und Justizdirektoren, muss vor allem schnell geklärt werden, welche Flüchtlinge keine Chance auf Asyl haben und schnell zurückgeschickt werden sollen. "Wir müssen die richtigen Signale aussenden", sagte Schneeberger. (sda)

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Blick 25.2.11

SVP fordert
 Armee an die Grenze

 Von  Hubert Mooser

 Europa und die Schweiz zittern vor einem Flüchtlingsansturm aus Afrika.

 Die Lampen stehen in Europa auf Rot. Hält die Südgrenze einem Ansturm aus Afrika stand? Gestern Morgen flog Justizministerin Simonetta Sommaruga nach Brüssel, um mit den EU-Innenministern solche Fragen zu erörtern. Italien scheint überfordert und hat die EU um Hilfe gerufen.

 Über drei Stunden nahm die Justizministerin an der Sitzung der 27 EU-Staaten teil, wo Italien, Malta und Spanien auf die Solidarität anderer Staaten pochten. Italien erwartet eine Million Flüchtlinge. Sommaruga dazu: "Niemand weiss, wie sich die Situation entwickeln wird." Es seien aber Fluchtbewegungen zu erwarten nach Tunesien und Ägypten, aber auch nach Europa.

 Die Bundesrätin sagt, die Schweiz müsse "alles dafür tun, dass jene Menschen, die Schutz brauchen, diesen auch bekommen". Die Schweiz müsse auch schauen, was sie dazu beitragen könne, um die "teils schwierige humanitäre Situation" vor Ort zu verbessern. Das Asylrecht sei ein wichtiges Grundrecht, so die Justizministerin. Aber mit dem Flüchtlingsstrom könnten auch Kriminelle nach Europa kommen, und da müsse die eigene Bevölkerung geschützt werden.

 Gegen einen grossen Flüchtlingsstrom will sich das Bundesamt für Migration (BFM) rechtzeitig wappnen. Gestern Morgen traf sich deshalb der dafür zuständige Fachausschuss zu einem Krisengipfel in Bern.

 Als Sofortmassnahme wird der Grenzschutz an der Südgrenze im Tessin und Genf verstärkt.

 In den kommenden 14 Tagen will der Bund mit den Kantonen mögliche Szenarien durchspielen und Massnahmepläne erstellen. Mehrere Wochen dauert es erfahrungsgemäss, "bis die ersten Flüchtlinge den Weg von Süden in die Schweiz gefunden haben", so BFM-Chef Alard du Bois-Reymond vor den Medien. Wer keinen Anspruch auf Asyl habe, soll rasch zurückgeschickt werden, betonte der Generalsekretär der Justiz-und Polizeidirektorenkonferenz, Roger Schneeberger, am Krisengipfel.

 Die Behörden in Brüssel und Bern sind mit Hochdruck an der Arbeit, doch die SVP spricht bereits von Kapitulation. Um illegale Grenzübertritte zu verhindern, müsse die Schweiz einen dringlichen Bundesbeschluss vorbereiten, damit die Armee im "Bedarfsfall" das Grenzwachtkorps unterstützen kann. Laut SVP-Nationalrat Hans Fehr verfügt das Grenzwachtkorps nicht über genügend Personal, um die Übergänge zu sichern. Die Armee an die Grenze, um Flüchtlinge abzuwehren? "Das wäre schon ein bisschen übertrieben", findet die Aargauer Nationalrätin Esther Egger-Wyss: "Wir sollten trotz schwieriger Situation die humanitäre Tradition der Schweiz nicht über Bord werfen."

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Tagesschau sf.tv 24.2.11

EU befürchtet Flüchtlingsstrom

Die Innenminister der EU beschäftigen sich mit dem Szenario eines allfälligen Flüchtlingsstroms aus Libyen. Über die Zahl der Flüchtlinge kann aber nur spekuliert werden. Auch Bundesrätin Simonetta Sommaruga ist nach Brüssel gefahren.
Video Bundesrat sperrt Gaddafi-Konten
http://videoportal.sf.tv/video?id=ee79949e-1d5d-4505-83f7-f98862d265eb


Schweiz bereitet sich auf Flüchtlinge vor

Noch ist nicht abzuschätzen, wie viele Flüchtlinge aus Libyen an die Schweizer Grenze klopfen werden. Das Bundesamt für Migration hat heute über den Umgang mit einem eventuellen Flüchtlingsansturm diskutiert.
http://videoportal.sf.tv/video?id=696b6d53-b27a-4c72-aa9c-198ebdea6c18

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sf.tv 24.2.11

Schweiz bereitet sich auf Flüchtlingswelle aus Nordafrika vor

sda/tscj

 Um eine allfällige Flüchtlingswelle aus Nordafrika bewältigen zu können, will der Bund alle möglichen Szenarien durchspielen und entsprechende Massnahmen aufgleisen. Als erste Sofortmassnahme wurden die Grenzwachen bei Genf und im Tessin verstärkt. Zuvor schon hatte die EU-Agentur Frontex zwei Experten der Eidgenössischen Zollverwaltung nach Sizilien beordert.

 Man sei sich einig, dass die Schweiz mit einem Anstieg der Flüchtlingszahlen rechnen müsse, sagte der Chef des Bundesamtes für Migration (BFM). Es sei aber nicht klar, welches Ausmass der Flüchtlingsstrom schliesslich haben werde.

 Um auf alles vorbereitet zu sein, wird ein Fachausschuss in den nächsten zwei Wochen mögliche Szenarien durchspielen und die Verantwortlichkeiten zwischen Bund und Kantonen klären.

 Im Fachausschuss sitzen neben dem BFM die kantonalen Polizei- und Justizdirektoren, kantonale Asylkoordinatoren sowie Vertreter der Armee und des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten.

 Für Roger Schneeberger, Generalsekretär der kantonalen Polizei- und Justizdirektoren, muss vor allem schnell geklärt werden, welche Flüchtlinge keine Chance auf Asyl haben und schnell zurück geschickt werden sollen. "Wir müssen die richtigen Signale aussenden", sagte er.

 Schweizer Experten nach Sizilien beordert

 Bereits zuvor war bekannt geworden, dass die Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Aussengrenzen (Frontex) zwei Experten der Eidgenössischen Zollverwaltung nach Sizilien beordert hat, um bei der Sicherung der italienischen Grenze mitzuarbeiten. Ein verbleibender dritter Schweizer Experte soll nach Bedarf ebenfalls aufgeboten werden.

 Die Operation "Hermes", welche die italienische Grenze gegen die Flüchtlingsströme aus Nordafrika sichern soll, dauert gemäss Frontex voraussichtlich bis Ende März - allenfalls auch länger.

 Schengen-Land Schweiz macht bei Frontex mit

 Neben den beiden Schweizern werden auch Grenzfachleute aus Italien, Frankreich, Spanien, Portugal, Belgien, Deutschland, den Niederlanden, Österreich, Ungarn und Rumänien aufgeboten.

 Die Frontex hatte die EU-Mitgliedstaaten letzte Woche um Unterstützung angefragt. Die Schweiz, die sich als Schengen-Mitglied an Frontex beteiligt, stellte daraufhin die Mitarbeit von zwei Dokumentationsspezialisten und eines Experten für Luftüberwachung in Aussicht.

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admin.ch 24.2.11

Bundesrätin Sommaruga am gemischten Schengen-Ausschuss

Bern, 24.02.2011 - Die Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements, Bundesrätin Simonetta Sommaruga, hat heute am gemischten Schengen-Ausschuss des Justiz- und Innenministerrats der EU in Brüssel teilgenommen. Die Justiz- und Innenminister der EU-Mitgliedstaaten sowie der an Schengen assoziierten Staaten diskutierten unter anderem über das Thema Migration aus Nordafrika.

Der gemischte Schengen-Ausschuss beschäftigte sich mit dem Stand der Arbeiten am Visa-Informationssystem (CS-VIS) und am Schengener Informationssystem der zweiten Generation (SIS II). Weiter präsentierte die EU-Grenzagentur Frontex ihre Tätigkeiten für das Jahr 2011.

Traktandiert war auch der Stand der Beitrittsvorbereitungen von Bulgarien und Rumänien zu Schengen. Dabei wurden unter anderem die Fortschritte beider Länder gewürdigt. Die Kommission präsentierte ausserdem die Grundzüge eines Überwachungsmechanismus für Drittstaaten, die von der Visumspflicht für den Schengen-Raum ausgenommen wurden.

Darüber hinaus besprachen die Minister und die EU-Kommission die schwierige Lage in Nordafrika, einschliesslich der humanitären Situation, sowie allfällige Massnahmen der Mitgliedstaaten und der EU für die Bewältigung von möglichen grösseren Flüchtlingsbewegungen nach Europa und innerhalb von Nordafrika. Dazu gehören insbesondere Frontex-Einsatze, wozu auch die Schweiz beiträgt. In der aktuellen Phase kommt der Risiko- und der Lageanalyse eine grosse Bedeutung zu.

Adresse für Rückfragen:
Sabrina Dallafior, Schweizerische Mission bei der EU, Tel. +32 2 286 13 04

Herausgeber:
Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement
Internet: http://www.ejpd.admin.ch

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admin.ch 24.2.11

Frontex: Grenzwachtkorps entsendet zwei Experten nach Italien

Bern, 24.02.2011 - Nachdem das Grenzwachtkorps (GWK) eine Anfrage der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex für einen Einsatz positiv beantwortet hat, werden nun zwei Experten nach Italien entsandt. Ein weiterer Experte steht auf Abruf bereit. Es handelt sich um den ersten Einsatz von Schweizer Grenzwächtern an der Schengener Aussengrenze.

Am Donnerstag, 17. Februar 2011, hat das Grenzwachtkorps eine Anfrage der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex positiv beantwortet. Für den durch Frontex koordinierten Einsatz in Italien stellt das GWK drei Experten aus dem Frontex-Pool zu Verfügung. Zwei Experten aus dem Wallis und Jura werden eingesetzt, um zu prüfen, ob die mitgeführten amtlichen Dokumente echt und zustehend sind. Zudem sollen bei diesen Kontrollen Herkunft und Reiseroute der Migranten abgeklärt und Erkenntnisse über Schleuser gewonnen werden. Der dritte Experte aus dem Tessin ist zur Überwachung aus der Luft und der Auswertung der Bilder von technischen Hilfsgeräten, etwa Wärmebildkameras, vorgesehen. Dieser steht auf Abruf bereit.

Die beiden Experten werden am Montag, 28. Februar 2011, nach Italien entsandt. Sie werden in der zweiten Kontrolllinie auf dem süditalienischen Festland in Caltanissetta und Bari eingesetzt. Die Einsatzführung vor Ort liegt bei den italienischen Behörden. Der Einsatz ist in einer ersten Phase auf vier Wochen befristet.

Die Schweiz kann seit Ende Januar operativ bei Frontex mitwirken, da das Grenzwachtkorps und die EU-Agentur zu diesem Zeitpunkt die letzte dafür nötige Vereinbarung unterzeichnet haben.

Für Einsätze im Ausland sind 30 Schweizer Grenzwächterinnen und Grenzwächter ausgebildet. Maximal kommen jeweils 5-6 Mitarbeitende zum Einsatz.


Hinweis: Es besteht keine Möglichkeit, Reportagen oder Interviews mit den Experten im Vorfeld ihres Einsatzes zu tätigen.

Anfragen für Reportagen vor Ort in Italien sind direkt an Frontex zu richten unter pr@frontex.europa.eu.

Gesuche für Reportagen oder Interviews der Experten nach deren Einsatz sind schriftlich an die Kommunikation/Medienstelle der Eidgenössischen Zollverwaltung EZV zur richten.

Adresse für Rückfragen:
Walter Pavel, Leiter Kommunikation/Medien EZV
Tel: +41 31 322 65 13
kommunikation@ezv.admin.ch

Attila Lardori, Kommunikation/Medien EZV
Tel: +41 31 322 68 19

Herausgeber:
Eidgenössische Zollverwaltung
Internet: http://www.ezv.admin.ch

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admin.ch 24.2.11

Sondersitzung des "Fachausschusses Asylverfahren und Unterbringung"

Bern-Wabern, 24.02.2011 - Heute hat in Bern die erste Sondersitzung des "Fachausschusses Asylverfahren und Unterbringung" zu einem möglichen Ansteigen der Asylgesuche aus Nordafrika und den Maghreb-Staaten stattgefunden. An der Sitzung nahmen Vertreter der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK), der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD) sowie der zuständigen Bundesbehörden teil, also des Bundesamts für Migration (BFM), Eidg. Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA), Eidg. Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) sowie des Grenzwachtkorps (GWK).

Die Mitglieder des Fachausschusses nahmen an der Sitzung gemeinsam eine  Einschätzung der Situation in Nordafrika und in den Maghreb-Staaten vor: Es wird als wahrscheinlich erachtet, dass die Zahl der Asylsuchenden aus Nordafrika und den Maghreb-Staaten ansteigen wird. Wie gross dieser Anstieg sein wird, kann aufgrund der unsicheren Entwicklungen im Maghreb und der noch fehlenden Entscheide der internationalen Gremien noch nicht verlässlich beurteilt werden. Angesichts dieser Ausgangslage haben die zuständigen Bundesbehörden und die Vertreter der Kantone verschiedene Szenarien und Handlungsoptionen diskutiert.

Die Strukturen des Asylwesens sind gegenwärtig auf rund 15'000 Gesuche jährlich ausgerichtet. Momentan können in den  fünf Empfangs- und Verfahrenszentren (EVZ) des Bundes insgesamt bis zu 1'300 Asylgesuche pro Monat bearbeitet werden. Diese Kapazität könnte insbesondere mit Hilfe der Kantone, in denen sich die EVZ befinden, auf bis zu 1'800 Asylgesuche pro Monat erhöht werden. Dabei sollen Asylgesuche von Personen, die vermutlich nur aus wirtschaftlichen Gründen nach Europa migriert sind, prioritär behandelt und möglichst noch im EVZ entschieden werden. Diese Personen müssen die Schweiz so rasch als möglich wieder verlassen.

Sollte es allerdings zu einem grösseren Anstieg der Gesuche kommen, ist das BFM für die Unterbringung der Asylsuchenden auf die zusätzliche Unterstützung der Kantone angewiesen. Die Vertreter der Kantone haben sich an der heutigen Sitzung bereit erklärt, erste Abklärungen betreffend zusätzlicher Unterbringungs- und Vollzugsmöglichkeiten zu treffen. Das VBS erklärte sich seinerseits bereit zu prüfen, inwiefern vorübergehend Armeeunterkünfte verfügbar gemacht werden könnten.

Bereits letzte Woche hat die Schweiz sich bereit erklärt, an der "Operation Hermes 2011" teilzunehmen, die von der "Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Aussengrenzen" (Frontex) koordiniert wird. Das Grenzwachtkorps (GWK) bot Frontex an, drei Spezialisten zu Verfügung zu stellen. Davon handelt es sich um zwei Dokumentenspezialisten sowie um einen Spezialisten für die Überwachung aus der Luft.

In den nächsten zwei Wochen wird nun durch Vertreter des Fachausschusses eine konkrete Planung entwickelt, die sicherstellt, dass Verfahrens-, Unterbringungs- und Vollzugsfragen aufeinander abgestimmt sind. Dabei sind auch finanzielle Aspekte, Fragen des Grenzschutzes und der internationalen Koordination miteinzubeziehen. Die Erkenntnisse werden anschliessend im "Fachausschuss Asylverfahren und Unterbringung" validiert und den politischen Entscheidträgern des Bundes, der KKJPD und der SODK vorgelegt.

Adresse für Rückfragen:
Informationsdienst, Bundesamt für Migration, Tel. +41 31 325 93 50

Herausgeber:
Bundesamt für Migration
Internet: http://www.bfm.admin.ch/bfm/de/home.html

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WoZ 24.2.11

Frontex

 Der Sturz der südlichen Grenzwächter

 Von Kaspar Surber

 Ende letzter Woche, nach der Ankunft von 6000 tunesischen Flüchtlingen auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa, gab die in Warschau ansässige EU-Grenzschutzagentur Frontex bekannt, dass die Operation "Hermes" starte. Der mythische Name ist nur Glitzer - Frontex hat vielmehr Modellcharakter für die Konfliktbewältigung der Zukunft: Sie ist eine von Dutzenden Agenturen der EU, die "neue Aufgaben technischer und/oder wissenschaftlicher Art" bewältigen sollen. Frontex wurde 2005 gegründet, die ihr zugeschriebene Bedeutung zeigt sich im Anstieg des Budgets: von 6,2 Millionen Euro auf aktuell 88 Millionen.

 Die Logik des Schengenraums ist der Abbau der Binnengrenzen für den Personenverkehr unter gleichzeitiger Abschottung der Aussengrenze. Die Aufgabe von Frontex - kurz für "frontières extérieures" - ist der Schutz ebendie ser Aussengrenze: Die Agentur erstellt Risikoanalysen und betreibt technologische Grenzschutzforschung. Sie unterstützt die Mitgliedsstaaten bei Einreisekontrollen sowie bei Ausschaffungsaktionen. Frontex ist eine Vernetzungsmaschine: Die nationalen Grenzwachen erproben in gemeinsamen Operationen sogenannte "best practices", Einsatzstandards. Ein Mitglied wie zum Beispiel Spanien sucht über Frontex um Unterstützung nach, die anderen können, müssen aber nicht helfen. Die technischen Mittel aller Grenzwachen werden von Frontex in einem Register zusammengeführt: Schiffe, Flugzeuge, Helikopter, Thermo- und Infrarotkameras, CO2- und Herzschlag-Detektoren.

 Das vordringlichste Ziel ist, die Migration über das Mittelmeer zu stoppen. Die grössten Operationen an den Schengen-Aussengrenzen heissen "Hera" (vor den Kanarischen Inseln), "Nautilus" (zwischen Libyen und Tunesien) und "Poseidon" (östliches Mittelmeer). Aufschlussreich für den Ablauf ist "Hera": Schickte Frontex in einer ersten Phase Expertenteams auf die Kanaren, die die MigrantInnen nach den Fluchtrouten befragten, entsandten die vereinig ten Grenzwachen später Patrouillenboote, die 2008 auf See oder vor den Küsten Afrikas rund 6000 Menschen zurückdrängten.

 Dass auf dem Meer die Macht und das Recht ineinanderfallen und also keine Asylverfahren mehr garantiert werden, dass die Flüchtlinge in Länder zurückgeschafft werden, die sich nicht an die Menschenrechte halten, und also das "Non-Refoulment-Prinzip" ausgehebelt wird - das ist die dringende Kritik von Menschenrechtsgruppen an Frontex.

 Auf der Flucht über das Meer nach Süd europa haben nach dem Blog "Fortress Europe" des jungen italienischen Journalisten Gabriele Del Grande seit 1988 an die 15 000 Menschen ihr Leben verloren. 2008 waren es 1502.

 Seit November letzten Jahres hilft Frontex auch, die griechisch-türkische Grenze abzudichten. Zum ersten Mal kamen dabei gemischte "Soforteinsatzteams" der Mitgliedsländer, sogenannte "Rabits", zum Einsatz. Ihr Kennzeichen: eine blaue Armbinde. Die Operation zeigt, dass sich Frontex in Richtung einer europäischen Grenzwache entwickelt. Ein neu er Vorschlag der EU-Kommission sieht für die Agentur denn auch mehr Personal, eigenes Material und Informationssysteme vor - sowie mehr Selbstständigkeit. Starke Unterstützung für diese Entwicklung gibt es aus der Sicherheitsindustrie: Überwachung und Kontrolle von Grenzen machen ständig technische Innovationen möglich, von der Biometrie bis zur Überwachung aus dem All.

 Dass auch die Schweiz bei Frontex mitmacht, hat das Parlament 2008 entschieden:

 Das Grenzwachtkorps beteiligte sich bisher an Frontex-Operationen zur Fussball-EM und gegen die Immigration per Bahn aus Osteuropa. Das Bundesamt für Migration nahm zudem Ausschaffungsflüge in Anspruch. Der Frontex-Pool beim Grenzwachtkorps umfasst dreissig MitarbeiterInnen, die sowohl in "ordentliche" als auch in "Rabit-Einsätze" entsandt werden können. Für "Hermes" stehen, falls sie abgerufen werden, drei Experten bereit: zwei für die Dokumentenprüfung, einer für die Luftüberwachung. Wie auf den Kanaren will Frontex auf Lampedusa vorerst nur in der "zweiten Linie" wirken.

 In einem Café in Safx an der tunesischen Küste sagen Jugendliche: "Wir müssen unsere Chance nutzen." Die neugewonnene Freiheit bringt ihnen die Möglichkeit abzuhauen (vgl. Seite 13). Statt kolonialistische Ratschläge zu erteilen, wonach der junge Araber jetzt doch bitte sein Land neu aufbauen soll, sollte man in Europa besser zur Kenntnis nehmen: Die wichtigsten Frontex-Mitarbeiter der letzten Jahre waren Zine al-Abidine Ben Ali, Hosni Mubarak und speziell Muammar al-Gaddafi. Sie haben die Grenzen im "Vorfeld" kontrolliert. "Mehr Gas, mehr Benzin - und weniger illegale Einwanderung", so fasste Premier Silvio Berlusconi einen "Freundschaftsvertrag" über fünf Milliarden Dollar zusammen, den Italien 2008 mit Libyen schloss. Auch die EU bemühte sich um einen Rahmenvertrag mit dem Diktator, trotz Grausamkeiten wie der Aussetzung von Flüchtlingen in der Wüste. Dass die Gaddafis mit einer "Flüchtlingswelle" drohten, falls die EU die Aufständischen in Libyen unterstütze, verärgerte am Montag die Aussenminister­Innen. Der Vertreter Deutschlands sprach unverhohlen von einer "Erpressung". Der maltesische Aussenminister meinte: "Es ist mehr als eine Drohung, es ist eine Realität."

 "Brot und Würde", so lautet einer der Slogans der arabischen Revolte, die auch von der Rohstoffspekulation nach der Finanzkrise und in der Folge steigenden Lebensmittelpreisen befeuert wurde. Die Grenzziehung durch Frontex macht erst recht deutlich: Es handelt sich nicht nur um einen demokratischen Aufbruch, sondern um einen Verteilkampf zwischen Nord und Süd, zwischen drinnen und draussen.

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NLZ 24.2.11

Zug bereitet sich auf Ansturm vor
Flüchtlinge

ft.

 ft. Zug rüstet sich für einen Ansturm von Asylsuchenden aus Nordafrika. Regierungsrätin Manuela Weichelt wartet vorerst noch weitere Informationen des Bundes ab. Der Kanton ist verpflichtet, 1,4 Prozent der Asylsuchenden aufzunehmen. Ungeklärt ist, wo diese untergebracht werden können. Denn: Risch-Rotkreuz müsste 40 Plätze anbieten, hat aber keinen einzigen. Zug ist mit 38 im Verzug. Weichelt würde deshalb auf eine Zivilschutzanlage zurückgreifen.

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Die Schweiz bereitet sich auf Massenflucht vor

Flüchtlinge

 Italien stellt sich auf den Ansturm von Hunderttausenden Flüchtlingen aus Libyen ein. Diese könnten auch versuchen, in die Schweiz zu gelangen. Der Bund will jetzt Massnahmen ergreifen.

 Dominik Straub, Rom

 nachrichten@luzernerzeitung.ch

 Der Damm ist gebrochen: Wie das italienische Aussenministerium mitteilte, sind die im Jahr 2009 eingeführten italienisch-libyschen Patrouillen vor der libyschen Küste und in den libyschen Häfen wegen der blutigen Unruhen in Ghadhafis Wüstenreich am Dienstag definitiv eingestellt worden. Laut inoffiziellen Berichten sind bereits Dutzende, wenn nicht Hunderte von Flüchtlingsbooten bereit, von der libyschen Küste in Richtung Lampedusa und Sizilien in See zu stechen. Die professionellen Schlepper warteten nur noch auf besseres Wetter und weniger Seegang.

 Bis zu 300 000 Migranten

 Nach dem Wegfall der Kontrollen erwartet Italien einen nie da gewesenen Flüchtlingsstrom. Gegenüber dem "Corriere della Sera" nannte der italienische Aussenminister Franco Frattini die Zahl von 200 000 bis 300 000 Migranten, die Libyen in Richtung Italien verlassen wollten. Die Prognose könnte sich noch als deutlich zu niedrig herausstellen, wie Frattini in dem Interview einräumte. Denn bei rund einem Drittel der gut sieben Millionen Einwohner Libyens handle es sich um Immigranten aus den armen Ländern südlich der Sahara, deren Ziel ebenfalls das reiche Europa sei. "Wir sprechen von zweieinhalb Millionen Menschen", betonte der Aussenminister. "Die Wahrheit ist, dass wir keine Ahnung haben, was nach einem Sturz Ghadhafis passieren könnte."

 Krisengipfel in der Schweiz

 Das alarmiert auch die Schweiz. Das Bundesamt für Migration reagiert nun, wie es gestern gegenüber "tagesanzeiger.ch" bestätigte. Das Bundesamt will noch heute einen Gipfel abhalten, an dem auch Vertreter des Aussendepartementes und des Grenzwachtkorps teilnehmen sollen. Eine Prognose über die Anzahl der Flüchtlinge sei schwierig, eine grosse Zahl Asylsuchender sei nicht auszuschliessen, wie Michael Glauser vom Bundesamt für Migration erklärte. Sein Amt schaue auch sorgenvoll nach Lampedusa; es stelle sich die Frage, wie Italien mit der Krise umgehe.

 Humanitärer Notstand

 Dort hat der italienische Aussenminister Frattini die Aussicht auf bis zu 300 000 Flüchtlinge als "apokalyptisch" bezeichnet. In der Tat scheint es ausgeschlossen, dass Italien einen derartigen Ansturm aus eigener Kraft bewältigen könnte - Rom musste schon den humanitären Notstand ausrufen, nachdem bis zum 15. Februar innerhalb von wenigen Tagen über 5000 Flüchtlinge aus Tunesien in Lampedusa gelandet waren. Der italienische Innenminister Roberto Maroni stellte sich damals auf den Standpunkt, dass dieser "Exodus biblischen Ausmasses" kein rein italienisches Problem darstelle, sondern ein gesamteuropäisches.

 Mit dieser Meinung steht Maroni nicht allein. Angesichts der nun erwarteten noch viel dramatischeren Flüchtlingswelle aus Libyen haben sich in Rom gestern Mittwoch die Innenminister der anderen EU-Mittelmeer-Anrainerstaaten Frankreich, Spanien, Griechenland, Malta und Zypern getroffen. Dies, um ihre Haltung und ihre Forderungen im Hinblick auf das heute in Brüssel stattfindende Treffen der EU-Innen- und -Justizminister abzustimmen. Dort soll ebenfalls über die Flüchtlingsproblematik diskutiert werden.

 Forderungen an die EU-Länder

 Die Position Italiens ist klar: Die bereits in Aussicht gestellten Finanzhilfen und ein Frontex-Einsatz im Mittelmeer sind schön und gut - aber nicht das Kernanliegen. Italien fordert vielmehr eine Verteilung der ankommenden Menschen auf alle EU-Partnerländer. In Rom sieht man nicht ein, warum man sich alleine um die Flüchtlingsmassen kümmern soll, nur weil Lampedusa zufälligerweise näher an der nordafrikanischen Küste liegt als zum Beispiel Sylt.

 Nur Durchgangsstation

 Das Argument, andere EU-Staaten hätten in den letzten Jahren weit mehr Asylbewerber aufgenommen als Italien, lässt Rom nicht gelten: Bei den Flüchtlingen handle es sich gar nicht um Menschen, die in Italien Asyl beantragen wollten. Tatsächlich hat kaum einer der tunesischen Flüchtlinge einen Asylantrag gestellt, der ihn gemäss Dublin II verpflichtet hätte, in Italien zu bleiben. Die jungen Tunesier wollen weiter nach Frankreich, nach Deutschland, in den Norden, wo die Jugendarbeitslosigkeit nicht wie in Italien beinahe 30 Prozent beträgt und wo sie kaum Chancen auf Arbeit haben.

 Die bisherige Weigerung Deutschlands und anderer EU-Länder, eine Verteilung der Flüchtlinge auch nur in Betracht zu ziehen, belegt die ambivalente Haltung dieser Staaten in der Flüchtlingsfrage: Zwar fand man Berlusconis und Ghadhafis zur Schau gestellte Männerfreundschaft befremdlich und die Anbiederung des italienischen Regierungschefs an den libyschen Despoten beschämend. Aber man war heilfroh über das bilaterale Abkommen der beiden Länder, welches den Flüchtlingsstrom aus Libyen nach Europa praktisch zum Versiegen gebracht hatte - und man schloss auch beide Augen vor den krassen Menschenrechtsverletzungen, die Ghadhafi bei der Anwendung des Abkommens anwendete.

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 Der Ölmarkt spielt verrückt - und die USA werden nervös

 Thomas Spang, Washington

 Ölpreis Wegen der Unruhen in Libyen haben die Ölpreise gestern weiter angezogen. Ein Fass (159 Liter) US- Leichtöl der Sorte WTI verteuerte sich um 2,7 Prozent auf 97.97 Dollar. Die Nordseesorte Brent kostete mit 110.35 Dollar 4,3 Prozent mehr als am Vortag. Beide Sorten sind damit so teuer wie seit Herbst 2008 nicht mehr, als die Pleite der US-Investmentbank Lehman die Finanzbranche und damit auch die Weltkonjunktur in die tiefste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg stürzte.

 Das wiederum sorgt für Besorgnis in den USA. Man bekommt dafür die Quittung, dass es Amerika war, das den libyschen Diktator Muammar el Ghadhafi international wieder salonfähig machen wollte. Die damalige US-Regierung entdeckte ihre Sympathien für den verschrobenen Diktator nach dem Desaster über die nicht vorhandenen Massenvernichtungswaffen des Iraks. 2003 trumpfte Washington mit einem Abkommen auf, in dem sich Ghadhafi verpflichtete, seine nuklearen Ambitionen aufzugeben. Im Gegenzug versprachen die USA, die seit dem Terroranschlag auf eine Passagiermaschine über dem schottischen Lockerbie (1988) verhängten Sanktionen aufzuheben.

 Schachzug der Regierung Bush

 Experten sprachen von einem geostrategischen Schachzug, der es dem damaligen Präsidenten Bush erlaubte, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Einerseits konnte er einen Erfolg seiner im Irak ansonsten gescheiterten Doktrin vorzeigen. Anderseits verschaffte er amerikanischen Ölkonzernen Zugang zu den grössten bekannten Erdölreserven auf dem afrikanischen Kontinent.

 USA sind zweitgrösster Förderer

 Als 2004 die Sanktionen gegen Libyen fielen, standen vier grosse amerikanische Produzenten in den Startlöchern, um sich ihr Stück vom libyschen Erdölkuchen zu sichern. Conoco Phillips, Occidental, Marathon und Hess investierten Millionen in Beteiligungen, die ihnen erlaubten, jeden Tag zusammen rund 126 000 Barrel Öl aus der libyschen Wüste zu pumpen. Das ist fast drei Mal so viel wie die gesamte Tagesproduktion von Bahrain.

 Damit stehen die Amerikaner hinter dem italienischen ENI-Konzern, der mit 244 000 Barrel das meiste Öl in Libyen fördert. Ein Privileg, das die Italiener ihrem Regierungschef Silvio Berlusconi zu verdanken haben, der beste Kontakte zu Ghadhafi pflegte. Auch der damalige britische Premierminister Tony Blair pilgerte zu dem Wüstenführer, um dem britischen BP-Konzern 2007 einen 900-Millionen-Dollar-Vertrag zu sichern. Ungeklärt bleibt bis heute, ob das Geschäft zur Freilassung des Lockerbie-Attentäters Abdel Baset al-Megrahi führte.

 Unbestritten ist unter Experten die Tatsache, dass die westlichen Erdölkonzerne dem libyschen Diktator halfen, seinen Reichtum zu erschliessen. Libyen produzierte vor Beginn der Unruhen rund 1,8 Millionen Barrel am Tag. Mehr als 85 Prozent davon fliessen nach Europa.

 Preise könnten weiter steigen

 Während Experten auf volle Reservetanks und Überschusskapazitäten in Saudi-Arabien hinweisen, sorgen sich die Märkte um den kombinierten Effekt der Krisen im Nahen Osten. "Es geht nicht nur um Libyen", erklärt der Chefvolkswirt von Standard&Poors, David Wyss, die Unruhe an den Handelsplätzen. "Die ganze Region ist betroffen." Die heutigen Ölpreise würden einmal als Sonderangebot betrachtet, wenn die Ungewissheit anhielte.

 Thomas Spang, Washington

 nachrichten@luzernerzeitung.ch

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20 Minuten 24.2.11

Riesenchaos schon vor der Flüchtlingswelle aus Libyen

 BERN. Der erwartete Massenexodus aus Libyen stellt die Schweiz vor eine grosse Herausforderung. Wie darauf reagiert werden soll, ist Teil einer hitzigen Polit-Debatte.

 Italien erwartet eine Masseninvasion aus Nordafrika: 300 000 Menschen werden beim Sturz des Diktators Muammar Gaddafi allein aus Libyen erwartet. Menschenmassen, für die Italien nicht vorbereitet ist. Entsprechend hektisch rüstet sich die Schweiz. Die Forderungen der Politiker reichen vom Dichtmachen der Grenzen bis zur Schaffung möglichst vieler Empfangslager. Das Bundesamt für Migration (BfM) hat für heute eine Sitzung einberufen, an der die Zuständigkeiten geklärt werden sollen.

 Dass Migranten kommen, ist für FDP-Nationalrat Philipp Müller klar: "Das Dublin-Abkommen wird kaum funktionieren." Müllers Vorschlag: Die Schaffung zusätzlicher Empfangszentren etwa in leer stehenden Armeeunterkünften, damit ein erster Entscheid über den Verbleib der Flüchtlinge rasch und unter Bundesaufsicht gefällt werden könne.

 Anderer Meinung ist SVP-Nationalrat Hans Fehr: "Was jetzt zu tun ist, liegt auf der Hand: Das Grenzwachtkorps muss aufgestockt werden, um die Schweizer Südgrenze möglichst dichtzumachen." Notfalls sollen dafür auch Soldaten eingesetzt werden. Es handle sich nämlich nicht um wirkliche Flüchtlinge, sondern um junge Männer auf der Suche nach einem besseren Leben.

 Dem widerspricht wiederum Jakob Büchler, Präsident der nationalrätlichen Sicherheitskommission: "Selbst die ganze Armee an die Grenze zu stellen brächte nichts, man kann diese Leute nicht aufhalten. Ausserdem ist die Schweiz im Rahmen der Menschenrechte verpflichtet, Lösungen zu finden - das Gefährdungspotenzial ist bei den Libyern nämlich massiv höher als im Falle von Ägypten."

 Moreno Casasola von Solidarité sans frontières geht gar noch weiter: "Statt die Proteste nur aus der Ferne zu bejubeln, muss die Schweiz ihre Grenzen für diese Leute öffnen, Punkt."

Deborah Sutter

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 Dubliner Übereinkommen

 BERN. Das Übereinkommen Dublin II, dem die Schweiz seit 2004 angehört, regelt die Verantwortlichkeit für die Abwicklung der Asylverfahren. Das erste Auffangland ist zuständig. Diese Migrationsverträge sollten theoretisch verhindern, dass Asylsuchende von Land zu Land reisen. Dank der elektronischen Fingerabdruck-Datenbank Eurodac können Personen, die mehrere Asylgesuche stellen, identifiziert und an das zuständige Land weitergeleitet werden.

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Tribune de Genève 24.2.11

Doit-on accueillir tous les réfugiés arabes?

Fabian Muhieddine

 Les migrants arabes affluent en Italie. Séance de crise à l'Office fédéral des migrations

 Les réunions de crise se multiplient. Les ministres européens se sont rencontrés hier pour discuter d'une stratégie commune face à l'afflux massif de migrants arabes. Le dispositif aux frontières a été renforcé. A Lampedusa, au sud de la Sicile, plus de 5500 Tunisiens sont parqués. Et tout le monde craint que la situation empire une fois que le régime Kadhafi tombera. Ces dernières années, la Libye "régulait" le flux migratoire de l'Afrique vers l'Europe.

 En Suisse, l'Office fédéral des migrations (ODM) organise aussi une réunion avec les cantons et différents partenaires. Il s'agit de discuter des capacités d'accueil mais également de débattre de la responsabilité de la Suisse. A quelques mois des élections fédérales, le sujet est brûlant. Hans Fehr (UDC/ZH) a déjà dénoncé le mauvais signal envoyé par la Suisse aux migrants: "Il faut appliquer l'accord Schengen-Dublin de manière stricte et renvoyer les migrants dans le premier pays où ils ont fait leur demande. " Fin de l'histoire?

 Pas pour Denise Graf, juriste à Amnesty International. "Si l'afflux continue, la Suisse pourrait être confrontée à un accord de répartition proportionnelle entre les pays européens", explique cette spécialiste de l'asile. Dans ce cas, la Suisse s'engagerait à examiner un certain nombre de demandes au cas par cas. "Seuls ceux qui peuvent faire valoir une persécution dans leur pays, ajoute Denise Graf, peuvent prétendre à un refuge en Suisse. "

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 "Il faut les accueillir"

 Le point de vue de Géraldine Savary, conseillère aux Etats (PS/VD)

 La Suisse devrait-elle jouer un rôle dans l'afflux massif de réfugiés arabes vers l'Europe?

 Evidemment. Elle doit faire entendre sa voix pour rappeler que ces révolutions sont salutaires. Et que l'argutie diplomatique, voire la lâcheté, ne peut pas être la seule réponse de l'Europe à ces peuples qui se soulèvent. Ce qui se passe dans les pays arabes est la deuxième phase de la décolonisation. C'est le résultat d'une première tentative d'émancipation qui a été confisquée par les élites. Aujourd'hui, c'est la volonté populaire qui s'exprime enfin. La responsabilité de l'Europe et de la Suisse est engagée. L'Europe s'est assez débarrassée par le passé du problème des migrants en les confiant à la Libye.

 Donc la Suisse devrait elle-même accueillir des réfugiés.

 Oui. Ce qui se passe dans le monde arabe est un acte politique. Les migrants qui arrivent sont des personnes perdues, inquiètes, désemparées par les événements. Ce n'est pas une immigration économique. La réponse de la Suisse doit être politique. Dans un premier temps, il faut accueillir ces réfugiés. Il n'y a pas de risque d'un exode massif, il n'existe aucune immigration historique des pays arabes vers la Suisse. Si dans un ou deux ans, l'afflux continue, il sera grand temps de penser à prendre des mesures. Pour l'instant, il s'agit de faire un geste envers ces peuples.

 Selon la loi sur l'asile, la Suisse n'acceptera pas les réfugiés économiques. Les anciens dignitaires du régime seront les seuls à pouvoir faire valoir un statut de réfugiés politiques. Ne risque-t-on pas d'accueillir les "méchants"?

 Avec le geste clair de la Suisse, qui a confisqué rapidement les avoirs des dictateurs, je ne pense pas que les dignitaires viendront en Suisse. Ils iront dans des pays plus arrangeants. Et puis j'aimerais rappeler que beaucoup de Libyens répondent actuellement aux critères d'asile. Tant que Kadhafi n'est pas tombé, beaucoup risquent la persécution.

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 "Renforcer les frontières"

 Le point de vue d'Yves Nidegger, conseiller national (UDC/GE)

 Faut-il appliquer l'accord de Dublin de manière stricte et renvoyer tous les réfugiés arabes en Italie?

 Oui, il faudrait. Mais ce n'est pas possible. L'Italie n'a pas enregistré un seul des migrants. Selon l'accord, le premier pays qui accueille un migrant doit s'occuper de tout. Cela évite les demandes multiples au sein de l'espace Schengen. La réalité, c'est que l'Italie en laisse passer beaucoup. Elle leur distribue seulement un document pour leur signifier qu'ils ont trois mois pour quitter l'espace ou décider de s'y établir. Ces gens finiront par remonter vers le nord. Cette crise ne fait que démontrer une fois de plus que cet accord n'est qu'un mirage. Dans ces conditions, il n'y a qu'une solution: renforcer les frontières suisses en y envoyant les gardes-frontière, plutôt que de leur demander de contrôler les touristes anglais aux aéroports.

 La Suisse ne devrait-elle pas faire preuve de solidarité envers les pays européens en accueillant son lot de réfugiés?

 Il faut préciser qu'il ne s'agit pas de réfugiés politiques mais de migrants économiques clandestins. Pour preuve, ce sont de jeunes hommes sans famille. Certains sont certainement des prisonniers de droit commun relâchés depuis la chute de Ben Ali et qui ont largement participé aux pillages. Ne basculons pas dans le pathos. L'Europe n'a aucune responsabilité morale envers eux. Et s'il en existait une, ce serait bel et bien de rendre ces jeunes hommes dans la vigueur de l'âge à la Tunisie, pour qu'ils aident leur pays à se reconstruire, plutôt que de les laisser chercher ici un job qu'ils ne sont pas sûrs de trouver.

 Sans Kadhafi pour les retenir, ces réfugiés refoulés risquent de revenir rapidement. Avez-vous une solution?

 Il faut que l'Europe mette en place une véritable structure qui empêche réellement les migrants de passer. Il faut rétablir une vraie frontière européenne à laquelle la Suisse pourrait participer. Sinon notre pays devra agir seul.

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Bund 23.2.11

Der Bund ruft zum Flüchtlings-Krisengipfel - und erntet Kritik von der SVP

 Der Bund lässt an einer Konferenz beraten, wie ein Flüchtlingszustrom aus Afrika zu bewältigen wäre. SVP-Politiker Hans Fehr hält dies für ein "falsches Signal".

 Fabian Renz

 Noch ist kein Grossandrang zu verzeichnen: In der ersten Februarhälfte traf aus Libyen ein einziges Asylgesuch ein, heisst es beim Bundesamt für Migration (BFM). Aus Ägypten und Tunesien, den zwei anderen politischen Brandherden der Region, waren es nur wenig mehr (9 und 18). Doch wäre eine Entwarnung voreilig: Bei früheren Gelegenheiten, als Menschenmassen von Süden in die EU drängten, wurde verstärkter Einwanderungsdruck an der Schweizer Grenze jeweils mit drei bis vier Wochen Nachlaufzeit spürbar. Besondere Furcht bereitet den Verantwortlichen im aktuellen Fall die Aussicht, dass viele der erwarteten maghrebinischen Einwanderer sich als Algerier ausgeben könnten: Ausschaffungen nach Algerien sind derzeit blockiert.

 Um sich auf alle Eventualitäten vorzubereiten, lädt das Bundesamt für Migration (BFM) morgen Donnerstag Vertreter der Kantone, der zuständigen Departemente und des Grenzwachtkorps zu einem Krisengipfel. Er soll erste Erkenntnisse zu den logistischen Kapazitäten bei einer grösseren Flüchtlingswelle bringen - und Klärung darüber, wer bei zugespitzter Lage wofür zuständig wäre.

 SVP-Nationalrat Hans Fehr findet indes die Konferenz schon per se ein "falsches Signal", wie er sagt: "Die Schweiz soll sich nicht auf grosse Flüchtlingsströme vorbereiten. Sie soll vielmehr auf ihr Recht gemäss den Dublin-Verträgen pochen: Wenn diese Nordafrikaner über Italien in den Dublin-Raum einreisen, dann müssen die Italiener sie übernehmen." Weiter, so Fehr, seien eine Verstärkung des Grenzwachtkorps im Tessin sowie intensivierte Kontrollen in den grenzüberquerenden Zügen in die Wege zu leiten. Seinen Forderungen will der SVP-Nationalrat mit parlamentarischen Vorstössen Nachdruck verleihen. Für ihn steht fest, dass die Emigranten aus dem Maghreb keine politischen Flüchtlinge sind: "Es handelt sich hier um junge Männer, die zum ersten Mal weitgehend uneingeschränkt reisen können und die in Europa ein besseres Leben suchen."

 Adrian Hauser, Sprecher der Schweizer Flüchtlingshilfe, widerspricht: "Es ist pauschalisierend und an der Grenze zur Stigmatisierung, wenn man einfach behauptet: Wer aus Ägypten oder Tunesien kommt, kann kein echter Flüchtling sein." Jedes Asylgesuch müsse unabhängig von der Nationalität "einzeln und mit Fairness" überprüft werden. In diesem Sinne findet es Hauser auch richtig, dass die Behörden nun logistische Überlegungen für Flüchtlingsaufnahmen in erhöhter Zahl anstellen. Derselben Ansicht ist SP-Nationalrat Andy Tschümperlin. Wie Fehr glaubt indes auch Tschümperlin, dass man vor einer "schwierigen Situation" stehe. Gerade die Unterscheidung von politischen und wirtschaftlichen Flüchtlingen sei bei grösserem Immigrantenzustrom eine äusserst anspruchsvolle Aufgabe.

 Libyen: Schweizer bleiben

 Wenig Emigrationswille zeigen laut dem Aussendepartement (EDA) die 46 Schweizer, die sich derzeit in Libyen aufhalten - trotz der Ausreiseempfehlungen des EDA. Wer das Land doch verlassen wolle, könne Linienflüge benutzen, schreibt das EDA: Der Flugbetrieb funktioniere normal.

 Zum Einsatz bereit stehen die drei Grenzwächter, welche die Schweiz für den aktuellen Einsatz der EU-Grenzschutz-Truppe Frontex zur Verfügung stellt. Die Eidgenössische Zollverwaltung stuft ein Aufgebot schon für heute Mittwoch als möglich ein.

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BZ 23.2.11

Aufstand in Nordafrika   ● Die Angst vor dem Flüchtlingsstrom

 "Ghadhafi nutzt die Flüchtlingsströme, um Europa unter Druck zu setzen"

 Europa fürchtet sich vor einer Flüchtlingswelle aus Nordafrika. Die Migrationsexpertin Denise Efionayi-Mäder spricht über mögliche Auswirkungen auf die Schweiz und zeigt auf, wie viel es braucht, damit ein Mensch sein Land verlässt.

 Frau Efionayi, muss die Schweiz mit einer Flüchtlingswelle aus Nordafrika rechnen?

 Denise Efionayi-Mäder: Ehrlich gesagt haben mich die heftigen Reaktionen erstaunt. Ich denke nicht, dass eine Welle auf uns zukommt.

 Auf der Insel Lampedusa sind mehrere Tausend Migranten gestrandet…

 Natürlich wirkt diese Menge auf der kleinen Insel bedrohlich. Aber die Ströme sind nicht neu. Gibraltar, die Kanarischen Inseln, Malta, Griechenland und jetzt wieder Lampedusa - die Routen verändern sich ständig.

 Doch nun könnte die Zahl laut dem italienischen Innenminister Roberto Maroni bald auf 80 000 steigen.

 Ich weiss nicht, wie Maroni auf solche Zahlen kommt. Man muss das differenziert sehen: Menschen steigen nicht von heute auf morgen in ein Boot und fahren nach Europa. Dem gehen Planungen voraus, Abwägungen… Man kann nicht einfach die Ankömmlinge der letzten Tage hochrechnen und dann eine Zahl kommunizieren. Zuerst muss man sich fragen, woher diese Leute kommen und wohin sie wollen. Da gibt es noch zu wenige Informationen.

 Es gibt aber Vermutungen.

 Ja. Momentan sieht es so aus, als käme der Grossteil der Migranten aus Tunesien. Deren Hintergründe sind aber unbekannt. Es könnten Wirtschaftsmigranten sein, aber auch politische Flüchtlinge - zum Beispiel Anhänger des gestürzten Diktators Ben Ali oder Flüchtlinge aus Libyen. Je nachdem haben sie also ein Recht auf Asyl.

 Und wohin wollen sie?

 Studien zeigen, dass es Migranten dorthin zieht, wo sie bereits Kontakte haben. Im Fall von Tunesien dürften folglich viele nach Frankreich weiterreisen. Da kommen natürlich die koloniale Vergangenheit und die Landessprache hinzu.

 Französisch spricht man auch in der Schweiz…

 Klar, ich behaupte nicht, dass die Migranten einen Bogen um die Schweiz machen. Aber man muss realistisch bleiben: Hierzulande gibt es einige Tausend Tunesier und noch weniger Ägypter und Libyer. Noch einmal: Uns erwartet in naher Zukunft keine Flüchtlingswelle. Die Sache wird zu sehr hochgespielt.

 Das Problem hat sich also nicht verschärft.

 Es hat einen Anstieg gegeben, das ist klar. Aber aufgrund der momentanen Situation glaube ich nicht, dass der Ansturm auf Lampedusa anhalten wird. Krisensituationen und zunehmende Möglichkeiten können kurzfristig zu einem Anstieg der Migration führen. Wir haben es mit einer konjunkturellen Schwankung zu tun. Denken Sie nur an den Mauerfall: So viele Menschen wollten Ostberlin noch in der ersten Nacht verlassen - danach jedoch ist die Mobilität weit unter den Erwartungen geblieben.

 Nordafrika ist schwer mit Ostdeutschland zu vergleichen.

 Natürlich. Aber auch die Personenfreizügigkeit innerhalb der EU hat weniger Mobilität gebracht als erhofft. Es braucht viel, damit Menschen ihr Land verlassen.

 Was kann konkret zu einem solchen Entscheid beitragen?

 Perspektivlosigkeit ist die wichtigste Voraussetzung. Man hat festgestellt, dass die Leute ihr Land nicht dann verlassen, wenn es ihnen am schlechtesten geht. Sie gehen, wenn sie befürchten, dass sich die Lage verschlechtert. Hier liegen meine Hoffnungen: Falls durch die Revolutionen neue Perspektiven geschaffen werden, könnten sich die Migrationsströme gar umkehren. Aber das braucht Zeit.

 Gibt es weitere Faktoren, welche die Migration fördern?

 Im Vergleich zwischen Tunesien und Ägypten spielt sicher auch die Grösse des Landes eine Rolle. In kleineren Ländern bieten sich weniger Möglichkeiten, dadurch haben sie eine höhere Migrationsrate. Hinzu kommt ein weiterer wichtiger Faktor: die Gelegenheit zur Migration. Das tunesische Regime beispielsweise schaute sehr streng darauf, dass nur wenige Leute das Land verlassen konnten. Ohne entsprechende Papiere lief man Gefahr, ins Gefängnis zu kommen. Und das betraf nicht nur Durchreisende, sondern auch die eigenen Staatsbürger. Da ist es nicht verwunderlich, dass sich ein Bedürfnis zur Migration angestaut hat.

 Existieren solche Gesetze auch in den Nachbarländern?

 Ja, auch Marokko und Libyen gehen sehr restriktiv mit potenziellen Migranten um. Daran ist die EU nicht unschuldig.

 Inwiefern?

 Die Zusammenarbeit mit den nordafrikanischen Regierungen ist entscheidend für den Schutz der europäischen Grenze: Ohne Ausreisevisum ist nicht einmal ein Besuch in Italien möglich. Viele Personen aus Nordafrika möchten aber nicht migrieren, sondern lediglich reisen. Hätte Europa anstelle der Diktatoren die demokratischen Bestrebungen unterstützt, sähe heute vieles anders aus. Denn eines ist klar: Mit der Schaffung von Perspektiven in Nordafrika schützen wir auch unsere eigenen Grenzen.

 Entsteht jetzt nicht ein gewaltiger europäischer Interessenkonflikt? Speziell die Zusammenarbeit zwischen Italien und Libyen war in der Vergangenheit durchaus erfolgreich.

 Richtig. Ghadhafi hat die Anzahl der Bootsflüchtlinge, die nach Italien wollten, drastisch reduziert. Das gibt ihm eine gewisse Macht: Er spielte mit den Flüchtlingsströmen, um Europa unter Druck zu setzen.

 Könnte es also zum Kollaps kommen, falls das libysche Volk Ghadhafi vertreibt?

 Man weiss, dass Libyen viele irreguläre Migranten an der Durchreise hindert. Ich glaube aber nicht, dass neue Regierungen in Nordafrika alle Vereinbarungen mit Europa künden würden - speziell in finanzieller Sicht steht da zu viel auf dem Spiel. Es ist jedoch nicht auszuschliessen, dass ein menschlicherer Umgang mit den Migranten wieder zu einer Zunahme der Flüchtlingsströme führt. Was ich hier aber unbedingt noch betonen möchte: Der Grossteil der afrikanischen Migranten kommt per Flugzeug nach Europa; die Reise über das Meer machen höchstens zehn Prozent.

 Die Schweiz soll also keine besonderen Massnahmen treffen.

 Natürlich muss man bereit sein, das Aufstocken des Personals im Asylbereich ist sicher sinnvoll. Es ist aber absolut kontraproduktiv, wenn das Thema Migration kurz vor den Wahlen übermässig politisiert wird. Wir müssen dringend aus dem Links-rechts-Schema hinausfinden. Denn erst in einem sachlichen Umfeld lassen sich die besten Lösungen finden. Ich sage nicht, dass man alles den Experten überlassen soll, aber in Sachen Migration täte es der Politik gut, vermehrt auf Forschung und Fakten zu hören.
 
Interview: Christian Zeier

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 Zur person

 Denise Efionayi-Mäder ist Soziologin und Vizedirektorin des Schweizerischen Forums für Migrations- und Bevölkerungsstudien an der Uni Neuchâtel. Die gebürtige Bernerin hat unter anderem in den Bereichen Flüchtlingsstudien sowie Asyl- und Migrationspolitik publiziert.cze

 
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Vorkehrungen

 Ungewissheit und Krisensitzung

 Es ist eine schwierige Situation für das Bundesamt für Migration (BFM). Man will die Angst vor einem Flüchtlingsstrom nicht schüren, kann aber eine erhöhte Zuwanderung aus Nordafrika dennoch nicht ausschliessen. "Wir wissen es schlicht und einfach nicht", sagt BFM-Sprecher Michael Glauser. "Die Situation ist auch für unsere Experten sehr schwer einzuschätzen." Daher müsse man sich sicherheitshalber auch auf den schlimmsten Fall vorbereiten.

 Am kommenden Donnerstag hat das Bundesamt zu einer Krisensitzung nach Bern geladen. Sowohl Vertreter der Kantone als auch das Aussenministerium und der Grenzschutz werden an den Gesprächen teilnehmen. Bislang habe man laut BFM-Sprecher Glauser keine konkreten Massnahmen getroffen. Komme es aber zu einem Anstieg der Gesuche, müssten diese "prioritär" behandelt werden. Eine schnelle Behandlung ist dann möglich, wenn ein Nichteintretensentscheid gefällt wird. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn den Antragstellern nachgewiesen wird, dass sie nicht aus Gründen des Schutzes in die Schweiz gekommen sind, oder wenn sie bereits einen negativen Asylentscheid in einem anderen EU- oder EWR-Staat erhalten haben.

 Trotz Alarmbereitschaft will das BFM die Situation nicht dramatisieren. Laut Michael Glauser habe die Asylstatistik bislang keinen Anstieg verzeichnet: Im Januar hätten sich 44 Tunesier um Asyl beworben, in der ersten Hälfte des laufenden Monats waren es 18. Die Zahlen weichen kaum vom Durchschnitt ab. Laut Glauser seien bei der Botschaft in Bern sogar vermehrt Visum-Gesuche von Tunesiern eingegangen, die zurückkehren möchten. "Wenn wir die nordafrikanische Diaspora hierzulande anschauen, dürfte die Schweiz kein grosses Ziel sein", so Glauser. Tatsächlich: Ende 2009 verzeichnete das Bundesamt für Statistik insgesamt 21 376 Einwohner aus Nordafrika. Mit 7376 stellt Marokko die grösste Bevölkerungsgruppe vor Tunesien (6356 ) und Algerien (4054). Die libysche Staatsbürgerschaft besassen zu diesem Zeitpunkt lediglich 785 Personen.cze

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Tagesschau st.tv 21.2.11

EU befürchtet Flüchtlingsströme

Auch die EU-Aussenminister verurteilen das Vorgehen der libyschen Regierung. Vor allem die südeuropäischen Staaten befürchten nun Flüchtlingsströme. Einschätzungen von Christoph Nufer, SF-Korrespondent in Brüssel.
http://videoportal.sf.tv/video?id=8a90adeb-904d-4657-8c85-f24f1430335e

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Bund 21.2.11

Schweiz beteiligt sich an Einsatz gegen Flüchtlingsstrom

 Gestern ist die Operation "Hermes" der EU-Grenzschutzagentur Frontex angelaufen. Auch die Schweiz beteiligt sich an der Sicherung der süditalienischen Grenze gegen den Flüchtlingsstrom aus Nordafrika.Ob die drei Schweizer Experten tatsächlich in Süditalien eingesetzt werden, ist offen. Noch habe sie Frontex nicht angefordert, soWalter Pavel, Sprecher der Eidgenössischen Zollverwaltung.Wenn die Anfrage komme, könnten die Grenzwächter innerhalb von zwei bis drei Tagen entsandt werden.Aus Sicht von Migrations-Sonderbotschafter Eduard Gnesa hat Europa "berechtigte Befürchtungen" vor einer Flüchtlingswelle wegen der Proteste in arabischen Ländern. Nehme Europa Zehntausende von tunesischen Flüchtlingen auf, habe dies eine Sogwirkung auf Ägypten.(sda)

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BZ 21.2.11

In Lampedusa landen vor allem Wirtschaftsflüchtlinge

 FlüchtlingeDie Schweiz beteiligt sich an der Sicherung der süditalienischen Grenze gegen den Flüchtlingsstrom aus Nordafrika. Drei Experten warten auf ihren Einsatz.

 Fast wäre Karin Keller-Sutter Bundesrätin geworden. Dann hätte die Polizeidirektorin des Kantons St. Gallen vermutlich das Justizdepartement übernommen. Nun aber sitzt die Bernerin Simonetta Sommaruga (SP) auf diesem Posten und sucht zusätzliche Unterbringungsmöglichkeiten für nordafrikanische Flüchtlinge.

 Dies ist gar nicht im Sinne von Karin Keller-Sutter, die die kantonale Justiz- und Polizeidirektorenkonferenz (KKJPD) präsidiert. "Die Strukturen der Kantone erlauben es, für eine gewisse Zeit zusätzliche Asylbewerber unterzubringen", sagte die FDP-Politikerin in einem Interview mit der "Neuen Luzerner Zeitung" vom Samstag. "Doch entscheidend ist, dass der Bund allfällige Asylbewerber aus Nordafrika gar nicht erst auf die Kantone verteilt."

 Nach Auffassung von Keller-Sutter handelt es sich dabei nämlich grösstenteils um Wirtschaftsflüchtlinge. Auf Lampedusa landeten ihres Wissens derzeit ausschliesslich junge Männer, die kaum asylrelevante Gründe vorzubringen hätten.

 Sogwirkung auf Ägypten

 Aus Sicht von Migrations-Sonderbotschafter Eduard Gnesa hat Europa "berechtigte Befürchtungen" vor einer Flüchtlingswelle aus arabischen Ländern. Nehme Europa Zehntausende von tunesischen Flüchtlingen auf, habe dies eine Sogwirkung auf Ägypten.

 Man müsse ein gewisses Verständnis für die Haltung Westeuropas haben, sagte der Sonderbotschafter der Schweiz für internationale Migrationszusammenarbeit in einem Interview mit dem "Sonntag". Europa habe noch andere Migranten und Flüchtlinge - sei es auf dem legalen Weg der Asylbewerber oder auf dem illegalen Weg der Sans- Papiers.

 "Ohne diese Probleme könnte Europa die Situation möglicherweise grosszügiger handhaben", erklärte Gnesa weiter. Deutsche Politiker sagten nicht zu Unrecht: "Der Aufstand kam von der Jugend. Sie will einen demokratischen Staat. Sie muss nun auch helfen, ihn aufzubauen, statt nach Westeuropa auszuwandern."

 Frontex ist angelaufen

 Gestern ist nun die Operation "Hermes" der EU-Grenzschutzagentur Frontex angelaufen. Zunächst werden rund 30 Experten aus verschiedenen Mitgliedstaaten, ein Flugzeug und mehrere Patrouillenboote eingesetzt. Die EU-Agentur hatte die Mitgliedstaaten vergangene Woche um Unterstützung angefragt. "Wir haben Frontex mitgeteilt, dass die Schweiz zwei Dokumentationsspezialisten und einen Experten für Luftüberwachung zur Verfügung stellt", sagte gestern Walter Pavel, Sprecher der Eidgenössischen Zollverwaltung.

 Die Schweiz beteiligt sich als Schengen-Mitglied an Frontex. Ende Januar wurden die letzten für einen Einsatz notwendigen Vereinbarungen unterzeichnet. Ob die drei Schweizer Experten tatsächlich in Süditalien eingesetzt werden, ist offen. Noch habe sie Frontex nicht angefordert, sagte Pavel. Wenn die Anfrage komme, könnten die Grenzwächter innerhalb von zwei bis drei Tagen entsandt werden.

 Bis zu sechs Grenzwächter

 Insgesamt hat die Schweiz rund 30 Personen für die Unterstützung von Frontex-Operationen ausgebildet. Es handelt sich um Experten für die Untersuchung von Fahrzeugen und Luftüberwachung sowie Dokumentationsspezialisten. Laut Pavel rechnen die Schweizer Behörden damit, dass jeweils fünf bis sechs von ihnen gleichzeitig an der EU-Aussengrenze im Einsatz stehen werden.

 Italien sieht sich wegen der Aufstände in Nordafrika mit einer Welle von Flüchtlingen konfrontiert. Auf der Insel Lampedusa nahe Tunesien sind innerhalb von wenigen Tagen über 5000 Menschen, grösstenteils junge Männer, gelandet. Das dortige Auffanglager hat Platz für 850 Personen. Trotz der Bemühungen, der Flüchtlingswelle bereits in Süditalien Herr zu werden, rechnet Justizministerin Simonetta Sommaruga mit einem verstärkten Zustrom.
 sda/cch

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NLZ 21.2.11

"Wir hätten längst handeln müssen"

 Flüchtlinge

Interview Jürg Auf der Maur

 In Nordafrika stürzt ein Regime nach dem anderen. Trotzdem flüchten viele nach Europa. Die Schweiz sei schlecht darauf vorbereitet, sagt Doris Fiala.

 Interview Jürg Auf der Maur

 juerg.aufdermaur@luzernerzeitung.ch

 An der Südgrenze Europas werden Zehntausende von Flüchtlingen aus Nordafrika erwartet. Viele davon dürften in die Schweiz kommen. Was ist zu tun?

 Doris Fiala*: Wir hätten schon längst aktiver handeln müssen, statt immer nur zu reagieren. Wer die Augen nicht verschliesst, weiss, dass das Problem nicht neu ist.

 Das heisst?

 Fiala: An einem Nord-Süd-Kongress des Europarates hat man uns bereits vor zwei Jahren Zahlen einer Studie vorgelegt. 60 Prozent der über 15- bis 16-Jährigen in Afrika haben nur ein Ziel: Sie wollen nach Europa, weil sie zu Hause keine Zukunft für sich sehen. Wir müssen also nicht erst jetzt sensibilisiert sein wegen den Flüchtlingsströmen aus dem Maghreb. Es fehlt jedoch eine eigentliche Gesamtstrategie in Migrationsfragen. Erst vor einer Woche hat der Bundesrat beschlossen, dass alle Dienststellen enger zusammenarbeiten müssen. Ein Rückübernahme-Abkommen mit den Maghreb-Staaten fehlt bis heute. Es gibt keine eigentlichen Migrationspartnerschaften. Ausser mit Algerien, und diese erweist sich als unbefriedigend. Zudem wurde bezüglich "Empfangsstellen" in der Schweiz nicht in weiser Voraussicht gehandelt. Das Bundesamt für Migration hat das in der Vergangenheit verschlafen.

 Was sollen wir tun?

 Fiala: Wir können nicht einfach sagen, der Dublin-Vertrag sei nicht gut, man müsse quasi "die Schotten dichtmachen".

 Sondern?

 Fiala: Die Schweiz sollte Ländern wie Italien, Griechenland, Malta oder den Kanarischen Inseln helfen - alles Schengen-Aussengrenzen -, das Problem besser zu meistern. Es braucht Zusatzhilfe aus der Schweiz. Konkret: Es braucht mehr gebundene Mittel für die europäische Grenzschutzagentur Frontex, wir müssen auch unser Know-how zur Verfügung stellen. In Griechenland kommen Monat für Monat rund 2500 Flüchtlinge an. Das Land ist mit dieser Situation doch masslos überfordert. Letztlich geht es um ein globales Problem, um eine globale Herausforderung. Davor dürfen wir die Augen nicht verschliessen. Das erfordert mehr, nicht weniger Kooperation. Es spricht für die Schweiz, dass wir mit Sonderbotschafter Eduard Gnesa neu das Präsidium für internationale Migrationszusammenarbeit innehaben, an dem rund 150 Länder beteiligt sind. Man zollt der Schweiz Respekt.

 Wo sehen Sie also langfristige Lösungen?

 Fiala: Zivilgesellschaften in Krisenherden müssen gestärkt und so Korruption vermindert werden. Mitgrationspartnerschaften sind zwingend, sie sind allerdings nicht zum Nulltarif zu haben. Einen ersten Schritt kann die Schweiz schon am ersten Sessionstag in einer Woche machen, indem sie die Entwicklungshilfe auf 0,5 Prozent unseres Bruttosozialprodukts erhöht. Wir müssen unsere Hilfe intensivieren, wenn wir einen Beitrag leisten wollen, dass beispielsweise in Afrika die Stabilität gestärkt wird: Von 40 Subsahara-Staaten sind derzeit rund 25 in bewaffnete Konflikte involviert. Dazu kommen der tiefe Bildungsstand der Bevölkerung und ein sehr hoher Analphabetismus-Prozentsatz. Wir können kein Interesse daran haben, dass so viele Menschen zu uns kommen wollen, die wir schlicht nicht in den Arbeitsprozess integrieren könnten.

 Die SVP will das Grenzschutzkorps aufstocken.

 Fiala: Da habe ich nichts dagegen, wenn es nötig ist, aber das allein ist nicht die Lösung. Wir müssen auch die Hilfe vor Ort verstärken. Im Balkan-Krieg kamen innert weniger Monate 150 000 Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien zu uns. Das hat uns viel gekostet, nicht zuletzt durch die Familiennachzüge und die Rückkehrzahlungen. Jetzt sind wir mit Swisscoy vor Ort und können dazu beitragen, dass sich die Lage im Kosovo verbessert. Hilfe vor Ort ist immer billiger, als Flüchtlingsprobleme in der Schweiz zu meistern.

 Mit Hilfe zur Selbsthilfe also Flüchtlingsströme verhindern?

 Fiala: Ich sage keinesfalls, dass man in der Schweiz nun einfach die Türen öffnen soll, indem man beispielsweise 10 000 Personen aus dem Maghreb aufnimmt. Aber so einfach, wie sich das die SVP macht, ist es nicht. Ausgerechnet jene Partei, die die Flüchtlingsfrage in der Schweiz politisch ausschlachtet, ist gegen Swisscoy-Einsätze und gegen eine Erhöhung der Entwicklungshilfe. Das geht nicht auf. Nochmals: Globale Risiken brauchen globale Antworten und Lösungen. Das kann man nicht isoliert, sondern nur in internationaler Zusammenarbeit angehen.

 * Doris Fiala ist Zürcher FDP-Nationalrätin, Präsidentin der Subkommission Flüchtlingwesen des Europarates und Mitglied der Kommission für internationale Entwicklungshilfe.

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 Libyen-Proteste versetzen Italien in Alarmstimmung

 Dominik Straub, Rom

 Nein, er habe noch keine Gelegenheit gehabt, mit Ghadhafi persönlich zu sprechen, erklärte Italiens Regierungschef Silvio Berlusconi am Samstag. Und fügte an: "Die Situation in Libyen ist in Bewegung, und deshalb möchte ich ihn nicht stören." Die Regierung sei aber "besorgt über alles, was in der Region derzeit vor sich geht". Im italienischen Innenministerium wird ein Anwachsen der Flüchtlingswelle aus dem Maghreb zu einer "Invasion" befürchtet, wie italienische Medien gestern berichteten.

 Wichtigster Flüchtlingsdamm

 Der Grund für die Alarmstimmung: Stürzt Ghadhafis Regime, dann fällt gleichzeitig der wichtigste Damm gegen die illegale Einwanderung, den Italien in mühsamen Verhandlungen vor knapp drei Jahren hat errichten können: Im Sommer 2008 unterzeichneten Berlusconi und Ghadhafi einen Freundschaftsvertrag, in welchem sich Libyen verpflichtete, Immigranten an der Flucht über das Mittelmeer zu hindern.

 Das Abkommen hat den Flüchtlingsstrom von Nordafrika nach Italien drastisch verringert: 2008 kamen an Italiens Küsten 37 000 Bootsflüchtlinge an, davon fast 30 000 in Lampedusa. Vom Sommer 2009 bis Sommer 2010 reduzierte sich der Immigrantenstrom auf 3500 Menschen, in Lampedusa landeten gerade noch 403 Personen. Die italienisch-libysche Kooperation und Berlusconis Männerfreundschaft mit dem "Colonello" sind die Erklärung für das Schweigen Italiens angesichts der blutigen Repression gegen den Volksaufstand.

 Millionen von Afrikanern betroffen

 Sollten die Unruhen in Libyen zu einer Aufgabe der Küstenkontrollen führen, entspräche dies dem Öffnen einer Schleuse. In Libyen treffen die grossen Flüchtlingsrouten aus den bevölkerungsreichen sub-saharischen Ländern Mali, Nigeria, Tschad und Sudan aufeinander - lauter Menschen, die ebenfalls von Libyen aus nach Europa überschiffen wollen. Im Fall von Libyen geht es nicht wie bei Tunesien "nur" um einige zehntausend junge Männer, welche der Perspektivelosigkeit ihres Landes entfliehen wollen, sondern um Hunderttausende, wenn nicht Millionen Afrikaner, die in Europa ihr Glück versuchen wollen.

 Während sich Berlusconi Sorgen um seinen Freund Ghadhafi macht, ist der Flüchtlingsstrom aus Tunesien seit dem 16. Februar weitgehend versiegt. Doch in Rom gibt man sich keinen Illusionen hin: Der Hauptgrund für den Unterbruch sind nicht die teilweise wieder aufgenommenen Kontrollen in den tunesischen Häfen, sondern der schwere Seegang, welcher die ohnehin schon gefährliche Überfahrt nach Lampedusa in den oft kleinen und nur bedingt seetüchtigen Fischerbooten derzeit zu einem selbstmörderischen Unternehmen macht. Wird das Wetter wieder besser und das Meer ruhiger, dann werden die Flüchtlingsboote wieder losfahren.

 Lager für 7000 Flüchtlinge

 Die italienische Regierung, die etwas unvorbereitet auf die Flüchtlingswelle aus Tunesien gewirkt hatte, unternimmt unterdessen grosse Anstrengungen, um sich für einen absehbaren und möglicherweise noch weit dramatischeren neuen Ansturm zu wappnen. In der sizilianischen Kleinstadt Mineo wird derzeit die Wohnsiedlung für amerikanische Soldaten der nicht mehr benützten US-Air-Base Sigonella in ein riesiges Flüchtlingszentrum verwandelt. Das "Zentrum der Solidarität", wie Berlusconi das künftige Asyllager bereits genannt hat, wird in Kürze bis zu 7000 Personen aufnehmen können.

 Je nach Entwicklung der Krise werden freilich auch diese 7000 Plätze nicht länger als für einige Tage ausreichen - zumal in Lampedusa immer noch über rund 1500 Immigranten der letzten Flüchtlingswelle auf ihren Weitertransport nach Sizilien oder aufs Festland warten.

 Dominik Straub, Rom
 nachrichten@luzernerzeitung.ch

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 Unruhen erreichen Tripolis

Martin Gehlen, Kairo

 Angesichts der schwersten Unruhen seit seiner Machtübernahme vor 42 Jahren hat Muammar Ghadhafi unter den Bürgern Libyens ein Massaker anrichten lassen. In mehreren Städten feuerten Soldaten am Wochenende wahllos in die Menge. Teilweise setzten sie auch Maschinengewehre und Granaten gegen die Demonstranten ein.

 Bis zu 200 Tote

 Nach Angaben von Human Rights Watch starben in den letzten fünf Tagen mindestens 104 Personen, andere Quellen sprechen von weit über 200 Toten. Fast alle Opfer sind durch Schüsse in Kopf, Nacken oder Brust gestorben, wie Krankenhausärzte berichteten. Sämtliche Küstenstädte im Osten des Landes scheinen der Kontrolle des Regimes entglitten, welches inzwischen auch Hundertschaften rasch eingeflogener Söldner aus frankophonen afrikanischen Staaten gegen die eigene Bevölkerung einsetzt.

 Informationen aus Libyen sind schwierig zu beschaffen. Seit Samstagnacht ist das Internet abgeschaltet, die Handynetze funktionieren nur sporadisch. Alle ausländischen Journalisten mussten das Land verlassen, einheimische Presse darf nicht nach Benghasi reisen. In Tripolis wurden Menschen, die ausländischen Medien Informationen gegeben hatten, von der Staatssicherheit verhaftet und ihre Wohnungen zertrümmert.

 "Ein offener Krieg"

 In Benghasi schossen Soldaten am Samstag mit schweren Waffen auf einen Trauerzug. Laut Augenzeugen wurden Menschen zu Dutzenden von den Salven niedergemäht. Ein Italiener berichtete der Nachrichtenagentur Ansa, die Stadt sei "völlig ausser Kontrolle". Alle Regierungs- und Verwaltungsgebäude sowie eine Bank seien niedergebrannt worden. Nirgendwo sei Polizei zu sehen. Auf el Dschasira sprach ein junger Aktivist von einem "offenen Krieg zwischen Protestierenden und Soldaten".

 Inzwischen nähern sich die Unruhen aber auch der Hauptstadt Tripolis. In Misratah kam es zu schweren Zusammenstössen zwischen Demonstranten und der Polizei. Misratah liegt auf halber Strecke zwischen Tripolis und Sirte, wo der Beduinenoberst normalerweise in seinem Zelt residiert. Gemäss einem Bericht des Fernsehsenders Al-Dschasira kam es am Abend auch in Tripolis zu Zusammenstössen zwischen Tausenden Demonstranten und Ghadhafi-Unterstützern. Augenzeugen berichteten von Schüssen und brennenden Autos.

 Martin Gehlen, Kairo
 nachrichten@luzernerzeitung.ch

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Blick 21.2.11

Tunesien-Flüchtlinge

 Ist Asyl-Chef zu hart?

 Macht Migrationschef Alard du Bois Reymond mit Flüchtlingen aus Tunesien und Ägypten kurzen Prozess?

 Das Bundesamt für Migration befürchtet eine Flut von Asylgesuchen aus Tunesien und Ägypten. Doch die Chancen auf Asyl in der Schweiz sind gering. Amtschef Alard du Bois Reymond hat gegenüber dem Sonntags-Blick schon den Tarif durchgegeben. Die meisten dieser Leute seien junge, arbeitslose Männer - sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge. Die Schweiz müsse alles daransetzen, dass sie - falls sie in die Schweiz kommen - "das Land möglichst rasch wieder verlassen", sagte er. Ob von rechts oder von links, für die Aussage erntet du Bois Reymond vorerst keinen Applaus.

 Nationalrat Philipp Müller (FDP) ist zwar für eine härtere Gangart gegen Asylsuchende aus Tunesien und Ägypten. Aber er misst den Aussagen des Chefs des Bundesamtes für Migration (BFM) keine grosse Bedeutung bei. "Wir werden ihn an seinen Taten messen", sagt Müller.

 Der Aargauer ist mit den bisherigen Leistungen des BFM-chefs unzufrieden. Im Januar seien zum Beispiel bloss drei Asylsuchende aus Nigeria zurückgeschafft worden. "Dabei sind 2010 fast 2000 neue Asylgesuche von Nigerianern eingegangen. Und im Januar 2011 waren es wieder 137 neue Gesuche."

 Eine Rückkehrhilfe in Höhe von bis zu 6000 Franken habe in Nigeria zudem eine astronomische Kaufkraft, so Müller weiter. "Das steigert die Attraktivität der Schweiz als Zielland."

 "Das ist eine gefährliche Aussage des BFM-Chefs für ein Land mit einer humanitären Tradition", meint dagegen SP-Nationalrat Andy Tschümperlin. "Man kann sicher nicht ausschliessen, dass einige die Gelegenheit benutzen, um aus wirtschaftlichen Gründen nach Europa zu kommen." Aber es gebe viele, die an Leib und Leben gefährdet seien. "Dies zeigt auch die jüngste Entwicklung in Libyen zum Beispiel."

 Hubert Mooser

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Tagesschau sf.tv 20.2.11

Mehr Flüchtlinge in Lampedusa

Aufgrund der Unruhen im arabischen Raum sind Tausende Richtung Europa geflüchtet. Auf der italienischen Insel Lampedusa sind auch heute wieder Flüchtlingsboote angekommen.
Video Frontex in Lampedusa
http://videoportal.sf.tv/video?id=d5bcf6b2-0c8a-43db-8f3e-db87dcbb465c


Frontex in Lampedusa

Die ersten Frontex-Spezialisten sind heute in Lampedusa eingetroffen. Weil Italien sich mit dem Flüchtlingsstrom überfordert sieht, hat die Regierung die Hilfe der EU angefordert.
Video Grenzwachtkorps auch in Griechenland tätig
http://videoportal.sf.tv/video?id=fd87c257-732c-4195-98e4-c0857c9b3d87


Grenzwachtkorps auch in Griechenland tätig

Die europäische Grenzschutz-Truppe Frontex ist auch im Norden von Griechenland zum Einsatz gekommen. Dieses Gebiet ist für illegale Immigranten das eigentliche Tor nach Europa.
http://videoportal.sf.tv/video?id=c5f063b1-ff20-4dc4-8ba0-4a954d3e4407

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Sonntag 20.2.11

"Die Befürchtungen vor Flüchtlingswelle sind berechtigt"

 Der Schweizer Migrations-Chef Eduard Gnesa gleist ein Modell zur internationalen Kooperation auf

 Der Schweizer Migrations-Chef Eduard Gnesa warnt im Interview mit dem "Sonntag" vor den Flüchtlingswellen aus Nordafrika. "Selbst Jugendliche mit guter Ausbildung finden keinen Job. Diese zieht es nach Westeuropa", sagt Gnesa. Dazu seien vor allem jene Länder von der Migration betroffen, die von korrupten Diktatoren regiert würden. Erst wenn sich diese Länder in funktionierende Demokratien entwickelt hätten, würden die gut ausgebildeten Leute ohne Jobs nicht mehr weiterwandern.

 Angesichts dieser Situation sind für Gnesa die Befürchtungen Europas vor einer Flüchtlingswelle berechtigt. Europa und die Schweiz könnten "unmöglich wenig qualifizierte Arbeitskräfte aus aller Welt unbeschränkt aufnehmen. Die westliche Welt könne den "weniger entwickelten Staaten in Zukunft aber mehr Angebote im Bereich Ausbildung, Stagiaire und Bildung machen". Im Gegenzug müssten sich diese Staaten dazu bereit erklären, ihre eigenen Staatsangehörigen zurückzunehmen.

 Gnesa setzt in Migrationsfragen auf internationale Kooperation. "Auch im nordafrikanischen Raum werden wir den Migrationsdialog intensivieren", so Gnesa, "darin legen beide Seiten ihre Probleme auf den Tisch. Später folgt eine Migrationspartnerschaft, die auch ein Rückübernahmeabkommen enthalten soll."

 Derweil dauerten die Demonstrationen in mehreren Staaten der arabischen Welt an. In Libyen gingen Tausende Regierungsgegner auf die Strasse und riefen immer wieder: "Nieder mit Gaddafi". Die Regierungstruppen lösten die Kundgebungen mit Waffengewalt auf. Die Zahl der getöteten Gegner von Machthaber Gaddafi dürfte auf rund hundert gestiegen sein. (ATT) Interview Seite 9

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"Wer keinen Job hat, zieht nach Europa"

 Der Schweizer Migrationschef Eduard Gnesa befürchtet eine Flüchtlingswelle aus Nordafrika

von Othmar von Matt

 "Ein Staat alleine kann die Migrationsprobleme nicht lösen", sagt Eduard Gnesa. Der Schweizer Migrationschef sucht deshalb eine internationale Zusammenarbeit.

 Herr Gnesa, Sie trafen UNO-General-sekretär Ban Ki Moon. Weshalb?

 Eduard Gnesa: Die Schweiz präsidiert 2011 das Globale Forum für Migration und Entwicklung (GFME). Ich orientierte über unser Konzept. Dieses Forum mit 160 Staaten steht ausserhalb der UNO.

 Was ist das Ziel der Schweiz?

 Dass wir unsere Erfahrungen im Migrationsbereich mit den anderen Staaten teilen können. Ein Staat alleine kann die Migrationsprobleme nicht lösen. Weltweit migrieren jährlich 240 Millionen Menschen. Themen wie Migration, Klimamigration, Diaspora oder Remissen tangieren die ganze Menschheit.

 Was planen Sie konkret?

 Was die Diaspora betrifft: Wir haben eine aus dem Balkan und eine aus Afrika. Wir möchten sie einbinden in die Gespräche, welche die Regierungen führen. Heute haben wir 46 Rückübernahmeabkommen. Doch gerade im afrikanischen und nordafrikanischen Raum zeigt sich immer deutlicher: Diese Staaten haben ein Interesse an einer Zusammenarbeit in Migrationsfragen. Etwa bei Visen, Remissen, Ausbildungsplätzen, Entwicklungsprojekten. Migrationspartnerschaften haben wir mit Bosnien, Kosovo, Serbien und Nigeria. Wir wollen sie auf weitere Staaten ausbauen.

 Die Schweiz stellte zu einseitig ihreeigenen Interessen in den Vordergrund?

 Lange hatten wir Asylbewerber vor allem aus dem Balkan. In den letzten drei Jahren kamen Asylbewerber grösseren Ausmasses aus Afrika, Eritrea und Nigeria. Auch im nordafrikanischen Raum werden wir den Migrationsdialog intensivieren. Später folgt eine Migrationspartnerschaft, die ein Rückübernahmeabkommen enthalten soll. Vor allem afrikanische Staaten schlagen die Türe vor der Nase zu, wenn man einfliegt und sagt: Ich will jetzt das. Man muss auch ihre Interessen ernst nehmen.

 Die Beziehungen müssen partnerschaftlicher angepackt werden?

 Genau. Ökonomische, soziale und kulturelle Aspekte sollen ebenfalls einbezogen werden. Den Menschen soll es in ihrer Heimat so gut gehen, dass sie auch dort bleiben können. Gleichzeitig müssen aber auch die irreguläre Migration und der Menschenhandel bekämpft werden. Auch Rückkehrhilfe und Strukturhilfe vor Ort sind wichtige Themen.

 Der Bundesrat will die internationale Zusammenarbeit verstärken. Sie sind der Koordinator?

 Bei meiner Wahl gab mir der Bundesrat einen klaren Auftrag: Ich soll sowohl gegen innen wie gegen aussen die Koordination verstärken. Beteiligt in der Arbeitsgruppe sind das Bundesamt für Migration, die politische Abteilung IV des EDA, die Deza und das Seco.

 Die so genannt armen Staaten haben sich emanzipiert?

 Das globale Migrationsforum existiert seit 2006. Heute sitzen auch China, die USA, Russland und Indien an diesem praxisbezogenen, informellen Forum. Vor 2006 war das nicht möglich, weil man Migrationsprobleme nur unter dem Aspekt des Nord-Süd-Dialogs sah.

 Als Problem zwischen Reich und Arm?

 Das kann man so sagen. Die Situation hat sich aber geändert. Sehr viele Staaten wie Thailand, Südafrika oder südamerikanische Staaten sind inzwischen gleichzeitig zu Ein- und Auswanderungsstaaten und Transitstaaten geworden. Weltweit haben immer mehr Länder genau dieselben Migrationsprobleme. Es gibt eine Durchmischung, verschiedene Ethnien und Kulturen wandern ein. Sie fordern ihr Recht auf Migration ein. Über Migration lassen sich auf dem Arbeitsmarkt auch die Bedürfnisse der Wirtschaft decken. Deshalb müssen wir uns global austauschen.

 Und wo tut die Schweiz etwas?

 In Syrien etwa leben eine Million Iraki und eine halbe Million Palästinenser. Gleichzeitig hat Syrien im Norden eine gewaltige Dürre, welche die Menschen nach Damaskus treibt. Man könnte sagen: Das interessiert die Schweiz nicht. Das ist aber falsch. Die Leute werden weiterwandern. Es ist wichtig, ihnen vor Ort zu helfen. In Syrien bauten wir Schulen für syrische und irakische Kinder mit auf. Gleichzeitig entsandte die Deza Ingenieure wegen der Dürre. Und mit unserer Hilfe brachte man ein Gesetz gegen Menschenhandel durch.

 Reiche Staaten können nicht mehrnur nehmen, sondern müssen auchgeben?

 Das ist richtig. Dabei geht es aber nicht nur um finanzielle Hilfe. Geld ist wichtig, macht alleine aber nicht selig. Viel wichtiger sind Kompetenzen, um Probleme zu lösen. Aber auch wir haben Interessen. Dass Delegationen in die Schweiz kommen, um Asylbewerber zu identifizieren, die Papiere weggeworfen haben. Und sie auch zurücknehmen.

 Wie schätzen Sie das Risiko von Flüchtlingswellen aus Nordafrika und dem arabischen Raum ein?

 Im nordafrikanischen Raum ist die Hälfte der Bevölkerung unter 30 Jahre alt. Die wirtschaftliche Situation ist schlecht, selbst Jugendliche mit guter Ausbildung finden keinen Job. Diese zieht es nach Westeuropa. Ich wage keine Prognose, ob die Flüchtlingssituation auf andere Staaten wie Ägypten überschwappt. Entscheidend für diese Staaten ist, dass sie keine korrupten Diktaturen haben und dass sie mit einer funktionierenden Demokratie die wirtschaftliche Entwicklung ermöglichen, was zu neuen Arbeitsplätzen führt. Das wäre die ideale Lösung. Solange sie nicht realisiert ist, werden ausgebildete Leute ohne Job weiterwandern.

 Was meinte UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon zur Situation?

 Er zeigte sich besorgt.

 Wie kann das Problem gelöst werden?

 Im Forum wird auch über Regeln im Zusammenhang mit irregulärer Migration gesprochen. Ist ein Staat immer souverän darin, wen er in sein Land lässt? Oder gibt es Bereiche, in denen er eine gewisse Durchlässigkeit haben muss?

 Was meinen Sie mit Durchlässigkeit?

 Dass die westliche Welt aufgrund der demografischen Entwicklung den weniger entwickelten Staaten in Zukunft mehr Angebote im Bereich Ausbildung, Stagiaire und Bildung macht. Im Gegenzug müssen sich diese Staaten dazu bereit erklären, ihre eigenen Staatsangehörigen zurückzunehmen. Was die Schweiz aber unmöglich tun kann: Wenig qualifizierte Arbeitskräfte aus aller Welt unbeschränkt aufzunehmen. In der Schweiz wurden in den letzten zehn Jahren gegen 300000 Arbeitsplätze für weniger Qualifizierte abgebaut.

 Die "Zeit" kritisierte, dass sich Europa schon von ein paar Tausend tunesischen Flüchtlingen bedroht fühle.

 Europa hat berechtigte Befürchtungen. Europa hat noch andere Migranten und Flüchtlinge. Sei es auf dem legalen Weg der Asylbewerber oder auf dem illegalen Weg der Sans-Papiers. Ohne diese Probleme könnte Europa die Situation möglicherweise grosszügiger handhaben. Dazu kommt die Gefahr der Sogwirkung. Nehmen wir Zehntausende von tunesischen Flüchtlingen auf, hat das eine Sogwirkung auf Ägypten. Deutsche Politiker sagten nicht zu Unrecht: Der Aufstand kam von der Jugend. Sie will einen demokratischen Staat. Sie muss nun auch helfen, ihn aufzubauen, statt nach Westeuropa auszuwandern. Man muss ein gewisses Verständnis für die Haltung Westeuropas haben.

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NZZ am Sonntag 20.2.11

Schweizer sichern EU-Grenze gegen Flüchtlinge aus Nordafrika

 Operation auf Lampedusa startet - weitere Auslandeinsätze sind geplant

 Schweizer Grenzwächter helfen auf Lampedusa, die Grenze der Europäischen Union zu sichern. Allein in diesem Jahr sind neun weitere Einsätze vorgesehen.

 Lukas Häuptli

 Die EU startet heute Sonntag auf Lampedusa die Hilfsoperation Hermes, um die Italiener bei der Bewältigung des Flüchtlingsstroms aus Nordafrika zu unterstützen. Dafür werden auch Schweizer Grenzwächter aufgeboten. Ihr Einsatz sei "sehr wahrscheinlich", sagt ein Sprecher der EU-Grenzschutzbehörde Frontex gegenüber der "NZZ am Sonntag". Der Bund hatte der EU für die Operation auf der Mittelmeerinsel drei Beamte angeboten - zwei Dokumenten- und einen Überwachungs-Spezialisten. Ihr Einsatz ist auf einen Monat befristet.

 Weitere Schweizer Missionen an der EU-Grenze sind bereits geplant. "Man hat vereinbart, dass Schweizer Grenzwächter 2011 an neun weiteren Operationen teilnehmen", erklärt der Frontex-Sprecher. Wo und wann diese durchgeführt werden, gibt er nicht bekannt. Jürg Noth, Chef des Schweizer Grenzwachtkorps, sagt: "Wir gehen davon aus, dass permanent fünf bis sechs Angehörige des Grenzwachtkorps im Einsatz stehen."

 In Libyen, Bahrain, Jemen und Algerien gingen derweil gestern Samstag die Proteste gegen die Regime weiter. In Libyen kam es in Bengasi zu blutigen Zusammenstössen zwischen Gegnern des Diktators Muammar Ghadhafi und der Armee. Laut Angaben eines Zeugen kamen Dutzende von Menschen ums Leben, als Schützen vom Dach der Sicherheitszentrale in die Menge feuerten. Ein Notarzt sagte zur "NZZ am Sonntag": "Wir nehmen viele Opfer auf. Siebzig Prozent von ihnen sind am Kopf verletzt. Man hat auf diese Leute geschossen, um sie zu töten." Seit dem Ausbruch der Proteste wurden mindestens 84 Regimegegner getötet. Um weitere Demonstrationen zu erschweren, kappte Ghadhafi den Zugang zu Facebook und Twitter.

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Schweizer Grenzwächter für die EU
 
Operation auf Lampedusa läuft an - 2011 sind neun weitere Einsätze an der europäischen Grenze geplant

 Schweizer Grenzwächter sollen nicht nur auf Lampedusa helfen, die europäische Grenze zu sichern. Der Bund stellt der EU dauerhaft fünf bis sechs Grenzwächter zur Verfügung.

 Lukas Häuptli

 Tausende Menschen flüchten gegenwärtig aus Nordafrika nach Europa. Viele von ihnen lassen ihr Leben auf der Überfahrt, viele landen auf der Mittelmeerinsel Lampedusa, und viele versuchen, ans italienische Festland zu gelangen. Zur Bewältigung des Flüchtlingsstroms erhält Italien jetzt Unterstützung von Europa. Die EU-Grenzschutzbehörde Frontex teilte am Samstagabend mit, heute beginne auf Lampedusa die Operation "Hermes 2011". Es sei "sehr wahrscheinlich", dass dabei auch Schweizer Grenzwächter zum Einsatz kämen, sagte Frontex-Sprecher Michal Parzyszek auf Anfrage.

 Es wäre der erste Einsatz von Schweizer Beamten an der EU-Grenze. Das Schweizer Grenzwachtkorps (GWK) hatte am Donnerstag entschieden, für den Frontex-Einsatz in Italien drei Beamte zur Verfügung zu stellen, und zwar zwei Dokumenten- und einen Überwachungs-Spezialisten. Deren Einsatz ist auf "etwa vier Wochen" befristet, wie GWK-Chef Jürg Noth gegenüber der "NZZ am Sonntag" sagte.

 "Permanent im Einsatz"

 Allerdings wird es nicht bei diesem Einsatz bleiben. "Man hat vereinbart, dass Schweizer Grenzwächter 2011 an neun weiteren Frontex-Operationen teilnehmen", sagte Frontex-Sprecher Parzyszek. Dabei handelt es sich um sogenannt ordentliche Einsätze, welche die Grenzschutzbehörde aufgrund der 2011 erwarteten Flüchtlingsströme festgelegt hat. Wo und wann diese Operationen mit Schweizer Beteiligung durchgeführt werden, gab der Frontex-Sprecher nicht bekannt.

 Zu diesen ordentlichen kommen möglicherweise ausserordentliche Frontex-Einsätze wie derjenige jetzt in Italien. "Wir gehen davon aus, dass permanent fünf bis sechs Angehörige des Grenzwachtkorps im Einsatz stehen werden", sagte GWK-Chef Noth zu den künftigen Frontex-Einsätzen der Schweiz.

 Rechtliche Grundlage für die Operationen sind drei Verträge zwischen der Schweiz und Frontex, die auf dem Grenz- und Sicherheits-Abkommen Schengen basieren. Der letzte der Verträge ist Ende Januar 2011 in Kraft getreten. Gemäss den Verträgen stellt die Schweiz der Frontex Grenzwächter zur Verfügung, wenn diese eine entsprechende Anfrage stellt. Einzig im Fall eines "begründeten Eigenbedarfs" kann der Bund eine Anfrage ablehnen.

 Eigentlich stellt sich die Frage des Eigenbedarfs durchaus. Ende Januar hat der Bundesrat nämlich festgehalten, dass das Grenzwachtkorps zu wenig Personal habe. Er befürwortet deshalb eine Aufstockung der gegenwärtig rund 1900 Stellen. GWK-Chef Jürg Noth sieht in dieser Hinsicht aber keine Probleme. "Die Frage nach den personellen Ressourcen spielt bei Anfragen von Frontex eine untergeordnete Rolle", sagt er. Es gehe hier nur um den Einsatz von einzelnen Personen. Und: "Die Schweiz hat ein unmittelbares Interesse an diesem Einsatz. Wir profitieren auch davon, wenn Frontex in Italien vor Ort ist."

 Kritik von links und rechts

 Trotzdem stossen die Einsätze von Schweizer Grenzwächtern an der EU-Grenze auf Kritik. Zwar befürworten FDP, CVP und SP sie grundsätzlich. Die SVP aber lehnt sie kategorisch ab. Für sie dürfen Schweizer Grenzwächter ausschliesslich Schweizer Grenzen schützen. Und die Grünen führen an, Frontex sei "eine hässliche Antwort auf die Migrationsproblematik". Die Behörde verteidige einzig die "Festung Europa" gegen Flüchtlinge.

 Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch oder Amnesty International haben in der Vergangenheit wiederholt nationale Grenzschutzbehörden, aber auch Frontex kritisiert. Diese sollen Flüchtlingsboote vor Italien und Griechenland ins Meer zurückgedrängt, den Flüchtenden eine Landung verunmöglicht und sie so in Lebensgefahr gebracht haben.

 "Wir verlangen, dass alle Flüchtlinge, die Asyl beantragen wollen, auch Asyl beantragen können", sagt dazu Denise Graf, Flüchtlingskoordinatorin von Amnesty International Schweiz. "Das heisst: Grenzwachen müssen Flüchtlingsboote an Land lassen, und den Flüchtlingen muss an Land Zugang zu einem rechtsstaatlichen Asylverfahren gewährt werden." Dabei sei namentlich das Non-Refoulement-Prinzip einzuhalten, also das Gebot, Asylsuchende nicht in Länder zurückzuschaffen, in denen Menschenrechtsverletzungen drohen.

 GWK-Chef Jürg Noth ist allerdings auch in dieser Hinsicht zuversichtlich: "Die Achtung der Menschenrechte gehört zu unserer täglichen Arbeit. Alle Mitarbeitenden werden entsprechend geschult und sensibilisiert."

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Meinungen

 Flüchtlinge
 
Die Schweizer Grenze liegt nicht nur bei Chiasso

 Tausende Menschen flüchten gegenwärtig von Nordafrika nach Europa. Viele lassen ihr Leben auf der Überfahrt. Viele schaffen es bis zur italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa. Und viele versuchen, irgendwie und irgendwann ans Festland zu gelangen. Dort sind sie fast schon sicher auf dem verheissenen Kontinent, und von dort sind es nur noch ein paar hundert Kilometer bis zur Schweizer Grenze. Etwa derjenigen bei Chiasso. Auch deshalb fordern Schweizer Politiker, allen voran die der SVP, 200 bis 300 zusätzliche Grenzwächter, welche die Schweiz gegen illegale Einwanderer sichern. Was diese Politiker vergessen: Im Europa des freien Personenverkehrs und der gemeinsamen Kriminalitätsbekämpfung liegt die Schweizer Grenze nicht mehr nur bei Chiasso. Sie liegt auch - und in diesem Fall vor allem - auf Lampedusa. Deshalb ist es sinnvoll, dass Schweizer Grenzwächter dort zum Einsatz kommen. Auf der Mittelmeerinsel sollen sie mithelfen, Flüchtlingen Zugang zu einem menschenwürdigen und rechtsstaatlichen Asylverfahren zu gewähren. Und sie sollen mithelfen, abgewiesene Asylsuchende unter Wahrung der Menschenrechte in die Heimat zurückzuschaffen. Was ebenfalls vergessen geht: Eine moderne Migrationspolitik umfasst längst nicht nur Grenzsicherung, Abklärung von Asylgesuchen und Rückschaffung von Flüchtlingen ohne Asylberechtigung. Sie umfasst auch Massnahmen zur Stabilisierung einer Krisenregion sowie wirtschaftliche, rechtliche und politische Unterstützung vor Ort. Das wäre dann eine umfassende - und eine nachhaltige Grenzsicherung. (luh.)

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Zentralschweiz am Sonntag 20.2.11

Schweiz soll Gesuche in Italien prüfen

Jürg Auf der Maur und Eva Novak

 Tausende von Tunesiern sind auf der Flucht. Nur die wenigsten haben Chancen, in der Schweiz Asyl zu erhalten. Politiker fordern, dass der Bund die Flüchtlinge bereits vor der Grenze abfängt.

 Die Szenarien aus dem Departement von Justizministerin Simonetta Sommaruga schrecken auf und sorgen für einen breiten Schulterschluss von links bis rechts. Im schlimmsten Fall, so heisst es in einer am Freitag verschickten Einschätzung an involvierte Kreise, müsse sich die Schweiz darauf einstellen, dass mehrere tausend Asylbewerber aus Nordafrika - derzeit vorwiegend Tunesien und Ägypten - um Aufnahme ersuchen. Italien, das mit Sizilien und der Insel Lampedusa das eigentliche Eingangstor für Flüchtlinge aus Afrika ist, stellt sich derweil auf den Ansturm von rund 80 000 Nordafrikanern ein.

 Nur die momentan hohe See führt dazu, dass in den vergangenen Tagen lediglich vereinzelt Boote an der italienischen Küste angekommen sind.

 Kantone fordern klares Signal

 Anders als bei anderen Flüchtlingsbewegungen ist sich das politische Spektrum von links bis rechts für einmal einig: Bei den Tunesiern handelt es sich um keine echten Asylsuchenden, sondern um Wirtschaftsflüchtlinge. Primär müssten die EU und Italien dafür besorgt sein, dass die jungen Männer gleich wieder zurückgeschickt werden - und dies noch bevor sie die Grenze in Chiasso überschreiten. "Am besten wäre es", sagt etwa der im Kanton Schwyz zuständige CVP-Regierungsrat Kurt Zibung, "an den Aussengrenzen der EU entsprechende Riegel zu schieben, um die Flüchtlingsströme zu stoppen." Es brauche klare Signale, dass "die Hürden hoch sind".

 SP sieht keine Asylgründe

 Ähnlich tönt es bei Karin Keller-Sutter, Vizepräsidentin der Polizei- und Justizdirektoren. Die St. Galler FDP-Regierungsrätin forderte gestern im Interview mit der "Neuen Luzerner Zeitung" und ihren Regionalausgaben, jetzt keine falschen Signale zu setzen. Italien und die EU müssten dafür besorgt sein, "die Flüchtlinge auf der Insel Lampedusa möglichst schnell zurückzuschicken". Überraschend: Karin Keller-Sutter wird im Grundsatz gar von SP-Präsident Christian Levrat unterstützt. Wenn er die Situation in Lampedusa betrachte, habe er "Mühe zu erkennen, dass darunter echte Flüchtlinge sein sollen". Man soll diese Männer "würdig und human behandeln", doch wenn sie keine Verfolgung geltend machen können, "was in den allermeisten Fällen zutreffen wird, müssen sie rasch wieder zurück".

 Levrat kann sich gar vorstellen, dass die Schweiz in Italien Auffanglager einrichtet, um die Asylgesuche zu prüfen. "Es braucht Strukturen vor Ort, denn es ist in diesem Fall besser, wenn die Asylgesuche gleich in Italien geprüft werden." Es mache keinen Sinn, Leute auf ganz Europa zu verteilen, die keinen Asylgrund vorzuweisen hätten.

 Kommt Armee zum Einsatz?

 Für Verteidigungsminister Ueli Maurer ist auch ein Armee-Einsatz denkbar: "Man muss sich sicher mit solchen Dingen auseinandersetzen", sagte er diese Woche nach der Bundesratssitzung gegenüber einzelnen Medienvertretern. Einen Grenzeinsatz sieht er jedoch nicht, dafür gebe es derzeit keine politische Mehrheit. Vielmehr schwebt ihm ein Armee-Einsatz im bisherigen Rahmen vor: Flüchtlings- oder Auffanglager betreiben oder sanitarische Anlagen oder Küchen einzurichten und zu unterhalten. Denn auch Maurer ist überzeugt: "Es gibt keinen Grund, aus diesen Ländern zu flüchten, weil dort niemand an Leib und Leben gefährdet ist."

 Pfister will neues Asylgesetz

 Gleicher Meinung ist auch CVP-Nationalrat Ruedi Lustenberger. Das Beste wäre, "sie erst gar nicht in die Schweiz kommen zu lassen". Wenn sie trotzdem eintreffen, brauche es an der Grenze "beschleunigte Verfahren, welche dem Minimalstandard der internationalen Konventionen entsprechen". Auf "weiterreichende Rechtsmittel", so der Luzerner CVP-Nationalrat, sei zu verzichten. Für Gerhard Pfister (CVP, Zug) wird dieser Fall zum "Stresstest für Schengen/Dublin". Wenn die Verträge gut seien, bekomme die Schweiz die Lage in den Griff, wenn nicht, wisse man, dass die Verträge schlecht seien.

 So oder so plädiert Pfister dafür, das Asylgesetz zu überdenken. Es sei vom Flüchtlingsbegriff des Zweiten Weltkriegs geprägt. Man wisse aber, dass heute über 90 Prozent der Menschen aus wirtschaftlichen und nicht aus politischen Gründen um Asyl ersuchten. Pfister: "Heute muss die Schweiz mit einem grossen, teuren Apparat das beweisen, was allen von Beginn weg klar ist: dass nämlich aus wirtschaftlichen Gründen Asylanträge gestellt werden, auf die gar nicht eingetreten werden kann." Pfister schwebt ein neues Modell vor - eine Art "Personenfreizügigkeit für Menschen aus aussereuropäischen Staaten, damit auch sie kommen dürfen, wenn die Wirtschaft entsprechende Bedürfnisse hat".

 300 zusätzliche Grenzwächter

 Hans Fehr (SVP, Zürich) geht derweil hart mit Bundesrätin Simonetta Sommaruga ins Gericht. Die Justizministerin habe mit ihrer Ankündigung, dass sich unser Land auf verschiedene Szenarien vorbereiten müsse, ein falsches Signal gesetzt. Die neue Bundesrätin habe nichts anderes zu tun, als zu sagen, das Problem gehe uns nichts an, Italien und die EU hätten für geschlossene Grenzen zu sorgen. Zudem müsse die Justizministerin dafür sorgen, dass das Grenzwachtkorps um 300 Stellen aufgestockt werde.

 "Die Schweiz hat ein Asylrecht, das gilt es anzuwenden", kontert Christine Stähli, Sprecherin von Bundesrätin Simonetta Sommaruga.

 Kein Verständnis für die Positionen der Politiker hat man bei der Schweizer Flüchtlingshilfe. Aber Anhänger des alten Regimes müssten wirklich um ihr Leben bangen und seien deshalb gezwungen, ihr Land zu verlassen, sagt Mediensprecher Adrian Hauser. Die Flüchtlingshilfe fordert deshalb, jedes Gesuch im Einzelnen genau zu prüfen. Hauser: "Es braucht die Einzelfallprüfung, und sie muss seriös und fair durchgeführt werden, sodass jeder, der Schutz von der Schweiz nötig hat, diesen auch bekommt."

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 "Ich verfolge die Entwicklung in Libyen jedenfalls mit Interesse"

 Simon Fischer und Urs Zurlinden

 Frau Bundespräsidentin, die Regierung ist in Ägypten gestürzt, jetzt hat die Armee das Sagen. Wie beurteilen Sie deren Rolle?

 Micheline Calmy-Rey: Die Armee hat jetzt die Verantwortung. Wir hoffen, dass sie sicherstellt, dass alle Kräfte und Parteien nun friedlich und konstruktiv zusammenarbeiten können und Neuwahlen durchgeführt werden.

 Kann die Armee das riesige Land am Nil in die Demokratie führen?

 Calmy-Rey: Die Armee war Teil des Mubarak-Systems. Ob sie diesen glaubwürdigen, transparenten Demokratisierungsprozess weiterführen kann und will, ist noch offen.

 Offenbar hat die Armee Oppositionelle gefoltert?

 Calmy-Rey: Diese Informationen habe ich auch erhalten. Wir haben seit Beginn dieser Bewegungen appelliert, keine Gewalt gegen Demonstranten und Oppositionelle anzuwenden.

 Eine halbe Stunde nach dem Rücktritt Mubaraks liess der Bundesrat seine Vermögen sperren. War das Ihre Idee?

 Calmy-Rey: Das war ein Entscheid des Bundesrates - wie gesagt: Wir sind ein Team.

 Der Entscheid sollte Ägypten motivieren, ein Rechtshilfegesuch zu stellen. Der Schachzug ist gelungen?

 Calmy-Rey: Ja, es liegen jetzt zwei Rechtshilfegesuche vor: eines aus Tunesien und eines aus Ägypten.

 Gibt es inzwischen konkrete Hinweise zum Umfang dieser Vermögen?

 Calmy-Rey: Ja. Sowohl in Tunesien wie auch in Bezug auf Ägypten wurden Vermögenswerte im Umfang von mehreren Dutzend Millionen Franken gesperrt.

 Die Opposition sprach von 70 Milliarden Dollar. Gibt es dafür eine Bestätigung?

 Calmy-Rey: Nein, nach Angaben der Schweizer Nationalbank beliefen sich die ägyptischen Guthaben auf Schweizer Banken 2009 auf 3 bis 4 Milliarden Franken.

 Auch in anderen Ländern gibts Proteste. Erwarten Sie einen Dominoeffekt?

 Calmy-Rey: Die Menschen in Ägypten und Tunesien mussten viel Mut aufbringen und ihre Angst überwinden, damit der Umsturz überhaupt möglich geworden ist. Ihre Entschlossenheit hat dazu geführt, dass auch in anderen Ländern der Region ähnliche Bewegungen entstehen. Welchen Effekt das letztlich haben wird, können wir heute noch nicht beurteilen.

 Selbst in Libyen gibt es Unruhen. Wackelt der Stuhl von Ghadhafi?

 Calmy-Rey: Wir haben in der Schweiz ja auch unsere Erfahrungen gemacht mit dem Regime in Libyen ... Ich verfolge die dortigen Entwicklungen jedenfalls mit Interesse.

 Droht eine weitere Destabilisierung?

 Calmy-Rey: Im Nahen Osten gibt es drei Krisenherde: den israelisch-palästinensischen Konflikt, den Iran und Afghanistan. Das religiöse Element, verbunden mit radikalen Ausrichtungen, spielt eine gewichtige Rolle. Alle drei Krisenherde sind miteinander verknüpft.

 Nach den jüngsten Revolten rollt eine neue Flüchtlingswelle auf Italien zu.

 Calmy-Rey: Bei den mehreren tausend Flüchtlingen, die nach Europa wollen, handelt es sich zum grossen Teil um junge Männer auf der Suche nach Arbeit. Bislang ist die Schweiz zwar noch nicht direkt betroffen. Aber es ist klar, dass dieses Problem nicht von einem Land alleine gelöst werden kann. Der Bundesrat hat sich deshalb solidarisch gezeigt und will im Rahmen eines EU-Einsatzes drei Grenzwächter an die italienische Schengen-Aussengrenze entsenden, um dort für Verstärkung zu sorgen.

 Ist die EU genügend vorbereitet?

 Calmy-Rey: Brüssel verfolgt die Entwicklungen in diesen Gebieten sehr genau. In solchen Krisenfällen kann etwa die Schengener Agentur Frontex Hilfe bieten, die Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Aussengrenzen. Italien nimmt diese Hilfe nun in Anspruch.

 Simon Fischer und Urs Zurlinden
 schweiz@luzernerzeitung.ch

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Sonntagsblick 20.2.11

Flüchtlings-Drama in Italien. Jetzt Krisen-Gipfel in Bern Chef des Bundesamts für Migration warnt

 Nordafrikaner - wenig Chancen auf Asyl

 VON  MARCEL ODERMATT

 Die Schweiz biete keine Perspektive für Wirtschaftsflüchtlinge aus Nordafrika. Ein Ansturm droht ihr trotzdem.

 Die Bilder der Flüchtlinge, die auf der kleinen italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa zwischen Tunesien und Sizilien gelandet sind, gingen um die Welt. Droht Europa und auch der Schweiz ein "Exodus biblischen Ausmasses", wie es der italienische Innenminister Roberto Maroni formulierte?

 Das Bundesamt für Migration (BFM) will gerüstet sein. Direktor Alard du Bois-Reymond zu SonntagsBlick: "Theoretisch besteht die Möglichkeit, dass ein Maghreb-Staat nach dem anderen fällt und die Menschen massenhaft flüchten." Es gehe nicht um Aktivismus oder Panikmache. "Die Schweiz muss sich sicherheitshalber auch auf einen Ansturm vorbereiten - alles andere wäre fahrlässig."

 Aus diesem Grund hat der Flüchtlingschef am Donnerstag zu einer Krisensitzung nach Bern geladen. Neben Kantonsvertretern sollen auch das Aussenministerium und das Grenzschutzkorps an den Gesprächen teilnehmen.

 Für du Bois ist klar: Kommt es zur Flüchtlingswelle, müssten diese Gesuche prioritär behandelt werden. Denn diese Leute flüchten vor Armut, Unterbeschäftigung und Korruption. Alles keine Gründe, um in der Schweiz Asyl zu erhalten. "Sie werden nicht verfolgt. Die meisten sind junge, arbeitslose Männer - sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge - die in Europa eine Chance suchen", so der Amtschef von SP-Justizministerin Simonetta Sommaruga. Die Schweiz müsse deshalb alles daran setzen, dass sie - falls sie in die Schweiz kommen - das Land möglichst rasch wieder verlassen.

 Europa steckt im Dilemma: Die autoritären Regimes haben Flüchtlinge bisher von Europa ferngehalten. Diktatoren wie Libyens Staatschef Muammar al-Gaddafi wurden dafür von den Europäern gehätschelt und hofiert. Die Steuerung der Migration war den Aussenpolitikern der EU wichtiger als das Bekenntnis zu Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

 Jetzt drohen diese Schutzdämme zu brechen. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex soll nun die Flüchtlinge schon vor ihrer Landung auf europäischem Festland auffangen - mit an Bord sind zum ersten Mal Schweizer Spezialisten. Denn in Europa sind diese Leute nicht willkommen: BFM-Chef du Bois-Reymond: "Wir müssen jetzt ein klares Signal aussenden. Die Schweiz kann diese arbeitslosen Nordafrikaner nicht als Arbeitskräfte gebrauchen."

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BZ 19.2.11

Warum die Schweiz den EU-Grenzschutz unterstützt

 Grenzschutz Zum ersten Mal sollen Schweizer Grenzwächter an einer Operation der EU-Grenzschutzagentur Frontex teilnehmen. Dieser wird vorgeworfen, Menschenrechte zu verletzen.

 Auf der italienischen Insel Lampedusa strandet ein Boot voller Flüchtlinge. Die afrikanischen Migranten werden von Beamten aufgegriffen, ein Grenzwächter schreitet zur Kontrolle. Doch der Mann, der in Italien seinen Dienst verrichtet, ist mitnichten Italiener - es ist ein Schweizer, der mithilft, die Aussengrenze Europas zu sichern.

 Das Szenario könnte bald zur Realität werden. Seit 2005 koordiniert die Grenzschutzagentur Frontex den Schutz der europäischen Aussengrenzen. Im Schatten von Schengen verpflichtete sich auch die Schweiz zur operativen Zusammenarbeit - der Ständerat winkte das Geschäft ohne Gegenstimme durch, der Nationalrat gab Ende 2008 grünes Licht.

 Die Premiere

 Etwas mehr als zwei Jahre später ist es nun so weit: Vor dem Hintergrund der Flüchtlingsströme aus Nordafrika gab die Eidgenössische Zollverwaltung am Donnerstag bekannt, dass sie Frontex drei Fachleute zur Verfügung stellt. Zwei Dokumentenspezialisten und ein Experte für die Überwachung aus der Luft sollen die Agentur beim Kampf gegen die irregulären Einwanderer in Italien unterstützen. Werden sie aufgeboten, wird es der erste Schweizer Einsatz der Frontex-Geschichte sein. Laut Stefanie Widmer, Sprecherin des Eidgenössische Zollverwaltung, habe man die letzten Verträge mit Frontex Ende Januar unterzeichnet. Wird die Schweiz angefragt, könne das Grenzwachtkorps nun in Absprache mit dem vorgesetzten Finanzdepartement von Fall zu Fall entscheiden, ob Spezialisten entsandt werden. Die Schweiz habe aber ein "unmittelbares Interesse" daran, den Schutz der europäischen Aussengrenzen zu gewährleisten.

 Die wachsende Bedeutung von Frontex zeigt sich bei einem Blick auf das Budget: Während die Agentur 2005 noch knapp 6 Millionen Euro zur Verfügung hatte, will sie dieses Jahr mehr als 86 Millionen ausgeben. Der Haushalt setzt sich hauptsächlich aus Beiträgen der EU- und Schengen-Staaten zusammen. Die Kosten für die Schweiz belaufen sich auf 2,3 bis 2,7 Millionen Franken.

 Dass sich die Investition lohnen kann, zeigt das Beispiel Griechenland. Ende 2010 verkündete der stellvertretende Frontex-Direktor Gil Arias Fernandez, dass der Zustrom von Einwanderern nach Griechenland nach dem Einsatz der Agentur um 44 Prozent auf rund 140 Personen pro Tag zurückgegangen war. Die EU hatte mehr als 200 Grenzschutzpolizisten entsandt, nachdem sie von den griechischen Behörden um Hilfe gebeten worden war.

 Die Kritik von Amnesty

 Doch wie lässt sich ein solcher Erfolg erklären? Für Denise Graf, Flüchtlingskoordinatorin bei Amnesty International, liegt die Antwort auf der Hand: "Frontex sorgt dafür, dass die Migranten gar nicht erst in europäisches Hoheitsgebiet eindringen können." Die Agentur würde irreguläre Migranten an Land und auf hoher See abfangen und dann zurückschicken. Dabei komme es vor, dass den Booten nicht einmal genug Benzin für die Rückfahrt bleibe. "Für manchen Migranten bedeutet das den Tod."

 Ebenfalls als problematisch beurteilt Amnesty International den Umgang der EU-Agentur mit internationalen Konventionen: "Werden die Leute auf hoher See zurückgeschickt, nimmt man ihnen die Chance auf ein faires Verfahren." Sowohl vor der griechischen als auch der italienischen Küste würde so Frontex immer wieder Menschenrechte verletzen.
 
Christian Zeier

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admin.ch 18.2.11

Migration: Sonderbotschafter Eduard Gnesa trifft UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon
Bern-Wabern, 18.02.2011 - Eduard Gnesa, Sonderbotschafter für internationale Migrationszusammenarbeit, hat am Donnerstag UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon getroffen und ihm das Konzept für den Schweizer Vorsitz des Globalen Forum für Migration und Entwicklung (GFME) im Jahr 2011 vorgestellt.

Das Globale Forum für Migration und Entwicklung ist der erste und einzige globale Dialogprozess im Bereich Migration und Entwicklung. Gegründet wurde es 2006 auf Initiative des damaligen UNO-Generalsekretärs Kofi Annan. Es ist offen für alle Uno-Mitgliedstaaten und dient der Stärkung des informellen Erfahrungsaustauschs und der Kooperation zwischen den von Migration betroffenen Ursprungs- und Zielländern. Nach Belgien, den Philippinen, Griechenland und Mexiko, hat die Schweiz im Dezember letzten Jahres den Vorsitz des GFME übernommen. Er wird durch Sonderbotschafter Eduard Gnesa sichergestellt.

Die Schweiz will auf den Resultaten vergangener Präsidentschaften aufbauen und den Akzent auf einen thematisch fokussierten, partizipativen und aktionsorientierten Austausch zwischen Staaten aller Regionen setzen. An Stelle einer einmaligen GFME-Grosskonferenz, wie bisher, sollen 2011 mehrere kleine Treffen stattfinden. Der Schweizer Vorsitz beabsichtigt, den globalen Charakter des Prozesses beizubehalten und Staaten aller Regionen, internationale Organisationen sowie Akteure der Zivilgesellschaft und Privatwirtschaft in den Dialog einzubeziehen. Die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit diesen Akteuren ist eines der Hauptziele des GFME 2011.

Im Rahmen eines informellen Arbeitstreffens präsentierte Sonderbotschafter Eduard Gnesa UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon das Konzept des Schweizer GFME-Vorsitzes. UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon nahm das Konzept mit Interesse zur Kenntnis und begrüsste den von der Schweiz verfolgten praxisorientierten Ansatz.

Sonderbotschafter Eduard Gnesa traf sich in New York zudem mit dem Präsidenten der UNO Generalversammlung, dem ehemaligen Bundesrat Joseph Deiss.

Adresse für Rückfragen:
Eduard Gnesa, Sonderbotschafter für Internationale Migrationszusammenarbeit,
Mobile: +41 79 218 79 61

Herausgeber:
Bundesamt für Migration
Internet: http://www.bfm.admin.ch/bfm/de/home.html
Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten
Internet: http://www.eda.admin.ch/eda/de/home/recent/media.html

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BZ 18.2.11

Schweiz für Frontex-Einsatz

 FlüchtlingeEin erster Einsatz von Schweizer Grenzwächtern im Rahmen einer Operation der EU-Grenzschutzagentur Frontex rückt näher.

 Das Grenzwachtkorps beantwortete eine Anfrage der EU-Grenzschutzagentur Frontex wegen des Flüchtlingsansturms aus Nordafrika in Italien positiv. Die Schweiz stellt der Frontex drei Fachleute zur Verfügung, wie die Sprecherin der Eidgenössischen Zollverwaltung, Stefanie Widmer, gegenüber der Nachrichtenagentur SDA sagte. Nun muss die Frontex entscheiden, ob sie diese auch abberufen will.

 Die Schweiz stelle der Frontex zwei Dokumentenspezialisten sowie einen Experten für die Überwachung aus der Luft zur Verfügung, sagte Widmer. Letzterer könne unter anderem bei der Auswertung von aus der Luft aufgenommenen Wärmebildern eingesetzt werden. Ob und wann die EU-Agentur auf die Schweizer zurückgreife, sei offen.

 Sollte die EU-Agentur die drei Schweizer Grenzwächter zum Einsatz abberufen, wäre dies der erste Einsatz von Schweizern für die Frontex. Die Schweiz kann erst seit Ende Januar mitmachen, da das Grenzwachtkorps und die EU-Agentur erst zu diesem Zeitpunkt die letzte dafür nötige Vereinbarung unterzeichnet haben. Für Einsätze im Ausland sind 30 Schweizer Grenzwächterinnen und Grenzwächter ausgebildet.

 Seit dem Sturz des tunesischen Präsidenten Zine al-Abidine Ben Ali Mitte Januar flüchten immer mehr Tunesier über das Mittelmeer nach Italien.
 sda

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Basler Zeitung 18.2.11

"Kurzfristig bis 200 zusätzliche Plätze"

 Asylkoordinator sagt, Baselland sei gerüstet für möglichen Flüchtlingsstrom aus Tunesien

Interview: Katrin Roth

 Über die Gesuche von Asylbewerbern entscheidet der Bund. Die Umsetzung der Beschlüsse obliegt den Kantonen. Im Baselbiet ist es Rolf Rossi, Asylkoordinator im Sozialamt, der sich darum kümmert. Im Interview spricht er über den Flüchtlingsstrom aus Tunesien und die Auswirkungen des Dublin-Verfahrens.

 Seit dem politischen Umbruch in Tunesien haben Tausende von Menschen das Land in Richtung Europa verlassen. Über 5000 von ihnen haben in den vergangenen Tagen bereits die italienische Insel Lampedusa erreicht (die BaZ berichtete).

 Der Flüchtlingsstrom beschäftigt auch die Schweizer Behörden: Das Bundesamt für Migration sei dabei, die Lage "genau zu beobachten", wie Pressesprecherin Marie Avet sagt. Für die nächsten Tage plane Bundesbern eine Kontaktaufnahme mit den Kantonen, um das weitere Vorgehen im Fall einer Zunahme der Asylbewerberzahl in der Schweiz zu besprechen und zu koordinieren.

 Gemäss Marie Avet ist die Schweiz bisher kein Zielland für Menschen aus Tunesien gewesen. So waren es im Januar dieses Jahres lediglich 44 von insgesamt rund 1200 Asylgesuchen, die von tunesischen Bürgern gestellt wurden.

 Aber: "Wir können nicht ausschliessen, dass sich das ändert und auch wir mit einer grösseren Migrationswelle aus Tunesien konfrontiert werden." Rolf Rossi, Asylkoordinator im Sozialamt Baselland, gibt sich aber gelassen, was die Folgen eines möglichen Anstiegs der Flüchtlingszahlen aus dem arabischen Raum betrifft.

 BaZ: Herr Rossi, muss das Baselbiet mit einem Flüchtlingsstrom aus Tunesien rechnen?

 Rolf Rossi: Noch ist nicht klar, ob es sich um den Anfang einer Flüchtlingswelle handelt oder lediglich um eine Spitze einer Bewegung, die wieder abflaut. Handelt es sich aber um einen länger anhaltenden Flüchtlingsstrom, werden wir das in der ganzen Schweiz zu spüren bekommen - natürlich auch im Baselbiet.

 Mit welchen Auswirkungen?

 Wir müssten mehr Menschen unterbringen.

 Ist das ein Problem?

 Nein, wir vom Kanton und die Gemeinden sind auf eine gewisse Steigerung vorbereitet. Asylsuchende in der Schweiz werden jeweils vom Bund anteilsmässig auf die Kantone verteilt werden. Für das Baselbiet beträgt diese Quote 3,7 Prozent. Gemäss einer Weisung des Regierungsrats muss jede Gemeinde im Verhältnis zu ihrer Wohnbevölkerung 0,8 Prozent Asylsuchende aufnehmen. Dieser Anteil ist derzeit nicht ausgeschöpft, wir haben noch Reserven.

 Was heisst das konkret?

 Wir haben im Kanton elf Gemeinden mit Kollektivunterkünften. Für eine Übergangszeit von rund sechs bis acht Wochen kann man den Platz in diesen Asylzentren ausreizen. Das erlaubt uns, relativ kurzfristig bis zu 200 zusätzliche Plätze für Asylsuchende zu schaffen.

 Sind also die Zeiten vorbei, in denen Asylsuchende in Zivilschutzanlagen untergebracht wurden? In der Vergangenheit wurde diese Praxis stark kritisiert.

 Nein, wir können auch in Zukunft nicht ausschliessen, dass die Gemeinden bei akuter Platznot die ihnen zugeteilten Asylsuchenden in Zivilschutzanlagen beherbergen. Ich sehe das aber klar als bloss kurzfristige Lösung. Über längere Zeit ist das keine sinnvolle Art der Unterbringung.

 In Bern heisst es, die Schweiz sei kein Zielland für Menschen aus Tunesien. Teilen Sie diese Einschätzung?

 Die kantonale Asylstatistik erfasst derzeit 1500 Personen. Neun von ihnen kommen aus Tunesien. Ich gehe davon aus, dass bisher relativ wenige Menschen aus Tunesien den Weg zu uns gefunden haben. Ob das so bleiben wird, hängt unter anderem davon ab, ob und wenn ja in welchen Ländern Europas die tunesischen Flüchtlinge Familie und andere Kontaktpersonen haben.

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RECHTSEXTREMISMUS
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youtube 28.2.11

Tele1-Bericht zum Wahlsong von Anian Liebrand
http://www.youtube.com/watch?v=OcefzFr3k-o

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Blick am Abend 28.2.11

SVP entdeckt den Hip-Hop

 LAUT

 Wahlkämpfe im Kanton Luzern werden immer mehr zu einer Belastungsprobe für das Ohr. Nach Ida Glanzmann (CVP) im Jahr 2007 versucht sich nun der Kantonsrats-Kandidat Anian Liebrand von der Jungen SVP als Rapper. Sein auf "Youtube" veröffentlichtes Lied "Euses Land i Schwizer Hand" enthält House- und Hip-Hop-Elemente. Er wolle damit unpolitische und junge Personen ansprechen, so Liebrand. Markiert das Lied gar den Anfang einer Musikerkarriere? "Wenn die Rückmeldungen positiv sind, gibt es vielleicht noch ein paar Auftritte und eine CD von mir", sagt Liebrand. dhs

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Basler Zeitung 28.2.11

Prügelei zwischen Linken und Rechten

 Rheinfelden (D). Am frühen Samstagmorgen kam es vor einer Gaststätte in der Bahnhofstrasse des Rheinfelder Ortsteils Herten zu einer brutalen Auseinandersetzung. Gemäss der Polizeidirektion in Lörrach gingen zwei Personengruppen mit Baseballschlägern und Schlagstöcken aufeinander los. Mehrere Menschen wurden verletzt. Als die Polizei eintraf, waren noch kleinere Gruppen der Kontrahenten in der Umgebung der Gaststätte unterwegs, um gegenseitig Jagd aufeinander zu machen. Nach den derzeitigen Erkenntnissen dürfte es sich um einen Konflikt zwischen Linken und Rechten gehandelt haben.  hws

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youtube 27.2.11

Anian Liebrand: Wahlsong "Euses Land i Schwizer Hand"
http://www.youtube.com/watch?v=dG7cKThg_HM

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bazonline.ch 26.2.11

Linke und Rechte gingen aufeinander los

PD / hws

 In Rheinfelden (D) kam es am frühen Samstagmorgen zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung mit Baseballschlägern. Die Polizei geht von einer politisch motivierten Konfrontation aus.

 In den frühen Morgenstunden des Samstags kam es vor einer Gaststätte in der Bahnhofsstrase des Rheinfelder Ortsteil Herten zu einer brutalen Auseinandersetzung.

 Gemäss der Polizeidirektion in Lörrach (D) gingen zwei Personengruppen mit Baseballschlägern und Schlagstöcken aufeinander los und fügten sich gegenseitig Verletzungen zu, die zum Teil im Krankenhaus behandelt werden mussten. Beim Eintreffen der Polizei waren noch kleinere Gruppen der Kontrahenten in der näheren Umgebung der Gaststätte unterwegs, um gegenseitige Jagd auf sich zu machen.

 Nur durch eine hohe Präsenz vor Ort gelang es der Polizei schliesslich, die Lage wieder zu beruhigen. Die Hintergründe für die Schlägerei sind Gegenstand von Ermittlungen. Nach den derzeitigen Erkenntnissen dürfte es sich um einen Konflikt zwischen Linken und Rechten gehandelt haben.

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20min.ch 27.2.11

Luzern: SVPler will mit Rap Wähler gewinnen

 Jungpolitiker Anian Liebrand will mit Hip-Hop das Image der SVP entstauben. Luzerner Rapper finden die Aktion daneben.

Lena Berger

 SVPler Anian Liebrand geht unter die Hip-Hopper: Mit einem eigenen Rapsong geht er für die Kantonsratswahlen vom 11. April auf Stimmenfang. "Droge, Ibrüch, Öberfäll - Öberfrömdig, frömdi Täter - alli Lenke luegid wäg - send das wörklech Volksverträter?", rappt der Kantonsratskandidat in dem Videoclip, der ab heute auf seiner Website zu sehen ist.

 "Ich will damit insbeson dere Menschen erreichen, die sich sonst wenig für Politik interessieren", sagt der 21-Jährige. Ausserdem wolle er ein neues und modernes Bild der SVP vermitteln. "Die Charts zu stürmen ist hingegen sekundär", so Liebrand schmunzelnd.

 Luzerner Rapper reagieren entsetzt bis belustigt auf den SVP-Rap. "Ich stehe ja auf Trash, aber das hier ist einfach nur billig", sagt Rapper Abdul Damja. Der Song enthalte weder interessante Wortspiele noch Aussagen. "Textlich ist der Song derart oberflächlich, dass nicht mal Entlebucher Bauernjungen ihn cool finden werden", ist Damja überzeugt. Auch MC Mike Walker von "GeilerAsDu" bezweifelt, dass der Song bei den Luzernern gut ankommen wird. "Er macht auf ‹richtiger Schweizer› und stellt sich konsequent gegen fremde Einflüsse. Warum jodelt er dann nicht?" Ähnlich hart fällt das Urteil von Angel (Drunken Picasso) aus: "Der Song ist genauso daneben wie Liebrands politische Meinung."

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Tagesanzeiger 25.2.11

Thilo Sarrazin kommt nach Zürich

 Der umstrittene deutsche Autor tritt am 2. März vor 250 Personen auf.

 Von Benno Gasser

 Zürich - Mit seinem Buch "Deutschland schafft sich ab - wie wir unser Land aufs Spiel setzen" löste Thilo Sarrazin im vergangenen August einen Sturm der Entrüstung aus. Am nächsten Mittwoch spricht der streitbare Autor mit "Weltwoche"-Chefredaktor Roger Köppel über Demografie, Einwanderung und die deutsche Zukunft. Hinter der Veranstaltung steht der Efficiency Club Zürich. Ihm gehören 1400 Mitglieder an. Laut einer Sprecherin stammen 90 Prozent aus der Wirtschaft, darunter viele KMU-Chefs, aber auch Leiter grösserer Firmen. Die Veranstaltung im Hotel Widder ist so gut wie ausverkauft. Erwartet werden rund 250 Zuschauer. Der Eintritt kostet für Nichtmitglieder 60 Franken.

 Als "Faschist" beschimpft

 Bei seinen letzten Auftritten hatte Sarrazin wenig Glück. Die deutsche evangelische Kirche strich eine Diskussionsrunde mit ihm aus dem Programm. Er hätte mit zwei Geistlichen in der Winterkirche des Halberstädter Doms über seine Thesen zu Einwanderern reden sollen. Als Rechtsextremisten mit der Veranstaltung auf ihrer Homepage warben, lud die Kirche Sarrazin wieder aus. In London musste der Buchautor vergangene Woche seinen geplanten Auftritt an der London School of Economics wegen protestierender Studenten in ein Hotel verlegen. Auch dort kam es aber zu Protesten. Laut der "Süddeutschen Zeitung" stürmte ein Student die Bühne, beschimpfte Sarrazin als Faschisten und lieferte sich ein heftiges Wortgefecht mit dem Autor.

 Bekannt geworden war Sarrazin mit abfälligen Bemerkungen über die Bezüger von Sozialhilfe, sogenannte Harz-IV-Empfänger. Darum überraschte Sarrazins Sohn Richard mit seinem Outing als Hartz-IV-Bezüger. "Es ist eigentlich ganz gut, arbeitslos zu sein und nicht gebraucht zu werden, weil man dann sein Lebenstempo selber bestimmen kann", sagte er in einem Interview mit der "Bunten". Er fühle sich allerdings als Aussenseiter, und für seinen Vater sei er der Sündenbock, das schwarze Schaf der Familie.

 Albisgüetli-Auftritt scheiterte

 Sarrazin hätte bereits im vergangenen Oktober in Zürich auftreten sollen. Der Berner SVP-Grossrat Thomas Fuchs wollte ihn ins Schützenhaus Albisgüetli einladen. Hinter der Aktion standen die beiden rechtskonservativen Netzwerke Pro Libertate und Pikom. Fuchs präsidiert beide Vereine. Fuchs sagt, Sarrazin habe leider abgesagt, weil er nicht bei Parteien auftreten und sich nicht politisch einbinden lassen wolle. An den Finanzen habe es nicht gelegen, Geldgeber seien bereitgestanden.

 Sarrazins Buch ist das bestverkaufte deutsche Sachbuch seit 1945. Rund 1,2 Millionen Exemplare gingen bisher über die Ladentische.

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20min.ch 23.2.11

Vertrag ausgelaufen: Philosophie-Seminar beim Ex-Neonazi

 Vier Jahre lang hat ein verurteilter Rechtsextremer an der Uni Zürich unterrichtet. Die Uni wusste nichts davon. Jetzt hat sie sich von ihm getrennt.

 2007 trat der Deutsche L.* seine Stelle als Assistent am Philosophischen Seminar der Uni Zürich an. Seine Vergangenheit verschwieg er dabei geflissentlich, wie die "Zürcher Studierendenzeitung" in ihrer am Donnerstag erscheinenden Ausgabe berichtet.

 1994 sprühte L., damals 18-jährig, Hakenkreuze und Parolen wie "Drogendealer ins Arbeitslager" an Hauswände. 1999 wurde er dafür in Dortmund verurteilt. L. war in der Neonaziszene Dortmunds eine Nachwuchshoffnung. Er half bei der Gründung einer Lokalsektion der Rechtsaussenpartei "Deutsche Nationalisten".

 Vertrag ausgelaufen

 Gegenüber der "ZS" versicherte L., noch 1994 seine Gesinnung abgelegt zu haben. Und obwohl er an der Uni Seminare über den nazifreundlichen Philosophen Martin Heidegger gab, scheint dabei gemäss Aussagen von Studenten keine rechte Gesinnung durchgedrungen zu sein.

 Vergangenen Herbst kamen Mitarbeiter des Seminars hinter die Vergangenheit ihres Kollegen. Sein Vertrag mit der Uni, der Ende Jahr auslief, wurde nicht verlängert. L.s' Vorgesetzte, die Philosophieprofessorin Katia Saporiti, macht dafür gegenüber der "ZS" ein "gestörtes Vertrauensverhältnis" geltend. Ausserdem sei L. mit seiner Doktorarbeit nicht vorangekommen.

 Bernd Roeck, Geschichtsprofessor und Dekan der philosophischen Fakultät der Uni Zürich, zeigt sich enttäuscht über die unglückliche Anstellung. Es gebe viele interessante Menschen ohne eine solche Vergangenheit, die man mit einer Assistenzstelle fördern könne, sagte er der "ZS".

 *Name der Redaktion bekannt. (job)

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Solothurner Zeitung 18.2.11

(...)

Kleinparteien: Zwei sind weg - PNOS versucht ein Comeback

 Definitiv nicht zu den Nationalratswahlen antreten werden im Kanton Solothurn die Schweizer Demokraten (SD) und die Partei der Arbeit (PdA). Während die Rechtsaussenpartei laut deren letztem Präsident Thomas Baschung "klinisch tot" ist, wurde die Linksaussenpartei gar nie geboren.

 Ex-SD-Präsident Baschung hat bereits vor zwei Jahren den Bettel hingeworfen. "Die rund 30 Mitglieder haben sich nicht engagiert und von der Mutterpartei habe ich keine Unterstützung erhalten." Baschung hatte 2008 versucht, der bereits damals serbelnden Sektion neues Leben einzuhauchen. Jetzt ist die 2006 bereits zum dritten Mal gegründete Partei erneut aus dem Kanton Solothurn verschwunden. Ebenfalls weg vom Fenster ist die PdA, für die es Ende 2009 Gründungsversuche gab (wir berichteten). "Den jungen Initianten schwebte eher eine Bewegung denn eine Partei vor", begründet Cyrille Baumann, Parteileitungsmitglied der PdA Schweiz, das Scheitern. "Es blieb bei ein, zwei Sitzungen." Die 2005 gegründete und 2007 aus dem Kanton verschwundene rechtsextreme Partei National Orientierter Schweizer (PNOS) versucht zumindest für die Zeit nach den Nationalratswahlen ein Comeback. "Wir wollen bis Ende Jahr eine Solothurner Sektion bilden", erklärt Mediensprecher Dominic Lüthard. "Im Kanton Solothurn verfügen wir nach wie vor über 30 bis 40 Einzelmitglieder." (sff)

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TÜRSTEHENDE
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bernerzeitung.ch 18.2.11

Erneut Kritik an Mad-Wallstreet-Security

Christian Häderli

 Am vergangenen Samstagabend soll es im Berner Club "Mad Wallstreet" zu groben Handlungen von Sicherheitskräften gegenüber Clubbesuchern gekommen sein. "Unsere Securitykräfte haben korrekt gehandelt", heisst es seitens des Clubbetreibers.

 "Der Türsteher kniete auf den Gast, hielt ihm die Hände mit seinen Knien fest, würgte ihn und schrie ihn an." Eine solche Szenerie soll sich gemäss Bericht einer Besucherin vergangenen Samstagabend vor dem Club "Mad Wallstreet" unterhalb der grossen Schanze abgespielt haben. So jedenfalls schildert sie den Vorfall in einer E-Mail an die Redaktion. Die Kantonspolizei Bern bestätigte auf Anfrage einen Vorfall am frühen Sonntagmorgen. Die Beteiligten seien rechtlich beraten worden, die Polizei hätte keinen Handlungsbedarf gesehen, heisst es weiter.

 "Es wurde korrekt gehandelt"

 Reto Bucher, Geschäftsführer des "Mad Wallstreet", streitet einen Vorfall in Zusammenhang mit Sicherheitskräften nicht ab, betont aber: "Unsere Security ist sehr gut ausgebildet. Es wurde korrekt gehandelt."

 Nicht der erste Fall

 Im "Mad Wallstreet" in Bern kam es in der Vergangenheit wiederholt zu Vorfällen, in denen hauseigene Sicherheitskräfte unverhältnissmässig gegen Clubbesucher vorgegangen waren. Zu den Hauptvorwürfen zählten damals unverhältnismässige Gewalt und mangelnde Ausbildung der Sicherheitskräfte sowie Kritik wegen Rassismus.

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20 Minuten 18.2.11

"Viele Junge haben keinen Respekt mehr"

 ZÜRICH. Türsteher ist kein einfacher Beruf. Einer, der seit zehn Jahren das Zürcher Nachtleben von der anderen Seite erlebt, ist Sicherheitschef Schrödi. 20 Minuten hat mit ihm gesprochen.

 Wie bist du Türsteher geworden?

 Schrödi: Ich betreibe schon seit langem Kampfsport und habe viele Kurse und Ausbildungen in diesem Bereich gemacht. Vor zehn Jahren bot sich mir an, an der Tür zu arbeiten. Ich hätte aber nie gedacht, dass es einmal mein Hauptberuf sein würde.

Türsteher haben nicht unbedingt den besten Ruf. Wieso?

 Wenn es irgendwo eskaliert, schiebt man die Schuld meistens den Sicherheitskräften zu. Es gibt inzwischen viele gute, leider aber noch immer ein paar wenige unseriöse Türsteher, die den Ruf anderer in Mitleidenschaft ziehen.

 Was hat sich in den letzten zehn Jahren verändert?

 Die Gewaltbereitschaft hat deutlich zugenommen. Viele Junge haben auch keinen Respekt mehr. Dabei ist es völlig egal, ob reich oder arm, Schweizer oder Ausländer. Es ist ein allgemeines, gesellschaftliches Problem. Ich kann nur jedem Politiker empfehlen, einmal eine Schicht mit mir durchzustehen.

 Und was war dein bisher negativstes Erlebnis bei der Arbeit?

 Es kam schon mal vor, dass eine Gruppe von Leuten nach meiner Arbeit auf mich gewartet hat. Aber ich weiss zum Glück, wie ich mich verteidigen kann. Zudem sind öfter auch Morddrohungen eingegangen. So was ist natürlich unschön.

 Du bist auf Facebook zum beliebtesten Türsteher Zürichs gewählt worden. Was war der Grund dafür?

 Ich sehe meinen Beruf als ernstzunehmende Dienstleistung. Eine kommunikative und freundliche Art ist unglaublich wichtig. Schliesslich geben wir dem Club ein Gesicht. Ausserdem widerspiegelt sich die konsequente Selektion direkt an der Stimmung im Club. So ermöglichen wir allen einen sicheren und friedlichen Ausgang.  

Sebastian Enrique Brunner

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SÖLDNERFIRMEN
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sf.tv 24.2.11

NR-Kommission will Hürden für Söldnerfirmen

sf

 Alarmiert vom Zuzug der privaten britischen Sicherheitsfirma Aegis nach Basel hat die Sicherheitskommission des Nationalrats gestern ein Verbot von Söldnerfirmen gefordert. Sie will damit Firmen, die wie Aegis bewaffnetes Personal im Ausland einsetzen, einen Riegel schieben. Die "Rundschau" zeigt, dass "Söldnerfirmen" schon lange vor Aegis aus der Schweiz heraus aktiv waren und von fehlenden rechtlichen Rahmenbedingungen profitierten.

 Die "Rundschau" machte in Valencia einen ehemaligen britischen Marineoffizier ausfindig, der in den 1990er-Jahren von Zug aus die "Marine Risk Management" führte, die bei ihren Einsätzen im Ausland auch Waffen einsetzte.

 Dalby erzählt in der "Rundschau", dass er in der Schweiz mit offenen Armen empfangen wurde: "Ich machte ein paar Recherchen und sah, dass es in Zug gute Kundschaft gab. Ich habe dann - und das werden sie mir kaum glauben - einfach die Zuger Handelskammer angerufen und gefragt, ob jemand meine Dienste benötige. So bekam ich einige Kunden."

 Dalbys Söldner arbeiteten unbehelligt unter anderem für Marc Rich und andere in Zug domizilierte Rohstofffirmen.

 20 Firmen registriert

 Wie viele andere profitierte Dalbys MRG davon, dass die Aktivitäten privater Sicherheitsfirmen bisher der Kontrolle der Kantonen obliegt und nationale Regelungen fehlen.

 Marc Schinzel vom EJPD räumt ein, dass deswegen der Überblick über die Aktivitäten der Söldnerfirmen fehle. "Wir müssen uns in Zukunft positionieren und schauen, was nötig ist, damit solche Firmen im Einklang mit unseren nationalen Interessen operieren." sagt Schinzel in der "Rundschau". Laut einer Untersuchung des EJPD sind heute 20 einschlägige Firmen in acht Kantonen registriert.

 Erst der Zuzug des Holdingsitzes der britischen Sicherheitsfirma Aegis letzten Sommer nach Basel hat Bundesrat und Sicherheitspolitiker auf den Plan gerufen. Aegis ist mit 20‘000 Mann weltweit im Einsatz und ist in Krisengebieten wie Irak regelmässig in bewaffnete Auseinandersetzungen verwickelt.

 Für die Mitglieder der nationalrätlichen Sicherheitskommission ist die Anwesenheit solcher Söldnertruppen für die Schweiz höchst problematisch: "Wenn die Schweiz oder eine Firma, die in der Schweiz ist, an einem Konflikt beteiligt ist, dann wird die Schweiz damit identifiziert", sagt SVP-Nationalrat Ulrich Schlüer.

 Firmen sollen Schweiz verlassen

 Die Mehrheit der Kommission unterstützt deshalb ein Verbot: "Das kann es überhaupt nicht sein, dass eine Firma in allen Kriegsgebieten tätig ist und in der Schweiz ihren Sitz hat", sagt Kommissionspräsident Jakob Büchler der "Rundschau". Für mich ist eindeutig klar. Eine solche Firma muss die Schweiz verlassen - und zwar so schnell wie möglich."

 Noch vor zwei Jahren hatte der Bundesrat eine Reglementierung abgelehnt. Nun fordert die SIK Nationalrat ein strenges Bewilligungs- und Kontrollsystem für Sicherheitsfirmen.

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Rundschau sf.tv 23.2.11

Verbot für Söldnerfirmen

Der Bundesrat will verhindern, dass die Schweiz zum Schlupfloch für Söldnerfirmen wird. Bundesrätin Sommaruga fordert verstärkte Kontrollen und eine Meldepflicht. Mitgliedern der Sicherheitskommission des Nationalrates aber geht das zuwenig weit. Gegenüber der Rundschau fordern sie ein generelles Verbot für Söldnerfirmen in der Schweiz. Die betroffenen Firmen halten sich bedeckt. Interview mit einem Betreiber einer Söldnereinheit.
http://videoportal.sf.tv/video?id=cc9ac78c-b577-4696-9c4c-40cdf1a85a00

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Basler Zeitung 23.2.11

Strengere Regeln für Sicherheitsfirmen gefordert

 Vorschlag des Bundesrats geht der Sicherheitspolitischen Kommission des Nationalrates zu wenig weit

 Christian Mensch, MARKUS PRAZELLER

 In der Schweiz gibt es 21 private Sicherheitsfirmen, die in Krisengebieten tätig sind. Die Politik will diese an die ganz kurze Leine nehmen.

 Wenn sich die Nationalräte und Sicherheitspolitiker Jo Lang (Grüne) und Ulrich Schlüer (SVP) einig sind, dann haben sich in der Regel die politischen Pole gegen die Mitteparteien verbündet. Nicht aber in der Frage, ob Sicherheits- und Militärfirmen von der Schweiz aus in Krisen- oder Kriegsgebieten tätig sein dürfen. Hier zieht sich die Ablehnung nahtlos von links bis rechts. Jüngstes Beispiel: Die Sicherheitspolitische Kommission des Nationalrates nahm gestern mehrere Motionen an, die den Bundesrat beauftragen, Sicherheits- und Militärfirmen strenger zu kontrollieren.

 Mit 19 zu einer Stimme bei einer Enthaltung sprach sich die Kommission für die Einführung einer Bewilligungspflicht aus. Söldnerfirmen sollen ganz verboten werden.

 Damit geht die Kommission weiter als der Bundesrat, der vergangene Woche dazu einen Bericht des Bundesamts für Justiz veröffentlichte. Darin schlägt die Regierung vor, Militärfirmen, die in der Schweiz domiziliert sind oder über eine Schweizer Holding beherrscht werden, einer Informationspflicht zu unterstellen, wenn sie im Ausland tätig werden. Das Staatssekretariat für Wirtschaft würde die Eingaben überprüfen und könnte Verbote verhängen, wenn es durch die Aktivität die Interessen der Schweiz gefährdet sieht. Noch vor der Sommerpause will der Bundesrat einen Gesetzesentwurf in die Vernehmlassung schicken.

 Rigoros. Dass die Sicherheitspolitische Kommission weiter gehen will als der Bundesrat, kommt nicht überraschend: Die meisten Parlamentarier, die sich bisher mit dem Bereich Sicherheitsfirmen beschäftigt haben, sprachen sich in den vergangenen Monaten entweder für ein generelles Verbot von Auslandeinsätzen in Krisengebieten aus oder für eine strenge Bewilligungspflicht. "Es sind die Themen Neutralität und humanitäre Tradition der Schweiz angesprochen - da treffen sich alle Parteien", sagt der Zürcher Strategieexperte Albert A. Stahel. Auch er plädiert für eine restriktive Haltung: "Als Depositarstaat der Genfer Konvention kann es sich die Schweiz nicht leisten, Heimatort für private Militärfirmen zu sein."

 Einzig der Verlockung des Geldes, das mit den kommerziellen Militärdiensten zu verdienen sei, so Stahel, könnte die Schweiz erliegen. Doch allzu viel steht nicht auf dem Spiel, wie die Arbeit einer Interdepartementalen Arbeitsgruppe zeigt, die den Bericht des Bundesamts für Justiz erarbeitet hat.

 Spitzenreiter Zürich. Lediglich 21 Sicherheitsfirmen hat die Arbeitsgruppe entdeckt, die von der Schweiz aus in Krisengebieten operieren. Doch obwohl zur Fahndung verschiedene Pfade beschritten worden sind, ist diese Zahl wohl nur ungefähr.

 Teilweise sind sie nicht einmal erfasst, in den 438 Firmen mit knapp 16 000 Mitarbeitern, die gemäss dem Bundesamt für Statistik in der Sicherheitsbranche arbeiten. Am meisten finden sich in Zürich (92 Firmen/3300 Mitarbeiter), gefolgt von Genf (57/2700) und Bern (53/2300). In den beiden Basel finden sich gemäss dieser Statistik 24 Firmen mit 900 Mitarbeitenden. Die Angaben, die auf den kantonalen Handelsregistern beruhen, sind allerdings unzuverlässig. So hat etwa die Basler Kantonspolizei 56 Sicherheitsfirmen in ihrer Bewilligungskartei, die ihren Sitz in Basel haben. In keiner Form erfasst ist die Basler Holding der britischen Aegis Defence Services. Diese Gründung war Ausgangspunkt für die politische Neubeurteilung der aus der Schweiz operierenden Sicherheitsfirmen.

 In Baselland sind drei Sicherheitsfirmen international tätig. Die Baselbieter Sicherheitsdirektion hatte davon keine Kenntnis, wie sie bestätigt. Dafür aber die Genfer Kantonspolizei, die etwa auch im Wallis Firmen als international tätige Sicherheitsunternehmen outete, die den dortigen Kantonsbehörden nicht unbekannt waren. Mit dem neuen Gesetz sollen solche Sicherheitsfirmen eng kontrolliert werden - sofern der Gesetzgeber sie mit dem politisch geforderten Bewilligungsverfahren überhaupt wird erfassen können.

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Bund 23.2.11

Söldnervermittler sollen in der Schweiz verboten werden

 Die Sicherheitspolitische Kommission des Nationalrates verlangt ein Verbot von Sicherheitsfirmen, die Söldnerverbände betreiben. Die vom Bundesrat angekündigten Massnahmen gehen ihr nicht weit genug. Nach dem Willen der Kommission soll der Bund Unternehmen, die Söldnerverbände betreiben oder die Absicht haben, dies zu tun, jegliche Geschäftstätigkeit in der Schweiz verbieten. Sie verabschiedete fünf Motionen zum Thema "Sicherheitsfirmen" und sprach sich zusätzlich für eine Motion aus dem Ständerat aus.(sda)

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20 Minuten 23.2.11

SIK fordert Verbot von Söldnerfirmen

 BERN. Die Sicherheitspolitische Kommission des Nationalrates verlangt ein Verbot von Sicherheitsfirmen, die Söldnerverbände betreiben. Sie hat eine entsprechende Motion verabschiedet. Die vom Bundesrat angekündigten Massnahmen gehen ihr nicht weit genug. Der Bundesrat hatte vergangene Woche ein Gesetz zur Regulierung der Tätigkeit von Söldnerfirmen in Aussicht gestellt. Der Entwurf soll bis im Sommer vorliegen.

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parlament.ch 22.2.11

Medienmitteilung SiK-N

Private Sicherheitsfirmen
Für ein Verbot von Söldnerfirmen und ein Bewilligungssystem für andere Sicherheitsfirmen

Sekretariat der Sicherheitspolitischen Kommissionen
CH-3003 Bern
www.parlament.ch
sik.cps@parl.admin.ch
Sicherheitspolitische Kommission des Nationalrates
 
Die Sicherheitspolitische Kommission des Nationalrates nahm fünf Motionen an, die den Bundesrat beauftragen, die einschlägigen Rechtsgrundlagen entsprechend zu ändern. Ferner beantragt sie mit 19 zu 1 Stimmen bei 1 Enthaltung, eine Motion des Ständerates (10.3639) anzunehmen, welche die Einführung eines Bewilligungs- und Kontrollsystems für Sicherheitsfirmen verlangt.

Die Kommission unterstützt die Bestrebungen des Bundesrates zur Regelung der von der Schweiz aus tätigen privaten Sicherheitsfirmen. Sie möchte allerdings über die Massnahmen hinausgehen, wie sie der Bundesrat in seinem Bericht vom 16. Februar vorsieht. Die SiK-N will Unternehmen, die Söldnerverbände betreiben oder die Absicht haben, dies zu tun, jegliche Tätigkeit auf Schweizer Staatsgebiet verbieten. Zudem sprach sich die Kommission für die Einführung eines Zulassungssystems (Bewilligungspflicht bzw. Lizenzsystem) für private Sicherheitsfirmen aus, die ihre Dienste von der Schweiz aus in Krisen- und Kriegsgebieten anbieten (siehe Text der fünf eingereichten Motionen im Anhang), wie dies auch in der Motion der SiK-S verlangt wird. Die Kommission begrüsst den Bericht des Bundesamtes für Justiz vom Dezember 2010, ist aber der Meinung, dass das zu diesem Zeitpunkt vom Bundesrat gutgeheissene System zu wenig weit geht.   Dieses sieht folgende vier Regelungsinhalte vor: die Pflicht zur Information der zuständigen Behörde; das Verbot bestimmter Aktivitäten; die Gesetzesunterstellung der in der Schweiz niedergelassenen Gesellschaften mit Beteiligungen an im Ausland tätigen privaten Sicherheitsfirmen; die Schaffung administrativer und strafrechtlicher Sanktionen für Widerhandlungen.

Die Kommission hat am 21. und 22. Februar 2011 unter dem Vorsitz von Nationalrat Jakob Büchler (CVP, SG) und teils in Anwesenheit von Bundesrätin Simonetta Sommaruga, Vorsteherin des EJPD, in Bern getagt.

Bern, 22. Februar 2011  Parlamentsdienste
 
Auskünfte
Jakob Büchler, Kommissionspräsident, Tel: 055 615 15 24
Pierre-Yves Breuleux, Kommissionssekretär, Tel. 031 322 24 28

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POLIZEIWAFFEN
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Spiegel 21.2.11

WAFFEN

 Eskalation auf der Straße

Waffen: Wie gefährlich ist der neue Super-Wasserwerfer der deutschen Polizei?

Thadeusz, Frank

 Mit dem neuen Wasserwerfer "WaWe 10 000" hat die Polizei erneut aufgerüstet. Demonstranten müssen mit schweren Verletzungen rechnen.

 Schon ihr erster Einsatz trug der rollenden Trutzburg herzlichen Zuspruch ein. Als Touristen aus dem Schwabenland am Rande einer Anti-Neonazi-Demo den neuen Wasserwerfer der Hamburger Bereitschaftspolizei erblickten, gerieten sie ins Schwärmen:"Hei, der sieht fei subbr aus, den hätte mer in Stuttgart brauchd."

 Doch zunächst steht der "WaWe 10 000" der Polizei in Hamburg und Sachsen zur Verfügung. Gebaut wurde er von der österreichischen Firma Rosenbauer, die ansonsten schweres Gerät für die Feuerwehr liefert. Der Stückpreis beläuft sich auf rund eine Million Euro.

 Schon das Vorgängermodell "WaWe 9000" erhielt in Polizeikreisen ehrfürchtige Kosenamen wie "Mammut" und "Goliath", setzte in über 25 Dienstjahren jedoch auch reichlich Rost an. Sein blau-grauer Nachfolger wirkt nun, als wäre im Labor ein Panzer mit einem Roboter aus dem Spielfilm "Transformers" gekreuzt worden.

 Bei der Polizei war die Euphorie über den Kraftprotz zunächst groß. "Sein futuristisches Design verleiht dem Einsatzmittel ein starkes Auftreten - ggf. durchaus mit dem Ergebnis, dass Gewalttätige bereits beim Auffahren der Werfer von ihrem Handeln Abstand nehmen", vermeldete das Fachblatt "Polizei Verkehr + Technik".

 Doch dann kamen die Proteste der Stuttgart-21-Gegner und jener verheerende Einsatz eines Wasserwerfers, bei dem der Rentner Dietrich Wagner sein Augenlicht einbüßte. Die Bilder von blutigen Augäpfeln haben den Behörden offenbar den Spaß an ihrer Neuschöpfung verdorben.

 Inzwischen wird die Wirkung des potenten Gefährts herunter-

 gespielt: "Es sind keine Gestaltungselemente eingebaut worden, die eine abschreckende Wirkung erzielen sollen", wiegelt ein Sprecher des Bundesinnenministeriums ab.

 Etliche Kritiker argwöhnen indes, der einschüchternde "WaWe 10 000" werde für eine neue Eskalationsstufe auf der Straße sorgen - massenhaft Knochenbrüche und Gehirnerschütterungen eingeschlossen. Bereits für ein früheres Modell errechneten Strömungsmechaniker, dass der Wasserstrahl aus drei Meter Entfernung mit einer Wucht von 25 Kilogramm auf eine Fläche von zehn Zentimeter Durchmesser prallt.

 Berüchtigt sind denn auch jene mit Hochdruck abgeschossenen Wassersalven, die eine Straße leerfegen können, aber nicht mehr zwischen Passanten und Steinewerfern unterscheiden.

 Ein Geburtsfehler aller Wasserwerfer, der auch beim neuen Kampfmobil der Polizei nicht beseitigt wurde. Beteuerungen des Bundesinnenministeriums, dass "auf eine präzise Strahlführungsmöglichkeit Wert gelegt wurde, damit die Beeinträchtigung unbeteiligter Dritter möglichst vermieden werden kann", dämpfen diese Sorge kaum.

 Welchen Schaden die fahrenden Wasserkanonen an Leib und Leben anrichten können, darüber sind wissenschaftlich fundierte Aussagen rar. Ein Gutachten des inzwischen verstorbenen Bonner Ballistikexperten und Rechtsmediziners Karl Sellier "über die biomechanische Wirkung von Wasserstrahlen aus Wasserwerfern" aus dem Jahr 1987 ist vom Polizeitechnischen Institut in Münster bis heute mit einem Sperrvermerk belegt.

 Der Stuttgarter Professor für Augenheilkunde, Egon Georg Weidle, will ausgehend vom Schicksal seines Patienten Wagner einen Aufsatz über die Gefährdungen durch Wasserwerfer publizieren. Der Hamburger Landesvorsitzende der Polizeigewerkschaft GdP, Uwe Koßel, hält den sehbehinderten Stuttgart-21-Protestler allerdings für einen "Einzelfall".

 Doch diese Position ist kaum zu halten. Allein im Stuttgarter Katharinenhospital wurden nach der umstrittenen Wasserwerfer-Offensive drei Patienten mit schweren Augenverletzungen stationär behandelt. Ein weiterer Betroffener musste wegen gravierender Verletzungen am Auge über Tage in der Stuttgarter Charlottenklinik versorgt werden.

 Der Potsdamer Rettungssanitäter Steffen Berger ist auf dem linken Auge fast blind und deshalb arbeitsunfähig, seit er während der Proteste gegen den G-8-Gipfel in Heiligendamm 2007 von einem Wasserwerfer verletzt wurde. Im vergangenen Dezember verwehrte ihm das Landgericht Rostock die Zahlung eines Schmerzensgeldes. Begründung: Das Land Mecklenburg-Vorpommern könne nicht in Haftung genommen werden, weil ein Polizeibeamter aus Nordrhein-Westfalen das Fahrzeug gesteuert habe.

 Polizeifunktionär Koßel sieht für Demo-Besucher indes bessere Zeiten heraufziehen: "Mit dem neuen Gerät lassen sich die Einsätze viel besser dokumentieren - auch zur Rechtssicherheit der Demonstranten." So besitze der "WaWe 10 000" insgesamt drei Videokameras, um das Geschehen bei Ausschreitungen aufzuzeichnen - zwei in der Front und eine im Heck.

 Fraglich ist jedoch, ob die Polizei im Zweifel belastendes Material überhaupt herausgeben würde. Im Fall Berger unterließen es die Beamten, Videobänder für den Prozess freizugeben.

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©HE GUEVARA
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Bund 19.2.11

Wem gehört Che Guevara?

 Seit 1968 ist sein Che-Porträt für jedermann frei nutzbar. Angesichts der kommerziellen Ausbeutung des Bildes will Jim Fitzpatrick jetzt sein Copyright geltend machen.

 Peter Nonnenmacher, London

 Nicht mehr dem Kapital soll Che gehören. Die kommerzielle Welt soll bluten, wenn sie sich des Revolutionärs bedient. Das hat der Mann entschieden, der vor 44 Jahren eine der berühmtesten Ikonen des 20. Jahrhunderts schuf. Jim Fitzpatrick will nicht länger mit ansehen, wie sein Che-Guevara-Bild von gewissenlosen Unternehmern für private Profite genutzt wird. Der Ire möchte diese Einnahmen dem kubanischen Volk zur Verfügung stellen - und der Familie Guevaras.

 Anwalt eingeschaltet

 Der Designer und Buchillustrator aus Dublin hat einen Anwalt eingeschaltet, um sich Copyright und Vermarktungsrechte zu sichern. Im September, zur Eröffnung eines "Che-Guevara-Kulturzentrums" in Havanna durch dessen Witwe Aleida, hofft Fitzpatrick sich seinen "Traum" erfüllt zu haben und die Kubaner mit einem kontinuierlich sprudelnden Strom an Einnahmen zu beglücken. Dass sich Rebellen und Studenten seiner Postervorlage bedienten, sei ihm recht gewesen, meint der Ire. Es gehe aber nicht an, "dass sich Leute mit dem Bild bereichern, wenn das Geld einem Kinderkrankenhaus in Havana zufliessen könnte".

 Ein Vermögen dürfte Fitzpatricks Schöpfung wahrhaftig wert sein. Von Kunstexperten wird es zu den zehn bekanntesten Porträts der Welt gezählt - leichter zu identifizieren als die Mona Lisa. Seit Fitzpatrick 1967, auf der Grundlage eines Fotos des Kubaners Alberto Korda, seine Zeichnung anfertigte, um sie im Jahr darauf in einer Londoner Galerie auszustellen, hat dieses Bild einen beispiellosen Siegeszug um die Welt angetreten. Von den Pariser Studenten, die sie zum Banner ihrer Bewegung erkoren, bis zu den Revolutionären Lateinamerikas, die sich von ihr inspirieren liessen, wurde es mit Begeisterung aufgenommen und auf Postern, Plakaten, T-Shirts endlos reproduziert. Das besternte Béret, das wilde Haar, der heroische Blick erwärmten das Herz melancholischer Teenager wie hartgesottener Freiheitskämpfer - bevor die Industrie den Marktwert der Ikone erkannte und sie ihren Weg auf Kaffeebecher, Cornflakes-Schachteln, Baseball-Kappen und Unterwäsche fand.

 Dabei war das schwarzrote Poster anfangs noch manchem Regime, auch in Europa, ein Dorn im Auge. In Francos Spanien konnte, wer es verteilte, verhaftet werden. In Osteuropa verdächtigte man seine Besitzer umstürzlerischer Neigungen. "Ich hatte das Ganze absichtlich so gestaltet, dass sich die Bilder wie Kaninchen vermehren würden", erklärt Fitzpatrick seine damalige Aktion. "Sie hatten ihn umgebracht. Es gab keine Gedenkstätte, kein Ziel für eine Pilgerreise, nichts. Ich wollte einfach, dass sein Porträt so stark in Umlauf kommen würde wie nur möglich. Sein Bild, sein Name sollte niemals sterben."

 An Bartheke getroffen

 Fitzpatrick war Che einmal, im Jahr 1962, begegnet. "16- oder 17-jährig", hatte er im kleinen Kilkee in der Grafschaft Clare hinter einer Hotelbar gestanden, als Guevara zusammen mit zwei Leibwächtern durch die Tür spaziert kam. Nach Kilkee hatte es Guevara verschlagen, weil seine Maschine auf dem Weg von Moskau nach Havanna im Flughafen Shannon einen Zwischenstopp einlegen musste und wegen Nebels nicht weiterfliegen konnte. Er habe den Besucher auf Anhieb erkannt, berichtete Fitzpatrick später. Zu reden habe man ja jede Menge gehabt: Immerhin war Guevaras Mutter eine geborene Lynch, aus dem südirischen Cork.

 Klar war, dass Jim Fitzpatrick diese Begegnung nie vergessen würde. Nach der Erschiessung Guevaras revanchierte er sich mit seiner Porträt-Aktion, die Che der Welt erhalten sollte. Anders als sein Idol geriet der Ire später weitgehend in Vergessenheit. Er entwickelte daheim keltisches Design, illustrierte Bücher und entwarf Umschläge für Plattenalben für Thin Lizzy und Sinead O`Connor. Nur der Zorn darüber, dass sein genialster Streich, sein grösstes Vermächtnis in die falschen Hände geraten sei, hat ihn nun wieder auf die Barrikaden getrieben.

 Sollte es ihm gelingen, sich sein Recht zu holen, dürfte das einige Che-Verwerter teuer zu stehen kommen.

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UNDERCOVER
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Spiegel 21.2.11

POLIZEI

 Verdeckte Ermittlungen

 Deutschland setzt verdeckte Ermittler der Polizei auch im Ausland ein. Der Chef des Bundeskriminalamts, Jörg Ziercke, räumte Ende Januar in einer vertraulichen Sitzung des Bundestags-Innenausschusses ein, dass der umstrittene Einsatz des britischen Undercover-Polizisten Mark Kennedy in Deutschland keine Einbahnstraße war. Kennedy hatte unter dem Tarnnamen Stone linke militante Gruppen infiltriert und war im Januar aufgeflogen. Ziercke soll erklärt haben, dass auch fünf deutsche Polizisten verdeckt beim G-8-Gipfel von Gleneagles 2005 in Schottland eingesetzt wurden. Dort seien sie unter Führung der britischen "National Public Order Intelligence Unit" aktiv gewesen. Dies geht auch aus dem nun vorliegenden "nur für den Dienstgebrauch" eingestuften Protokoll der Innenausschuss-Sitzung hervor. Man helfe sich gegenseitig, indem man "die Szene in die jeweiligen Länder begleite", wird Ziercke darin zitiert. Das betreffe etwa "Euroanarchisten, militante Linksextremisten und -terroristen". Diese Form des Austauschs gebe es darüber hinaus bei Themen wie Hooligans, im Umfeld von Weltmeisterschaften oder bei anderen großen Sportereignissen. Man könne der organisierten und konspirativen Vorgehensweise internationaler Netze nur begegnen, indem man "genauso international und konspirativ" agiere.

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WELTSOZIALFORUM
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WoZ 24.2.11

Weltsozialforum 2011 in Dakar

 "Die schweizerische Weltwahrnehmung hat Schlagseite"

 "Es braucht keine Verbindlichkeit der Forderungen", sind sich drei TeilnehmerInnen des diesjährigen Weltsozialforums einig. Vielmehr ginge es darum, wieder selbst die Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen und in der Schweiz die bröckelnde Solidarität neu aufzubauen.

 von Sonja Wenger, Roman Berger (Moderation) und Ursula Häne (Fotos)

 Seit zehn Jahren findet das Weltsozialforum (WSF) statt, das weltweit grösste Zusammentreffen von sozialen Bewegungen, nichtstaatlichen Organisationen und AktivistInnen. Es soll ein Raum sein für den Ideenaustausch, die Vernetzung und das Schaffen von Synergien. Dennoch wurde nie mit Kritik am Forum gespart. Es diene oft nur der Selbstversicherung der Aktivist­Innen, es sei "ein Jahrmarkt" der Organisationen, und ihm fehle eine klare Positionierung in Form einer gemeinsamen Abschlusserklärung. Im Gespräch mit der WOZ erzählen Maya Graf, Nationalrätin der Grünen, Mauro Moretto, Sekretär der Unia-Gewerkschaft, und Peter Niggli von der entwicklungspolitischen Organisation Alliance Sud über ihre Erfahrungen am diesjährigen Forum im senegalesischen Dakar und antworten auf die Frage, ob das Forum heute noch die richtige Form für den Austausch ist und wie es um Alternativen zur Globalisierung steht.

 WOZ: Maya Graf, Mauro Moretto, Peter Niggli, Sie haben zusammen mit einer Delegation von über fünfzig Leuten am Weltsozialforum 2011 in Dakar in Senegal teilgenommen. Was ist dabei herausgekommen?

 Mauro Moretto: Für mich war es das erste Mal, dass ich an einem WSF teilgenommen habe. Für mich persönlich war es eine intensive Erfahrung - auch durch das Vorprogramm der Delegation. Wir haben verschiedene Projekte besucht, die von Schweizer Organisationen unterstützt werden, und konnten so vor Ort sehen, was Solidarität im Süden bedeutet oder welche Probleme die Leute etwa mit der Ernährungssicherheit haben. Beides waren wichtige Themen am Forum.

 Maya Graf: Auch für mich war es das erste Forum und gleichzeitig meine erste Reise nach Afrika. Es hat sich gelohnt. Mein Bild von Afrika hat sich völlig verändert. Auf grossen Transparenten am Forum stand, was ich mit nach Hause genommen habe: "Africa pense et agie pour elle-même." (Afrika denkt und handelt eigenständig.) Es ist eine Aufbruchstimmung und ein wachsendes Selbstbewusstsein in Afrika spürbar - ganz anders als hier bei uns. Die Menschen in Afrika verfügen manchmal nicht einmal über sauberes Trinkwasser, sanitäre Anlagen oder Schulen. Doch aus dem wenigen, das sie haben, machen sie viel mehr als wir in unserem reichen Land. Die Diskussionen am Forum über Themen wie Landwirtschaft, Ernährung, Klimawandel, Freihandel, aber auch die Begegnungen mit den Bauern und Bäuerinnen auf dem Land haben mir zudem viele Impulse gegeben. Im Senegal habe ich gesehen, was es heisst, wenn die Menschen mit den Folgen des Klimawandels leben müssen.

 Peter Niggli: Für mich war es das fünfte Forum, an dem ich teilgenommen habe, ich gehöre ja via Alliance Sud zu den Mitorganisatoren der Schweizer Delegation. Diese war - einmal mehr - eine sehr erfreuliche Erfahrung.

 Moretto: Bei den Projekten, die wir im Vorprogramm besucht haben, konnte man sehen, dass in der Entwicklungszusammenarbeit inzwischen gezielt die Zivilgesellschaft und ihre Akteure gestärkt werden. Das ist der einzige Ansatz, der auch etwas Nachhaltiges schaffen kann. Eine starke Zivilgesellschaft kann viel bewirken. Sie kann sogar Potentaten herausfordern, wie wir in den letzten Wochen in Tunesien und Ägypten beobachten konnten.

 WOZ: Viele gute Initiativen aus früheren Foren haben sich schnell im Sand verlaufen. Sind zehn Jahre nach der Gründung des WSF nun Veränderungen oder Verschiebungen in Bezug auf die Form oder den Ablauf des Forums zu erkennen?

 Niggli: Es gibt zwei Veränderungen. Zum einen hat sich das WSF über die Jahre hinweg thematisch aufgefächert. In den ersten Jahren gab es wenige grosse Themen, die im Fokus standen: die Verschuldung, bilaterale Freihandelsverträge, die Rolle des Internationalen Währungsfonds IWF und die Proteste gegen die Welthandelsorganisation WTO. Damals kristallisierte sich die globalisierungskritische Bewegung um diese wenigen, klaren Themen. Doch vieles, was damals wichtig war, ist heute kein Problem mehr: Die WTO siecht vor sich hin. Den zweiten grossen Liberalisierungsschub konnten die Industrieländer nicht mehr durchsetzen; viele Freihandelspläne der USA und EU sind auf Grund gelaufen; und die Weltbank und der IWF befinden sich ohnehin in einer Legitimationskrise. Die zweite Veränderung sind die Konvergenzkonferenzen am Ende des Forums, die es nun schon zum dritten Mal gab. Dort wird versucht, die zukunftsweisenden Kampagnen aufzugreifen und ihre internationale Koordination vorzuspuren. Dieses Jahr gab es 38 Konferenzen - viele haben praktische Konsequenzen zur Folge. Persönlich habe ich mich besonders für "Rio plus 20" interessiert, die grosse Uno-Konferenz vom Mai 2012, an der Fragen der (nicht)nachhaltigen Entwicklung und der Klimaerwärmung zur Sprache kommen werden.

 WOZ: Der Elan, den Sie mit nach Hause gebracht haben, ist gut spürbar. Welche Ideen möchten Sie nun konkret umsetzen?

 Moretto: Da könnte man an die Konvergenzkonferenzen anknüpfen. Mich hat vor allem jene interessiert, bei der es um das Bündeln sozialer Bewegungen ging. Es war spannend mitzuerleben, wie verschiedenste soziale Bewegungen   - und die Gewerkschaften als Teil davon   - in südlichen Ländern wie Brasilien versuchen, sich gegenseitig anzutreiben und Synergien zu entwickeln. Das ist etwas, das wir uns auch in der Schweiz wünschen würden. Das andere grosse Thema in Dakar war Migration. Wir haben von der Unia aus dazu einen eigenen Workshop angeboten und die Idee präsentiert, einen internationalen Aktionstag zum Thema Migration zu lancieren.

 Niggli: Was ist dabei herausgekommen?

 Moretto: Die Idee ist auf viel Resonanz gestossen. Doch es ist noch kein Datum festgelegt.

 Graf: Ich habe mich auf die Themen Landwirtschaft und Ernährungssicherheit konzentriert, auch im Zusammenhang mit geplan ten Freihandelsverträgen zwischen Afrika und Euro pa. Zudem ging es um Landraub - das sogenannte Landgrabbing - durch multinationale Konzerne und Staaten. Es gab eine Konvergenzkonferenz, die dazu einen Aufruf verfasste, den "Appel de Dakar contre les accaparements de terres", in dem alle internationalen Organisationen und Staaten aufgerufen wurden, Mittel und Wege zu finden, den Landraub und die Raubfischerei zu stoppen, weil durch sie der Hunger im Süden wächst. Konkret habe ich mir Folgendes vorgenommen: Erstens soll es in der Freihandelspolitik keine Verträge mehr ohne ökologische und soziale Kriterien geben. Zweitens müssen die Schweizer Entwicklungsgelder aufgestockt und konsequent für die Hilfe zur Selbsthilfe eingesetzt werden. Und drittens muss der Schweizerische Bauernverband unbedingt auf diese Themen aufmerksam gemacht werden. Warum war von ihnen keine Delegation am WSF? Sie hätten in Senegal Bauern und Bäuerinnen treffen können, so sehen, mit welchen Schwierigkeiten die Menschen dort zu kämpfen haben und wie sie diese angehen. Interessanterweise bilden sie dort heute Genossenschaften - so wie bei uns in der Landwirtschaft vor hundert Jahren. Beim nächsten WSF sollten unbedingt auch Schweizer Bauern dabei sein.

 Niggli: Bisher ist keiner wie Maya auf die Idee gekommen, die Bauernorganisationen zu informieren. Ein gutes Beispiel dafür, was aus den Foren entstehen kann.

 WOZ: Wie sieht es mit der Vernetzung innerhalb der Schweizer Delegation aus?

 Niggli: Die gibt es bereits. Vertreter von Gewerkschaften, umwelt- und entwicklungspolitischen Organisationen arbeiten schon seit Jahren eng zusammen und sind auch immer beim WSF dabei. Nur Vertreter des Parlaments gibt es wenige und wenn, sind es Links-Grüne. Aber das ändert sich vielleicht noch, wenn Maya Graf nun die Bauern hinzuholt!

 Moretto: In Dakar hat sich gezeigt, welches Potenzial in der Zusammenarbeit der verschiedenen sozialen Akteure steckt. Besonders anschaulich war das beim Thema Migration: Zum einen werden die Menschen im Süden ihrer Lebensgrundlagen beraubt, oder ihnen werden die Möglichkeiten verwehrt, sich nach ihren Bedürfnissen zu entwickeln, um ein menschenwürdiges Leben führen zu können. Als Folge wandern viele aus, einige sterben auf der Überfahrt, andere klopfen als "Illegale" an unsere Tür. Auf der anderen Seite kämpfen wir im Norden gegen grössten Widerstand für den freien Personenverkehr und dafür, dass die Regeln für die Einhaltung der minimalen Arbeits- und Lohnbedingungen - Stichwort: flankierende Massnahmen   - in der Schweiz dann auch für alle gelten. Hier ist direkte Zusammenarbeit gefordert!

 Graf: Man darf nicht vergessen, dass viele das WSF als ein Treffen der Linken verstehen. Das ist ein grosses Hindernis. Das Wort "sozial" löst - gerade bei Bauernorganisationen - oft folgende Reaktion aus: "Das sind nur Weltverbesserer und Globalisierungsgegner, also, was sollen wir dort?" Doch das Forum ist so breit angelegt, da haben Marxisten zwar ihren Platz, sie sind aber nur ein kleiner Teil. Das Forum wird - und muss - noch breiter werden, da für eine echte Veränderung von unten die gesamte Zivilgesellschaft mit all ihren Themen mit einbezogen werden muss.

 WOZ: Sie haben das Image und das Potenzial des WSF angesprochen. Doch gerade in den Medien wird das oft nicht wahrgenommen. Die Berichterstattung über Dakar beschränkte sich auf kleine Agenturmeldungen.

 Graf: Ich habe mir dazu schon überlegt, ob man das Forum nicht einfach anders nennen sollte. Zum Beispiel das Wort "sozial" ersetzen. Es ist tatsächlich so, dass in den Deutschschweizer Medien das Forum höchstens im Radio behandelt wurde, aber nicht von den grossen Printmedien. In der Romandie ist das ganz anders. Da wurde das Forum ausführlich besprochen. Man muss hier also unbedingt die Wahrnehmung stärken, denn die Zukunft wird nicht das Weltwirtschaftsforum in Davos sein. Die Zukunft sind jene Bewegungen von unten, die die Themen setzen, über die verhandelt werden muss.

 Niggli: Die Berichterstattung diesmal war aber schon besser als beim WSF in Nairobi 2007, als etwa der Korrespondent der NZZ einen faktenfreien Verriss des Forums schrieb so wie es in seiner Vorstellung ablief - ohne dass er einen Fuss hineingesetzt hatte. Das Problem ist, dass die schweizerische Weltwahrnehmung Schlagseite hat. Im Vordergrund stehen unter dem Diktat unserer rechtsradikalen Bundesratspartei Themen wie Ausländer, Moslems oder anderes, was das Welt-, Wirtschafts- und Gesellschaftsverständnis verzerrt. Zum WSF: Dahinter steht tatsächlich so etwas wie die "Welt-Linke"! Die Organisatoren wollten allerdings weg von den alten Formen des Internationalismus, die durch ihren zentralistischen Aufbau meist jede lokale Initiative erstickt haben.

 WOZ: Ein häufiger Punkt der Kritik am WSF ist auch, dass es aus Prinzip keine Schlusserklärung abgibt. Müsste das Forum, das in seiner Form ja als einziges die Weltgesellschaft repräsentiert, nicht bei einzelnen Themen wie etwa die Weltwirtschaftskrise eine eindeutige Position beziehen?

 Niggli: Ich glaube nicht, dass dies nötig ist. Zum einen nehmen zivilgesellschaftliche Organisationen wesentlich stärker Einfluss auf zwischenstaatliche Prozesse oder Verhandlungen, als es noch vor zwanzig Jahren der Fall war. Der Austausch und die Bildung gemeinsamer Stossrichtungen läuft kontinuierlich, auch via Internet. In diesem Sinne wäre die Erklärung einer Veranstaltung wie dem WSF, das nur alle zwei Jahre stattfindet, unbrauchbar. Zum andern würden alle miteinander rangeln, was in einer solchen Erklärung drin sein müsste. Deshalb haben die Organisatoren von Anfang an entschieden: Das WSF ist ein Raum für Ideen, in dem alles Platz hat. Es ist keine Organisation, die Stellungnahmen produziert. Und das halte ich noch immer für richtig.

 Moretto: Dem stimme ich zu. Ich glaube, dass es auch nichts nützen würde, wenn man das Wort "sozial" aus dem Titel entfernte. Vielmehr sollte man die Themen in den Vordergrund stellen und jene Organisationen mit einbeziehen, die sich nicht links positionieren. Es erscheint mir viel zielführender, sie über die Themen ins Boot zu holen.

 Graf: Man muss es ja nicht genauso machen wie jene, die nur von oben führen und Direktiven herausgeben. Es ist doch eine sympathische Idee, dass Zehntausende Menschen, die sich am Forum getroffen, ausgetauscht und vernetzt haben, heimgehen und dann dort mit ihren gewonnenen Erfahrungen alle in die gleiche Richtung arbeiten - wie in einem Schneeballsys tem. Daraus ergibt sich ein viel stärkerer Effekt, als wenn man drei Forderungen hat, von denen niemand weiss, wer sie wie und wo umsetzen soll.

 WOZ: Wie viel Verbindlichkeit kann so geschaffen werden?

 Niggli: Es braucht keine Verbindlichkeit. Verbindlichkeit gibt es nur, wenn es auch Beschlüsse gibt - und eine Kontrollinstanz, die deren Umsetzung überwacht. Aber eben, das WSF ist keine Weltorganisation.

 Moretto: Ich glaube auch nicht, dass die Suche nach einem kleinsten gemeinsamen Nenner eine Verbindlichkeit schaffen würde. Aber ich bin sicher, dass wenn die sozialen Bewegungen in ihrem Tun bestärkt werden, sie sich so gegenseitig hochschaukeln können. Darin liegt nämlich ein viel grösseres Aufbruchspotenzial als in der verzweifelten Suche nach etwas Verbindlichem.

 Graf: Es ist wichtig, dass wir in der Schweiz wieder stärker Verantwortung übernehmen: Es geht darum, wie wir einkaufen, wie wir leben, wie wir die Welt hinterlassen - und welche Auswirkungen unsere Art zu leben auf andere Länder und andere Menschen hat.

 Moretto: Genau, der Druck muss von unten entstehen. Und dafür braucht es Solidarität. Im Zuge der Individualisierung und weil wir im Laufe der Zeit die Verantwortung an irgendwen abgegeben haben, ist uns das Prinzip der Solidarität beinahe verloren gegangen.

 WOZ: Löst sich der Gedanke der Solidarität tatsächlich immer mehr auf

 Moretto: Solidarität gibt es in verschiedenen Formen. Es gibt die institutionalisierte. Doch es gibt sie auch in einem Dorf oder einem Betrieb unter den Mitarbeitenden. Und das ist die Solidarität, die wieder neu aufgebaut und mobilisiert werden muss, wenn man Druck von unten ausüben will.

 WOZ: Wie schafft man wieder Solidarität in einem Land wie der Schweiz, in dem es die erwähnte verzerrte Wahrnehmung gibt? Und wie weckt man das Interesse dafür?

 Graf: Eigentlich haben wir Zugang zu den nötigen Informationen. Nur wer sie nicht lesen oder hören will, tut es auch nicht.

 Niggli: Ich glaube, dass der durchschnittliche Mediendiskurs in der Schweiz ein Teil des Problems ist. Über das Thema Solidarität wird gelächelt. Jeder Journalist denunziert mindes tens einmal im Jahr den sogenannten "Gutmenschen". Der Medienmainstream begreift Solidarität als dümmliche Haltung rückständiger Menschen.

 Moretto: Auf den ersten Blick geht es uns in der Schweiz natürlich gut, besonders, wenn man die Situation mit jener vergleicht, die wie bei den Menschen im Senegal gesehen haben. Aber wenn man genauer hinsieht, dann gibt es auch in hierzulande viele Menschen, die in Armut leben, beziehungsweise sogenannte Working Poor sind oder die ganz plötzlich in eine prekäre Situation rutschen können, wenn sie beispielsweise ihre Arbeit verlieren.

 WOZ: Das WSF gilt als Massstab für den Stand der Dinge in der Antiglobalisierungsbewegung. Wo steht sie?

 Niggli: Das sind eigentlich zwei Fragen: Wo steht die Globalisierung? Und wo steht die kritische Bewegung? Die Globalisierung, wie sie sich Ende der neunziger Jahre dargestellt hat, ist tot. Ihr ökonomisches Fundament ist 2008 untergegangen. Die Institutionen, die sie getragen haben, befinden sich in einer Legitimationskrise sondergleichen wie ihre Treiber, die USA und die EU. In der Weltbank und im IWF werden im Laufe der nächsten zehn, zwanzig Jahre mehrheitlich die Entwicklungs- und die Schwellenländer das Sagen haben. Und die WTO ist blockiert. Keine Seite kann noch ihre Vorhaben durchsetzen.

 Graf: Diese Blockade zeigte sich auch bei der Klimakonferenz in Kopenhagen 2009. Die Konferenz ist unter anderem wegen der Länder des Südens gescheitert. Sie wollen nicht mehr in Resultate einwilligen, bei denen die Verursacher der Klimakrise nicht für ihre Taten geradestehen müssen. Insofern ist das Scheitern verständlich. Andererseits ist es verrückt, weil man so gar nichts mehr erreicht.

 WOZ: Und doch macht die Finanzwelt weiter wie bisher und wird nicht zur Rechenschaft gezogen. Gibt es wirklich keine Alternativen?

 Niggli: Die Re-Regulierung des Finanzsys tems ist vorderhand Stückwerk geblieben. Die nächste Finanzkrise baut sich deshalb bereits auf. Trotzdem kann man sagen: Die Globalisierung als permanente Liberalisierung und Deregulierung gibt es heute nicht mehr. Die sozialen Bewegungen müssen sich nun andere Fragen stellen. Wie soll es weitergehen? Es herrscht eine generelle Ratlosigkeit, auch bei den Herrschenden, weniger darüber, was man wirtschaftlich oder in Sachen Klimawandel tun müsste, als dar über, wie man es politisch durchsetzen könnte. Kommt hinzu, dass in Europa die linken Kräfte Schwierigkeiten haben, sich als Alternative zu präsentieren, weil sich die sozialdemokratischen Parteien in den vergangenen dreissig Jahren mit dem Neoliberalismus arrangiert oder ihn sogar politisch durchgesetzt hatten, um "regierungsfähig" zu bleiben.

 Graf: Ich möchte widersprechen, wenn jemand sagt, wir hätten keine Lösungsvorschläge. Die Grünen haben zusammen mit ihren Partnern durchaus Lösungen, aber wir sind damit nicht mehrheitsfähig. So sagen wir seit fünfzehn Jahren, dass man in erneuerbare Energien inves tieren, die Green Economy ankurbeln und Abhängigkeiten reduzieren muss. Aber wir finden dafür keine politische Mehrheit, solange sich das andere immer noch für einige lohnt und sich die Machtverhältnisse nicht ändern.

 Moretto: Es hat doch niemand ein Copyright auf die Antiglobalisierungsbewegung. Aber was ich vom Forum mitgenommen habe, ist die Erkenntnis, dass die Bewegungen im Süden in ihrer Globalisierungskritik einfach lebendiger sind. Und dass wir gut daran täten, uns von ihnen inspirieren zu lassen und sie zu unterstützen - um daraus hoffentlich wieder selbst mehr Kraft zu schöpfen.

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 Das Weltsozialforum

 Unter dem Motto "Eine andere Welt ist möglich" wurde 2001 im brasilianischen Porto Alegre das Weltsozialforum (WSF) gegründet. Es war ursprünglich als Gegenveranstaltung zum Weltwirtschaftsforum in Davos geplant und sollte in erster Linie dem Erfahrungsaustausch der TeilnehmerInnen sowie der Koordination internationaler Projekte dienen. In den folgenden Jahren entwickelte sich das WSF mit bis zu 150 000 TeilnehmerInnen zu einer internationalen Plattform für soziale Bewegungen und nichtstaatliche Organisationen (NGOs).

 Das WSF findet in ein- bis zweijährigem Rhythmus statt: 2001, 2003 und 2005 in Porto Alegre, 2004 in Bombay, 2006 polyzentrisch in Caracas (Venezuela), Bamako (Mali) und Karachi (Pakistan), 2007 in Nairobi (Kenia) und 2009 in Belém (Brasilien). Die wichtigsten Themen beim diesjährigen Treffen in Dakar (Senegal) waren Migration, Klimawandel, Landraub und die Finanz- und Weltwirtschaftskrise. Etwa 90 000 Menschen nahmen 2011 am Forum teil, darunter eine Delegation aus der Schweiz, die sich aus ParlamentarierInnen, Vertreter Innen von NGOs, Gewerkschaften sowie Medienschaffenden zusammensetzte.

 http://www.forumsocialmundial.org.br

 Peter Niggli

 Der 1950 geborene Peter Niggli ist Geschäftsleiter von Alliance Sud, der entwicklungspolitischen Arbeitsgemeinschaft von Swiss aid, Fastenopfer, Brot für alle, Helvetas, Caritas und Heks, sowie Buchautor. 2004 erschien sein Buch: "Nach der Globalisierung. Entwicklungspolitik im 21. Jahrhundert". Rotpunktverlag. Zürich. 135 Seiten. 18 Franken.

 Maya Graf

 Die 1960 geborene Maya Graf ist Sozialarbeiterin und Biobäuerin und wurde 2001 für die Grünen Baselland in den Nationalrat gewählt. Sie setzt sich unter anderem für eine gentechnikfreie Landwirtschaft ein. Ihre Arbeit als Parlamentarierin ist im Film "Mais im Bundeshuus" (2003) dokumentiert. Seit Dezember 2010 ist Graf zweite Vizepräsidentin des Nationalrats.

 Mauro Moretto

 Der 1965 geborene Mauro Moretto ist Mitglied der Sektorleitung Dienstleistungsbetriebe der Gewerkschaft Unia und dort Verantwortlicher für das Gastgewerbe. Nach seinem Studium arbeitete Moretto als Journalist. Seit siebzehn Jahren ist er gewerkschaftlich tätig, zuerst bei der Gewerkschaft Bau und Industrie, seit 2000 bei der Unia.

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Schweizer Bauer 23.2.11

Weltsozialforum: Bäuerinnen und Bauern aus aller Welt diskutierten über Probleme und Zukunftsvisionen

20 Mio. Hektaren Ackerland ins Ausland verkauft

"Eine andere Welt ist möglich." Unter diesem Motto fand das 8. Weltsozialforum im Februar in Dakar (Senegal) statt.

Maya Graf*Marianne Lerch*

Aus der Schweiz reiste eine 55-köpfige Delegation nach Dakar. Da in Westafrika die Landwirtschafts- und Ernährungsfragen ein brennendes Thema sind, besuchte die Schweizer Delegation landwirtschaftliche Projekte auf dem Land, die Heks und Fastenopfer zusammen mit senegalesischen Partnern umsetzen. Erfolgreiche Entwicklungszusammenarbeit besteht heute eindeutig in der Förderung einer ökologischen bäuerlichen Landwirtschaft mit der Stärkung von demokratisch funktionierenden Bauernvereinigungen durch Ausbildung und Begleitung.

Kampf gegen Landverlust

Es war eindrücklich, zu sehen, wie hier engagierte Bauernkooperativen zusammen mit der lokalen Bevölkerung versuchen, ihre bäuerliche Lebensmittelproduktion zu stärken. Die Bauernfamilien kämpfen gegen den stetigen Landverlust. Sie verlieren ihr Land durch Erosion, durch Wüstenbildung oder wegen Grossgrundbesitzern, die ihnen gutes Ackerland aufkaufen. Finanzielle Unterstützung von der Regierung erhalten die Bauern bei ihrem Kampf gegen den Hunger nicht. Die Regierung investiert lieber in den Export und erkauft sich damit billige Lebensmittelimporte und Devisen für den eigenen Luxus. Die Ernährungslage in Senegal ist prekär, weil die Investitionen in den ländlichen Raum wie in vielen afrikanischen Staaten in den letzten Jahrzehnten ausblieben. 60 Prozent der Lebensmittel werden importiert, obwohl noch 60 Prozent der Bevölkerung Bauern sind. "Laissez-nous travailler et nous nourrirons l'Afrique. - Lasst uns arbeiten, und wir werden Afrika ernähren", sagte denn auch der Präsident der westafrikanischen Bauernorganisation Roppa, der Senegalese Mamadou Cissokho, sehr eindrücklich an einem seiner Auftritte am Weltsozialforum.

Ernährungssouveränität

Der Ruf nach Ernährungssouveränität war laut am Sozialforum. Es brauche Selbstbestimmung der Staaten über ihre Landwirtschaft und ihre Ernährung. Es brauche aber vor allem auch Investitionen in Bildung und Forschung, in den technischen Fortschritt und in die lokale Vermarktung für die Stärkung der bäuerlichen Familienbetriebe, um den Hunger nachhaltig zu bekämpfen. Dabei spielen die Frauen eine zentrale Rolle, sind sie doch für die Lebensmittelversorgung verantwortlich. Mit solchen Investitionen könnten auch für die vielen jungen Menschen auf dem Land Perspektiven geschaffen werden, das verhindere Landflucht und Migration.

Die afrikanischen Staaten wurden am Weltsozialforum von vielen engagierten Bäuerinnen und Bauern immer wieder aufgefordert, die Verantwortung für ihre eigene Bevölkerung und deren Zukunft zu übernehmen und sich nicht durch einseitige Handelsbeziehungen abhängig zu machen. Eine afrikanische Bäuerin drückte das so aus: "Warum sollen wir unsere Produkte in die USA oder nach Europa verkaufen, wenn wir sie nicht einmal in Dakar, in Senegal, in Westafrika verkaufen können, aber unser Bevölkerung hier immer ärmer wird und hungert?"

Steiniger Weg

Liberalisierung habe in der Vergangenheit immer nur geheissen: Zollschutz für den Norden, offene Grenzen und Ausverkauf der natürlichen Ressourcen für den Süden. Die Handelsregeln müssten grundlegend geändert werden. Die regionale Vermarktung sei dringend nötig. Doch der Weg ist steinig. Ein aktuelles Thema des Forums war das "Land Grabbing" oder "Accaparement des terres", der Aufkauf von fruchtbarem Ackerland durch Multis und Nationalstaaten. In unzähligen Ateliers erzählten bäuerliche Zeugen eindrücklich, wie sie ihr Land verloren. Bereits ist in einigen afrikanischen Staaten mehr als die Hälfte der fruchtbaren Böden ans Ausland verpachtet oder verkauft worden. Die Food and Agriculture Organization (FAO) schätzte für 2009, dass in Afrika bereits über 20 Mio. Hektaren Ackerland auf diese Weise in fremde Hände geraten sind und somit für die Ernährung der einheimischen Bevölkerung fehlen. China ist z.B. in Verhandlung mit der Regierung von Mali über einen Landkauf von 100000 Hektaren Land samt Entsendung chinesischer Arbeiter nach Afrika. Der Landhunger der bevölkerungsreichen und investitionsstarken Staaten wie China, Indien oder Saudi-Arabien sowie multinationaler Unternehmen verschärfen das Hungerproblem in Afrika massiv.

Viele Kleinbauern besitzen weder im Grundbuch eingetragene Landtitel, noch sind sie in Landrechtsfragen bewandert. Sie wissen sich gegen Missbräuche seitens landhungriger reicher Mitbürger nicht zu wehren. Viele Produzenten sind in einem Teufelskreis von Mangel an Produktionsmitteln und chronischer Verschuldung gefangen, was sie gegenüber Spekulanten noch verletzlicher macht. So verkaufen sie unter Druck an einheimische Grossgrundbesitzer, die das Land weiter an ausländische Unternehmen verkaufen oder verpachten. Oft mischt die Regierung mit und verdient Geld mit solchen Spekulationen. Es entstehen Grossplantagen mit Gemüse und Obst für den Export in den Norden. Diese grossen Mengen und die billigen Preise zerstören den lokalen Markt der Kleinbauern. Die Monokulturen führen zu langfristigen Schäden am fruchtbaren Boden, verbrauchen mehr Wasser und vergiften Böden und Menschen mit Pestiziden.

Kein WTO-Abschluss

Ein eindringlicher Appell der Teilnehmerinnen und Teilnehmer forderte am Schluss der Konferenz, dem Landraub in Afrika und weltweit mit allen demokratischen und gesellschaftlichen Mitteln entgegenzutreten. Für die Schweiz bedeutet das konkret, keine Freihandelsverträge abzuschliessen, in denen nicht mindestens soziale und ökologische Kriterien berücksichtigt sind. Das bedeutet: keinen WTO-Abschluss auf Kosten der bäuerlichen Landwirtschaft weltweit. Und es bedeutet: weitere Investitionen in eine Entwicklungszusammenarbeit, die vor Ort die Hilfe zur Selbsthilfe stärkt.

*Maya Graf ist Biobäuerin sowie Nationalrätin der Grünen aus Sissach BL. Marianne Lerch ist Bäuerin aus Hölstein BL und Mitglied Uniterre Nordwestschweiz .

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Weltsozialforum

Mehr als 70000 Menschen aus 134 Nationen nahmen während sechs Tagen an Diskussionsrunden, Vernetzungstreffen und Veranstaltungen zu Themen wie Klimawandel, Landwirtschaft und Handel, Migration, Steuergerechtigkeit, Frauenrechte und Wirtschafts- und Finanzkrise teil. Doch das Weltsozialforum war nicht nur der Ort von insgesamt über tausend Gesprächsrunden. Das Weltsozialforum ist immer auch ein Ort des kulturellen Austausches. Es ist ein Treffen der Zivilgesellschaft, von Menschen wie du und ich. In Dakar wurde nichts von oben nach unten diktiert. Es nahmen Entwicklungs- und Umweltorganisationen, Gewerkschaften, Bauernkooperativen, Frauenorganisationen und kirchliche Hilfswerke am Forum teil wie auch die Bevölkerung vor Ort.

mg

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WEF
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Sonntagszeitung 27.2.11

WEF: Saif al-Islam unerwünscht

 Schwab suspendiert Mitgliedschaft von Ghadhafi-Sohn bei Young Global Leaders

 GENF Er ist der Vorzeigesohn des libyschen Diktators Muammar al-Ghadhafi und galt bis vor den gewaltsamen Unruhen als dessen Nachfolger: Saif al-Islam. Gerne gibt er sich als gebildeter Staatsmann mit Doktortitel der renommiertem London School of Economics und Mitglied der jungen Wirtschaftselite Young Global Leaders (YGL) aus. Doch damit ist jetzt Schluss: Klaus Schwab, Gründer des World Economic Forum Davos, zu dem das einflussreiche YGL-Netzwerk gehört, geht auf Distanz zum Ghadhafi-Sohn. "Wir haben jetzt entschieden, seine Mitgliedschaft mit sofortiger Wirkung zu suspendieren", bestätigt WEF-Sprecher Yann Zopf gegenüber der SonntagsZeitung. Bereits während der libysch-schweizerischen Geiselaffäre, deren Auslöser die Verhaftung von Hannibal Ghadhafi in Genf war, habe das WEF eine Suspendierung der YGL-Mitgliedschaft von Saif al-Islam geprüft. "Wir entschieden damals dagegen, weil wir nicht weiteren Grund für eine Verschlechterung der prekären Beziehungen zwischen der Schweiz und Libyen geben wollten." Doch nach den Entwicklungen der letzten Tage habe das WEF seine Einschätzung geändert, sagt Zopf.

 Saif al-Islam hatte in einer Fernsehansprache von Regimekritikern ein Ende des Aufstandes verlangt und vor einem blutigen Bürgerkrieg gewarnt. In der Nacht auf gestern stellte er auf internationalen Druck hin eine Aussetzung der Angriffe gegen die Aufständischen in Aussicht. Dennoch dauerten gestern die Kämpfe an.  

MARTIN SPIELER

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ANTI-ATOM
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Sonntag 27.2.11

Staat soll nicht für AKW-Betreiber zahlen müssen

 Ständerätin Anita Fetz fürchtet, dass der Bund einspringen muss, wenn die Betreiber die Stilllegung von AKW nicht zahlen können. Der Bundesrat hat da weniger Angst

 Sicher ist sicher. Und der Bund wollte bei der Entsorgung der Atomkraftwerke im Lande auf Nummer sicher gehen. Denn schon bald ist über den Bau neuer AKW zu entscheiden. Denn ab 2025 muss die erste der bestehenden Anlagen abgestellt werden. Die AKW-Betreiber müssen deshalb das Geld für die aufwändige Stilllegung sowie für die Entsorgung der Abfälle in zwei vom Bund kontrollierte Fonds einzahlen. So soll verhindert werden, dass sich die Gesellschaften nach Ende der Laufzeit ihrer AKW auflösen und die Stilllegung der Anlagen plötzlich auf Kosten der Allgemeinheit geht.

 So weit, so gut. Doch: Anita Fetz glaubt, im Kernenergiegesetz eine Lücke zur Nachschusspflicht des Staates zu erkennen. Per Motion fordert die Basler SP-Ständerätin deshalb vom Bundesrat eine Gesetzesänderung, damit die öffentliche Hand auch sicher kein Nachschussrisiko treffen kann. Denn mit der heutigen Gesetzesregelung bestehe für den Staat ein Finanzrisiko, "das ein erhebliches Ausmass annehmen kann".

 Die Gesamtkosten für die Stilllegung der Anlagen und die Entsorgung der Abfälle aus dem Betrieb der fünf Schweizer AKW wurden 2006 auf insgesamt 15,5 Milliarden Franken berechnet: 2,2 Milliarden für die Stilllegung und 13,3 Milliarden für die Entsorgung. Gemäss dem Bundesamt für Energie (BFE) sind durch die beiden Fonds insgesamt 8,5 Milliarden Franken sicherzustellen. Ende 2009 betrug das angesammelte Kapital rund 3,97 Milliarden. Somit waren ab 2010 über weitere Beiträge der Betreiber und Kapitalerträge noch 4,53 Milliarden Franken sicherzustellen.

 Der Bundesrat seinerseits erkennt dabei kein Problem. Über die beiden Fonds würden die Kosten für Stilllegung und Entsorgung der AKW gesichert, betont er nochmals in seiner soeben veröffentlichten Antwort auf den Vorstoss von Anita Fetz. Sollten die Beiträge dennoch nicht reichen, decke der Betreiber den Rest aus eigenen Mitteln. Reichen diese auch nicht, würden die verbleibenden Kosten über die Fonds gedeckt. In diesem Fall muss der betroffene Betreiber dem Fonds diesen Betrag zurückzahlen - mit Zinsen. Kann er das nicht, müssen die übrigen Betreiber für den Differenzbetrag aufkommen. Erst wenn auch das "nicht wirtschaftlich tragbar" ist, beschliesse das Parlament, ob und in welchem Ausmass sich der Bund an den nicht gedeckten Kosten beteiligt.

 Diese Finanzierung sei im Parlament ausgiebig diskutiert worden, bevor die Regelung ins KEG aufgenommen wurde, betont der Bundesrat. Gleichzeitig aber muss er einräumen, dass ein finanzielles Restrisiko der öffentlichen Hand nicht komplett auszuschliessen sei. Die Betreiber der AKW würden aber weitergehend in die Pflicht genommen, als dies in anderen Bereichen der Fall sei. Komme hinzu, dass ein finanzielles Engagement des Staates beim Versagen aller Absicherungen nicht automatisch erfolgen würde. Schliesslich habe die Bundesversammlung darüber zu beschliessen, ob und wie stark sich der Bund beteiligen würde. Daher erachtet der Bundesrat die Motion von Anita Fetz auch als unnötig.

 Auch die AKW-Betreiber haben sich in der Vergangenheit stets zuversichtlich gezeigt, dass sie die nötigen Gelder in der erforderlichen Zeit zusammenhaben werden. Keine Überraschung. Angesichts der geplanten neuen Atomkraftwerke wollen die Betreiber schliesslich jede negative Presse vermeiden. Kürzlich wies die "Handelszeitung" darauf hin: "Sollte in der Öffentlichkeit auch nur der leiseste Verdacht entstehen, es könnte das Geld fehlen, um abgeschaltete AKW zu demontieren und den Abfall ins Endlager zu verfrachten, kämen die Betreiber von der Politik unter Druck, Geld nachzuschiessen."

 Doch auch wenn die Betroffenen bisher stets versichert haben, dass die Fonds für die Stilllegung der AKW sowie die Entsorgung radioaktiver Abfälle reichen werden, äusserten sie sich im "Sonntag" gegen den Vorstoss von Anita Fetz. Eine Änderung des Kernenergiegesetzes drängt sich beispielsweise aus Sicht des Stromkonzerns Axpo nicht auf. "Der beanstandete Absatz verpflichtet die öffentliche Hand in keiner Weise", so Mediensprecherin Anahid Rickmann.

 Das beurteilt Anita Fetz etwas anders. Sie will nun verhindern, dass zuletzt eben doch noch der Staat zur Kasse gebeten wird, sollte der Fonds nicht ausreichen. Denn gemäss Kernenergiegesetz muss heute der Bund nach Massgabe des Parlaments zahlen, falls die Nachschusspflicht für die AKW-Betreiber wirtschaftlich nicht tragbar wäre. Fetz: "Wie bei der Too-big-to-fail-Problematik hat der Bundesrat eine Lösung vorzuschlagen, damit der Staat in keinem Fall ein solches Risiko treffen kann." Denkbar seien etwa Versicherungslösungen zulasten der Beitragspflichtigen. "Die Steuerzahler sollen nicht als letzte Instanz für dieses Risiko einstehen müssen."

Daniel Ballmer

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Aargauer Zeitung 26.2.11

Bau will Stück vom Milliarden-Kuchen

 Unteres Aaretal. Axpo und Paul-Scherrer-Institut (PSI) präsentieren ihre vielen Grossprojekte

Hans Lüthi

 "Unsere Konstante ist die Veränderung", sagt PSI-Vizedirektor Martin Jermann bei der Präsentation neuer Grossprojekte. Wenn das Forschungsinstitut an der Weltspitze mithalten wolle, müsse es alle zehn Jahre ein neues Grossprojekt lancieren. Dieses Jahr wird die Synchrotron Lichtquelle Schweiz (SLS) im Ufo-Rundbau schon zehnjährig. Der neue Beschleuniger Swissfel bringe einen Quantensprung, der Standort im Würenlinger Unterwald sei wegen der nötigen Ruhe und der Nähe zum PSI zwingend. Das 278 Millionen Franken teure Projekt ist weit fortgeschritten und soll von 2013 bis 2016 gebaut werden. Auf der Villiger Seite ist die High-Tech-Zone mit 3,8 Hektaren im Aufbau, für den Vollausbau rechnen die Planer mit 80 Millionen Franken Investitionen.

 Beznau-Insel als Grossbaustelle

 Starke Veränderungen prägen auch die Atominsel Beznau: Der Bau beider Kraftwerke bis 1969 und 1971 hat 800 Millionen Franken gekostet, "seither haben wir 1600 Millionen Franken in Beznau investiert". Das erklärt Stephan W. Döhler, Leiter der Axpo Kernenergie, und stellt weitere Grossprojekte vor: Vier riesige Notstromdiesel in zwei grossen Neubauten und die neuen Deckel der Reaktordruckbehälter werden bis 2015 weitere 250 Millionen Franken verschlingen. Danach wird auch das über 100 Jahre alte Wasserkraftwerk abgerissen und völlig neu gebaut. Sechs Milliarden für Beznau3

 "In meiner Schulzeit zählte die Erde 3,6 Milliarden Menschen, jetzt sind es 6,8 Milliarden. Der CO-Ausstoss ist so hoch wie nie und steigt weiter", betont Döhler. Darum wolle die Axpo auch künftig "sicher, zuverlässig und wirtschaftlich CO-freien Strom produzieren" und habe zusammen mit der BKW die Gesuche um Rahmenbewilligung eingereicht und zwei schlüsselfertige Ersatzkernkraftwerke - so die offizielle Bezeichnung - bereits ausgeschrieben. Gerechnet wird mit Kosten von mindestens 6 Milliarden Franken für Beznau3, die Bauzeit ist für 2017 bis 2023 vorgesehen. Beteiligt an den Partnerwerken sind die Axpo mit 59 Prozent (inklusiv 10,4% BKW), die Alpiq mit 25,5% und BKW mit 15,5%. Die Ausschreibungen müssen nach GATT WTO erfolgen, gültig ist das Aargauer Submissionsdekret.

 8,2 Prozent der Arbeitsplätze

 Beim Info-Anlass im PSI, organisiert vom Wirtschaftsforum Zurzibiet, stellt Präsident Markus Birchmeier klar, es gehe nicht um politische, sondern um rein wirtschaftliche Fragen. Im Auftrag der KKW-Planerin Resun AG hat die Ecoplan in einer Studie die wirtschaftlichen Folgen eines neuen Atomkraftwerks abgeklärt. Fokussiert wurde dabei auf die engere Region, konkret auf Böttstein, Döttingen, Villigen, Würenlingen, Klingnau und Full-Reuenthal. In diesem Gebiet wohnen 40 Prozent der 535 Beznau-Mitarbeitenden. Mit der "indirekten Wertschöpfung kommen wir auf 591 Vollzeitstellen oder 8,2 Prozent der Arbeitsplätze", erklärt Corinne Mühlebach von der Fachhochschule Nordwestschweiz.

 Zusätzlich 2400 Beschäftigte

 Beim Szenario Stilllegung ohne Ersatz gingen die Arbeitsplätze nach den 10 bis 15 Jahren für den Rückbau sukzessive auf null zurück - ohne neue Produktion durch ein nichtnukleares Kraftwerk. Einen enormen Schub brächte vor allem die Bauzeit mit 1 Milliarde Franken Investition pro Jahr. "Im Mittel wären sechs Jahre lang 2000 bis 2400 Personen auf der Baustelle, in Spitzenzeiten bis zu 3000", rechnet Mühlebach. Das ergäbe 30 Prozent mehr Stellen, das neue AKW selber kommt mit nur 400 Stellen aus, trotz doppelter Leistung im Vergleich zu heute. Für die regionale Baubranche rechnet die Studie mit plus 30 Millionen im Jahr, für das Gastgewerbe mit plus 15 Millionen Franken. Bei Verzicht auf Beznau3 - nach einem Nein des Volks - wird ein düsteres Bild gemalt: Abnahme von Wirtschaft und Arbeitsplätzen, höhere Steuern. Ausgeklammert: Fragen wie Minderwert der Häuser, Steuern und Abgeltungen, ebenso Alternativen zum nuklearen Szenario.

 Baubranche hofft auf Aufträge

 Vorerst interessiert sich die Region, primär die Baubranche, wie sie vom riesigen Investitionskuchen ein paar Stücke abschneiden kann. Chancen bestehen durchaus, aber der Weg ist steinig und erfordert enorme Vorleistungen. Michael Zehnder von der Döttinger Baufirma Birchmeier zeigte, was es brauchte, um beim Totalunternehmer Westinghouse die Aufträge für die Gebäude der Notstromdiesel zu bekommen. "Die Chancen sind vorhanden, aktive Firmen werden gesucht", machte er seiner Branche Hoffnung.

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"An AKW führt kein Weg vorbei"

 Die Schweiz braucht neue Atomkraftwerke, sagt Josef A. Dürr. Denn mit der Stromproduktion aus erneuerbaren Energien lassen sich die Atomkraftwerke Beznau und Mühleberg nicht ersetzen, so der abtretende Direktor des Verbands der Schweizer Elektrizitätsunternehmen (SEV) im Interview mit der az. Erneuerbare Energien spielen aber daneben eine wichtige Rolle: "Wichtig sind Energieeffizienz, erneuerbare Energien, eine kluge Aussenpolitik und Grosskraftwerke - jede dieser Säulen ist bedeutsam." Es sei aber zu riskant, auf Importe angewiesen zu sein. "Man ist den Schwankungen an den Strombörsen ausgeliefert." Seite 9

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"Die Schweiz ist keine Strominsel"

 Stromversorgung Josef A. Dürr über neue AKW und die Privatisierung der Stromwirtschaft

Sven Millischer

 Warum braucht die Schweiz neue AKW?

 Josef A. Dürr: Die Stromversorgung muss breit abgestützt sein. Wichtig sind Energieeffizienz, erneuerbare Energien, eine kluge Aussenpolitik und Grosskraftwerke. Jede dieser Säulen ist bedeutsam. Bei den Grosskraftwerken gibt es nur drei Technologien, die infrage kommen: Wasserkraft, Gas oder Kernenergie.

 Was bevorzugen Sie?

 Hier geht es nicht um Präferenzen. Gaskraftwerke machen die Bemühungen der Schweiz um eine CO2Reduktion zunichte. Auch rentieren Gaskraftwerke aufgrund des geltenden CO2-Kompensationsregimes nicht. Und geeignete Standorte für neue grosse Wasserkraftwerke gibt es kaum.

 Also bleibt aus dem Trio nur noch die Kernenergie übrig.

 Ich sehe nicht ein, weshalb man diese saubere Technologie in Bausch und Bogen verdammt. Zumal die Bedarfsrechnung bei den erneuerbaren Energien nie und nimmer aufgeht.

 Inwiefern?

 Zieht man die Stromproduktion aus Kehrrichtverbrennung ab, liegt der Anteil von neuen erneuerbaren Energien am Produktionsmix heute bei 0,4 Prozent. Allein um die Kernkraftwerke Beznau und Mühleberg zu ersetzen, die als erste vom Netz gehen, benötigt die Schweiz aber 15 Prozent. Damit müsste man den Anteil der neuen erneuerbaren Energien um das 40-Fache steigern. Das ist schlicht nicht umsetzbar.

 Das VSE-Mitglied Energie Wasser Bern zeigt aber auf, dass sich die Stromlücke bis 2035 sehr wohl durch Energieeffizienz und erneuerbare Energien schliessen liesse.

 Jedes unserer Mitglieder hat das Recht auf freie Meinungsäusserung. Wir sind doch keine kommunistische Partei! (lacht) Aber Stadtwerke wie die EWB haben eben auch einen politischen Auftrag zu erfüllen.

 Weil die Berner Stadtregierung neue AKW ablehnt, müssen dies auch die Stadtwerke tun.

 Denen bleibt nichts anderes übrig. Aber ich möchte hier betonen: Der VSE unterstützt erneuerbare Energien. Wollen wir jedoch Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit und Umweltverträglichkeit auch künftig gewährleisten, führt kein Weg an neuen Kernkraftwerken vorbei.

 Die Gesamtproduktion der Schweizer Stromwirtschaft im Ausland deckt den heimischen Verbrauch bereits bei weitem. Weshalb braucht es neue inländische Atomkraftwerke?

 Um die Bevölkerung eines Landes mit Strom zu versorgen, müssen Sie vor Ort produzieren. Auf Importe angewiesen zu sein, ist viel zu riskant. Man ist den Schwankungen an den Strombörsen ausgeliefert. Ausserdem lässt sich - aufgrund der heutigen Leitungsstruktur - der im Ausland produzierte Strom physikalisch gar nicht in die Schweiz führen.

 Warum investieren die hiesigen Stromkonzerne also im Ausland?

 Das ist keine Frage der Versorgungssicherheit, sondern der Wettbewerbsfähigkeit. Um am europäischen Markt teilnehmen zu können, sind EGL oder Alpiq heute international aufgestellte Konzerne. Das ist für die Volkswirtschaft doch fantastisch.

 Die Stromkonzerne gehören mehrheitlich der öffentlichen Hand. Sind solche Auslandabenteuer nicht ordnungspolitisch fragwürdig?

 Das kommt auf die Eigentümerstrategie an. Der Staat kann entweder den Strompreis möglichst tief halten oder eine möglichst attraktive Kapitalverzinsung anstreben. Beides zusammen geht nicht.

 Ein Interessenkonflikt?

 Eindeutig. Man kann sich die Frage stellen, ob der Staat der richtige Eigentümer ist oder ob das Volksvermögen in anderen Bereichen nicht besser angelegt wäre.

 Gehören die Stromer also privatisiert?

 Länder wie Grossbritannien zeigen, dass man auch in der Schweiz die Stromversorgung auf privater Basis betreiben könnte. Das würde weder dem Service schaden noch die Preise treiben.

 Zurück zur Versorgungssicherheit. Warum hat ihre Branche in den letzten Jahren massiv in Spitzenenergie für ausländische Abnehmer investiert, statt die im Inland benötigte Bandenergie bereitzustellen?

 Seit dem KKW Leibstadt vor 25 Jahren wurde nicht mehr in Grundlast-Kraftwerk investiert. Das stimmt. Aber nicht, weil die Branche nicht wollte, sondern weil Kernkraftwerke nicht mehr als politisch opportun galten.

 Also hat die Stromwirtschaft lieber lukrative Spitzenenergie für den Export bereitgestellt.

 Die Schweiz ist keine Strominsel. Jeder hiesige Produzent, der in zehn Jahren noch existieren will, muss sich auf dem europäischen Strommarkt positionieren. Alles andere wäre eine Vogel-Strauss-Politik.

 Was sind die Trümpfe der Produzenten?

 Die Pumpspeicherkraftwerke in den Alpen. Im europäischen Kontext dienen diese künftig als Batterie für intermittierende Energiequellen wie beispielsweise Windparks in der Nordsee oder Solaranlagen in Spanien.

 Alleine der neue Axpo-Pumpspeicher Linth-Limmern hat den Strombedarf eines AKW der Grösse Gösgen. Wird hier nicht zusätzlicher Bedarf geschaffen, statt ihn zu decken?

 Wie gesagt. Wir brauchen Pumpspeicherwerke, um das gewaltige Wachstum bei den erneuerbaren Energien in Europa überhaupt nutzbar zu machen, denn diese sind meist nicht dann verfügbar, wenn wir sie brauchen. Da hat die Schweiz gute Karten.

 Mit Norwegen hat die Schweiz aber auch einen ernst zu nehmenden Konkurrenten für Spitzenenergie.

 Norwegen hat einen kleinen Vorteil gegenüber der Schweiz: Fische protestieren nicht. Deshalb kann man einfacher Stromkabel in der Nordsee verlegen, als Hochspannungsleitungen in die Schweiz zu ziehen.

 Sie sprechen den Netzausbau an. Ein neuer, grosser Reaktor gilt bei einem Ausfall als Klumpenrisiko. Gehören die geplanten AKW redimensioniert?

 Nein. Es liegt auf der Hand, dass ein grösserer Reaktorblock zwangsläufig wirtschaftlicher ist. Vielmehr müssen die Regeln für Systemdienstleistungen geändert werden.

 Was heisst das konkret?

 Es kann doch nicht sein, dass ein Land wie Frankreich, das zehnmal mehr Leistung installiert hat als die Schweiz, gleich viel Reserveleistung halten muss. Eine Wettbewerbsverzerrung, die uns grosse wirtschaftliche Nachteile bringt.

 Wie lassen sich diese ausräumen?

 Die so genannte Regelzone muss über die Landesgrenzen hinaus erweitert werden. Aber dazu braucht es ein Stromhandelsabkommen mit der EU.

 Weshalb lehnt denn der VSE es ab, das Stromhandelsabkommen mit den Bilateralen III zu verknüpfen?

 Dies würde den Abschluss um acht bis zehn Jahre verzögern, was für die Schweiz ernsthafte Nachteile hätte. Denn in den kommenden Jahren werden in der EU im Rahmen der Marktöffnung die Weichen gestellt für ein gemeinsames europäisches Stromübertragungsnetz. Da müssen wir mitreden können. Ansonsten droht der Schweiz, ihre Rolle als internationale Stromdrehscheibe zu verlieren.

 Herr Dürr, Sie treten nach fünf Jahren als VSE-Direktor zurück. In welchem Verwaltungsrat werden Sie bald Einsitz nehmen?

 Ich werde kaum einen Sitz in der Stromwirtschaft übernehmen, denn dort sind die Verwaltungsräte meist politisch besetzt. Konkret habe ich noch keine Angebote. Zunächst einmal geniesse ich die zusätzliche freie Zeit.

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 Zur Person

 Josef A. Dürr (64) war fünf Jahre lang Direktor des Verbands Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen. Ende Februar hört er auf. Dürr ist diplomierter Elektroingenieur. Er blickt auf eine über 30-jährige Berufslaufbahn im In- und Ausland zurück. Dürr leitete verschiedene Unternehmensbereiche im ABB-Konzern und war zuvor Mitglied der Geschäftsleitung von ABB Schweiz. Dürr war bereits Präsident von Electrosuisse. (AZ)

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Das perfekte AKW und seine Probleme

 Atom-Energie Die Energiekonzerne wollen in der Schweiz AKW der neusten Generation bauen. Sie sollen sicherer und günstiger sein. Doch beim Vorzeigebau in Finnland reissen die Pannen nicht ab.

 Der Favorit für den Beznau-Ersatz? Der EPR

 Rund 80Prozent der Anlagen weltweit sind Leichtwasserreaktoren (LWR). Sie verwenden Wasser (H2O) als Moderator und Kühlmittel. Es gibt zwei Typen (s. Grafik unten): den Druckwasserreaktor (PWR) und den Siedewasserreaktor (BWR). Beim PWR wird das Wasser im Reaktorkern auf 330Grad erhitzt und steht unter Druck. Dampf wird in einem zweiten Kreislauf erzeugt. Beim BWR siedet das Wasser in der Spaltzone. BeznauI/II und Gösgen sind PWR, Mühleberg und Leibstadt BWR.

 Da die Schweiz kaum auf eine unerprobte Technologie setzen wird, besetzt der EPR (European Pressurised Water Reactor) wohl die Favoritenrolle. Der EPR der Firma Areva ist eine Weiterentwicklung der bereits ziemlich standardisierten Reaktoren N4 (Frankreich) und des deutschen Konvoityps. Im Moment sind zwei Anlagen in Europa (Olkiluoto/Fi und Flamanville/F) und zwei in China im Bau. Der hohe Standardisierungsgrad eröffnet Preisvorteile.

 Die Sicherheit des EPR wurde verbessert. Er verfügt über ein "Core-catcher"-System. Selbst wenn der Reaktorkern durchbrennt, sollte keine Radioaktivität in die Umgebung gelangen. Eine Keramikwanne verhindert, dass die Kernschmelze mit dem Beton interagiert, und kühlt die Masse gleichzeitig ab. Dadurch verhindert man Gasbildung und hohen Druck im Containment. Der EPR ist mit einer Leistung von rund 1600MW eine grosse Anlage. Aber: "Small is beautiful" ist aus, sagt Horst-Michael Prasser, Professor für Kernenergiesicherheit an der ETH. "Grössenvorteile überwiegen." (chb)

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Das finnische Vorbild

Benno Tuchschmid

 Olkiluoto Der Bau des Atomreaktors der neusten Generation ist ein Desaster. Die Kosten sind doppelt so hoch wie budgetiert und der Bau hat bereits vier Jahre Verspätung. Und die Probleme in Finnland sind kein Einzelfall.

 "Ein abschreckendes Vorbild", nennt der deutsche Atomexperte und Träger des alternativen Nobelpreises Mycle Schneider den Bau des finnischen Reaktors in Olkiluoto. Geplant war er eigentlich als leuchtendes Vorbild. Der Atomkonzern Areva wollte in Olkiluoto die Renaissance der Atom-Energie einläuten. Mit einem AKW der modernsten Generation, Typ EPR (European Pressurised Water Reactor). 2005 begann der Bau des Meilers an der finnischen Westküste - seither läuft alles schief, was schieflaufen kann. 2009 hätte Olkiluoto ans Netz gehen sollen, heute rechnet man mit der Inbetriebnahme im Jahre 2013.

 Baufehler reihte sich an Baufehler: fehlerhafte Schweissnähte, poröser Beton, falsch gebohrte Löcher. Ein Grund für die vielen Fehler sind massive Kommunikationsprobleme auf der Baustelle. 4300 Bauarbeiter aus über 30 Nationen arbeiten dort. Mycle Schneider spricht von "abenteuerlichen Zuständen". Über 700 Subunternehmen sind involviert. "Das führt dazu, dass am Schluss niemand die Verantwortung trägt", sagt Schneider. Doch zu den Baumängeln kommen auch noch grundsätzliche Probleme: "Es fehlt schlicht an Erfahrung, in den letzten 15 Jahren wurden keine Atomkraftwerke mehr gebaut."

 Baubeginn ohne Baupläne

 In Olkiluoto explodieren die Kosten: Auf drei Milliarden Euro war der Bau budgetiert, mittlerweile sind daraus mindestens sechs Milliarden geworden. Auch weil Areva bei Baubeginn die Planung noch gar nicht abgeschlossen hatte: "Viele Baupläne entstanden erst nach dem Baubeginn", sagt Schneider. Und noch bis heute haben die finnischen Aufsichtsbehörden die Leittechnik der Anlage nicht abgenommen. "Das muss man sich einmal vorstellen", sagt Schneider.

 Auch der zweite AKW-Neubau in Europa, im französischen Flamanville, ist ein Debakel. Das Projekt ist zwei Jahre im Verzug, das Budget bereits um 50 Prozent überschritten. Mycle Schneider kommt zum Schluss: "Es gibt kein einziges Beispiel für einen profitablen Neubau eines Atomkraftwerkes in einer freien Marktwirtschaft."

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Oltner Tagblatt 26.2.11

Meine Meinung

 Kernkraft im Niederamt als Standortvorteil

 Roland Fürst*

 Die von den Niederämter Gemeinden in Auftrag gegebene sozioökonomische Studie und die Anpassung des Richtplans haben in letzter Zeit einige Wellen geworfen. Schauen wir uns doch die Fakten vorurteilsfrei etwas genauer an:

 Wussten Sie, dass das KKG jährlich 35 Mio. Franken an Steuern, Abgeltungen und Abgaben bezahlt? Davon gehen 5,5 Mio. an die Gemeinden im Niederamt, 8,4 Mio. an den Kanton und der Rest an den Bund. Das neue Kernkraftwerk Niederamt (KKN) würde je nach Grösse der Anlage noch einiges mehr bezahlen.

 Wussten Sie, dass das KKG direkt und bei Niederämter Lieferanten insgesamt 500 Vollzeitstellen schafft? Das KKN würde also während sechzig Jahren 500 Mitarbeitenden direkt plus rund 120 Menschen bei Zulieferbetrieben Arbeit verschaffen. Die Wertschöpfung, die direkt und indirekt in der Region anfällt, beträgt jährlich 100 Mio. Franken.

 Beeindruckende Zahlen, die in der Diskussion rund um die Kernenergie im Niederamt nicht vergessen werden sollten.

 Interessant ist ferner, dass sich 46% der Unternehmen für das neue Kernkraftwerk aussprechen. Weniger als ein Drittel steht dem KKN negativ gegenüber. Dass bei der Bevölkerung 38% eher für und 45% eher gegen das KKN votiert haben, steht mit Sicherheit auch im Zusammenhang mit dem gleichzeitig vorgeschlagenen Standort für ein Tiefenlager. Die Zahlen liegen nahe beieinander und eine Abstimmung ist noch längst nicht entschieden.

 Trotz des Vorhandenseins des KKGs nimmt die Niederämter Bevölkerung ihre Region positiv wahr und die Lebensqualität wird in den meisten Gemeinden als hoch bezeichnet. Auch die Befragten der Nachbarregionen teilen diese Beurteilung und sprechen von einer hohen Lebensqualität des Niederamts. Es scheint also ein grosses Potenzial an Neuzuzügern zu bestehen. Von den Personen, die sich nicht vorstellen können, in die Region Niederamt zu ziehen, geben nur 4,5% das KKG als Grund an.

 Dem Projekt wird häufig zur Last gelegt, dass es zu einem Parallelbetrieb zweier Kernkraftwerke am selben Standort führe. Dies wäre aber höchstens während einer kurzen Zeit möglich. Denn das KKG läuft plangemäss bis 2039 und das KKN würde voraussichtlich als Nr. 2 nach dem ersten KKW gebaut und wäre somit erst Mitte der Dreissigerjahre fertig gebaut.

 Die Schliessung des KKGs hat weitreichende volkswirtschaftliche Folgen für das Niederamt und den Kanton und man muss sich ernsthaft fragen, wie die Verluste an finanziellen Mitteln und Arbeitsplätzen aufgefangen werden könnten. Das neue Kernkraftwerk Niederamt würde diese Lücke nahtlos schliessen.

 Die Gemeinden und der Kanton könnten weiterhin von den direkten und indirekten Steuern und Abgaben profitieren, die Unternehmen erhielten interessante Aufträge, über 600 Menschen eine sichere Arbeitsstelle.

 Ein positives Signal aus der Region für das KKN ist deshalb vonnöten, denn das Projekt steht mit Beznau und Mühleberg in Konkurrenz. Nur zwei Projekte werden dem Bundesrat vorgeschlagen. Dies sollte in der Diskussion um das KKN nicht vergessen werden.

 *Roland Fürst ist Direktor der Solothurner Handelskammer. Als CVP-Vertreter im Kantonsrat ist er Mitglied der Finanz- und der Redaktionskommission.

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Bund 25.2.11

Stellungnahme zu Mühleberg II an Bund weitergeleitet

 Der Regierungsrat hat die Stellungnahme des Kantons zu einem Ersatz-AKW in Mühleberg an die Bundesbehörden weitergeleitet. Dies teilt die Kantonsverwaltung mit. Die Stimmbevölkerung hat die Stellungnahme des Regierungsrats in der Volksabstimmung vom 13. Februar gutgeheissen. Die Bundesversammlung wird über die Erteilung der Rahmenbewilligung zum Bau neuer AKW entscheiden. Gegen ihren Beschluss kann das Referendum ergriffen werden.(pd)

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Basler Zeitung 25.2.11

Kernkraftturbine durch Defekt abgeschaltet

 Leibstadt (AG). Gestern Morgen gegen sechs Uhr ist im Kernkraftwerk Leibstadt eine automatische Abschaltung der Turbine ausgelöst worden. Darauf wurde die Reaktorleistung auf 25 Prozent reduziert. Ursache war eine defekte Elektronikkarte des Turbinensicherheitssystems. Am Abend teilten die AKW-Betreiber mit, die Karte sei ausgetauscht worden. Nach einer Überprüfung habe die Anlage wieder hochgefahren werden können. Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat sei informiert worden.  SDA

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presseportal.ch 24.2.11

BKW-Gruppe / Vorausinformation zum Jahresergebnis 2010 / Gutes operatives Ergebnis

 Bern (ots) -

 Die BKW-Gruppe behauptete sich im schwierigen Markt- und Finanzumfeld des vergangenen Geschäftsjahres und erwirtschaftete eine konsolidierte Gesamtleistung von 3'187 Mio. CHF, 11.3% weniger als im Vorjahr. Der Stromabsatz 2010 ging um 2.3% auf 26'684 Gigawattstunden (GWh) zurück. Die in Anbetracht des schwachen Euros sowie gesunkener Marktpreise trotzdem gute Entwicklung des nationalen und internationalen Energiegeschäftes führte zu einem operativen Betriebsergebnis von 481 Mio. CHF, 4.2% weniger als im Vorjahr. Die Entwicklung auf den internationalen Währungs- und Finanzmärkten wirkte sich negativ auf das Finanzergebnis und entsprechend auch auf den Reingewinn aus. Dieser darf mit 228 Mio. CHF vor diesem schwierigen Hintergrund dennoch als gut bezeichnet werden.

 Die BKW-Gruppe erwirtschaftete eine konsolidierte Gesamtleistung von 3'187 Mio. CHF. Gegenüber dem Vorjahr entspricht dies einer Abnahme von 406 Mio. CHF bzw. 11.3%. Ohne die in Zukunft nicht mehr fortgeführten Aktivitäten im Vertrieb Deutschland betrug die Gesamtleistung 2'788 Mio. CHF.

 Zu dieser Geschäftsentwicklung führten insbesondere die tieferen Strompreise und der schwache Euro. Das Vertriebsgeschäft in der Schweiz und der Vertrieb International entwickelten sich positiv. Der Vertrieb Schweiz erhöhte den Stromabsatz gegenüber dem letzten Jahr um 1.0% auf 8'153 GWh (8'075 GWh). Die Zunahme von 78 GWh ist namentlich auf den höheren Absatz bei bestehenden Kunden und Partnern im Versorgungsgebiet zurückzuführen. Der Vertrieb International konnte im Geschäftsjahr 2010 konjunkturbedingt namentlich in Deutschland eine um 4.3% grössere Menge Strom absetzen. Der Stromabsatz erhöhte sich um 247 GWh auf 6'015 GWh (5'768 GWh). Die Handelsabgabe reduzierte sich aufgrund der schwierigen internationalen Marktentwicklung auf 11'839 GWh (12'638 GWh).

 Die BKW-Gruppe produzierte 2010 insgesamt 10'552 GWh Strom, 26 GWh weniger als im Vorjahr (10'578 GWh). Die etwas tiefere Produktion der Wasserkraftwerke wurde kompensiert durch die gute Verfügbarkeit und Rekordproduktion des Kernkraftwerks Mühleberg, die höhere Erzeugung bei den neuen erneuerbaren Energien und die erhöhte Produktion des Gaskombikraftwerkes in Livorno Ferraris (Italien).

 Die operative Ertragskraft, das Betriebsergebnis vor Abschreibungen und Wertminderungen (EBITDA), reduzierte sich gegenüber dem Vorjahr um 4.2% und betrug 481 Mio. CHF. Ohne die in Zukunft nicht mehr fortgeführten Aktivitäten im Vertrieb Deutschland betrug der EBITDA 474 Mio. CHF.

 Diese Entwicklung ist insbesondere auf das schwierige Preis- und Währungsumfeld sowie auf die rückläufigen Margen zurückzuführen. Die im Vergleich zum Vorjahr nicht mehr so erfreuliche Situation auf den Aktien- und Finanzmärkten und der tiefe Eurokurs führten zu einem wesentlich tieferen Finanzergebnis. Der Reingewinn ging um 70 Mio. CHF bzw. 23.5% auf 228 Mio. CHF zurück.

 Wie im Vorjahr wird der Generalversammlung vom 13. Mai 2011 eine Dividende von 2.50 CHF pro Aktie beantragt.

 Der Jahres- und Finanzbericht 2010 der BKW-Gruppe werden am 17. März 2011 im Rahmen der Jahresmedienkonferenz präsentiert.

 Nächste Termine -Jahresmedienkonferenz für das Geschäftsjahr 2010: 17. März 2011 -Generalversammlung: 13. Mai 2011 -Präsentation Halbjahresergebnis: 15. September 2011

 Kontakt: Antonio Sommavilla 031 330 51 07 info@bkw-fmb.ch

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Basler Zeitung 24.2.11

Grüne kämpfen für sauberen Strom

 Der Kanton Baselland soll langfristig ohne Atomkraft versorgt werden

Stefan Gyr

 Mitten im Wahlkampf starten die Grünen eine Volksinitiative. Das Ziel: Bis zum Jahr 2030 sollen mindestens 80 Prozent der im Kanton abgesetzten Elektrizität aus erneuerbaren Energien erzeugt werden.

 Die Baselbieter Grünen wiesen gestern vor den Medien immer wieder auf ihre Wurzeln hin. Die Partei erwuchs aus der Anti-AKW-Bewegung, die auch im Kanton Baselland eine starke Kraft war, wie Parteipräsident und Landrat Philipp Schoch erklärte. In der Kantonsverfassung wurden die Behörden denn auch verpflichtet, sich gegen den Bau von Atomkraftwerken auf dem Kantonsgebiet oder in der Nachbarschaft einzusetzen. Die Energieversorgung des Baselbiets stützt sich heute aber zu 82,8 Prozent auf nicht erneuerbare Energieträger und zu einem erheblichen Anteil auf Strom aus Atomkraftwerken.

 Die Grünen wollen jetzt dieser Verfassungsbestimmung "endlich Nachachtung verschaffen", wie sich der Liestaler Stadtrat Lukas Ott ausdrückte. Gut einen Monat vor den Landrats- und Regierungswahlen im Baselbiet haben sie die Volksinitiative "für sicheren und sauberen Strom - 100 Prozent Zukunft ohne Atomkraft" gestartet. Danach sollen im Baselbieter Energiegesetz neue "Grundsätze der Energieerzeugung" festgeschrieben werden: Im Kanton tätige oder tätig werdende Energieversorger sollen "im Bereich der Elektrizität anstreben, den Absatz vollständig aus erneuerbaren Energien zu decken". Und bis zum Jahr 2030 sollen die Energieversorger "insbesondere durch Beteiligungen oder langfristige Lieferverträge sicherstellen, dass mindestens 80 Prozent der an die Endkunden veräusserten Elektrizität aus erneuerbaren Energien erzeugt werden".

 Ehrgeizig. "Man kann nicht während sechs Tagen einen grossen Anteil Atomstrom aus der Steckdose beziehen, um am siebten Tag zu beten, es möge kein Atomkraftwerk in der Umgebung gebaut werden", erklärte Ott, der für den Initiativtext verantwortlich zeichnet. Es handle sich um ein ehrgeiziges, aber erreichbares Ziel. Immerhin wolle die Elektra Baselland (EBL) in Liestal, einer der beiden grossen Energieanbieter im Kanton, den Anteil der erneuerbaren Energien bis 2020 auf 30 Prozent steigern. Das Mengenziel sei durch klar ausgewiesene Potenziale abgesichert. Notwendig sei es aber, die entsprechenden gesetzlichen Rahmenbedingungen zu schaffen.

 Arbeitsplätze. Erneuerbare Energien seien sicher und unendlich verfügbar, sagte Nationalrätin Maya Graf. Und die Umstellung auf erneuerbare Energien rechne sich. Eine vom Bundesamt für Energie in Auftrag gegebene McKinsey-Studie gehe von 26 800 Arbeitsplätzen aus, die bis 2020 durch Energieeffizienzmassnahmen und die Förderung erneuerbarer Energien neu geschaffen werden könnten. Im Baselbiet könnten damit umgerechnet 3000 bis 4000 neue Arbeitsplätze entstehen.

 Die Liga der Baselbieter Stromkunden hat laut einem Communiqué den Vorstoss der Grünen "mit Befremden zur Kenntnis genommen". Mit der Initiative würden völlig unrealistische Forderungen gestellt und immense Kosten zulasten der Stromkunden verursacht.

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Basellandschaftliche Zeitung 24.2.11

Mit voller Energie gegen Atomstrom

 Volksinitiative Grüne fordern: 80 Prozent der Elektrizität stammen bis 2030 aus "grüner" Energie

Jürg Gohl

 Die Baselbieter Grünen kehren im Wahlkampf zu ihren Wurzeln, dem Kampf gegen den Atomstrom, zurück. Sie haben sich durch die jüngste Niederlage an der Urne bei ihrer Initiative "Weg vom Öl" nicht entmutigen lassen und sammeln nun bei ihren Standaktionen, die primär auf den Wahlkampf ausgerichtet sind, gleich auch noch Unterschriften für ihre formulierte Volksinitiative "Für sicheren und sauberen Strom - Zukunft ohne Atomstrom". Sie wurde gestern offiziell lanciert. Die Liga der Baselbieter Stromkunden kontert, dass die Grünen ebendiesen Volksentscheid des vergangenen Jahres "mit Füssen getreten" werde.

 Die Gesetzesinitiative der grünen fordert die aktuell zwei Energieversorger des Kantons auf, im Bereich der Elektrizität komplett auf erneuerbare Energien zu setzen. Bis ins Jahr 2030 müssen mindestens 80 Prozent der Elektrizität, die an die Kunden verkauft wird, erneuerbar sein, das heisst, aus Wasser-, Sonnen-, und Windkraft, Biomasse oder Erdwärme entstanden sein. Heute verhält es sich umgekehrt: Über 80 Prozent des Stroms stammt aus nicht erneuerbaren Energien.

 Lukas Ott, Grüner Liestaler Stadtrat und Autor der Gesetzesinitiative, ist sogar überzeugt, dass bis 2030 sogar die Marge von 100 Prozent zu erreichen wäre, denn "die Technologien verbessern sich und werden wettbewerbsfähig". Zudem bestätigen mehrere Studien, unter anderem eine des Bundes, diese Annahme.

 Philipp Schoch, der Präsident der Kantonalpartei, fordert zudem, neben mehr Stromalternativen auch mehr Stromsparen. Man müsse die Konsumenten dafür sensibilisieren, mit Strom sorgsamer umzugehen.

 Vom Atomstrom unabhängig

 Vor allem aber fordert Schoch, dass Baselland vom Atomstrom unabhängig bleiben müsse. Dem berühmten Paragrafen 115 in der Kantonsverfassung, der Atomkraftwerke auf Kantonsgebiet oder in der Nachbarschaft verhindern will, soll in Zeiten neuer Atom-Debatten Nachdruck verschaffen werden. "Es ist doppelbödig, sechs Tage lang Atomstrom zu konsumieren und am siebten gegen ihn zu wettern", sagte Ott.

 Maya Graf, die Baselbieter Nationalrätin der Grünen, erklärte gestern, dass der Kampf gegen Atomkraftwerke das Hauptthema ihrer Partei im nationalen Wahlkampf sei, ehe sie gedanklich in ihren Kanton und den Wahlkampf dort zurückkehrte: "Baselland galt einst bei Alternativenergien als innovativ. In den letzten Jahren haben wir diesen Vorsprung unter einer bürgerlichen Regierung aus der Hand gegeben."

 Sie weist auch auf die acht Milliarden Franken hin, die ein neues Atomkraftwerk kosten würde. "Würden wir dieses Geld in Alternativenergien investieren, so bliebe es bei uns und würde neue Arbeitsplätze schaffen. Die Wirtschaftskammer müsste also auf unserer Seite stehen." Tut sie aber nicht. Die ihr nahe stehende Liga der Stromkonsumenten hält den Vorstoss der Grünen für unrealistisch und sagt voraus, dass die Vision "immense Kosten" verursachen würde.

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Tagesanzeiger 23.2.11

Vorschneller Vonlanthen

 Beat Vonlanthen, der Präsident der kantonalen Energiedirektoren, hat zum Thema AKW in der "Arena" mehr gesagt, als es aus Sicht der Kantone zu sagen gibt.

 Von Daniel Friedli, Bern

 Vorgestellt wurde er als Präsident der kantonalen Energiedirektoren. Und auch wer Beat Vonlanthen am letzten Freitag in der "Arena" des Schweizer Fernsehens zuhörte, musste den Eindruck bekommen: Der Freiburger Regierungsrat und CVP-Politiker spricht hier im Namen der Kantone. "Wir müssen", sagte er etwa zur Frage, ob die Schweiz neue Atomkraftwerke brauche, "im Hinblick auf die definitive Abstimmung, die 2013 stattfinden wird, noch Überzeugungsarbeit leisten. Und ich habe als verantwortlicher Energiedirektor eines Kantons - und meine Kollegen in den anderen Kantonen denken gleich - die Sorge, dass wir die Stromversorgung sicherstellen können."

 Doch Vonlanthens energisches Votum täuscht. Die Konferenz der kantonalen Energiedirektoren (EnDK) hat zur Frage der neuen Atomkraftwerke noch gar nicht Position bezogen, wie auch Vonlanthens Mitarbeiter bestätigen. Zwar ist durchaus denkbar, dass sich in der laufenden Konsultation eine Mehrheit der Kantone für ein oder zwei Ersatz-AKW aussprechen wird. Umgekehrt sind aber zum Beispiel die Regierungen von Genf oder den beiden Basel durch ihre Kantonsverfassungen gezwungen, sich gegen die Atomkraft einzusetzen. Die Regierung von Neuenburg hat dies unlängst bereits getan.

 Die Freiburger Energiedirektion weist den Vorwurf, der Regierungsrat habe sich bei seinem Auftritt etwas zu weit aus dem Fenster gelehnt, zurück. Vonlanthen habe primär als Regierungsrat seines Kantons gesprochen und nur sekundär als Präsident der EnDK, sagte sein Kommunikationschef Thomas Gut gestern. Überdies stünden die Kantone hinter der übergeordneten Energiestrategie des Bundes, in welcher der Bundesrat auf Kernenergie setze.

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Freiburger Nachrichten 23.2.11

Grünliberale wollen aus Fehlern lernen

 Freiburg Der Gesamtaushub der ehemaligen Deponie La Pila kostet 250 Millionen Franken, und der Staatsrat spricht sich für ein neues Atomkraftwerk (AKW) in der Schweiz aus (FN vom Samstag). "Als ob der Staatsrat aus den Fehlern nichts gelernt hätte", schreibt die Grünliberale Partei des Kantons Freiburg in einer Mitteilung. Auf der Deponie La Pila sei Abfall sorglos gelagert worden, nun solle mit einem AKW "leichtfertig neuer problematischer Abfall produziert" werden. Die Grünliberalen wollen, dass die Regierung "klar und deutlich auf erneuerbare Energien" setzt. njb

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20 Minuten 23.2.11

Ja für alle drei AKW-Standorte

 LAUSANNE. Das Waadtländer Kantonsparlament empfiehlt ein Ja zu allen drei möglichen Standorten für neue Atomkraftwerke in der Schweiz. Am 15. Mai stimmt Waadt in einer Konsultativabstimmung über die drei Standorte Gösgen SO, Mühleberg BE und Beznau AG ab. Die Empfehlungen waren im Rat heftig umstritten.

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Aargauer Zeitung 23.2.11

Steine dämpfen Strahlung

Beznau Im Oberwasserkanal des Flusskraftwerks wird derzeit eine radiologisch belastete Fläche von rund 100 Quadratmetern mit Steinmatten abgedeckt. Beim Bau von Beznau II war aus einer Leitung leicht kontaminierte Flüssigkeit ausgetreten. Der damit belastete Kies wurde in Absprache mit der damals für die Sicherheit zuständigen Behörde in den Oberwasserkanal des Wasserkraftwerks eingebracht. (ZA) Seite 32

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Mit Kalksteinen aus den Alpen gegen Strahlung

Beznau Radiologisch belasteter Kies im Oberwasserkanal des Flusskraftwerks wird mit Matten abgedeckt

Angelo Zambelli

 Am 10. Dezember 1970 trat bei den Bauarbeiten für das Atomkraftwerk Beznau II leicht kontaminiertes Wasser aus einer Verbindungsleitung aus. Die beim Zwischenfall freigesetzte Radioaktivität betrug laut Werkangaben 1,4 Prozent der zulässigen Jahreslimite. In Absprache mit der damals zuständigen Kommission für die Sicherheit von Kernanlagen wurde ein Teil des Kieses im Oberwasserkanal des Wasserkraftwerks Beznau eingebracht.

 Aktualität erlangte die Altlast erst wieder mit der Konzessionserneuerung für das Wasserkraftwerk Beznau. Im Rahmen dieser Neukonzes- sionierung und Modernisierung will die Axpo die Reste dieser Altlast absichern. Bereits 2009 saniert wurde der rund 20 Quadratmeter grosse Bereich der Böschung, über die der Kies in den Kanal geschüttet worden war.

 Matten mit Steinen aus den Alpen

 Bis heute Mittwoch soll gemäss Auskunft von Axpo-Sprecher Roland Keller und Projektleiter Max Ritter die zweite und letzte Etappe der Sanierung abgeschlossen sein. Die Flusssohle wird auf einer Fläche von rund 100 Quadratmetern mit 3,4 Tonnen schweren, 4 Meter langen und 2 Meter breiten Drahtgeflechtmatten abgedeckt, in denen sich Steine aus Alpenkalk mit geringem natürlichem Strahlenpegel befinden. Diese Gesteinsart wurde gewählt, um bei Nachmessungen keine verfälschten Ergebnisse zu erhalten. Mit den Drahtgeflechtmatten soll das heute sehr kompakte Material zusätzlich abgesichert werden.

 Messungen auf dem Grund des Oberwasserkanals haben ergeben, dass nach wie vor eine leicht erhöhte Radioaktivität besteht. Der grösste Anteil der Aktivität liegt rund 10 Meter oberhalb des Einlaufbauwerks. In einer von der Axpo in Auftrag gege- benen Analyse der Messergebnisse kam das Paul-Scherrer-Institut zum Schluss, dass vom kontaminierten Kies keine Gefahr für Mensch und Tier ausgeht. Dennoch schliesst Axpo-Sprecher Roland Keller nicht aus, dass der belastete Kies bei einer allfälligen späteren Trockenlegung des Kanals vollständig entfernt werden könnte.

 Die Arbeiten werden von den Strahlenschutz-Fachleuten des KKB überwacht. Alle an den Arbeiten beteiligten Personen sind mit einem Dosimeter ausgerüstet, um die Strahlenbelastung unter Kontrolle zu halten. Nach Abschluss der Altlastsanierung soll die Abschirmwirkung der Matten mit weiteren Messungen überprüft werden.

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Le Matin 23.2.11

Le plongeur irradié témoigne

Accident. En août, le Vaudois Dominique Wuest était irradié alors qu'il réalisait des travaux de maintenance à la centrale nucléaire de Leibstadt (AG). Il n'en garde aucune séquelle "pourl'instant".

Laurent Grabet

 "Un pépin. " Voilà comment Dominique Wuest, 42 ans, dont vingt et un de plongée professionnelle, qualifie l'accident de travail qui, le 31   août dernier, a fortement irradié sa main droite. Ce jour-là, le plongeur, employé par une société spécialisée basée à Sugiez (FR), est immergé à 10 mètres de profondeur dans un bassin de la centrale nucléaire de Leibstadt, en Argovie. "Il s'agissait de celui dans lequel se trouve l'ascenseur qui achemine les barres d'uranium vers le réacteur et dans lequel nous entreprenions les travaux de révision annuels", nous expliquait hier ce Vaudois domicilié à La Tour-de-Peilz. L'événement, qui a été classé niveau 2 sur 7 sur l'échelle internationale des incidents nucléaires, a fait l'objet d'un rapport de l'Inspection fédérale de la sécurité nucléaire. Lequel a été publié dans les colonnes duBeobachterla semaine passée.

 "l'alarme a retenti"

 Au terme de son travail, le plongeur reçoit l'ordre de ses superviseurs restés en surface de ramasser les débris de câbles traînant au sol. Sous l'ascenseur, il aperçoit alors une pièce métallique longue d'une vingtaine de centimètres. "On a appris ensuite que c'était un bout de sonde probablement malencontreusement oublié là en 2006, lors de précédentes révisions. " Comme le veut la procédure, le professionnel demande l'aval pour la remonter et l'obtient. Il sort ensuite de l'eau. C'est seulement à ce moment-là que le panier contenant ladite pièce est à son tour remonté. "Arrivé à 2 mètres de la surface, le rayonnement était tellement violent que l'alarme ad hoc a retenti. " L'eau constituant un bouclier très efficace contre les radiations, la corbeille est redescendue illico. "A l'air libre, la quantité astronomique de sieverts(ndlr: unité de mesure des doses de radiation)dégagés par l'objet m'aurait totalement irradié! Heureusement que l'eau ainsi que mes deux paires de gants ont protégé ma main. "

 L'angoissante question

 Dominique Wuest s'aperçoit alors que, lorsqu'il avait touché la pièce sous l'eau, le dosimètre électronique placé sous sa combinaison s'était mis en alarme. Mais, avec le bruit ambiant, il ne l'avait pas entendu sonner. Potentiellement gravement irradié, l'homme est envoyé immédiatement vers l'Hôpital de Laufenburg (AG). Là, les médecins photographient sa main sous toutes les coutures, font des examens sur son derme, son épiderme et ses articulations. Aucune anomalie n'est détectée. Son sang est également prélevé et envoyé dans un labo spécialisé en Grande-Bretagne. Le quadragénaire attend toujours les résultats de ces analyses! Eux seuls pourront peut-être répondre à la question qui l'inquiète vraiment dans toute cette histoire: "Souffrirai-je un jour d'altérations au niveau génétique ou chromosomique? Car je n'ai apparemment pas de séquelles. Ma main ne présente ni brûlures ni rougeur. Je n'ai jamais de gêne, de fourmillement ou quoi que ce soit. C'est assez étonnant, vu la dose de radiations qui l'ont traversée! Si un cancer devait se déclencher, j'aimerais savoir à quoi m'attendre et quel traitement je devrais entreprendre. "

 Après l'accident, le quadragénaire a même continué de travailler à la centrale! "Mais hors zone chaude", précise-t-il. C'est-à-dire dans des endroits peu exposés aux radiations. C'est là qu'il sera cantonné, deux années durant, chaque fois qu'il retournera travailler à Leibstadt. Et après? "La sécurité de cette centrale est l'une des meilleures du monde. J'ai toute confiance, assène l'intéressé. Si on me demande de remettre mon scaphandre et de replonger dans ce même bassin, j'y retournerai avec plaisir!"

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 1 AN DE RADIATIONS EN 1 MIN

 En seulement 45 à 60 secondes de surexposition accidentelle, d'après des calculs de l'Institut de radiophysique du CHUV que nous a transmis la rédaction duBeobachter, le corps du plongeur Dominique Wuest a absorbé 28 millisieverts (mSv). Soit 8 mSv de plus que la limite autorisée sur toute une année. Sur certaines parties de sa main, des valeurs de 1750 à 6900 mSv ne sont pas exclues, d'après les experts. Or la limite autorisée pour les mains est de 500 mSv! Dans un rapport également rendu public par leBeobachter, l'Inspection fédérale de la sécurité nucléaire (IFSN) pointe du doigt deux erreurs principales ayant favorisé l'incident. La première: les spécialistes de la protection contre les radiations n'ont pas été consultés lorsque la décision de remonter la pièce finalement irradiée a été prise. La seconde: les signaux acoustiques d'alarme émis par l'un des cinq dosimètres que Dominique Wuest portait sur lui n'ont pas été audibles au moment où il aurait fallu.

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Le Matin 23.2.11

"Fribourg doit aussi voter!"

 Nucléaire. Le Conseil d'Etat dit oui à une nouvelle centrale sans consulter la population. Des voix s'élèvent en faveur d'une votation.

 Comme les Bernois le week-end passé, les Fribourgeois, directement concernés par les risques nucléaires, doivent aussi pouvoir donner leur avis concernant la construction d'une nouvelle centrale à Mühleberg (BE). Telle est la conviction que partagent plusieurs partis, bien décidés à monter aux barricades: le Conseil d'Etat ne peut décider seul si le canton est favorable ou non à une telle construction. La gauche prévoit d'ailleurs de faire pleuvoir des motions au Grand Conseil pour que la population puisse se rendre aux urnes.

 Invité, comme tous les autres cantons, à donner son avis quant à la construction de nouvelles centrales nucléaires, le Conseil d'Etat dit oui à une seule supercentrale! Il consultera le législatif à titre consultatif, mais aucunement la population, qui est pourtant la première concernée. "Trente-neuf communes, soit plus de 102 000 Fribourgeois, se trouvent à proximité de cette centrale", lance Marie-Thérèse Weber-Gobet, conseillère nationale fribourgeoise PCS. "Et on ne leur demande pas leur avis. Alors qu'ils sont indéniablement leur mot à dire. C'est quand même aberrant. "

 En effet, les habitants du nord du canton, Fribourg-Ville comprise en grande partie, vivent dans la zone à risque de niveau 2, située dans un périmètre de 20 km de la centrale (la zone 1, située dans un périmètre de 5 km, étant la plus dangereuse). Ils ont d'ailleurs tous reçu leurs petits cachets d'iodure de potassium, à avaler en cas d'accident nucléaire.

 "Pourquoi les autres cantons voisins de la centrale vont-ils aux urnes et pas nous? Fribourg doit aussi voter!" s'insurge David Bonny, président du PS Fribourg. Il note que le canton de Berne a effectivement donné un avis positif, mais du bout des lèvres (51,2% de oui) et que les Vaudois s'exprimeront le 15   mai prochain. L'Etat de Neuchâtel s'oppose, quant à lui, au nucléaire, tout comme Genève et Bâle. Et d'ajouter: "Le Conseil d'Etat de Fribourg fait ainsi figure d'ovni en Suisse occidentale. Il pourrait au moins, dans ce contexte, envisager un vote de la population sur lequel fonder l'avis officiel du canton. "

 Débat prévu en mars

 Comme précisé dans le communiqué du Conseil d'Etat, "contrairement à d'autres cantons, la Constitution cantonale fribourgeoise ne prévoit pas la possibilité d'une votation consultative". Une situation que le PCS et le PS ont bien l'intention de rectifier. Le premier a déjà lancé sa motion populaire qui, en deux jours, a récolté près de 100 signatures (sur les 300 nécessaires). Le second prévoit d'aller plus vite en déposant directement une motion au Grand Conseil pour que ce soit discuté dès le mois de mars.

 A ce moment-là, difficile de savoir ce que chacun votera. Le PS, le PCS et les Verts libéraux seront clairement pour le référendum, d'autant que, opposés au nucléaire, ils espèrent que la population les rejoindra. Le PDC et le PLR n'en ayant pas encore discuté, ils préfèrent ne pas se prononcer pour l'instant. Quant à l'UDC, s'il est plutôt favorable à une nouvelle centrale, "il est aussi ouvert à ce que la population soit consultée". Les Fribourgeois pourraient donc être amenés à s'exprimer tout bientôt!

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Landbote 22.2.11

Endlager: Schutz für Marke "Weinland"

 WEINLAND. Neu wird in "Zürich Nordost" nach einem Endlager gesucht. Jetzt wird die lokale Mitsprache aufgegleist.

Reto Flury

 Ein Tiefenlager im "Zürcher Weinland" wird es nicht geben. Nicht weil die Gegend und der Opalinuston plötzlich nicht mehr interessant wären, sondern weil das Bundesamt für Energie (BFE) die mögliche Standortregion schlicht umgetauft hat. Sie heisst im Auswahlverfahren jetzt neu "Zürich Nordost".

 Der Wechsel geschah auf Wunsch der betroffenen Gemeinden, wie das BFE kürzlich mitteilte. Sie fürchten, dass die Marke "Weinland" beschmutzt wird, wenn sie zu häufig im Zusammenhang mit dem Tiefenlager erwähnt wird. Mit der Umbenennung soll die Marke geschützt werden. "Denn sie ist für Landwirtschaft und Tourismus sehr wichtig", sagt Christof Peyer, Gemeindeschreiber von Trüllikon. Er ist zugleich auch Geschäftsführer der Standortregion, zu der Vertreter aus 39 Gemeinden, den Kantonen Zürich, Thurgau und Schaffhausen sowie Deutschland gehören.

 Neues Gremium

 Anders als der Name änderten die Rechte der Region im Auswahlprozedere nicht. Gemäss Kernenergiegesetz wird über ein Tiefenlager auf Bundesebene entschieden. Die sechs Standortregionen, die schweizweit zur Debatte stehen, können aber mitreden (siehe Kasten). Um diese Partizipation sicherzustellen, werden sogenannte Regionalkonferenzen gebildet. Derzeit sind die Standortregionen daran, die Konferenzen aufzubauen.

 Wer in diesen Gremien Platz finden soll, hat das BFE kürzlich vorgegeben. Neben Befürwortern sollen auch Kritiker berücksichtigt werden. 30 bis 50 Prozent werden Gemeindevertreter, ebenfalls 30 bis 50 Prozent Mitglieder von Interessenorganisationen sein. Damit sind nicht nur kritische Vereine, sondern auch Parteien oder Branchenverbände gemeint. Ein Zehntel bis ein Drittel der Regionalkonferenz soll aus ungebundenen, interessierten Leuten bestehen, die aber weder Amt noch Funktion besitzen. Insgesamt verlangt das BFE, dass Alter, Geschlechter, soziale Schichten, Nationalitäten und Interessen ausgewogen berücksichtigt werden.

 Die Regionalkonferenz "Zürich Nordost" wird laut Peyer ungefähr im September ihre konstituierende Sitzung abhalten. Die Mitglieder werden von einem "Startteam" gewählt, das sich aus Behördenvertretern zusammensetzt. Parteien und Verbände würden innert Monatsfrist kontaktiert, so Peyer. Die ungebundenen Personen würden wohl via Inserat zur Partizipation eingeladen. "Theoretisch kann sich aber jetzt schon jeder Interessierte bei uns melden."

 Einiges sei noch im Fluss, so Peyer. Zum Beispiel die Anzahl Sitze. Derzeit peile das Startteam 70 bis 80 Sitze an. Auch wie gross die Delegation aus Deutschland sein wird, ist noch nicht definitiv geklärt. Das BFE hatte 6 Prozent vorgeschlagen. Auf Druck der Deutschen verdoppelte das Startteam die Vertretung auf 12 Prozent. Es können am Schluss aber auch noch 2 Prozent mehr oder weniger sein.

 Noch unklar ist, ob "Klar!Schweiz", die gewichtigste kritische Organisation, mitmachen wird. Der Vorstand habe noch nicht beschlossen, sagt Ko-Präsidentin Käthi Furrer. Aber die Skepsis gegenüber der "Scheinpartizipation" sei gross. Sie könne das Vorgehen von BFE und Nagra zwar nachvollziehen. "Aber wir müssen relativieren: Die Konferenz ist kein griffiges politisches Instrument."

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 Bevölkerung redet mit
 
flu

 Das Nidwaldnervolk verhinderte einst ein Endlager am Wellenberg. Ähnliches wird beim aktuellen Auswahlprozedere nicht mehr möglich sein. Standortregionen und -kantone können nicht über ein Tiefenlager entscheiden. Sie dürfen aber in "Regionalkonferenzen" Projektdetails beeinflussen und kritische Fragen erörtern lassen. Dabei geht es zum Beispiel um Massnahmen, um die Attraktivität der Regionen zu erhalten. Sie werden von den AKW-Betreibern berappt. Die sechs regionalen Konferenzen werden auch beim Standort der "Oberflächenbauten" ein Wort mitreden. Dazu zählen etwa eine Empfangshalle für die radioaktiven Abfälle, eine Umladestation oder eine Verpackungsanlage. Die Anlagen dürften so gross wie ein mittelgrosser Industriebetrieb werden. (flu)

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Neue Nidwaldner Zeitung 22.2.11

Workshops zum Wellenberg

 Nid-/Obwalden

 "Plattform Wellenberg" nennt sich das Gefäss, in dem sich die Region einbringen soll, wenn es um den Wellenberg geht. Der Wellenberg figuriert als einer von sechs zur Auswahl stehenden Standorten für ein Endlager für atomare Abfälle in der Schweiz. Wie aus einer Medienmitteilung hervorgeht, hat ein Startteam für die Plattform Wellenberg ihre Arbeit aufgenommen.

 Nicht alle machen mit

 Dem Startteam gehören nebst den Kantonen Nidwalden und Obwalden die Gemeinden Wolfenschiessen, Dallenwil, Beckenried und Ennetmoos an. Die Gemeinden Oberdorf, Stans, Buochs und Engelberg machen jedoch nicht mit. Ennetbürgen, Emmetten, Stansstad und Hergiswil liegen nicht im vom Bund definierten Perimeter. Ebenfalls im Startteam sitzt ein Vertreter des Bundesamtes für Energie.

 Wie Hans Kopp, Gemeindepräsident von Wolfenschiessen und Mitglied des Ausschusses Startteam, ausführt, sei für den Gemeinderat Wolfenschiessen klar, dass man bei der regionalen Partizipation mitmachen wolle. "Wir wollen lieber im Bild sein und uns einbringen können." Die Plattform Wellenberg bewerte nicht, ob der Standort geeignet sei oder nicht. "Wir haben die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Interessengruppen gut informiert sind und ihre Anliegen gehört werden."

 Noch immer ein Manko

 Ein erster Workshop findet am 26. März im Herrenhaus Grafenort statt. Laut Hans Kopp folgen noch weitere, 2011 werden es drei sein. Es sei möglich und auch erwünscht, die Plattform Wellenberg zu erweitern.

 Im November oder Dezember - später als ursprünglich geplant - erwarte man aus Bern den Entscheid, ob der Wellenberg im Sachplan geologisches Tiefenlager verbleibt. Dass man mit den Workshops vorher beginne, begründet Kopp so: "Die Zeit würde danach nicht reichen, um den Interessengruppen und der Bevölkerung den heutigen Wissensstand ausreichend zu vermitteln." Es bestehe diesbezüglich teilweise immer noch ein Manko.

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Sonntagszeitung 20.2.11

Plädoyer für die Atomkraft bei Chabis und Rettich

 Mittagessen mit Axpo-Chef Heinz Karrer, der nur bei Süssigkeiten wirklich schwach wird

 von Markus Schär (TEXT) UND MICHELE LIMINA (FOTO)

 Der Chef geniesst eine Vorzugsbehandlung. In der Axpo-Kantine, die mit ihren grauen Tischen und grauen Stühlen den Charme eines volkseigenen Betriebs aus DDR-Zeiten ausstrahlt, wird er als Einziger bedient. Er muss nicht in der langen Schlange anstehen, sondern kann am Tisch in der Ecke auswählen: Menü I (Gnocchi) oder Menü II (Schweinshalssteak). Heinz Karrer bittet einfach um einen gemischten Salat (Fr. 8.05), dazu trinkt er ein Rivella, natürlich blau.

 Denn gewöhnlich isst der Topmanager, der auch mit 51 noch einen smarten Dressman abgäbe, am Mittag gar nichts, höchstens "ab und zu ein Brötli". In jungen Jahren spielte er in der Schweizer Handball-Nationalmannschaft, da verdrückte er "zwei Mittagessen und drei Nachtessen" und verbrannte alles beim Training. "Jetzt komme ich mit sehr wenig Essen sehr gut aus", sagt er. Auch bei Geschäftsessen über Mittag begnüge er sich oft mit einer Vorspeise und versündige sich dafür am Dessertbuffet: "Meine Mitarbeiter scherzen gerne über meine Sucht nach Süssem." Das karge Essen in der Kantine des Badener Axpo-Hauptsitzes ist also keine Inszenierung.

 Dem Bergsteiger steht ein steiniger Weg bevor

 Mit der Demokratie muss Heinz Karrer leben, denn er arbeitet tatsächlich in einem volkseigenen Betrieb. Einerseits gehört die Axpo-Gruppe, die aus den NOK herauswuchs, den Nordostschweizer Kantonen. Anderseits gehorcht auch der zweitgrösste Stromversorger des Landes mit 4000 Mitarbeitenden und gut sechs Milliarden Franken Umsatz dem Willen des Volkes: Es entscheidet in zwei bis drei Jahren darüber, ob die Axpo mit ihren Konkurrentinnen Alpiq und BKW zwei Atomkraftwerke ersetzen kann.

 "Gott sei Dank ist es so", sagt Heinz Karrer, der mit seinem Konzern in 23 Ländern Geschäfte macht: Der Volksentscheid in der Schweiz verleiht der umstrittenen Atomkraft eine weit höhere Legitimation. Dafür nimmt der Manager Zitterpartien wie am letzten Sonntag hin. Nach einer Abstimmungsschlacht, obwohl es nur um eine bessere Meinungsumfrage ging, sprachen sich im Kanton Bern 51 Prozent dafür aus, wieder ein Atomkraftwerk in Mühleberg zu bauen.

 "Das ist ein Signal, nicht weniger und nicht mehr", konstatiert der Axpo-Chef. Beide Seiten sahen sich nach der Abstimmung als Sieger, Heinz Karrer beansprucht aber die besseren Gründe dafür. "Wir stellen eine signifikant höhere Akzeptanz für die Kernkraft fest", sagt er. "Vergessen Sie nicht: Bisher ging es in den Abstimmungen immer um den Ausstieg oder um ein Moratorium. In unseren regelmässigen Befragungen gab es nie eine Mehrheit für den Ersatz von Kernkraftwerken, diese hat sich erst in den letzten drei bis fünf Jahren entwickelt."

 Trotzdem steht dem Bergsteiger, der reihenweise Viertausender erklimmt, bis zur Volksabstimmung noch ein steiniger Weg bevor: "Wir gehen davon aus, dass es bei einem knappen Entscheid bleibt", sagt er. Bei den Befürwortern und den Gegnern der Atomkraft sind die Meinungen gemacht; dazwischen aber schätzen die AKW-Planer rund 30 Prozent Unentschiedene, die sich mit Argumenten ansprechen lassen. Heinz Karrer versucht es schon bisher mit 70 bis 100 Auftritten im Jahr: "Das wird noch zunehmen, der Bedarf ist da."

 Sein ökologischer Fussabdruck ist nicht gerade nachhaltig

 In Chabis, Rettich und Kopfsalat stochernd, hakt der Manager die Punkte seiner Standardpräsentation ab. Erstens: Die einheimischen Stromproduzenten müssen die Versorgung des Landes sicherstellen - in einer "Millisekundenindustrie", in der stets der Blackout droht, wenn das Angebot nicht der Nachfrage entspricht. Was an Leistung wegfällt, wenn die Importverträge mit Frankreich 2016 auslaufen und die bestehenden AKW ab 2020 vom Netz gehen, lässt sich nicht mit Ökostrom oder Importen ersetzen und auch nicht einsparen. Zweitens: Da die Wissenschafter die Klimaerwärmung, die sie beobachten, auf den CO2-Ausstoss der Menschheit zurückführen, bieten sich Atomkraftwerke als umweltfreundliche Lösung an. Und drittens: Die Katastrophe von Tschernobyl liegt inzwischen 25 Jahre zurück. Eine ganze Generation erlebte keine Probleme mit der Atomkraft - aber sie fordert natürlich ebenfalls eine sichere Lösung für die strahlenden Abfälle.

 Weshalb können wir nicht einfach auf einen weniger stromfressenden Lebensstil umstellen? Der Manager, der als Lieblingsessen "Tomatensalat mit Mozzarella" angibt, rechnet vor: In der Schweiz wachsen die Bevölkerung, die Wohnflächen, die Zahl der strombetriebenen Dienste und Geräte, und sogar die Effizienzgewinne beim Umstieg von Ölheizung auf Wärmepumpen lassen sich nur mit mehr Strom erzielen.

 Seinen ökologischen Fussabdruck kann Heinz Karrer kaum auf ein Mass verkleinern, das als nachhaltig durchgeht. Immerhin gäbe er sich Mühe: Am Abend zu Hause esse er bewusst mehr Fisch als Fleisch oder koche Pasta, wenn er die drei halbwüchsigen Söhne stellvertretend für seine Frau versorgen müsse, nur mit abschliessender Magnum-Glace als Sünde.

 Dann muss der Chef weiter zum nächsten Termin. Ein Drittel seines Salattellers lässt er stehen. Aber einen Espresso genehmigt er sich noch schnell, und natürlich ein Schöggeli dazu.

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Südostschweiz 20.2.11

Gemeinde Glarus für neue Atomkraftwerke

 Der Gemeinderat von Glarus äussert sich zu Handen des Kantons zu den Schweizer Atomkraftwerksplänen.

 Glarus. - In der Schweiz sind drei Gesuche für den Ersatz der bestehenden Atomkraftwerke eingereicht worden. Gestützt auf die Bestimmungen des Kernenergiegesetzes werden die Kantone vom Bund zu einer entsprechenden Stellungnahme aufgefordert. Die Gemeinderäte können sich zur Stellungnahme des Kantons äussern. Der Gemeinderat Glarus erachtet den Ersatz der bestehenden Atomkraftwerke aus Gründen der Versorgungssicherheit als notwendig, schreibt er in einer Mitteilung.

 Gleichzeitig hat der Gemeinderat aber Bedenken, dass das Bewilligungsverfahren alle politischen und verwaltungstechnischen Hürden nehmen wird. Deshalb könnte sich der Gemeinderat auch vorstellen, den Ersatz von lediglich zwei oder gar nur einem der bestehenden Atomkraftwerke voranzutreiben. (so)

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Bund 19.2.11

Tschäppät: "Klarer Auftrag für die Stadt gegen neues AKW"

 Die Stadt müsse sich nun zu Mühleberg II äussern, finden der Stadtpräsident und die RGM-Parteien.

 Simon Thönen

 Das Stimmvolk des Kantons hat letzten Sonntag knapp Ja gesagt zu einem neuen Atomkraftwerk in Mühleberg - die Stimmberechtigten der Stadt Bern aber, der wichtigsten Nachbargemeinde, sagten wuchtig Nein. Für Stadtpräsident Alexander Tschäppät (SP) ist das Stadtresultat zunächst einmal "eine klare Bestätigung und Bekräftigung der städtischen Politik, aus der Atomenergie auszusteigen". Als Demokrat akzeptiere er das Ja in der kantonalen Abstimmung. "Es ist jedoch nicht mehr als ein Etappensieg für Mühleberg II", sagt Tschäppät: "Wie bei der Tour de Suisse ist erst am Schluss klar, wer gewinnt."

 Die städtische Zweidrittelmehrheit gegen Mühleberg II sei deshalb, so Tschäppät, "für die Stadt auch eine klare Legitimation und ein Auftrag der Stadtbevölkerung, diesem Willen zum Durchbruch zu verhelfen". Wie sich die Stadt in den kommenden politischen und rechtlichen Auseinandersetzungen über ein neues AKW in Mühleberg einbringen kann und soll, stehe für ihn jedoch noch nicht fest. "Diese Diskussion wird man jetzt führen müssen."

 RGM: Städtebündnisse schmieden

 Vorstellungen dazu haben die AKW-kritischen Parteien von Rot-Grün-Mitte, während die Bürgerlichen die Auffassung vertreten, dass die Stadt sich aus diesen Auseinandersetzungen herauszuhalten habe (siehe Text unten).

 Stéphanie Penher, Co-Fraktionschefin des Grünen Bündnisses im Stadtrat, fordert rasche Schritte. Momentan läuft die Anhörung der Kantone zu den drei Rahmenbewilligungsgesuchen für neue AKW. Angesichts des Stadt-Land-Grabens, den die bernische Volksabstimmung aufgezeigt hat, müssten sich unbedingt auch die Städte beim Bund zu Wort melden. Penher: "Bern muss gemeinsam mit Zürich, Genf, Basel und St. Gallen vorgehen, die alle den Atomausstieg beschlossen haben." Und zwar über den Schweizerischen Städteverband. Penher ist zuversichtlich, dass die grossen Städte dort eine Mehrheit gegen AKW finden werden.

 Auch beim nächsten Verfahrensschritt, der öffentlichen Auflage der Rahmenbewilligungsgesuche, die im Sommer stattfinden wird, müsse der Gemeinderat "klar Position beziehen und diese offensiv vertreten", fordert Penher. Als Gemeinde in der Gefahrenzone 2 des neuen AKW ist die Stadt sehr wahrscheinlich berechtigt zu Einsprachen. Diese Möglichkeit müsse sie wahrnehmen, verlangt auch Manuel C. Widmer, Präsident der Grünen Freien Liste: "Die Stadt Bern hat einen klaren Auftrag ihrer Bürger und Bürgerinnen, nun in jeder möglichen Form aktiv zu werden." Derselben Ansicht ist Flavia Wasserfallen, Co-Präsidentin der städtischen SP.

 Gegen eine Einsprache spricht sich hingegen Michael Köpfli aus, Fraktionschef der Grünliberalen im Stadtrat. "Wir sollten den kantonalen Volksentscheid respektieren." Stattdessen solle man sich darauf konzentrieren, so Köpfli, "dass wir in der nationalen Volksabstimmung ein AKW verhindern können". Er ist nach dem kantonalen Urnengang zuversichtlich, dass sich die Agglomerationen für ein Nein gewinnen lassen. "Wir müssen die Argumente gegen AKW auf das Land hinaustragen", sagt Wasserfallen. Sie sei optimistisch, weil es am Sonntag bis weit ins bürgerliche Lager hinein Nein-Stimmen gegeben habe.

 Nause: Atomausstieg umsetzen

 Für den städtischen Energiedirektor, Reto Nause (CVP), ist Mühleberg II zwar wirtschaftlich gesehen eine "Hochrisiko-Investition". Er fügt jedoch an: "Für mich geht es nicht so sehr darum, Mühleberg II zu verhindern, sondern mit EWB den Umstieg zu den erneuerbaren Energien zu schaffen."

 Ihre Hausaufgaben habe die Stadt mit dem beschlossenen Atomausstieg für das eigene Werk EWB vorerst gemacht, findet der Grünliberale Köpfli. Sie könne Gemeinden der Agglomeration, die gegen Mühleberg II stimmten, dabei unterstützen, ebenfalls auszusteigen, ergänzt GFL-Präsident Widmer: "Je mehr Gemeinden man überzeugen kann, auf Atomstrom zu verzichten, desto weniger braucht es ihn."

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 Bürgerliche "Die Stadt Bern hat sich nicht einzumischen"

 Die Forderung der AKW-kritischen Parteien, dass die Stadt Bern in den kommenden Auseinandersetzungen um Mühleberg II eine aktive Rolle einnehmen müsse, stösst bei den bürgerlichen Parteien auf wenig Verständnis.

 Ein neues Kernkraftwerk in Mühleberg sei eine Frage, die den Kanton betreffe, sagt Roland Jakob,SVP-Fraktionschef im Stadtrat. "Es gilt, was die Stimmbürger des Kantons letzten Sonntag beschlossen haben." Angesichts der Finanzlage der Stadt stelle sich zudem die Frage, woher das Geld käme, falls die Stadt sich in den kommenden Abstimmungen oder Verfahren zu Wort melden wolle.

 Bernhard Eicher, Chef der FDP-Fraktion im Stadtrat, hat ebenfalls kein Verständnis für die Debatte. "Es ist die alte Leier, die man von links-grüner Seite immer hört, wenn sie versuchen, eine verlorene Volksabstimmung in einen Sieg umzudeuten." Über neue Kernkraftwerke werde 2013 in der schweizerischen Volksabstimmung entschieden. "Es ist nicht an der Stadt, sich da einzumischen."

 Martin Schneider, Co-Präsident der städtischen BDP, verweist ebenfalls auf die kommende nationale Volksabstimmung. "Das letzte Wort zur AKW-Debatte ist noch nicht gesprochen", sagt er, "die Diskussion wird jetzt erst richtig beginnen." Er fügt an: "Aus grundsätzlichen Überlegungen finden wir, dass die Stadt als solche sich nicht politisch äussern soll. Dies ist die Aufgabe der politischen Parteien." (st)

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Freiburger Nachrichten 19.2.11

Freiburger Staatsrat ist für ein neues Kernkraftwerk

 Nach Meinung der Kantonsregierung braucht es in der Schweiz für eine Übergangsphase bloss ein neues Kernkraftwerk.

 Freiburg Der Staatsrat hat am Freitag den Entwurf seiner Stellungnahme im Rahmen des Bewilligungsverfahrens für neue Kernkraftwerke in der Schweiz verabschiedet. Dieser Vorschlag wird im März im Grossen Rat besprochen.

 Die Freiburger Regierung betont, dass rationelle Nutzung der Energie und Förderung von erneuerbaren Energiequellen im Vordergrund stehen müssen. Angesichts der voraussehbaren Stromlücke brauche es aber ein neues Kernkraftwerk, das durch Gaskraftwerke ergänzt wird. Der Staatsrat fordert vom Bundesrat verschiedene ergänzende Abklärungen, so bezüglich Bevölkerungsschutz. wb

 Bericht Seite 3

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Staatsrat: Ja zu Kernkraftwerk mit Auflagen

 Der Bau eines neuen Kernkraftwerks, allenfalls ergänzt mit Gaskombikraftwerken, ist nach Meinung des Staatsrates nötig. Dies schreibt er im Entwurf zur Stellungnahme an den Bund. Der Grosse Rat wird sich noch äussern können.

Walter Buchs

 Freiburg Der Staatsrat hat am Freitag den Entwurf seiner Stellungnahme an das Bundesamt für Energie im Rahmen des Bewilligungsverfahrens für neue Kernkraftwerke und den entsprechenden Bericht an den Grossen Rat veröffentlicht. Der Bericht endet mit drei Fragen an das Kantonsparlament, das sich in der Märzsession dazu äussern wird. Da es sich beim Bau neuer Kernkraftwerke um ein "sehr heikles Thema" handelt, hat die Regierung dieses Vorgehen gewählt, obwohl sie gemäss Kantonsverfassung für Stellungnahmen zu Bundesvorlagen allein zuständig und verantwortlich ist.

 "Nach Meinung des Staatsrates muss die Energiepolitik unbedingt vorrangig auf die rationelle Nutzung der Energie beziehungsweise auf die Reduktion des Energiebedarfs und auf die Nutzung erneuerbarer Energiequellen ausgerichtet bleiben." Dies schreibt die Regierung im Bericht an den Grossen Rat.

 Stromlücke überbrücken

 Die verfügbaren Studien zeigten aber, dass kurz- und mittelfristig neue Stromproduktionskapazitäten geschaffen werden müssen, so der Staatsrat. Dies sei insbesondere angesichts der Möglichkeiten zur Umsetzung von Stromsparmassnahmen, zur Nutzung des Potenzials von erneuerbaren Energiequellen und angesichts des Alters der bestehenden Kernkraftwerke nötig.

 "Folglich vertritt der Staatsrat die Meinung, dass der Bau neuer Grosskraftwerke nötig ist, um die Stromversorgungssicherheit während einer Übergangsphase gewährleisten zu können", heisst es im Bericht an den Grossen Rat weiter. Dies bedeute grundsätzlich den Bau eines neuen Kernkraftwerks, das gegebenenfalls durch neue Gaskombikraftwerke ergänzt wird.

 Gleichzeitig verlangt der Staatsrat im Entwurf der Stellungnahme vom Bundesrat, dass er nach dem Vorbild der deutschen Bundesregierung die Möglichkeit prüft, im Rahmen des Baus eines Kernkraftwerkes eine Gebühr zu erheben, "um über zusätzliche Mittel zur Förderung des rationellen Energieverbrauchs und zur Nutzung erneuerbarer Energien zu verfügen".

 Neben der eingehenden Prüfung der eingereichten Dossiers für neue Kernkraftwerke verlangt der Staatsrat vom Bund weitere Abklärungen. Diese betreffen namentlich den Bevölkerungsschutz im Fall eines Störfalls mit schwerem Kernschaden oder in Bezug auf die Erdbebengefahr. Auch solle ein Bau zwingend an die Bedingung geknüpft sein, dass "ein globales und kontrolliertes Abfallmanagement aufgestellt" wird.

 Erste Reaktion

 In einer Reaktion bezeichnet die SP Freiburg die Haltung des Staatsrates als "arrogant". Die Partei verlangt, dass wie in den Nachbarkantonen Bern und Waadt eine konsultative Volksabstimmung stattfindet. Im Bericht weist der Staatsrat darauf hin, dass auf Bundesebene das Stimmvolk das letzte Wort haben werde.

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BZ 19.2.11

Regierung ist für AKW

 Freiburg. Der Staatsrat ist für den Bau eines neuen Kernkraftwerks, allenfalls ergänzt mit Gaskombikraftwerken. Dies schreibt er im Entwurf zur Stellungnahme an den Bund.

 Eigentlich wäre der Freiburger Staatsrat für Stellungnahmen zu Bundesvorlagen alleine zuständig. Da es sich beim Bau neuer Kernkraftwerke um ein "sehr heikles Thema" handelt, hat die Regierung aber ein anderes Vorgehen gewählt. Gestern veröffentlichte sie den Entwurf ihrer Stellungnahme zum Bau neuer Kernkraftwerke, die für das Bundesamt für Energie gedacht ist. Dies ergänzt mit einem Bericht an den Grossen Rat. Dieser wird sich in der Märzsession dazu äussern können.

 Der Staatsrat vertritt die Ansicht, vorrangig sei Energie möglichst rationell zu nutzen. Der Energiebedarf müsse reduziert werden und auf die Nutzung erneuerbarer Energien ausgerichtet bleiben. Studien zeigten aber, dass kurz- und mittelfristig neue Kapazitäten für die Stromproduktion geschaffen werden müssten. "Folglich vertritt der Staatsrat die Meinung, dass der Bau neuer Grosskraftwerke nötig ist, damit die Stromversorgungssicherheit während einer Übergangsphase gewährleistet werden kann." Dies bedeute den Bau eines neuen Kernkraftwerks, allenfalls ergänzt durch neue Gaskombikraftwerke. Der Staatsrat verlangt vom Bundesrat nach deutschem Vorbild, für den Bau eines Kernkraftwerks eine Gebühr zu erheben und damit den rationellen Energieverbrauch sowie erneuerbare Energien zu fördern.

 In einer Reaktion bezeichnet die SP Freiburg die Haltung des Staatsrates als "arrogant". Sie verlangt, dass wie in den Kantonen Bern und Waadt eine konsultative Volksabstimmung stattfindet. Im Bericht weist der Staatsrat darauf hin, dass auf Bundesebene das Volk das letzte Wort haben werde.
 wb/lp

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Bund 19.2.11

Atomenergie

 Freiburger Regierung will nur eines statt zwei AKW

 Für den Freiburger Staatsrat braucht es lediglich ein neues Atomkraftwerk in der Schweiz. Bei zwei oder drei AKW bestehe die Gefahr, dass zu sorglos mit der Energie umgegangen werde, schreibt er in seiner Stellungnahme zu neuen Kernkraftwerken an den Bund. Energiepolitik müsse primär auf die rationale Nutzung der Energie und erneuerbare Energien ausgerichtet sein.(sda)

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La Liberté 19.2.11

Le Conseil d'Etat pour la construction d'une seule nouvelle centrale nucléaire

 Consultation ● Dans sa réponse aux autorités fédérales, le Conseil d'Etat fribourgeois estime qu'une seule nouvelle installation se justifie à ce jour.
 
Olivier Wyser

 Le Conseil d'Etat fribourgeois se prononce favorablement à la réalisation d'une seule nouvelle centrale nucléaire. Pour autant que celle-ci soit complétée avec des centrales à gaz à cycles combinés. En revanche, l'option de trois, voire de deux nouvelles centrales ne se justifie pas.

 Invité comme tous les autres cantons à donner son avis avant le 7 avril sur les demandes d'autorisation pour trois nouvelles centrales nucléaires, le Conseil d'Etat fribourgeois a dévoilé hier sa prise de position. Elle va être mise en discussion au Grand Conseil lors de la session de mars, mais uniquement à titre consultatif. Le Conseil d'Etat se déterminera donc souverainement et entend ainsi se conformer à la Constitution cantonale, qui ne l'oblige pas à soumettre au peuple ses réponses à des consultations fédérales ("La Liberté" du 12 février).

 La réponse rédigée à l'intention des autorités fédérales contient néanmoins encore quelques passages vides. Ils seront comblés par les principaux points mis en exergue lors de la consultation au Grand Conseil.

 Une seule centrale

 Pour le Conseil d'Etat, la priorité de la politique énergétique doit impérativement rester axée sur l'utilisation rationnelle de l'énergie. Reste qu'à court et moyen terme "la création de nouvelles grandes capacités de production d'électricité s'impose". Par conséquent, "si la sécurité d'approvisionnement en électricité consiste à assurer notre propre production à moyen et à long termes, alors la construction en principe d'une seule centrale nucléaire se justifie à ce jour, avec la complémentarité à court et moyen termes de centrales à gaz à cycles combinés".

 Une telle démarche "conditionne néanmoins le monde politique à prendre ses responsabilités par rapport aux défis qu'il s'est engagé à relever en matière de réduction de la consommation d'énergie et de valorisation des énergies renouvelables", écrit encore le Conseil d'Etat. Et de citer en exemple le Gouvernement allemand qui prévoit une taxe pour l'encouragement des nouvelles ressources énergétiques renouvelables en lien avec la prolongation des centrales nucléaires existantes.

 Pas d'excédent de courant

 La construction simultanée d'une seconde centrale nucléaire en Suisse constituerait en l'état "un oreiller de paresse défavorable en vue d'atteindre les objectifs de la politique énergétique". Elle créerait un probable excédent d'électricité et agirait "immanquablement au détriment du développement des énergies renouvelables".

 Pour rappel, les Vaudois ont pu se prononcer en novembre 2009 sur la prolongation de l'exploitation de la centrale nucléaire de Mühleberg. A près de deux contre un, ils ont demandé à leur gouvernement de formuler un préavis négatif. Les citoyens bernois ont pour leur part donné le week-end dernier un préavis positif, à une très courte majorité de 51,2%. I

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 Les socialistes exigent un vote

 Réagissant à la prise de position du Conseil d'Etat, le Parti socialiste fribourgeois s'est fendu hier d'un communiqué demandant au gouvernement cantonal qu'il renvoie sa décision et s'engage à demander l'avis du peuple. "Le Conseil d'Etat propose de construire une super-centrale et de créer des super-risques. Cette position est coupée de la réalité, dès lors que tous les cantons directement concernés ont pris une position beaucoup plus mesurée", estiment les socialistes. En effet, les citoyens des cantons de Vaud et de Berne ont pu donner leur avis.

 Les socialistes déplorent également "la très frileuse position en faveur des énergies renouvelables", qui ressemble selon eux à un "cache-sexe destiné uniquement à la communication".

 "C'est fermer la porte à l'impulsion qu'on pourrait donner maintenant sur les énergies renouvelables", a relevé hier le député socialiste de Bulle Nicolas Rime en marge d'une conférence de presse (lire en p. 15). Et de regretter que le nucléaire n'apporte pas d'emploi dans le canton de Fribourg. Les socialistes soulèvent également qu'une partie importante du territoire fribourgeois se trouve située dans une région qui pourraît être touchée par un accident de la centrale de Mühleberg. "Il est donc essentiel que l'avis du canton de Fribourg soit fondé sur celui de sa population, seule autorité légitime pour prendre une telle décision."

 "On va se joindre aux chrétiens-sociaux pour que la population puisse se prononcer", annonce le député Nicolas Rime. En effet, le PCS vient de lancer une motion populaire visant à permettre au peuple fribourgeois de s'exprimer à l'avenir sur les questions de production d'énergie atomique, ainsi que sur le transport et l'entreposage de matériel radioactif. OW/PHC

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Tribune de Genève 19.2.11

Fribourg se prononce pour une seule centrale

 La consultation des cantons sur le nucléaire continue: le Conseil d'Etat fribourgeois a donné sa réponse hier

 Le Conseil d'Etat fribourgeois n'est pas contre le nucléaire mais s'oppose à la construction de trois ou même deux nouvelles centrales. Pour lui, une seule nouvelle installation se justifie, pour autant qu'elle soit complétée avec des centrales à gaz à cycles combinés.

 La construction simultanée d'une seconde centrale nucléaireen Suisse constituerait en l'état "unoreiller de paresse défavorable", estime le Conseil d'Etat. Elle créerait un probable excédent d'électricité, ce qui irait à l'encontre d'une utilisation rationnelle de l'énergie et d'un développement des énergies renouvelables. Invité comme tous les autres cantons à prendre position d'ici au 7   avril sur les demandes d'autorisation pour trois centrales nucléaires, le Conseil d'Etat fribourgeois a dévoilé hier sa réponse. Il la présentera en mars au Grand Conseil, mais à titre consultatif. Dimanche dernier, 51,2% des citoyens bernois ont approuvé à titre consultatif un remplacement de la centrale de Mühleberg. Au lendemain de ce vote, le Conseil d'Etat neuchâtelois s'est prononcé contre la construction de nouvelles centrales nucléaires, préférant miser sur les centrales à gaz pour combler une pénurie d'électricité.

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Aargauer Zeitung 19.2.11

Tiefenlager in Schwaderloch?

 Endlager Die Gemeinde als Standort für ein Tiefenlager. Als vehementer Befürworter eines solchen Vorhabens zeigt sich Rolf Häusler, Gemeindeammann von Schwaderloch, im "TagesAnzeiger" vom 18. Februar. Im Gespräch mit der az Aargauer Zeitung distanziert sich Häusler von einigen Aussagen. Fakt sei, dass Schwaderloch in den Perimeter von "Jura ost" möchte. Der Gemeinderat erwarte dadurch eine bessere Einbindung in den Entscheidungsprozess wie auch einen besseren Zugang an relevanten Informationen. Die Behörde möchte verhindern, dass bei einer allfälligen Entschädigungspraxis, die sich am Perimeter orientiert, die Gemeinde wieder leer ausgehen könnte. Damit geht Häusler auf die Nähe von Schwaderloch zu den beiden Kernkraftwerken Leibstadt und Beznau ein. Diese profitieren als Standorte finanziell. Auf die Frage nach einem Platz für eine Aussenanlage fürs Tiefenlager erklärt Häusler, dass es zwischen Schwaderloch und Leibstadt ein gut erschlossenes Gebiet, teilweise Industrieland und Landwirtschaftsland gebe. "Diese Frage stellt sich zum jetzigen Zeitpunkt des Projektes aber absolut nicht", so der Gemeindeammann. Auch sei in Schwaderloch der Grossteil der Bevölkerung gegen ein derartiges Vorgehen.

 Die Region stünde Kernkraftwerken mehrheitlich positiv gegenüber, weiss Häusler. "Ich bin überzeugt, dass wir mittelfristig nicht auf Kernenergien verzichten können. Ich vertrete jedoch auch die Meinung, dass parallel dazu die erneuerbaren Energien gefördert werden müssen." (SH)

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St. Galler Tagblatt 19.2.11

Alpiq trotzt der Stromflut

 Trotz Stromschwemme und Euro-Schwäche sind die Gewinne des Stromkonzerns Alpiq weniger eingebrochen als jene der Axpo. Das ist besser für seine Aktionäre als für seine Stromkunden.

 Hanspeter Guggenbühl

 Zürich. Für Schweizer Stromproduzenten sind die fetten Jahre seit Mitte 2008 vorbei. Denn die Wirtschaftskrise liess den Stromverbrauch in Europa und die europäischen Marktpreise sinken. Damit wuchsen die Überkapazitäten in der Produktion. Zusätzlich schmälerte der Kursverfall des Euro den Profit der exportorientierten Schweizer Stromproduzenten.

 Die aktuelle Lage spiegelt sich auch im jüngsten Geschäftsergebnis der Alpiq Holding, welche die Produzentin und Händlerin Atel sowie die versorgungsorientierte Westschweizer EOS vereinigt: Der Umsatz der Alpiq sank um 5% auf 14,1 Mrd. Franken. Der Betriebsgewinn nahm um 9% auf 970 Mio. Fr. ab und der Reingewinn um 5% auf 645 Mio. Franken. Den Absatz der Energiemenge in Kilowattstunden hingegen konnte die Alpiq um 8% ausweiten - und damit ihren Anteil am europäischen Strommarkt gleich stark vergrössern wie ihre Schweizer Konkurrentin Axpo.

 "Alpiq behauptet sich gut"

 Eine Rendite von 4,6% (Reingewinn gemessen am Umsatz) ist nicht gerade berauschend. Trotzdem schreibt die PR-Abteilung "Alpiq behauptet sich gut". Das stimmt sogar. Denn bei der Axpo sind Umsatz (-17%) und Reingewinn (-28 %) viel stärker eingebrochen. Zum einen liegt das daran, dass die Atel im jüngsten Geschäftsjahr geschickter geschäftet hat als die Axpo-Handelstochter EGL. Zum anderen liegt das an der unterschiedlichen Struktur der beiden Schweizer Stromgiganten:

 • Bei der Alpiq spielt der internationale Stromhandel eine grössere Rolle als bei der stärker produktionsorientierten Axpo. Die Alpiq konnte so die tiefen Marktpreise in höherem Ausmass durch tiefere Bezugspreise auf dem Europa-Markt kompensieren als die Axpo; diese produziert einen grösseren Anteil ihres Stroms in inländischen AKW und Wasserkraftwerken und damit zu wenig beeinflussbaren Gestehungskosten.

 • Das Niveau der Stromtarife in den Versorgungsmonopolen der Alpiq, nämlich in der Westschweiz und im Raum Olten/Baselland, ist im Schnitt deutlich höher als in der Nordostschweiz als wichtigstem Versorgungsmonopol der Axpo. Das heisst: Die Alpiq erzielt bei sinkenden Marktpreisen eine höhere Monopolrente. Die Axpo hingegen hat ihre Monopolkundschaft bis zur Tariferhöhung ab 2011 mit schrumpfenden Markterlösen quersubventioniert.

 Aktionäre kontra Kunden

 Was schlecht ist für die Strombezüger der Alpiq in der West- und Nordwestschweiz ist gut für die Alpiq-Aktionäre - vom französischen Energiekonzern EDF über die Westschweizer Kantone, den Kanton Solothurn und die Stadt Aarau bis zu den Basler Verteilgesellschaften. So beantragt die Alpiq-Führung der GV eine stabile Dividende von 237 Mio. Franken. Die Dividende an die Eigentümerkantone der Axpo in der Nordostschweiz hingegen sinkt von 140 Mio. auf 80 Mio. Franken. Das zeigt: Von der Alpiq profitieren primär die Aktionäre, während die Axpo primär die Stromverbraucher in ihrem Versorgungsmonopol mit zu tiefen Tarifen belohnt.

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Newsnetz 19.2.11

Fernsehen

 TV-Kritik: Seniorin bewahrte "Arena" vor zu viel Nettigkeit

Martin Sturzenegger

 Gestern gab der neue "Arena"-Moderator Urs Wiedmer seinen Einstand. Den grössten Aufreger der Sendung lieferte aber nicht er, sondern eine Atomphysikerin.

 Die Anspannung stand Moderator Urs Wiedmer bei der Anmoderation ins Gesicht geschrieben: Freundlich stieg er ein, auf eine klare Wortwahl bedacht, aber auch mit versteifter Mimik. Kein Wunder: Die "Arena"-Sendung von gestern Abend "AKW Ja - Endlager Nein" war schliesslich seine Feuertaufe.

 Der 46-jährige Berner tritt die Nachfolge von Reto Brennwald an, der den Job nicht schlecht gemacht hatte. Aber unter der Fuchtel des neuen SRG-Direktors Roger de Weck soll die Sendung sachlicher werden, weniger Polemik verbreiten und vermehrt auch wieder Mitteparteien zu Wort kommen lassen. Das Thema des Abends war geschickt gewählt um diesem Anspruch gleich bei Wiedmers Premiere gerecht zu werden. Energiepolitik ist schliesslich nicht eben eine Angelegenheit, die an Schweizer Stammtischen für rote Köpfe sorgt.

 Holpriger Einstieg

 Was in der Arena für einmal mindestens so stark interessierte wie das Thema, war die Performance des neuen Dompteurs. Bei der Vorstellungsrunde musste der Zuschauer schon ein erstes Mal die Luft anhalten: Wiedmer verhaspelte sich bei der Vorstellung des CVP-Regierungsrates und Präsident der kantonalen Energiedirektorenkonferenz Peter Vonlanthen. Es kamen Erinnerungen an eine Panne aus dem Jahr 2008 hoch, als Wiedmer bei einem Bericht über den Kollaps von Hans-Rudolf Merz vor laufender Kamera die Stimme versagte. Er verhaspelte sich - und wurde danach in den Medien harsch kritisiert.

 Doch so weit sollte es an diesem Abend nicht kommen: Während der gesamten Sendung blieb dies der einzige wirkliche Schnitzer, den Wiedmer sich leistete. Für Aufreger sorgten die Diskussionsteilnehmer. Auf dem Kampffeld der Arena standen sich der grünliberale Nationarat Martin Bäumle, der Greenpeace-Geschäftsführer Kaspar Schuler, auf der Gegenseite Heinz Karrer, Chef der Axpo Holding AG und der erwähnte Beat Vonlanthen.

 Der Diskurs handelte von den Folgen der letzten Abstimmungsonntags, an dem über zwei Vorlagen zur Energiepolitik entschieden wurde: Die Berner Bevölkerung stimmte einem allfälligen Ersatz des Atomkraftwerks Mühleberg knapp zu. Am gleichen Tag sagten die Nidwaldner deutlich nein zu einem Endlager am Wellenberg. Zwei kantonale Abstimmungen also, die aber für die gesamtschweizerische Entwicklung der Energiepolitik wegweisenden Charakter haben und grundlegende Fragen aufwerfen: Ist Atomstrom erwünscht, der Abfall aber nicht? Wie viel Atomstrom braucht das Land? Wie gefährlich ist der radioaktive Müll? Und: Ist es legitim, neue Atomkraftwerke zu planen ohne vorher die Endlager-Frage zu klären?

 Neue AKWs als Zeichen des "Stillstands"

 Die Positionen waren schnell ausgemacht: Martin Bäumle versuchte das Bild des visionären Denkers zu vermitteln. Der wortgewaltige Grünliberale warf den Stromkonzernen und der Politik aus dem rechten Lager "Stillstand" vor. Die Planung von neuen Atomkraftwerken (AKW) kämen heutzutage einer Blockade gleich, weil diese viel Geld auffressen würden, das ebenso gut in die Entwicklung von erneuerbaren Energien gesteckt werden könne. Die Schweiz hinke im innereuropäischen Vergleich vielen anderen Ländern hinterher.

 Die Gegenseite rechtfertigte den Bau von weiteren AKWs mit dem Argument des höheren Strombedarfs und mit einer drohenden Energielücke. "Für eine sichere Stromversorgung braucht es künftig noch mindestens ein zusätzliches Kraftwerk", lautete eine der wenigen konkreten Aussagen, die Moderator Wiedmer dem PR-gewandten Karrer entlocken konnte. Im Falle einer Volksabstimmung bescheinigte aber Kaspar Schuler von Greepeace dem Bau von weiteren Reaktoren praktisch keine Chancen: "Spätestens im Jahr 2013 wird die Bevölkerung das Vertrauen in erneurbare Energien gefunden haben." Während der gesamten Sendung übte sich Moderator Wiedmer in höflicher Zurückhaltung und liess die Diskutierenden gewähren. Dies hatte zur Folge, dass sich die Anwesenden oft auf ihre vorbereitenden Statements stützen konnten. Während sich Vorgänger Reto Brennwald wohl eher einmal vorgewagt hätte, um den Gästen die eine oder andere überraschende Aussage zu entlocken, vermied Wiedmer das Risiko und blieb weitgehend harmlos, gleichzeitig aber auch charmant, souverän und phasenweise humorvoll. Ein Nachhaken hätte der Diskussion an mehreren Stellen gutgetan. Zum Beispiel dann, als Karrer die Antwort schuldig blieb, weshalb er der Einladung von Greenpeace nach Majak nicht nachkam. Majak ist eine kerntechnische Anlage in Sibirien, die wegen umstrittenen Uranaufbereitungsmethoden in die Schlagzeilen geriet. Die Gegend gilt als verseucht; zahlreiche Bewohner sind an Krebs erkrankt, Kinder kamen entstellt zur Welt. Auch die Axpo bezog Rohstoff von dieser Anlage.

 Polarisierende Atomphysikerin

 Wer die Situation schliesslich beinahe zum entgleisen brachte, war nicht ein Politiker oder ein Umweltaktivist, sondern eine rüstige Seniorin. Im letzten Drittel der "Arena" und kurz bevor die Sendung drohte sich in Nettigkeiten zu verlieren, meldete sich die Nuklearphysikerin Irene Aegerter zu Wort. Die kauzig anmutende Wissenschaftlerin, die seit mehreren Dekaden auf dem Gebiet forscht, liess sich zu polarisierenden Aussagen hinreissen, welche die mögliche Gefahr eines atomaren Endlagers relativierten. Mit ihrem Vergleich zwischen Atom-Müll und einem Fingerhut zog sie den Ärger eines Gutteils der Arena auf sich: "Solch zynische Aussagen sollten sie besser lassen", entgegnete Martin Bäumle. Beat Jans, Vertreter der Bewegung "Nie wieder AKW", bekundete: "Mit solchen Aussagen habe ich extrem Mühe." Es sollte der einzig wirkliche Aufreger einer Arena bleiben, die wenig wagte, aber wohl auch deshalb nichts verlor. Und für Urs Wiedmer war es eine unspektakuläre Feuertaufe, aber noch lange nicht das Ende seiner Bewährungsprobe - die nächsten Sendungen sollt er nutzen, sich ein eigenes Profil anzueignen. Denn davon war gestern nicht allzu viel zu sehen.

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Arena sf.tv 18.2.11
http://www.sendungen.sf.tv/arena/Sendungen/Arena

AKW Ja - Endlager Nein

Die Berner Bevölkerung hat am Sonntag einem allfälligen Ersatz des Atomkraftwerks Mühleberg knapp zugestimmt. Am gleichen Tag sagten die Nidwaldner deutlich Nein zu einem Endlager am Wellenberg. Ist also Atomstrom erwünscht, der Abfall aber nicht? Wie viel Atomstrom braucht das Land? Wie gefährlich ist der Abfall? Und: Ist es legitim, neue Atomkraftwerke zu planen ohne die Endlager-Frage zu klären?

Es diskutieren unter anderen:
- Martin Bäumle, Präsident Grünliberale, Nationalrat GLP/ZH
- Heinz Karrer, CEO Axpo Holding
- Kaspar Schuler, Geschäftsführer Greenpeace Schweiz
- Beat Vonlanthen, Präsident der kant. Energiedirektorenkonferenz, Regierungsrat CVP/FR

Wiederholungen:
Samstag, 19. Februar 2011
SF1: 02.45 Uhr und 15.30 Uhr
SF info: zwischen 08.00 und 13.00 Uhr

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Bund 18.2.11

EWB wehrt sich gegen "Dreckschleuder"-Betitelung

 Eine Woche nach der Konsultativabstimmung zum AKW Mühleberg wehrt sich Energie Wasser Bern gegen ein Inserat des überparteilichen Komitees "Ja zu Mühleberg". In diesem Inserat sei das Gas- und Kombikraftwerk im Forsthaus wiederholt als "CO2-Dreckschleuder" bezeichnet worden. Dies sei wider besseres Wissen erfolgt - diese "verzerrende Darstellung" weist das EWB deshalb "entschieden" zurück, wie das Unternehmen in einer Mitteilung schreibt. Zudem suggeriere der Inseratetext, EWB habe die Bevölkerung bewusst falsch informiert, da die Anlage gar keine erneuerbare Energie produziere. Diese Behauptungen sind gemäss EWB "falsch", denn der Strom aus dem Gas- und Kombikraftwerk sei nie als erneuerbare Energie bezeichnet worden. "Richtig ist, dass es eine sehr effiziente und daher umweltfreundliche Form der Stromproduktion ist."(pd)

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Bund 18.2.11

Bundesrat fordert Transparenz bei Uran

 Schweizer Atomkraftwerke sollen auch künftig nicht nachweisen müssen, dass das von ihnen verwendete Uran nach internationalen Umwelt- und Sozialstandards abgebaut und verarbeitet worden ist. Der Bundesrat stellt sich gegen eine Motion mit dieser Forderung. Er verlangt aber mehr Transparenz.

 Er sei sich der Problematik bewusst, schreibt der Bundesrat in der gestern Donnerstag veröffentlichten Antwort auf eine Motion von Nationalrat Beat Jans (SP, BS). Der Bund habe deshalb die Betreiber der Schweizer Atomkraftwerke aufgefordert, Informationen über die Herkunft der Kernmaterialien und die Herstellung von Brennelementen zu liefern.

 Anschliessend werde zu klären sein, ob weitere Massnahmen möglich seien. Der Bund könne jedoch keine Kontrollen im Ausland durchführen, hält der Bundesrat fest. Die Durchsetzung internationaler Umweltstandards sei wohl nur über internationale Organisationen zu erreichen.(sda)

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Blick 18.2.11

Bundesrat lässt die AKW-Betreiber strahlen

 Bern - Der Bundesrat hat gestern den Schweizer AKW-Betreibern gleich doppelte Freude gemacht. Er stellt sich gegen parlamentarische Vorstösse, die AKW-Betreiber verstärkt in die Verantwortung nehmen wollten. So werden diese weiterhin nicht nachweisen müssen, dass ihre Uran-Brennstäbe nach internationalen Umwelt- und Sozialstandards abgebaut und verarbeitet worden sind. Ebenso hält die Regierung nichts vom Vorschlag, dass die Atomindustrie auch für die Kosten aufkommen soll, die entstehen, wenn Atommüll aus einem allfälligen Tiefenlager geborgen werden müsste.

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Tagesanzeiger 18.2.11

Rolf Häusler Der Gemeindepräsident bietet sein Dorf Schwaderloch als möglichen Standort für das Tiefenlager an.

 Unser Mann für radioaktiven Müll

Von Simone Rau

 Sie sagen Dinge wie: "Ein Tiefenlager in unserer Region kommt nicht infrage" oder "Wir wollen den Atommüll nicht". Er sagt: "In unserem Dorf haben wir ein geeignetes Gebiet für die Aussenanlagen des Tiefenlagers." Sie protestieren, er bietet sich an. Rolf Häusler, 49 Jahre alt und Gemeindepräsident des aargauischen Schwaderloch, ist eine Ausnahmeerscheinung in der Diskussion um das geplante Tiefenlager für radioaktive Abfälle.

 Während die meisten zwar von Atomkraftwerken profitieren, aber nichts mit dem anfallenden Müll zu tun haben wollen, will Häusler Verantwortung übernehmen. Er ist überzeugt, dass radioaktive Abfälle dort entsorgt werden sollen, wo sie entstehen. "Man fährt den Abfallsack ja auch nicht durch die halbe Schweiz in die Verbrennungsanlage", sagt er.

 Schwaderloch biete optimale Voraussetzungen für den Eingang zum Tiefenlager, so der Gemeindepräsident. Da sei etwa die Nähe zu den Kernkraftwerken Leibstadt und Beznau, weshalb man von kurzen Transportwegen profitieren könne. Oder die Tatsache, dass das Dorf verkehrsmässig gut erschlossen sei und in einem ebenen Gebiet liege. Zu dieser Ansicht, betont Häusler, sei übrigens auch ein Student in einer Diplomarbeit gelangt. Das geeignete Gelände - Schwaderlochs Industriegebiet - liege zudem ausserhalb des Dorfes. Für Häusler ein weiterer Pluspunkt.

 Der umtriebige Gemeindepräsident versteht es, Schwaderloch geschickt zu verkaufen. Weiss er doch genau, was seiner 700-Seelen-Gemeinde der Bau des Tiefenlagers bringen würde. Er spricht von "Arbeitsplätzen" und "Geld" und "Aufschwung". Um dann anzufügen: "Wir haben ein geeignetes Gebiet. Dies heisst aber nicht, dass wir für ein derartiges Projekt auch eine Mehrheit bei den Stimmbürgern finden würden." Sowieso sei eine mögliche Lagerung radioaktiver Abfälle unter seinem Dorf "Zukunftsmusik".

 Damit hat er recht: Noch kommen neben Jura Ost (früher: Bözberg) fünf weitere Standortregionen für das Tiefenlager infrage. Und vorerst gehört Schwaderloch nicht einmal zum Planungsperimeter der Standortregion Jura Ost. Das passt dem Gemeindepräsidenten überhaupt nicht. Er befürchtet, dass dieser als Abgrenzung für zukünftige Entschädigungen dienen wird. "Die Gemeinden innerhalb des Perimeters werden entschädigt, die Gemeinden ausserhalb des Perimeters gehen leer aus. Deshalb müssen wir zwingend in diesen Perimeter." Einen entsprechenden Antrag habe der Gemeinderat bei der Nationalen Genossenschaft zur Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) bereits eingereicht.

 Erneut leer auszugehen bei einer Abgeltung, wäre für Häusler ein Gräuel. Bereits jetzt hat Schwaderloch nichts von seiner Nähe zu Leibstadt und Beznau. Das Energiegesetz will, dass nur die Standortgemeinden selbst finanziell entschädigt werden. "Wir befinden uns in der Gefahrenzone 1 von zwei Kernkraftwerken, bekommen aber keine Abgeltung dafür. Das ist eine Schweinerei."

 Häusler, der sich auch von Berufes wegen mit Energie beschäftigt - er leitet bei den Industriellen Betrieben Wohlen die Abteilung Qualität und Sicherheit -, ist überzeugt von der Notwendigkeit der Kernkraftwerke. Und seiner Idee. Ganz im Gegensatz zu vielen im Dorf: Sie fühlen sich mit Leibstadt und Beznau schon genug belastet.

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71 Zürcher sind im Endlager-Team

 Der Kanton hat die meisten Vertreter in einer Gruppe, welche die Mitsprache bei der Standortsuche regelt.
 
Von Mischa Weber

 Die Bevölkerung soll bei der Standortwahl für das geplante Tiefenlager für radioaktive Abfälle mitreden können. Zu diesem Zweck baut das Bundesamt für Energie (BFE) sogenannte Startteams auf. 120 Personen werden jenes des Standorts Lägern-Nord bilden, erklärt Peter Zust vom Forum Lägern-Nord. 71 dieser "Sitze" gehen an den Kanton Zürich, 28 an den Aargau, 4 an Schaffhausen und 17 an Deutschland.

 Aufgabe der Startteams ist es laut BFE, zu zeigen, wie sich die möglichen Standortregionen in das Wahlverfahren einbringen können. Dies, ohne "für oder gegen ein Tiefenlager zu sein". Es gehe einfach darum, sicherzustellen, dass der Prozess sauber starte.

 Die Startteams sollen laut BFE zu 30 bis 50 Prozent aus Behördenmitgliedern der entsprechenden Gemeinden bestehen und zu 30 bis 50 Prozent aus organisierten Interessengruppen wie etwa atomkritischen Vereinen. Mindestens 10 Prozent der Mitglieder sollen "nicht organisierte Bevölkerungsgruppen" vertreten. "Diese Vorgaben sind eher als Vorschlag zu verstehen", sagt Peter Zust. Genügend Mitglieder zu finden, sei eine Herausforderung.

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NZZ 18.2.11

Tiefenlager-Diskussion in 51 Zürcher Gemeinden

 Zwei der möglichen Standortregionen liegen im Kanton Zürich

 rsr. · Bis im Jahr 2030 soll die Schweiz ein erstes Tiefenlager für radioaktive Abfälle erhalten. Dessen Standort soll indes bereits 2015 bestimmt werden. Zur Auswahl stehen sechs Regionen in der Deutschschweiz, zwei davon liegen hauptsächlich im Kanton Zürich: das Gebiet "Nördlich Lägern" zwischen dem Rhein und der Lägern und "Zürich Nord-Ost" im Weinland. Zudem fallen 8 Zürcher Gemeinden in den Planungsperimeter der Region "Südranden" im Kanton Schaffhausen.

 Insgesamt sind somit 51 Gemeinden im Kanton Zürich als Standortgemeinden oder in der erweiterten Planung von den Überlegungen des Bundesamts für Energie betroffen. Dieses hat nun bekanntgegeben, wie lokale Interessen in den Planungsprozess eingebunden werden sollen (NZZ 17. 2. 11). In allen sechs möglichen Standortregionen wird demnach ein Partizipationsverfahren gestartet, dessen Kernstück die Regionalkonferenzen sind. Hierfür stellen die Kernkraftwerkbetreiber jeder Region etwa 500 000 Franken pro Jahr zur Verfügung. Nun liegt es an den einzelnen Regionen, das Verfahren in Gang zu setzen. In "Zürich Nord-Ost" geschieht dies unter der Leitung des Gemeindeschreibers von Trüllikon, Christof Peyer. 16 Personen gehörten dem sogenannten Start-Team an, das die Regionalkonferenz lancieren soll, erklärt Peyer. Dazu zählten zum Beispiel Vertreter der Zürcher, Schaffhauser, Thurgauer und deutschen Gemeinden. Sie planen nun die Aufbauforum genannte Informationsveranstaltung, bei der einige der 1503 Gruppen in der Region - Parteien, Vereine und Institutionen -, aber auch Einzelpersonen zur Teilnahme an der Regionalkonferenz motiviert werden sollen. Bis 2015 hat diese Zeit, eine regionale Lösung zu finden, bei der sich kein Interessenvertreter übergangen fühlt.

 In der Region "Nördlich Lägern" sind die Arbeiten an einem ähnlichen Punkt angelangt. Mediensprecher Peter Züst erklärt, es seien fünf Aufbauforen in Vorbereitung. Die grösste Herausforderung werde wohl darin bestehen, auch junge Leute für eine Mitarbeit in der Regionalkonferenz zu gewinnen. Diese müssten aber am meisten interessiert sein, handelt es sich doch um einen Prozess, der noch Jahrzehnte dauert.

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Aargauer Zeitung 18.2.11

Wer in der Tiefenlagerfrage mitreden darf

 Bei der Suche nach Standorten für ein Tiefenlager für radioaktive Abfälle will der Bund die Interessen und Bedürfnisse der betroffenen Bevölkerung berücksichtigen. Das Bundesamt für Energie (BFE) hat für die dazu nötigen Partizipationsverfahren nun die Regeln festgelegt. Ziel ist es, dass die Verfahren in allen möglichen Standortregionen nach vergleichbaren Regeln ablaufen.

 Durchgeführt werden sollen die Verfahren von so genannten Regionalkonferenzen. Je nach Region sollen in diesen Gremien 50 bis maximal 150 Entscheidungsträger aus Politik, Wirtschaft, Gewerbe sowie Vertreter von Interessenverbänden mitarbeiten. 30 bis 50 Prozent sollen Behördenmitglieder der betroffenen Gemeinden sein. Dabei sollen Gemeinden, die stärker betroffen sind, eine grössere Vertretung erhalten. Bei grenznahen Standorten sollen auch Vertreter deutscher Gemeinden mitmachen dürfen.

 30 bis 50 Prozent der Mitglieder dieser Regionalkonferenzen sollen aus organisierten Interessengruppen wie etwa atomkritischen Vereinen, aber auch Gewerbeverbänden rekrutiert werden. Mindestens zehn Prozent der Mitglieder sollen "nicht organisierte Bevölkerungsgruppen" vertreten. Die Arbeit der Regionalkonferenzen wird mehr als vier Jahre dauern. Ihr Ziel ist es unter anderem, Vorschläge zur Anordnung und Ausgestaltung der oberirdischen Infrastrukturen auszuarbeiten. Ausserdem sollen die Konferenzen die sozioökonomischen und raumplanerischen Auswirkungen eines Tiefenlagers untersuchen und Projekte für die nachhaltige Entwicklung der Region ausarbeiten. (sda)

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St. Galler Tagblatt 18.2.11

Atommüll gibt zu diskutieren

 Der Bund will die Interessen der Bevölkerung bei den Abklärungen für ein atomares Tiefenlager berücksichtigen - darunter sind auch Thurgauer Gemeinden. Das Bundesamt für Energie (BFE) hat gestern die Regeln für ein solches "Partizipationsverfahren" festgelegt. Das Mitwirkungsverfahren soll in allen sechs Standortregionen, die für ein atomares Tiefenlager in Frage kommen, gleich ablaufen.

 Durchgeführt wird es von sogenannten Regionalkonferenzen. In diesen Konferenzen sollen 50 bis maximal 150 Vertreter aus Politik, Wirtschaft, Gewerbe sowie Exponenten von Interessenverbänden mitarbeiten. (ck)
Inland 5

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Atommüll: Alle sollen mitreden

 Regionen, die für ein atomares Tiefenlager in Frage kommen, dürfen bei den Abklärungen mitwirken. Entsprechende Strukturen werden aufgebaut. Auch im Kanton Thurgau, der an ein mögliches Endlager Benken (ZH) grenzt.

 Christian Kamm

 Langsam, aber sicher wird es ernst. Im Prozess, der letztlich zu einem geologischen Tiefenlager für radioaktive Abfälle führen soll, hat der Bund gestern eine neue Etappe gestartet. Mitwirken ist angesagt. An allen sechs möglichen Standortregionen wird unter dem Banner "regionale Partizipation" ein Prozess angestossen, welcher der Bevölkerung und den Interessengruppen vor Ort eine Plattform geben will. Damit soll ein "transparentes und faires Verfahren" sichergestellt werden.

 Stark: "Vorbildliches Vorgehen"

 Den Thurgauer Baudirektor hat der Bund bei seinen Bemühungen schon einmal auf seiner Seite. Regierungsrat Jakob Stark lobt das Vorgehen auf Anfrage als "vorbildlich". Der Thurgau muss auch alles Interesse daran haben. Denn als einziger Ostschweizer Kanton befindet er sich mit im Visier der Endlager-Fahnder. Die drei westlichsten Thurgauer Gemeinden Diessenhofen, Basadingen und Schlatt gehören zur Standortregion eines möglichen Tiefenlagers im zürcherischen Benken. Und sind demzufolge vom Standortentscheid, der Ende dieses Jahrzehnts fallen wird, direkt betroffen.

 Drei Hauptaufgaben

 Bereits in diesem Herbst soll die Mitwirkung vor Ort organisiert sein. Die entsprechende Aufbauarbeit, die in allen Regionen nach den gleichen Regeln abläuft, werden sogenannte "Startteams" leisten. "Ich erwarte, dass die Bevölkerung ernst genommen wird", setzt Regierungsrat Stark grosse Hoffnungen in das jetzt lancierte Projekt. Die lokale Bevölkerung müsse einerseits umfassend informiert werden und andererseits laufend Gelegenheit haben, Fragen zu stellen.

 Wunder erwarten darf man von diesem neuen Instrument allerdings keine. Im Kern geht es lediglich darum, dass ab dem kommenden Herbst in drei Bereichen mitgeredet werden kann: Bei der Konkretisierung der Oberflächenstruktur der Lager, bei den Untersuchungen der sozialen, ökonomischen und raumplanerischen Auswirkungen sowie bei Projekten für eine nachhaltige Entwicklung.

 Grüne: "Unverbindlich"

 Genau dieser Umstand stösst den Grünen sauer auf. "Der heute vom Bund lancierte partizipative Prozess blendet die wahren Probleme aus, ist unverbindlich und wird zu massiven Widerständen führen", kritisiert die Grüne Partei in einer Mitteilung. Mit einer parlamentarischen Initiative fordern die Grünen deshalb die Wiedereinführung des Mitspracherechts der Kantone bei Atommülllagern.

 Für Jakob Stark ist denkbar, dass sich das Thema Endlager nun auch im Thurgau "politisch aufladen" wird. Was er persönlich allerdings nicht hoffe. "Denn grundsätzlich haben wir ein Sachproblem zu lösen: die Lagerung von radioaktiven Abfällen." Dass die Diskussion im Thurgau zurzeit noch auf Sparflamme kocht, bestätigt auch Armin Jungi, Stadtschreiber der grössten betroffenen Thurgauer Gemeinde Diessenhofen. "Ein heisses Thema am Stammtisch ist es nicht."

 Von einer organisierten Mitwirkung erwartet Jungi zwar eine Belebung der Debatte, aber nicht wirklich neue Erkenntnisse. Die Bevölkerung sei in der Frage Atommüll gespalten und werde das wohl bleiben.

 Auch für den Fall, dass die jetzt angestossene Beteiligungsmöglichkeit vor Ort gar nicht oder nur schleppend genutzt wird, hat das Konzept des Bundes - in typisch schweizerischer Gründlichkeit - übrigens vorgesorgt. Dann sollen Anreize helfen - zum Beispiel eine finanzielle Entschädigung.

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 Drei Etappen

 Die Rahmenbedingungen für die Suche nach einem atomares Endlager gibt der "Sachplan geologische Tiefenlager" vor, den der Bundesrat 2008 verabschiedet hat. Er sieht drei Etappen vor.

 Zum Abschluss der ersten (im Herbst 2011) wird der Bundesrat entscheiden, welche der in Frage kommenden sechs Standorte im weiteren Auswahlverfahren bleiben. Während der zweiten Etappe kann die Bevölkerung in Teilbereichen mitwirken. Die Nagra schlägt dann je zwei Standorte für schwach- und hochradioaktive Abfälle vor. Diese werden in der Etappe drei vertieft untersucht. Voraussichtlich 2019/20 fällt der Bundesrat den definitiven Entscheid. (ck)

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Beobachter 18.2.11

Sicherheit auf Tauchstation

Thomas Angeli

 Bei der Revision im AKW Leibstadt wurde ein Taucher verstrahlt. Der Untersuchungsbericht zum Vorfall offenbart bedenkliche Sicherheitsmängel. Text: Thomas Angeli

 Es war ein simpler Handgriff, den ein Angestellter einer welschen Tauchfirma am 31. August 2010 tat - aber ein verhängnisvoller. Der Berufstaucher hatte im Brennelement-Transferbecken des Kernkraftwerks Leibstadt eben Instandhaltungsarbeiten beendet, als er am Boden des Beckens ein 25 Zentimeter langes Rohrstück entdeckte. Er hob es auf und legte es in einen Transportkorb. Als dieser aber an die Oberfläche gezogen wurde, schlugen die Geigerzähler an: Das Fundstück war verstrahlt - und der Taucher somit auch.

 Die Untersuchung des ernsthaftesten Vorfalls in einem Schweizer AKW im Jahr 2010 wurde im Dezember abgeschlossen, ohne dass die Öffentlichkeit die Resultate erfuhr. Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) ergänzte einzig die Medienmitteilung, die unmittelbar nach dem Vorfall herausgegeben worden war. Nun liegen dem Beobachter der Ensi-Bericht und ein Expertengutachten zur Verstrahlung des Tauchers vor. Beide Berichte zeigen eine Serie von Unzulänglichkeiten und Sicherheitsmängeln.

 Problem 1: Das radioaktive Teil, ein Stück des Mantelrohrs der Reaktorkerninstrumentierung, lag bereits rund vier Jahre dort. Diese Rohre werden alle paar Jahre ausgewechselt, zerschnitten und in einer Art Köcher durch einen Lift ins rund 20 Meter weiter unten liegende Transferbecken geschleust. 2006 hatten sich die Rohrstücke, die laut Leibstadt-Direktor Andreas Pfeiffer "nach Augenmass" gesägt worden waren, beim Ausladen aus dem Lift verklemmt, weil sie zu lang waren. Als man den Transportköcher wieder hochzog, brach ein Rohrstück ab - ohne dass es jemand bemerkte.

 Problem 2: Bevor der Taucher ins Becken stieg, wurde dieses an fünf Punkten auf Radioaktivität untersucht, jedoch nur im "engeren Arbeitsbereich". Das entdeckte Rohrstück lag knapp ausserhalb davon. Es genüge nicht, "nur den engeren Arbeitsbereich auszumessen", bemängelt das Ensi.

 Problem 3: Ein tragbarer Geigerzähler ("Unterwasser-Dosisleistungsmessgerät") hätte die Arbeit laut Leibstadt-Direktor Pfeiffer "behindert, da der Taucher für seine Arbeit beide Hände brauchte". Im Ensi-Bericht klingt das etwas anders: Ein solches Gerät "stand nicht zur Verfügung".

 Problem 4: Die fünf Dosimeter, die der Taucher auf sich trug, schlugen zwar akustisch Alarm, doch hörte der Taucher wegen der Sprechfunkverbindung zu seinem Kollegen am Beckenrand nichts davon.

 Problem 5: Einzig dieser Kollege - auch er kein Angestellter des AKWs - sah die Bilder der Helmkamera des Tauchers. Er gab auch das Okay, das Rohrstück zu bergen. Die beiden Strahlenschutzexperten des AKWs - ebenfalls vor Ort - sahen weder auf den Monitor, noch griffen sie ein.

 Problem 6: Das sogenannte Fingerringdosimeter an der rechten Hand des Tauchers, das die genauesten Werte über die Strahlendosis hätte liefern können, war während des Tauchgangs beschädigt worden. Laut dem Bericht der externen Strahlenschutzexperten konnten vom Gerät "alle vier Teile geborgen werden". Danach wurden sie "minutiös unter der Lupe zusammengefügt und mit Hilfe eines Sekundenklebers geklebt". Die vom Dosimeter angezeigten Werte könnten deshalb auch "anders sein", schlussfolgern die Experten.

 Sie sind auch so hoch genug. Eine Dosis von 28 Millisievert auf einmal abzubekommen sei "massiv", sagt der Greenpeace-Strahlenschutzexperte Heinz Smital. Schliesslich sei schon der Jahresdosisgrenzwert von 20 Millisievert sehr hoch angesetzt: "Das ist ein sehr ernster Vorfall, der auf grobe Mängel im Sicherheitsmanagement hinweist."

 Wenig beruhigend liest sich da die Schlussbemerkung im Ensi-Bericht: "Ein vergleichbares Vorkommnis ist auch in anderen Kernkraftwerken denkbar." n

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admin.ch 17.2.11
http://www.admin.ch/aktuell/00089/index.html?lang=de&msg-id=37687

Aufbau der regionalen Partizipation in den Standortregionen beginnt

Bern, 17.02.2011 - Bei der Suche nach Standorten für geologische Tiefenlager für radioaktive Abfälle sollen die Interessen und Bedürfnisse der betroffenen Bevölkerung angemessen berücksichtigt werden. Zu diesem Zweck wird die so genannte regionale Partizipation aufgebaut. Als Basis dafür veröffentlicht das Bundesamt für Energie BFE heute zwei wichtige Grundlagenpapiere. Die möglichen Standortregionen arbeiten beim Aufbau der regionalen Partizipation eng mit dem BFE zusammen, die Kantone unterstützen und koordinieren die Zusammenarbeit mit den Gemeinden. Ziel ist es, dass bereits zu Beginn von Etappe 2 der Standortsuche im Herbst 2011 funktionsfähige Organisationsstrukturen für die inhaltliche Auseinandersetzung mit konkreten Tiefenlagerprojekten bestehen.

Das Instrument der regionalen Partizipation gewährleistet den frühen und umfassenden Einbezug der betroffenen Bevölkerung und Interessengruppen in den Standortregionen und ermöglicht dadurch ein transparentes und faires Verfahren. Dabei soll eine ausgewogene Vertretung der verschiedenen Interessen sichergestellt werden. Zu diesem Zweck werden neben den politischen Behörden auch Organisationen und Institutionen sowie nichtorganisierte Bevölkerungsgruppen einbezogen. Die regionale Partizipation soll in allen Standortregionen nach vergleichbaren Regeln ablaufen.

* Im "Konzept regionale Partizipation: Grundlagen und Umsetzung" werden Aufgaben, Regeln, Organisation, Strukturen, Finanzierung sowie konkrete Umsetzungsschritte und Meilensteine der regionalen Partizipation definiert. Diese ermöglicht es den Standortregionen, ihre Interessen in das Auswahlverfahren einzubringen. Die drei Hauptaufgaben betreffen die Konkretisierung der Oberflächeninfrastruktur möglicher Tiefenlager, die Untersuchungen der sozioökonomischen und raumplanerischen Auswirkungen eines geologischen Tiefenlagers sowie Projekte für eine nachhaltige Entwicklung der Region.
* Die Berichte zur "Bestandesaufnahme der Sozialstrukturen im Sachplanverfahren für geologische Tiefenlager" enthalten Bestandesaufnahmen und systematische Beschreibungen der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Charakteristiken aller sechs möglichen Standortregionen. Dazu wurden verschiedene regionale Indikatoren erhoben wie beispielsweise Bevölkerungszahl und -dichte, Altersstruktur und -gruppen, Haushaltsstruktur, Bildungsstand, Organisation des sozialen Lebens (Parteien, Vereine, Clubs ...), Ausländeranteil und Sprachen, Religionen, Arbeitslosigkeit, Beschäftigte, Branchen, Bauinvestitionen und Steuerbelastung. Die Gemeinden der Standortregionen wurden bei der Erarbeitung der Studie einbezogen.

Weiteres Vorgehen

Die so genannten Startteams, in denen die Gemeinden der Standortregionen, die Standortkantone und das BFE sowie in vier grenznahen Regionen deutsche Gemeinden vertreten sind, organisieren den Aufbau der regionalen Partizipation. Die heute veröffentlichten Dokumente bilden dafür die Grundlage, die den sechs Standortregionen jedoch ein flexibles Vorgehen und Anpassungen an regionale Gegebenheiten ermöglichen. Ziel ist, dass die Gremien der regionalen Partizipation in den Standortregionen vor dem Start von Etappe 2 des Sachplanverfahrens eingesetzt und operativ sind.

Neue Namen: Jura Ost und Zürich Nordost

Auf Wunsch der Standortregionen erhalten zwei Standortregionen neue Bezeichnungen: "Bözberg" heisst neu "Jura Ost" und die Standortregion "Zürcher Weinland" wird neu als "Zürich Nordost" bezeichnet. Unverändert bleiben die Namen der anderen Standortregionen "Jura-Südfuss", "Nördlich Lägeren", "Südranden" und "Wellenberg".

Der Sachplan geologische Tiefenlager wurde vom Bundesrat im April 2008 verabschiedet. Er definiert ein transparentes Auswahlverfahren mit klaren Regeln: In drei Etappen soll dieses in zehn bis zwölf Jahren zu Standorten für je ein Lager für schwach- und mittelradioaktive sowie für hochradioaktive Abfälle führen. Denkbar ist auch ein Kombilager für beide Abfalltypen. Oberstes Ziel ist dabei stets die Sicherheit von Mensch und Umwelt. Zum Abschluss von Etappe 1 im Herbst 2011 und in Kenntnis aller Ergebnisse und Stellungnahmen aus der Anhörung, wird der Bundesrat entscheiden, welche Standortgebiete im Sachplan aufgenommen und damit im weiteren Auswahlverfahren verbleiben

Im Zentrum von Etappe 2, die voraussichtlich von Herbst 2011 bis 2015/16 dauern wird, stehen zwei Ziele:

1. Partizipation: Die Standortregionen haben die Möglichkeit, bei der Konkretisierung der Oberflächeninfrastruktur der Lager, bei den Untersuchungen der sozioökonomischen und raumplanerischen Auswirkungen sowie bei Projekten für eine nachhaltige Entwicklung der Region mitzuwirken.

2. Sicherheitstechnische Analysen und Vergleiche der Standorte: In Etappe 2 muss die Nagra die in Etappe 1 vorgenommene qualitative Bewertung von Sicherheit und Geologie durch quantitative provisorische Sicherheitsanalysen und einen sicherheitstechnischen Vergleich der Standorte erhärten.

Am Ende von Etappe 2 muss die Nagra auf Basis der bis dahin vorliegenden Erkenntnisse mindestens je zwei geeignete Standorte für SMA- und HAA-Lager vorschlagen.

Diese Standorte werden von der Nagra in der letzten Etappe 3, voraussichtlich von 2015/16 bis 2019/2020, vertieft untersucht, so dass sie für beide Lagertypen ein Rahmenbewilligungsgesuch erarbeiten und einreichen kann. Aufgrund dieser Gesuche wird der Bundesrat über die Erteilung der Rahmenbewilligung für je einen Standort für ein SMA- und ein HAA-Lager oder für einen Standort für ein Kombilager entscheiden. Nach dem Entscheid des Bundesrats folgt die Genehmigung durch das Parlament, die dem fakultativen Referendum unterliegt.

Was ist regionale Partizipation?

Im Rahmen des Sachplans geologische Tiefenlager bezeichnet die regionale Partizipation ein Instrument der möglichen Standortregionen zur Mitwirkung - im Sinn von Einbezug und Mitsprache - mit dem Ziel der Einflussnahme. Mit diesem Instrument entwickeln und formulieren Bevölkerung, Institutionen sowie Interessengruppen in oder aus der jeweiligen Standortregion ihre Forderungen, Anliegen, Fragen, Bedürfnisse und Interessen zuhanden des Bundes und der Gemeinden der Standortregion.

Adresse für Rückfragen:
Marianne Zünd, Leiterin Kommunikation BFE, 031 322 56 75 / 079 763 86 11

Kontakt / Rückfragen Standortregionen:
Jura Ost, Gerry Thoenen, Tel. 062 874 47 50
Jura-Südfuss, Hans Beer, Tel. 062 511 10 49
Nördlich Lägeren Medienstelle Standortregion, Peter Züst, 043 499 50 00, info@startteam.ch
Südranden, Othmar Schwank, Tel. 044 450 60 77
Wellenberg, Kurt Margadant, Tel. 041 340 30 20
Zürich Nordost, Christof Peyer, Tel. 052 319 13 29

Herausgeber:
Bundesamt für Energie
Internet: http://www.bfe.admin.ch

Dateianhänge:
Konzept regionale Partizipation (pdf, 999kb)
http://www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/22157.pdf
Jura Ost - Bestandesaufnahme, Teil I (pdf, 5993kb)
http://www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/22151.pdf
Jura Ost - Bestandesaufnahme, Teil II (pdf, 927kb)
http://www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/22152.pdf
Jura-Südfuss - Bestandesaufnahme, Teil I (pdf, 5422kb)
http://www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/22141.pdf
Jura-Südfuss - Bestandesaufnahme, Teil II (pdf, 820kb)
http://www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/22142.pdf
Nördlich Lägeren - Bestandesaufnahme, Teil I (pdf, 6006kb)
http://www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/22153.pdf
Nördlich Lägeren - Bestandesaufnahme, Teil II (pdf, 958kb)
http://www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/22154.pdf
Südranden - Bestandesaufnahme, Teil I (pdf, 6047kb)
http://www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/22145.pdf
Südranden - Bestandesaufnahme, Teil II (pdf, 954kb)
http://www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/22146.pdf
Wellenberg - Bestandesaufnahme, Teil I (pdf, 4938kb)
http://www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/22147.pdf
Wellenberg - Bestandesaufnahme, Teil II (pdf, 787kb)
http://www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/22148.pdf
Zürich Nordost - Bestandesaufnahme, Teil I (pdf, 6003kb)
http://www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/22155.pdf
Zürich Nordost - Bestandesaufnahme, Teil II (pdf, 1017kb)
http://www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/22156.pdf

Zusätzliche Verweise:
http://www.radioaktiveabfaelle.ch