MEDIENSPIEGEL 28.2.11
(Online-Archiv: http://www.reitschule.ch/reitschule/mediengruppe/index.html)
Heute im Medienspiegel:
- Reitschule-Kulturtipps (DS, Rössli, RaBe, Tojo)
- (St)Reitschule: SPler = Reithalle-Anarchoszene
- Clubleben: Altstadt ohne privaten Ordnungsdienst
- Unia im Streik
- RaBe-Info 18.-28.2.11
- Kultur-Millionen: Kantonale Kultursubventionen; Kultur-CEO
KulturTheaterBern
- Police BE: Befindlichkeits-Umfragen
- Police CH: Grenzwachtkorps
- Knast: Zwangsernährung; Prüfung Strafvollzug BE
- AJZ Biel: 54 Mio fürs Gaswerkareal
- Ausnüchterungszellen: Verlängerung in ZH
- Repression & Hetze: Keine Reue wegen Fehr-Aktion;
Vermummungsverbot; Armee-Handschellen
- Big Brother Video: Observation ZH; Kameras Studen; Nutzenfrage;
Google Street View
- Big Brother Sport: Delta Security vs FCSG
- Big Brother: Hooligan-Fahndung; Fichen BE
- Police VD: Polizist verurteilt
- Clubleben LU: Gegen Rassismus
- Ruhe & Ordnung: Nulltoleranz Frauenfeld
- Jugendpolitik: Ländler und Securitas
- Randstand BS: keine Vertreibungen
- Drogen: Bhf Aarau; USA + Drogenkriminalität; Anlaufstelle Winti;
Koksdeal BS, LSD; medizinischer Hanf
-Sexwork: Migrantinnen als Sexsklavinnen; Strassenstrich LU; Bordell
SO; Freier Minderjährige; Rekordzahlen ZH
- Transsexualität: Aus Herr wird Frau Meier
- Intersexualität: Zwitter gegen Zwangs-OPs
- Squat ZH: Vera Gloo-ifiziert sich selber; Tessinerkeller-Abbruch
- Squat GE: Squat-Mangel als Tourismus-Nachteil
- Asyl: Securitas-Gewalt in Kreuzlingen; Weniger Asylgesuche;
- Nothilfe: 1200 in ZH; Schikane BE
- Sans-Papiers: Garten-Squats GE; Meldepflicht Schule
- Scheinehen: ZivilstandsbeamtInnen ohne Plan
- Härtefälle: Klärungsbedarf; Abnahme
- Ausschaffungen: Syrien; Homosexuelle; Kurde; Ausschaffungstod;
Nigerianer; Dealer-Tod; Bässlergut mit Strafvollzug;
Rückkehrhilfen; Verfahrensdauer
- Migration Control: Mediales Flüchtlingswellen-Drama;
Grenzwachtkorps goes Frontex;
- Rechtsextremismus: SVP-Hiphop; Schlägerei Rheinfelden; Sarrazin
in ZH; Ex-Neonazi an Uni ZH
- Türstehende: Mad Wallstreet; Interview
- Söldnerfirmen: Gesetze + Verbote
- Polizeiwaffen: Gefährliche Wasserwerfer
- ©he Guevara: Wem gehört der Che?
- Undercover: Mark Kennedy + 5 deutsche Cops
- Weltsozialforum: Bilanzen + Visionen
- WEF: Ghadafi Junior Nein Danke
- Anti-Atom: Stilllegungskosten; Beznau-Grossbaustelle; Stromfragen;
Finnische Pannen; Niederamt; Mühleberg; BKW; Sauberer Strom BL;
Arena; Beznau- + Leibstadt-Strahlung; Fribourg; Endlager Nordost;
Wellenberg; Axpo-Süsses; GL; BE; Uran-Transparenz; Atommüll
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REITSCHULE
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Kulturstattbern.derbund.ch 28.2.11
Kulturbeutel 9/11
Von Benedikt Sartorius am Montag, den 28. Februar 2011, um 06:07 Uhr
Herr Sartorius empfiehlt:
Am Freitag spielt im Dachstock "Das Berner Synthesisten Quintett" mit
den hiesigen Elektronikern Mastra, Benfay, Beryll Ryder, Zukie 173 und
Spacebox 720 zu einer Session auf, die mitsamt einem Dirigenten
daherkommen wird. Auch noch ungehört von meiner Seite ist das
Projekt "Causing a Tiger" der Geigerin Carla Kihlstedt, die unter
anderem im wunderbaren Tin Hat Trio mitspielt und im Rössli am
Sonntagabend mit dem viel gefragten Ribot-Mitarbeiter Shazad Ismaily
und Matthias Bossi zur Kammermusik laden wird.
Frau Feuz empfiehlt:
Hören Sie sich heute Abend den Monolog "Die Säuferin" mit
Miriam Fiordeponti von Unikum René Schweizer im Café
Kairo an, gehen Sie am Mittwoch ins Rössli zum Capital Poetry Slam
und am Freitag ins ISC, wo die westschweizer Schatzis von Favez ihr
neues (leider ein bisschen gar poppig geratenes) Album vorstellen weren.
(...)
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kulturstattbern.derbund.ch 27.2.11
Sodom und Gomorrha am RaBe-Fest
Von Gisela Feuz am Sonntag, den 27. Februar 2011, um 16:10 Uhr
"Sodom und Gomorrha war das gestern", so Tinu Schneider, seines
Zeichens Musikredaktor und gute Seele von Berns alternativem
Kulturradio RaBe zur Lage am Freitag in der Reitschule. "Und
selbstverständlich kamen dann all die 800 Nasen alle gleichzeitig
um Punkt halb Eins anmarschiert und all diejenigen, die kein Ticket
hatten, hatten dann entweder Geburtstag oder waren extra aus Paris
angereist, haha", gingen die Ausführungen weiter. Offenbar war es
am Freitag in der ausverkauften Reitschule zu turbulenten Szenen im
Eingangsbereich gekommen und dass all die enttäuschten
Elektroniker ohne Tickets, welche sich Mark Henning und das Kollektiv
Turmstrasse anhören wollten, gemäss Schneiders blumiger
Schilderung nicht versucht hätten, mit Anlauf und Rammbock die
Festung Reitschule zu stürmen, habe ja fast schon an ein Wunder
gegrenzt.
Propevoll wars dann auch am gestrigen zweiten RaBe-Fest-Abend. The
Ghost of Tom Joad eröffnete im Dachstock nach dem Geschmack der
Schreiberin eher schmalbrüstig den munteren Stromgitarren-Abend,
während unten im Sous le Pont die Kronzeugen aus Luzern in die
Saiten griffen. Wohl mehr als eine Person dürfte gestern aber vor
allem dem Auftritt von Blackmail entgegengefiebert haben. Die Mannen
aus Deutschland sind ja mit neuem Sänger unterwegs und im Vorfeld
war viel diskutiert und gebangt worden, ob denn der Neue namens Mathias
Reetz die markante Stimme von Ex-Sänger Aydo Abay Stand ersetzen
könne. Er konnte. Und zwar einwandfrei.
http://newsnetz-blog.ch/kulturstattbern/files/2011/02/DSC01312.JPG.jpg
Als wohltuende Oase im ganzen Getümmel entpuppte sich das Kino der
Reitschule. Dort wurden in erster Linie Musikclips von noch
unbekannteren Gruppen aus unterschiedlichsten musikalischen Gefilden
gezeigt, wobei der Absurditätsfaktor teilweise wunderbar hoch war.
Für den Konzert-Abschluss des fulminanten Festes sorgten dann im
Dachstock die Herren Treekillaz und unten im Sous le Pont die
Rumpelpunker von Uristier. Und von wegen Disko im Sous le Pont
funktioniert nicht, ha! Unkenrufe! Bis sechs in der früh wurde
munter getanzt, wobei auch die vielen gratis arbeitenden RaBe-Helfer
endlich zu ihrem wohlverdienten Feierabend kamen. Das war dann
allerdings auch ein bisschen Sodom und Gomorrha. Alkaseltzer ahoi. Aber
item. RaBe-Fest 2011 kann als voller Erfolg abgebucht werden. Ich freu
mich jedenfalls schon auf nächstes Jahr….. also sobald dann das
Alkaseltzer wirkt.
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BZ 26.2.11
Ohrenschmaus im Tojo
Hörfestival. Augen schliessen, die Ohren öffnen und in eine
vielseitige Klangwelt eintauchen. Am 1. sonOhr Hörfestival wird
ein breites Spektrum geboten: Von fiktiven amüsanten
Hörspielen, nachdenklich stimmenden journalistischen Features bis
hin zu poetischen Monologen. Aufwendigen Hörproduktionen soll eine
Plattform jenseits des kurzatmigen Alltagsgeschäftes geboten
werden. Gemeinsam in ein Hörerlebnis eintauchen: Das verspricht
spannend zu werden. pd
Heute, ab 16 Uhr, Tojo Theater, Reitschule, Neubrückstrasse
8, Bern.
Programm unter www.sonohr.ch
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BZ 26.2.11
Reitschule
Eine Reise nach Sarajevo
Eine Reise durch Bosnien-Herzegowina führt zu Menschen, die
in ihrer Biografie grosse Sprünge und Lücken haben. Am 1.
Sonohr-Hörfestival im Tojo-Theater der Reitschule Bern führen
die Autorinnen Lucia Vasella und Marina Bolzli die Hörerschaft in
die zerrissene Gesellschaft des Landes zu verschiedenen Personen mit
verschiedenen Lebensentwürfen.pd
Heute Samstag, 16 Uhr, Tojo-Theater, Reitschule Bern
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kulturagenda.be 24.2.11
Bühne frei im Tojo fürs kollektive Lauschen
Im Rahmen des RaBe-Festes findet im Tojo das erste Hörfestival
sonOhr mit der Präsentation von Hörproduktionen statt. Das
Publikum wählt aus 20 Hörspielen, Features und Reportagen
seinen Lieblingsbeitrag. Ohren auf!
Die Blütezeit des Mediums Radio ist längst vorbei. Die
Abende, als sich ganze Familien um den Rundfunkempfänger
versammelten, um den Worten und Klängen zu lauschen, sind
Geschichte. Die zunehmende Bedeutung des Bildes und das Fernsehen haben
das Medium längst in die zweite Reihe verbannt.
Gegenpunkt zur visuellen Reizüberflutung
Durch neue Techniken wie die Verbreitung via Internet habe es zwar
einen kleinen Aufschwung erlebt, "doch Radio ist und bleibt ein
Begleitmedium", sagt Lucia Vasella. Die 31-jährige Journalistin
und Ethnologin ist seit 2004 in verschiedenen Funktionen für Radio
RaBe tätig. Zusammen mit den drei Radioleuten Cheyenne Mackay
Loosli, Giulia Meier und This Bay organisiert sie nun das erste
Hörfestival sonOhr in Bern. Die vier wollen einen Gegenpunkt zur
visuellen Reizüberflutung des Alltags setzen, Hörproduktionen
einem breiten Publikum präsentieren und die Diskussion
darüber in Gang setzen. "Eines unserer Hauptziele ist es,
Hörproduktionen zu fördern", erklärt Vasella. So geht
mit dem Festival auch ein Wettbewerb einher: Audio-Produzentinnen und
-produzenten waren im vergangenen November eingeladen, ihre "aufwendig
produzierten" Beiträge einzureichen. Aus 39 Produktionen
wählte das Organisationskomitee 20 aus, die nun am Festival in
sieben Blöcken präsentiert werden und um den Publikumspreis
buhlen. Zu gewinnen gibts einen Pokal und ein Aufnahmegerät.
Prominente Kulturtäter
"Wir waren positiv überrascht ob der hohen Qualität der
eingesandten Projekte ", sagt Vasella. Mit dabei sind Hörspiele,
Reportagen, Features, Collagen und Radioserien, zum Teil von
prominenten Kulturtätern. Rund die Hälfte der Beiträge
stammt von Radioleuten, für die anderen 50 Prozent zeichnen
Regisseure, Autoren und Musiker verantwortlich. Der Winterthurer Autor
Michael Stauffer ist gleich bei mehreren Produktionen beteiligt.
("Alles wegem Krüsi", "Essen", "Porträt mit Heuschrecken:
Hommage an Hannes Taugwalder").
In der Radioserie "Die Wasserbüffel im Schangnau", die im letzten
Jahr auf Radio neo ausgestrahlt wurde, porträtiert die
Journalistin Katharina Locher fünf Bauern, die im Emmental
Büffel-Mozzarella herstellen.
Der Musiker und Audiodesigner Pascal Nater - bekannt etwa durch sein
Musical "Die Dällebach-Macher" - ist mit dem Feature "Krieg der
Klänge" vertreten, das sich mit akustischer Kriegsführung
beschäftigt.
Ausser Konkurrenz
"Beim Radio hat man nur die Ebene des Tons zur Verfügung, und
zurückblättern geht nicht", erklärt Vasella. Sie tritt
am Hörfestival auch als Produzentin in Erscheinung. Ausser
Konkurrenz ist von ihr und Marina Bolzli als Premiere das Feature
"Verschobene Leben in Bosnien - eine Reise von Sarajevo nach Zvornik
und zurück" zu hören. Der einstündige Radiobeitrag zeigt
auf, welche Spuren der Krieg in den Menschen hinterlassen hat. Ob das
kollektive Lauschen im Rahmen eines Hörfestivals genauso gut
funktioniert wie Kino, wird sich im Tojo zeigen. Das Theater soll mit
bequemen Sitzgelegenheiten eingerichtet werden,und im abgedunkelten
Saal werden jegliche visuellen Reize verbannt, sodass das Publikum sich
voll und ganz auf das Zuhören konzentrieren kann, um eigene Bilder
im Kopf entstehen zu lassen.
Simone Tanner
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\ \ \ \ \ \ \ \
Tojo Theater, Bern. Fr., 25.2., ab 17 Uhr,
und Sa., 26.2., ab 16 Uhr
www.tojo.ch, www.sonohr.ch
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Bund 24.2.11
Hörkunst Das erste sonOhr-Hörfestival
Ganz Ohr
Im Rahmen des Radio-Rabe-Fests gibt es eine Premiere: sonOhr, das
erste Berner Festival, das ausschliesslich der Hörkunst gewidmet
ist.
Regula Fuchs
Man macht es sich auf einem der Sofas gemütlich, hat
vielleicht ein Getränk in der Hand, der Raum verstummt
allmählich, die Veranstaltung beginnt, und zu sehen gibt es -
nichts. So etwa dürfte es dieses Wochenende im Tojo-Theater der
Berner Reitschule zugehen. Denn die Bilder, die am ersten
sonOhr-Hörfestival auftauchen, gedeihen einzig und allein in den
Köpfen.
"Bei der Hörkunst verhält es sich ja so, dass die
Eigenleistung des Zuhörers oft grösser ist als beispielsweise
im Kino. Das Visuelle dominiert unsere Wahrnehmung. Wenn das
Hörspiel oder Feature aber gut gemacht ist, dann entsteht
richtiges Kopf-Kino", sagt Giulia Meier, die gemeinsam mit Cheyenne
Mackay Loosli, Lucia Vasella und This Bay das erste Hörfestival in
Bern ins Leben gerufen hat. Die Wege der vier haben sich bei einer
Hörspielproduktion gekreuzt, und alle sind in irgendeiner Form mit
dem Radio Rabe verbunden. "Als wir 2009 an der Produktion‹Strandgut›
arbeiteten, realisierten wir, dass es in der Schweiz nur ganz wenige
Plattformen für solche Projekte gibt", sagt Meier. Und so entstand
die Idee für sonOhr.
Von Krüsi bis zur Schallkanone
"Die freien Radios haben oft nicht die Mittel, um grössere
Hörproduktionen zu finanzieren. Deshalb wollen wir mit sonOhr und
dem Publikumspreis einen zusätzlichen Anreiz schaffen, dass solche
Produktionen überhaupt entstehen", sagt Meier. In einer
Ausschreibung suchte man aufwendige Hörspiele und
Radiobeiträge aus der Schweiz, die nicht vom
öffentlich-rechtlichen Radio produziert wurden, zwischen 5 und 60
Minuten lang sind und mehrheitlich in deutscher Sprache. Und der Ruf
wurde gehört: 39 Produktionen trudelten ein, von denen das
Organisationskomitee 20 auswählte, die nun am Festival zu
hören sind.
Die Auswahl ist ein bunter Strauss an Formen und Genres, Fiktion
und Journalistischem, Experiment und Konventionellem: Hörspiele,
Features, Reportagen und collageartige Mischformen. Meistens sind es
Beiträge, die für freie Radios oder Privatradios entstanden
sind, allerdings gibt es etwa vom Autor Michael Stauffer auch eine
Arbeit über den Aussenseiterkünstler Hans Krüsi, die das
Kunstmuseum Thurgau mitproduziert hat. Daneben sind diverse
Hörspiele im Programm, die von einer Basler Radio-Soap bis zum
höheren Unsinn der Berner Spass-Troubadoure Tomazobi reichen: In
"Uf dr Suechi nach de verlorene Gschänkli" wollen die drei
Könige aus dem Zmorgeland zu Weihnachten Freund Inri besuchen, der
im Sternen Bethlehem weilt.
Manches im Programm, das in einstündigen Blöcken
präsentiert wird, ist dagegen journalistisch ausgerichtet: So gibt
es Recherchen zum Schangnauer Büffel-Mozzarella, zum
Turmwächter von Lausanne, zu einer libanesischen Metal-Band oder
zur akustischen Kriegsführung: In "Krieg der Klänge" begeben
sich Pascal Nater und Yvonn Scherrer auf die Klangspur von
Kriegstrommeln und Schallkanonen.
Ausserhalb des Wettbewerbs präsentiert sonOhr zudem eine
Premiere: Marina Bolzli und Lucia Vasella reisten für ihr Feature
"Verschobene Leben in Bosnien" mit einem kleinen, lauten Auto von
Sarajevo nach Zvornik und porträtierten Menschen, die sich nach
dem Bosnien-Krieg neu verwurzeln mussten.
Eines haben alle Produktionen von sonOhr gemeinsam: die
Leidenschaft für ein Medium, das normalerweise nicht im
Rampenlicht steht. Giulia Meier sagt es so: "Eine Hörproduktion
ist viel einfacher und billiger zu machen als etwa ein Film. Aber es
ist eine faszinierende und grosse Herausforderung, eine Welt entstehen
zu lassen - nur mit Worten und Geräuschen."
Tojo-Theater ReitschuleFreitag, 25. Februar (17 bis 22 Uhr),
Samstag, 26. Februar (16 bis 22 Uhr). www.sonohr.ch
--
Die Musik am Rabe-Fest
Frische Randständigenmusik
So bunt und kompetent wie das Musikprogramm auf Radio Rabe
präsentiert sich auch die Affiche des Rabe-Fests.
Zwei Abende lang okkupiert das Festkomitee des Berner
Kultursenders Rabe die Baulichkeit der Reitschule und präsentiert
ein gerüttelt Mass an neckischer, frischer
Randständigenmusik. Zu den Schönheiten des Freitagabends
gehört sicherlich die neu besetzte Basler Tunichtgut-Rock-Combo
Navel (siehe "Bund" vom letzten Montag), die im Sous le Pont zur
Nabelschau lädt, sowie die bezaubernde Freiburger
Kleinkunst-Pop-Fricklerin Kassette, die im Frauenraum zu Werke geht. Im
Dachstock wird zur selben Zeit mit dem Kollektiv Turmstrasse der eher
gedrückten elektronischen Tanzmusik gefrönt.
Am Samstag gibts ein Wiedersehen mit den deutschen Indie-Rockern
Blackmail, die sich erstmals mit frischem Sänger und im April
erscheinendem neuem Tonmaterial auf Tournee wagen. Ebenfalls aus
Deutschland reist die Gruppe Ghost of Tom Joad an, mit von linder
Indie-Coolness umwehtem 80s-Pop. Im Sous le Pont gibts derweil
hochdeutschen Wüstenrock von der Luzerner Gruppe Kronzeugen und
grossartigen No-Wave-Rock-'n'-Roll von den noch unbekannten Rectangle,
die von den Schattenhängen des Waadtlandes nach Bern
heruntersteigen.(ane)
http://www.rabe.ch
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BZ 24.2.11
Kopfkino in 3-D
Hörfestival. Politische Reportagen, literarische
Hörstücke, witzige Hörspiele und eine Soap-Opera: Am
Wochenende findet in Bern das erste Hörfestival Sonohr statt.
Die Zuhörer fläzen sich entspannt auf dem Sofa. Sie
lauschen einer Männerstimme aus den Boxen, die sich auf einer
Messe über gigantische Kriegsschifflautsprecher erkundigt.
Plötzlich zucken alle zusammen. Ohrenbetäubender
Trommellärm und schrille Trompetenklänge prasseln auf das
Publikum nieder. Wie akustische Kriegsführung wirkt, kann sich nun
jeder vorstellen.
Solche und ähnliche Szenen könnten sich an diesem
Wochenende im Berner Tojo-Theater abspielen. Hier findet zum ersten Mal
das zweitägige Hörfestival Sonohr statt. Ins Leben gerufen
haben es This Bay, Cheyenne Mackay Loosli, Giulia Meier und Lucia
Vasella. Alle vier sind beim Radio tätig und haben letztes Jahr
gemeinsam ein Hörstück produziert. "Die Premiere fand in
einem grossen, gemütlichen Berner Altbauwohnzimmer statt",
erzählt Cheyenne Mackay Loosli, "es war für alle Gäste
ein neues, tolles Hörerlebnis." Und was zu Hause funktioniert,
müsste auch öffentlich auf Interesse stossen. Mackay Loosli:
"Die Leute gehen gemeinsam einen Film schauen - wieso nicht auch
gemeinsam etwas hören gehen?" Bei einem Hörabend teile man -
wie im Kino - seine Emotionen und Ängste mit anderen. Und mehr
noch: Bei jedem entstehe "ein individuelles 3-D-Kino im Kopf",
schwärmt Cheyenne Mackay Loosli.
Das Sonohr-Festival soll aber nicht nur dem Publikum neue
Hörwelten eröffnen, es ist auch als Austauschplattform
für all jene gedacht, die selber Hörstücke produzieren.
Wohnzimmerambiente
Das Tojo-Theater verwandelt sich für diesen Anlass in ein
Wohnzimmer - mit Tischen, Lampen, Sofas und Sesseln. "Die Besucher
können aber auch an der Bar sitzen oder am Boden liegen",
versichert Mackay Loosli schmunzelnd. Dank der Zusammenarbeit mit einer
Brockenstube können überdies alle Möbel auch erworben
werden.
Auf dem Programm stehen 21 Hörstücke und -spiele. Sie
sind in acht Blöcke unterteilt, von denen jeder knapp eine Stunde
dauert und zwei bis sechs Hörbeiträge umfasst. Die
inhaltliche Palette ist vielfältig: politische Features, eine
Reportage über zerrissene Biografien von Bosniern, eine
Soap-Opera, ein Beitrag über einen der letzten Turmwächter
Europas, ein Hörstück über Beziehungen, witzige
Hörspiele über kleine Menschen und andere Aussenseiter und,
und, und. Jenes Hörerlebnis, das in den Ohren des Publikums am
besten klingt, wird am Samstagabend mit dem ersten Sonohr-Pokal
prämiert.
lm
Hörfestival Sonohr: Fr, 25. und Sa, 26. Februar,
Tojo-Theater Bern. Detailliertes Programm: www. sonohr.ch.
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20 Minuten 24.2.11
Radio Rabe lädt zur Geburiparty
BERN. Das Berner Alternativradio Rabe feiert seinen 15.
Geburtstag - und lädt die Berner zu diesem Anlass in die Reithalle
ein. Das Rabe-Fest steigt morgen und am Samstag in den verschiedenen
Räumen des Kulturzentrums mit Musik, Filmen und Videoclips. So
wird etwa der Streifen über die Berner Rapperin Steffe la Cheffe
gezeigt. Dazu kommt Rabe TV, ein Sender, der Musikvideos von Schweizer
Bands zeigt. Ausserdem gibt es zahlreiche Auftritte von Bands und DJs.
Wer mitfeiern will, muss sich sputen: Der Freitagabend im Dachstock ist
schon ausverkauft. www.rabefest.ch
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kulturstattbern.derbund.ch 21.2.11
Kulturbeutel 8/11
Von Benedikt Sartorius am Montag, den 21. Februar 2011, um 06:03 Uhr
(...)
Frau Feuz empfiehlt:
Helfen Sie Radio RaBe dabei, sich selber zu feiern und besuchen Sie
nächstes Wochenende entsprechend das RaBe-Fest in der Reitschule.
Unter anderem werden Blackmail, The Ghost of Tom Joad und das Kollektiv
Turmstrasse mit von der Partie sein. Das ganze Programm gibts
hier.
(...)
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BZ 19.2.11
Kurzer Frieden nach dem Kurzschluss
Tanz.Im Rahmen des Tanzfestivals Heimspiel zeigt die
bolivianische Tänzerin und Choreografin Cynthia Gonzalez im Tojo
der Reitschule ihr Stück "Charged". Das Trio erzeugt dabei eine
aufgeladene Stimmung, die im Kurzschluss mündet.
Ein Mann und eine Frau bewegen sich schattenboxend nach vorn. Man
hört ihr Atmen und das Tappen ihrer nackten Füsse auf dem
Boden. Erst nach einer Weile setzt die Musik ein. Der Jazzpianist
Johnny Gonzalez spielt minutenlang nur mit den Saiten im Inneren des
Klaviers. So baut sich eine Spannung auf, die das Thema des
Stückes auf den Punkt bringt. "Charged" - aufgeladen ist die ganze
Atmosphäre, die das Trio im Tojo-Theater der Reitschule kreiert.
Lebenswillen in Feindesland
Die 1978 in Bolivien geborene Cynthia Gonzalez arbeitet mit ihrer
Kompagnie, dem Cynthia Gonzalez Dance Theater, oft auch mit
Gasttänzern und -tänzerinnen. Für die aktuelle
Produktion hat sie den 1967 in der Slowakei geborenen Tänzer Boris
Nahalka beigezogen. Das Duo erzählt vom Lebenswillen und der sich
immer wieder aufbauenden Energie, die Menschen antreibt und voranbringt.
Als Kind von Regimegegnern erlebte Cynthia Gonzalez im Bolivien
der Achtzigerjahre am eigenen Leib, wie Menschen trotz widriger
Umstände den Lebenswillen behalten. Ihr Vater Johnny Gonzalez, der
Jazzpianist des Trios, versteckte in seinem Übungsraum Leute und
musste schliesslich mit seiner ganzen Familie aus der Hauptstadt La Paz
nach Santa Cruz flüchten. In "Woman of War", ihrem
letztjährigen in Bern gezeigten Stück, verarbeitete sie die
von Umbrüchen geprägte Kindheit.
Energisch bis zum Knall
Posen, die Kampf und Widerstand evozieren, spielen auch in
"Charged" eine wichtige Rolle. Manchmal werfen sich die Tänzer zu
Boden und rollen sich wie Darsteller in einem Actionfilm zusammen, um
so den Aufprall abzufangen. Vorerst scheinen die beiden sich nicht
wahrgenommen zu haben. Jeder führt seinen eigenen Kampf. Doch als
sich Mann und Frau zaghaft mit den Fingerspitzen berühren, gibt es
einen Kurzschluss: Das Licht geht aus. Es wird still und schliesslich
sehr laut. Der Pianist greift in die Tasten, ein Donnerschlag
erschüttert den Raum.
Ruhe nach dem Sturm
Nun stehen die beiden Pole je in einem Lichtkegel auf der
Bühne. Die kämpferischen Posen weichen fliessenderen
Bewegungen. Die Musik hat nun etwas Verträumtes und Episches, die
Performer breiten die Arme aus, als würden sie in einem
Pantomimespiel ein Flugzeug darstellen. Es ist eine Art Ruhe nach dem
Sturm. Schliesslich bilden die beiden eine unzertrennliche Figur,
scheinen sich gefunden zu haben.
Die nächste Episode hingegen zeugt vom manchmal grotesken
Humor der Choreografin. Johnny Gonzalez bedient nun eine Rassel, zu
deren Klang die beiden summend und hüpfend einen witzigen
synchronischen Tanz aufführen. Die Bewegungen gleichen jenen von
Charlie Chaplin in "Modern Times". Doch bald schon ist die Harmonie
wieder dahin - der Kampf geht weiter, und am Ende schliesst sich der
Stromkreis. Die beiden laden sich erneut mit ausgestreckten
Fingerspitzen gegenseitig auf und werden von der Dunkelheit verschluckt.
Helen Lagger
Vorstellungen: heute Abend um 20.30 Uhr und am Sonntag um
19 Uhr im Tojo-Theater, Reitschule Bern.
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20 Minuten 18.2.11
Allstar-Band im Dachstock
Fr, 18.9., 20 Uhr, Wild Wild East: The Gypsy Kings & Queens.
GIPSY. Geburtstage soll man gross feiern. Das tut das
Dachstock-Label Wild Wild East heute. Zum zweiten Jubiläum holt es
sich deshalb 20 Musiker auf die Bühne: Esma Redzepova, Jony Iliev,
Florentina Sandu, die Mahala Raï Banda, das Gitano-Trio
Kalomé sowie Aurelia & Tantzica spielen als Allstar-Truppe
des Gipsy-Genres zwei Stunden zu Ehren der Event-Reihe. Ein
farbenprächtiges und abwechslungsreiches Geburtstagsfest
dürfte das werden. Die After-Party schmeissen Bobby Baguette und
Toni Peperoni.
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(ST)REITSCHULE???
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BZ 23.2.11
SP-Stadtrat schlägt Gast in einer Bar
Bern. SP-Stadtrat Halua Pinto de Magalhães fühlte
sich in einer Bar von einem Gast bedroht. Deshalb schlug er ihm ein
blaues Auge. Politische Konsequenzen muss er nun aber nicht
befürchten.
Laut einem Bericht in der Pendlerzeitung "20 Minuten" kam es vor
zwei Wochen in der Propeller-Bar an der Aarbergergasse zu einem
Handgemenge zwischen Stadtrat Halua Pinto de Magalhães (24) und
einem Barbesucher. Dabei verpasste der SP-Stadtrat und
Secondo-Plus-Co-Präsident Halua Pinto de Magalhães dem
anderen Mann einen Kopfstoss. Das Opfer trug ein blaues Auge davon.
Der ETH-Student Magalhães feierte im "Propeller" mit
Freunden seine letzte Jahresprüfung. Offenbar wurde die Gruppe
dabei von Unbekannten gestört. Der SP-Schläger entschuldigte
sich, und so kommt es nun auch zu keiner Anzeige. "So etwas ist mir
noch nie passiert. Dass bei der Rangelei ein Unbeteiligter zu Schaden
kam, tut mir leid", sagte der SP-Politiker.
Die Sache geht für den Schläger aber glimpflich aus -
auch politisch. "Ich bin erleichtert, zu hören, dass Halua Reue
zeigt und sich entschuldigt hat", sagt Flavia Wasserfallen,
Co-Präsidentin der SP Stadt Bern, gegenüber "20 Minuten".
"Ich werde mit ihm das Gespräch suchen, mit gravierenden
Konsequenzen muss er aber nicht rechnen."
Für SVP-Fraktionspräsident Roland Jakob dagegen ist das
Verhalten des SP-Stadtrates gar nicht entschuldbar: "Gewalt ist keine
Lösung für Probleme." Denn: "Gewählte Politiker haben
eine wichtig Vorbildfunktion und dürfen auf keinen Fall
gewalttätig werden."
Dass dieser Vorfall passiert ist, verwundert Jakob weiter nicht:
"Der Mann stammt aus der Reithalle-Anarchoszene."
jsp
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CLUBLEBEN BE
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Hotelrevue 24.2.11
Berns Altstadt weiterhin ohne Ordnungsdienst
Die obere Berner Altstadt ist die wichtigste "Ausgehmeile" der
Bundesstadt. Totzdem wird es dort weiterhin keinen privaten
Ordnungsdienst geben, an dem sich die Wirte beteiligen müssen oder
können, wie das zum Beispiel in Biel und Thun der Fall ist.
Stadtverwaltung und der Berner Regierungsstatthalter haben einen
entsprechenden Konzeptentwurf abgewiesen. Gemäss Berner
Gemeinderat bleibt die Polizei für die Sicherheit zuständig.
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Langenthaler Tagblatt 18.2.11
Kein privater Ordnungsdienst
Bern In der oberen Altstadt gibt es auch weiterhin keinen
privaten Ordnungsdienst. Die Stadtverwaltung und der Berner
Regierungsstatthalter haben einen Konzeptentwurf sistiert.
Regierungsstatthalter Christoph Lerch sagte auf Anfrage: Negative
Reaktionen auf die Idee des privaten Ordnungsdienstes, Kritik in den
Medien sowie eine ablehnende Stellungnahme des Berner Gemeinderats
hätten das Regierungsstatthalteramt zu diesem Entschluss
geführt. Das für März geplante Treffen mit den
Betreibern von Gaststätten werde abgesagt. Es gelte nun, die Lage
noch einmal zu analysieren und gemeinsam mit der Stadt Bern neu und
sauber aufzugleisen, so Lerch weiter.
Lerch äusserte sich so, nachdem der Berner Gemeinderat den
Projektentwurf diskutierte und sich dagegen aussprach. Die
öffentliche Sicherheit sei zwingend durch die Polizei zu
gewährleisten, teilte die Stadtregierung in einem
Communiqué mit. Seine Haltung begründet der Berner
Gemeinderat auch mit einem Entscheid des Berner Stimmvolks im März
2010 an der Urne. Es beschloss damals eine Aufstockung der
Fusspatrouillen von Kantonspolizisten. Diese von der Stadt Bern zu
bezahlende Aufstockung sei für neuralgische Orte vorgesehen. Dazu
gehöre die obere Altstadt - der wichtigste Ort des Nachtlebens in
der Bundesstadt. Für die Stadtregierung sei es eine
Priorität, den Volksentscheid ab dem kommenden Jahr "wirksam
umzusetzen".
Initiativen wie von Lerch sind auch aus Thun bekannt. In Thun
beteiligen sich die Wirte der Innenstadt pro Jahr mit 41000 Franken an
den totalen Sicherheitskosten der Stadt von 210000 Franken, wie aus
einer Mitteilung der Thuner Sicherheitsdirektion von November 2010
hervorgeht. An diesem Konzept richtete sich Lerch gemäss eigenen
Aussagen aus, als er beschloss, etwas für mehr Ruhe und Ordnung in
der oberen Berner Altstadt zu unternehmen. Sein Ziel sei es, die
"Ausgehmeile" obere Altstadt Bern zu erhalten, aber so zu gestalten,
dass die Verhältnisse für alle akzeptabel seien, so Lerch.
(sda)
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UNIA (BE)STREIKT
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Langenthaler Tagblatt 28.2.11
Gewerkschaftsbund Emmental solidarisiert sich mit Unia-Angestellten
Burgdorf Die Delegierten des Gewerkschaftsbundes Emmental (GBE)
haben sich am 24. Februar in Burgdorf zu ihrer 10.
Delegiertenversammlung getroffen. Die Jahresversammlung des
Dachverbandes von über 7000 Gewerkschafterinnen und
Gewerkschaftern aus der Region Emmental bilanzierte unter dem Vorsitz
von GBE-Präsident Martin Schwander die arbeitsrechtlichen und
politischen Auseinandersetzungen des vergangenen Jahres und liessen
sich von Nationalrat André Daguet und dem Präsidenten des
Kantonalen Gewerkschaftsbundes, Grossrat Corrado Pardini, über den
Kampf für Mindestlöhne und faire Steuern informieren. Die
Burgdorfer Stadtpräsidentin und Grossrätin Elisabeth
Zäch ihrerseits verdankte dem Gewerkschaftsbund Emmental seinen
Einsatz für den Campus Burgdorf.
Der Campus-Entscheid ist für die GBE aber noch nicht
gegessen. In einer Resolution verlangen sie vom Regierungsrat eine
Rücknahme des Entscheides zum Fachhochschulstandort Burgdorf. Die
von der Regierung angeführten Argumente könnten nicht
nachvollzogen werden. "Verkehrstechnisch ist Burgdorf bestens
erschlossen und die verschiedenen Standorte der Fachhochschule in der
Stadt sind in kürzester Zeit vom Zentrum aus zu Fuss erreichbar",
schreibt der GBE.
Resolution gegen Lohnkürzungen
An der Delegiertenversammlung verabschiedete die GBE weiter eine
Resolution gegen die geplanten Lohnkürzungen bei der Firma Mopac
AG in Wasen im Emmental. Der Verpackungshersteller eröffnete
seinen Angestellten am 11. Februar, sämtliche Löhne um 10
Prozent zu kürzen. Die Delegierten des GBE fordern die sofortige
Rücknahme der geplanten Lohnkürzung durch die Mopac und die
Bezahlung von existenzsichernden Löhnen. Denn diese würden
seit einer Lohnkürzung im Jahr 2004 nicht mehr für die
Existenzsicherung reichen.
Intrigen in Unia-Führung
An ihrer Delegiertenversammlung solidarisierten sich die
Mitglieder des Gewerkschaftsbundes Emmental mit den Unia-Angestellten
und den Basisgremien der Unia-Sektionen Bern und Oberaargau-Emmental,
die sich zu diesem Zeitpunkt noch im Streik befanden. Im aktuellen
Arbeitskonflikt geht es nach Meinung der Delegierten des
Gewerkschaftsbundes Emmental grundsätzlich um die Haltung der Unia
gegenüber ihren Basisgremien und ihrem Personal. Die
Führungskultur der Unia sei allzu oft von Machtgehabe, Intrigen
und Repression geprägt, obwohl die Anforderungen an das
Gewerkschaftspersonal ständig stiegen.
Der autoritäre und arrogante Führungsstil einiger
basis- und demokratieferner Gewerkschaftskader, die alleine ihre
beruflichen und politischen Karrieren im Auge haben, drohten die
Gewerkschaft Unia zunehmend zu lähmen. Die Glaubwürdigkeit
der Gewerkschaft nehme grossen Schaden, wenn nicht endlich
aufgehört würde, "Wasser zu predigen und Wein zu trinken".
Die Delegierten des Gewerkschaftsbundes Emmental fordern deshalb die
Unia-Geschäftsleitung auf, eine Führungskultur zu etablieren,
die Machtgehabe, Intrigen und Repression verhindert und eine
Personalpolitik zu betreiben, die ein förderliches Arbeitsumfeld
und ein positives Arbeitsklima erzeugt. (mgt/ama)
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Bund 26.2.11
Der Streik bei der Unia ist vorerst sistiert
Natalie Imboden muss die Interimsleitung der Sektion Bern abgeben.
Christian Brönnimann
Die Querelen rund um die Absetzung des Leiters der Sektion Bern
der Gewerkschaft Unia, Roland Herzog, nehmen nicht ab (der "Bund"
berichtete). Zwar haben die Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien
dazu geführt, dass die rund 40 streikenden Gewerkschafter gestern
Nachmittag ihre Arbeit wieder aufgenommen haben. Der Streik ist damit
aber nicht beendet, sondern bloss bis am 11. März "sistiert", wie
einer Mitteilung zu entnehmen ist. Die Verhandlungen werden
weitergeführt, als neuer Vermittler amtet
Unia-Schweiz-Co-Präsident Renzo Ambrosetti.
Die unzufriedenen Unia-Mitarbeiter fordern, dass die Versetzung
von Herzog auf das Zentralsekretariat rückgängig gemacht
wird. Herzog war vor zehn Tagen versetzt worden wegen "fehlender
Bereitschaft, mit der Regionsleitung konstruktiv zusammenzuarbeiten".
Co-Regionsleiterin ist Natalie Imboden, Grossrätin und
Präsidentin des Grünen Bündnisses der Stadt Bern.
Co-Präsident Rieger greift ein
Weiter teilte die Gewerkschaft gestern mit, dass die
interimistische Leitung der Sektion Bern Natalie Imboden und
Geschäftsleitungsmitglied Markus Gerber entzogen wird. Neu
übernimmt diese bis zum Abschluss der Verhandlungen der
Unia-Schweiz-Co-Präsident Andreas Rieger. Über die
Gründe für diesen Schritt schweigt sich die Unia auch auf
Nachfragen aus. Es ist möglich, dass dies eine Forderung der
Streikenden war.
Natalie Imboden war gestern für eine Stellungnahme nicht
erreichbar. Roland Herzog sagte auf Anfrage nicht mehr, als dass er
zuversichtlich sei, dass in den nächsten zwei Wochen eine
Lösung gefunden werde, denn Vermittler Ambrosetti geniesse das
Vertrauen von allen Seiten. Das Schweigen der Involvierten macht die
Einschätzung des Konflikts schwierig. Offen ist, ob
persönliche Differenzen und Führungsprobleme ausschlaggebend
waren oder Strukturprobleme der Gewerkschaft.
Imbodens Image in Gefahr
Klar ist indes, dass Imbodens Image Schaden nehmen könnte.
Die 40-Jährige gilt als mögliche Kandidatin für die
Nachfolge von Gemeinderätin Regula Rytz, falls diese im Herbst die
Wahl in den Nationalrat schafft. Nun sieht sich die - laut Eigenwerbung
- Kämpferin für gute Arbeitsbedingungen selbst mit einem
Arbeitskonflikt konfrontiert.
Politikberater Mark Balsiger erkennt möglichen Schaden auf
zwei Ebenen: Einerseits könne ein solcher Konflikt parteiintern
Angriffsfläche bei der Ausmarchung bieten, wer für bestimmte
Ämter nominiert werde. Andererseits sei Imboden in der
Öffentlichkeit exponiert. Die jetzige Ausgangslage sei verzwickt,
erklärt Balsiger. Wenn die Versetzung von Herzog
zurückgenommen werde, könnten Kritiker fehlende
Autorität monieren; werde am Entscheid festgehalten und gingen die
Verhandlungen nicht zur Zufriedenheit der Arbeiter aus, stünde der
Vorwurf der mangelnden Sozialkompetenz im Raum.Falls aber eine
überzeugende Lösung gefunden werde, dann gehe Imboden
gestärkt aus dem Konflikt hervor. "Das ist für sie auch eine
grosse Chance", sagt Balsiger. "Sie könnte damit
Führungsqualitäten unter Beweis stellen und sich so
profilieren."
Ähnlich sieht es Politologe und Berater Louis Perron. Bei
Krisen gebe es drei Varianten, wie dies bei drei SP-Leuten ersichtlich
sei: Die Karriere könne daran scheitern, wie bei der ehemaligen
Neuenburger Stadtpräsidentin Valérie Garbani; man
könne sie überleben, wie Nationalrätin Margret
Kiener-Nellen; oder aber man könne daraus Profit schlagen, wie
einst Jean Ziegler. Bei Imboden spreche einiges für die beiden
letzten Varianten: "So überraschend wie auf den ersten Blick ist
ein Streik in einer Gewerkschaft gar nicht", sagt Perron. Dieser sei
ein legitimes Mittel von Arbeitnehmern. Gerade Gewerkschafter
wüssten am besten, welche Möglichkeiten sie hätten. Zum
anderen entlaste die Konstellation im Konflikt Imboden. "Dass ein
gestandener Gewerkschaftskämpfer, der den Ruf eines
Eigenbrötlers hat, mit seiner 20 Jahre jüngeren Vorgesetzten
aneinandergerät, ist auch ohne die Details zu kennen leicht
vorstellbar", so Perron.
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BZ 26.2.11
Die Unia-Angestellten unterbrechen ihren Streik
BernDer hauseigene Vermittler Renzo Ambrosetti soll den
Unia-Streit bis in zwei Wochen schlichten.
Waffenstillstand bei der Unia. Eine Delegation der nationalen
Geschäftsleitung hat sich am Donnerstagnachmittag mit einer
Delegation der Streikenden der Sektionen Bern und Oberaar-gau-Emmental
geeinigt. In den nächsten zwei Wochen wird eine Vermittlung unter
der Leitung des Tessiner Juristen und Co-Präsidenten Renzo
Ambrosetti durchgeführt. Bis zum Abschluss dieser Gespräche
übernimmt Co-Präsident Andreas Rieger die Leitung der Sektion
Bern.
Die Präsidenten der Sektionen haben sich dieser
Konfliktlösung angeschlossen, wie die Geschäftsleitung der
Unia-Sektionen Bern und Oberaargau-Emmental gestern mitteilte. Die
beiden Sektionen unterbrechen ihren Streik, zumindest bis am 11.
März. Gestern Freitag nahmen die Gewerkschaftsangestellten um 14
Uhr ihre Arbeit wieder auf. Gemäss verschiedenen Quellen war der
Streik eine Premiere: Zum ersten Mal protestieren Angestellte einer
Gewerkschaft, die im Gewerkschaftsbund organisiert ist, auf diese Art
gegen ihren Arbeitgeber. Am 17. Februar wurde zudem das nationale
Komitee von solidarischen Unia-Mitarbeitenden gegründet.
Auslöser für den Streik war die angekündigte
Versetzung von Roland Herzog, dem langjährigen Leiter der Sektion
Bern, ins Zentralsekretariat. Als Grund gab die Unia-Leitung an, Herzog
kooperiere zu wenig. Der 59-Jährige stand letztes Jahr im
Rampenlicht, als er sich für die Arbeiter der Kartonfabrik
Deisswil ins Zeug legte.
kle/sda
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Bund 25.2.11
Unia-Konflikt: Verhandlungen ziehen sich in die Länge
Gestern und vorgestern herrschte Funkstille: Weder die
Unia-Leitung noch die streikenden Mitarbeiter informierten über
den Stand des Konflikts. Nachdem eine erste Aussprache am Dienstag
wegen gesundheitlicher Probleme eines Vertreters der Unia-Schweiz hatte
verschoben werden müssen, wird unterdessen aber offenbar
hartnäckig verhandelt. Sobald es eine Lösung gebe, werde die
Gewerkschaftsleitung informieren, sagte Unia-Sprecher Nico Lutz gestern
Abend.
Derweil mobilisieren die Mitarbeiter der Sektionen Bern und
Oberaargau-Emmental Gleichgesinnte via Internet. "Wir sind
überwältigt von der Solidarität, die wir von
Unia-Mitgliedern, Vertrauensleuten und Unia-Mitarbeitenden aus anderen
Sektionen erhalten", heisst es auf einer einschlägigen Seite.
Die Streikenden wehren sich gegen die Absetzung Roland Herzogs
als Leiter der Sektion Bern und plädieren für eine
Demokratisierung der Gewerkschaft.(rw)
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BZ 25.2.11
Verhandlungen der Unia zogen sich in die Länge
BernIm Streit zwischen den Streikenden der Unia und der
Geschäftsleitung wurde gestern weiterverhandelt.
Bereits über eine Woche dauern die Auseinandersetzungen bei
der Gewerkschaft Unia Bern. Nachdem die Angestellten der Sektionen Bern
und Emmental-Oberaargau in den Streik getreten waren, wird seit einer
Woche verhandelt. Gestern sind in einem Restaurant in Bern zum dritten
Mal Gespräche zwischen den Streikenden und der
Geschäftsleitung geführt worden. Ein Resultat wurde nicht
bekannt gegeben, die Sitzung dauerte bis gegen Abend.
Auslöser für den Streik der Unia-Mitarbeitenden war die
Absetzung von Roland Herzog, dem langjährigen Leiter der Sektion
Bern, kurz vor seiner Pensionierung. Die Angestellten verlangen die
Wiedereinsetzung Herzogs.
hrh
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WoZ 24.2.11
Streik bei der Unia
Nicht nur predigen - auch selber kämpfen
Das hat es noch nie gegeben: GewerkschafterInnen streiken gegen
die eigene Gewerkschaft. Ist das eine kleine Revolution von unten
oder bloss ein interner Machtkampf innerhalb der Unia? Zu Besuch
im Herzen des Aufstands.
Von Dinu Gautier
Das Unia-Gebäude an der Berner Monbijou strasse ist mit
Unia-Fahnen beflaggt - als Zeichen des Protests gegen die eigene
Führung.
Es ist Donnerstag, der 17. Februar. Drinnen sitzen Streikende in
einem überfüllten Sitzungszimmer. Ihre Wut ist deutlich zu
spüren. Von der "autoritären Geschäftsleitung" in der
Zentrale der Unia-Schweiz, von "Repression", ja sogar von "Diktatur"
ist die Rede. Es scheint, als nähme hier eine kleine Revolution
ihren Anfang. SekretärInnen aus anderen Sektionen der
Deutschschweiz treffen ein. Einer sagt: "Wir sind aus Solidarität
hier. Probleme mit der Arroganz dieser Herren und Damen gibt es
überall in der Schweiz." Ein anderer sagt: "Was wir draussen
predigen, das machen wir jetzt selber: kämpfen. So sind wir bei
der Gewerkschaft erzogen worden. Das ist ein historischer Tag."
Zwangsversetzt in die Zentrale
Worum gehts? Zwei Tage zuvor, am Dienstag gegen Abend, erfuhr das
Personal, dass Roland Herzog, der 59-jährige Leiter der Sektion
Bern, seines Amtes enthoben und in die gesamtschweizerische Zentrale
der Unia am anderen Ende der Stadt strafversetzt werde.
Die Unia ist eine komplexe Organisation: Auf der unters ten
Ebene, den so genannten Sektionen, halten die
GewerkschaftssekretärInnen den Kontakt mit allen Mitgliedern und
müs sen neue Mitglieder werben, dar über kommen die
Regionalsekretariate, die eher koordinierende Aufgaben haben, zuoberst
steht die aus sieben Mitgliedern bestehen de gesamtschweizeri sche
Geschäftsleitung (vgl. "Die Struktur der Unia").
"Duke", wie Herzog von seinen Mitarbeiter Innen genannt wird, ist
beliebt im Team. Eine Sekretärin beschreibt ihn als
verlässlich und loyal. Er sei nicht autoritär und
ermögliche es den MitarbeiterInnen, "sich zu entfalten".
Bereits am Mittwochmorgen haben die Unia-Sekretär Innen der
Sektionen Bern und Oberaargau-Emmental - insgesamt knapp vierzig
Personen - beschlossen, per sofort in den Streik zu treten.
Sie fordern ultimativ die Wiedereinsetzung von Roland Herzog und die
Rücknahme einer Verwarnung gegen ein Mitglied der
Personalkommission. Beide Personalentscheide bezeichnen die Streikenden
als willkürlich. Zudem sei Herzog gewählt worden und
könne gar nicht abgesetzt werden.
Doch es geht um mehr als Personalentscheide, das wird am
Donnerstag im Sitzungszimmer der Streikenden deutlich. Der Tenor: Lange
genug habe man aus Loyalität zur Unia die Faust im Sack gemacht.
Nun habe die Absetzung von "Duke" das Fass zum Überlaufen
gebracht. Oder in einer weiteren, mehrmals verwendeten Metapher
ausgedrückt: "Der Dampfkochtopf ist explodiert." Im
Gewerkschaftsslang werden zahlreiche interne Konflikte jüngeren
und älteren Datums diskutiert. Delegierte aus den Sektionen Basel,
Solothurn, Biel-Seeland, Aargau und Oberwallis gründen ein
"Nationales Komitee von solidarischen Unia-Mitarbeitenden". Das Komitee
schreibt: "Wir halten unmissverständlich fest, dass unsere
Hauptanliegen nicht die personenbezogenen Konflikte betreffen, sondern
das Umfeld, in dem diese stattfinden. Sie stehen als Stellvertretung
von vielen ähnlichen Konflikten (Verwarnungen, Mobbing,
Kündigungen), die seit Jahren unsere Organisation prägen."
Weiter heisst es, dass der Druck auf die MitarbeiterInnen ständig
gewachsen und teilweise unerträglich geworden sei. So würden
die Zielvorgaben für die Werbung von Neumitgliedern immer
höher und unrealistischer angesetzt, was zu einer permanenten
Überlastung der SekretärInnen geführt habe, schreibt das
Komitee. Man müsse die Unia nun demokratisieren. Eine "Unia von
unten" bauen.
"Abmachungen nicht eingehalten"
In einem Rundmail wendet sich die be streikte Regionalleitung,
bestehend aus Natalie Imboden, Grossrätin der Grünen, und Udo
Michel, an die MitarbeiterInnen: Herzog habe die gewählte
Regionalleitung und seine direkte Vorgesetzte Natalie Imboden nie
akzeptiert. "Er verstiess nicht nur systematisch gegen gültige
Reglemente und Kompetenzregelungen in der Unia, sondern auch gegen
explizite Abmachungen, die er gegenüber der Regional-Leitung
eingegangen war." Man habe ihn vergebens mündlich und schriftlich
ermahnt. Angesichts dieser "besorgniserregenden Entwicklung"
hätten das Präsidium der Unia Schweiz und die Leitung der
Unia Region Bern entschieden, den in nächster Zeit sowieso
anstehenden Leitungswechsel in der Sektion Bern vorzuziehen. Unter
einer breit abgestützten neuen Leitung solle die Sektion "zu einem
normalen Funktionieren zurückfinden", so Imboden und Michel.
Zu diesen Vorwürfen sagt Herzog: Die Begründungen
für seine Versetzung seien vorgeschoben - "es gab tatsächlich
Schwierigkeiten und Reibungen, im Kern geht es aber um die Ausrichtung
dieser Gewerkschaft."
"Fehler auf beiden Seiten"
Gerne hätte die WOZ mit Natalie Imboden und VertreterInnen
der Geschäftsleitung gesprochen, um sie zu den Vorwürfen und
dem Konflikt im Allgemeinen zu befragen. Das Problem: Am Freitag hatten
sich Streikende und Bestreikte zu stundenlangen Verhandlungen
getroffen. Ergebnis: Keine Auskunft bis nach den nächsten
Verhandlungen - die erst am Mittwoch, nach
Redaktionsschluss der WOZ, zu Ende gingen.
Der Konflikt wirkt für Aussenstehende komplex und schwer
fassbar. Die Mediensperre verhindert, wirklich nachzuvollziehen, worum
es im Detail geht.
Immerhin äussert sich ein Sekretär der Sektion Berner
Oberland. Seine Sektion streikt nicht. Er hält grundsätzlich
viel von den MitarbeiterInnen der Sektion Bern, bezeichnet sie als ein
"gutes, schlagkräftiges Team". Mit dem Streik ist er allerdings
nicht einverstanden. "Hier wird versucht, eine Frage der
Personalpolitik zu einer politischen Richtungsfrage
aufzubauschen." Nicht nur Herzog sei demokratisch gewählt
worden. Dies sei auch bei Natalie Imboden und Udo Michel der Fall. "Es
findet kein Aufstand der Basis, sondern ein Aufstand für
Funktionärsanliegen statt", so der Sekretär weiter.
Auch andere GewerkschafterInnen, die nicht direkt in den Konflikt
involviert sind, sprechen von einem "Personalkonflikt" und einem
"Machtkampf", bei dem beide Seiten Fehler gemacht und schlecht
kommuniziert hätten. Die Unia sei bereits heute eine demokratische
Organisation, die sich bemühe, die Basis stärker einzubinden.
"Demokratisierung heisst aber mehr Mitsprache der Mitglieder, nicht der
Sekretäre", so ein ausserkantonaler Unia-Mitarbeiter.
Bei aller Härte, mit der jetzt die internen Kämpfe
ausgetragen werden, gibt es aus Unia-Sicht auch Erfreuliches zu
vermelden: Alle GewerkschafterInnen, denen die WOZ dieser Tage begegnet
ist - Streikende wie Nichtstreikende -, identifizieren sich sehr stark
mit der gewerkschaftlichen Arbeit. Eine Streikende sagt: "Wir
können nur hoffen, dass es bald zu einer guten Lösung kommt -
sonst droht die Arbeit von Jahren kaputtzugehen."
--
Komplexe Verhältnisse
Die Struktur der Unia
Die Gewerkschaft Unia ist ein Verein. Sie ist 2004 aus der Fusion
der Gewerkschaften Bau und Industrie (GBI), Industrie, Gewerbe,
Dienstleistungen (SMUV) und Verkauf, Handel, Transport, Lebensmittel
(VHTL) entstanden. Heute hat die Unia etwa 200000 Mitglieder.
Um diese Zahl zu halten, müssen in den Sektionen
jährlich rund 20000 neue Mitglieder geworben werden. Die Unia
beschäftigt zirka 950 Personen.
Die Unia Schweiz ist eine höchst komplexe Organisation, die
in 14 Regionen unterteilt ist, welche wiederum aus Sektionen bestehen.
Zahlreiche Reglemente auf allen Ebenen, die sich zum Teil
widersprechen, und unzählige Gremien führen dazu, dass selbst
gestandene FunktionärInnen den Überblick verlieren, wer
welche Kompetenzen hat.
Im Fall des Berner Sektionsleiters Roland Herzog (vgl.
nebenstehenden Text) ist juristisch die Frage interessant, ob die
Strafversetzung überhaupt rechtens ist, da die Absetzung eines
Sektionsleiters in den Reglementen nicht geregelt ist - was darauf
hindeutet, dass die Absetzung in der Kompetenz des
Delegiertenversammlung der Sektion liegt, die ihn auch gewählt hat.
Bei Herzog waren es jedoch das Regionalpräsidium und
Mitglieder der Geschäftsleitung der Unia Schweiz, die seine
Absetzung beschlossen haben. DIG
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Langenthaler Tagblatt 24.2.11
Unia-Mitglieder solidarisieren sich mit Streikenden
Oberaargau/Emmental/Bern Seit Wochenfrist sind rund 40 von 87
Mitarbeitenden der Unia-Sektionen Oberaargau-Emmental und Bern im
Streik. Die Büros in Langenthal, Huttwil, Burgdorf, Langnau und
Bern sind zu. Der Streik richtet sich gegen die Versetzung des Berner
Sektionsleiters in die Unia-Zentrale und eine Verwarnung des nationalen
Präsidenten der Personalkommission, Nazmi Jakurti. Nun schliesst
sich die Unia-Basis dem Protest an: Die jährliche
Delegiertenversammlung des Gewerkschaftsbun des Oberaargau (GBO) - er
wird vom Langenthaler Jakurti präsidiert - hat sich am
Dienstagabend mit den Streikenden "vollumfänglich solidarisiert",
so der GBO. Die "autoritären Tendenzen" in der Gewerkschaft
müssten "unmissverständlich eingedämmt" werden. Gehe es
doch nicht um Einzelfälle, "sondern um die Notwendigkeit eines
internen Demokratisierungsprozesses und nicht zuletzt auch um eine
inhaltliche Erneuerung".
Die Verhandlungen zwischen der nationalen Unia-Spitze und einer
Delegation der Streikenden wurden am Mittwoch wieder aufgenommen (vgl.
gestriges az Langenthaler Tagblatt). Am Abend wurden sie jedoch ohne
Angaben zu allfälligen Ergebnissen bis Donnerstag unterbrochen.
Laut Nico Lutz, Sprecher Unia Schweiz, wurde erneut Stillschweigen
vereinbart. (sat) Weiterer Bericht: Seite 23
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Le Temps 24.2.11
Des syndicalistes d'Unia en guerre contre leur patron
Deux sections bernoises font grève et cinq
secrétaires syndicaux neuchâtelois prennent la porte
Pierre-Emmanuel Buss
C'est du jamais-vu dans le monde syndical. Les employés
Unia des sections de Berne et d'Oberaargau-Emmental sont en
grève depuis le 16 février. Ils protestent
contre la destitution immédiate du chef de la section de Berne,
Roland Herzog. Selon un représentant syndical, cette
décision a été "la goutte qui a fait
déborder le vase" après plusieurs semaines de conflit
larvé. Outre la réintroduction de leur collègue,
les grévistes demandent au comité directeur national "une
démocratisation interne" du syndicat. Des négociations
sont en cours pour sortir de l'impasse.
Suivi de près par les sections régionales, le bras
de fer engagé à Berne trouve un écho particulier
à Neuchâtel. Convoqués mardi matin pour une
assemblée générale extraordinaire, les
employés du syndicat ont décidé de soutenir le
mouvement bernois. "Nous demandons trois choses au comité
directeur, indique Silvia Locatelli, secrétaire syndicale et
vice-présidente du Parti socialiste neuchâtelois. Un
retour à la démocratie avec une organisation plus
horizontale; une meilleure prise en compte de l'avis des comités
de section et de nos membres; une amélioration de la politique
du personnel."
Ces requêtes ne sont pas nouvelles. En juillet 2010,
l'ensemble des secrétaires syndicaux d'Unia Neuchâtel
avaient envoyé une lettre à la secrétaire
régionale, Catherine Laubscher, entrée en fonction une
année plus tôt. Dans ce courrier, que Le Temps s'est
procuré, les signataires dénonçaient "un malaise
général" au sein de la section. Ils déploraient
"un déficit démocratique et un manque de transparence
dans les prises de décision". Ils demandaient que "les rapports
hiérarchiques et la communication en général
soient repensés et clarifiés".
Catherine Laubscher a donné une réponse au courrier
des secrétaires syndicaux le 28 septembre 2010.
Depuis lors, les choses ne se sont guère
améliorées. En six mois, Unia Neuchâtel a
enregistré le départ de cinq secrétaires
syndicaux, soit près de la moitié de l'effectif. Cette
hécatombe est-elle exclusivement liée à un climat
de travail difficile? "Pour trois des cinq, c'est évident",
assure Nicolas Turtschi, qui a quitté le navire en octobre
dernier.
Selon le démissionnaire, "les secrétaires syndicaux
sont mis sous pression selon la logique néolibérale
qu'ils sont censés combattre". Pour atteindre les objectifs
d'adhésion de nouveaux membres fixés par Berne, ils
doivent travailler comme "des vendeurs d'assurances" contraints de
faire le forcing auprès des travailleurs.
Dans cette logique d'efficience, les idéaux syndicaux en
prennent un coup, comme le montrent deux exemples pratiques. Un
courriel interne du 30 novembre 2010 signé par
Catherine Laubscher stipule pour 2011 que les employés "malades
durant plus de trois mois dans l'année ne toucheront pas
d'échelon salarial supplémentaire". En 2008 et 2009, 63
membres d'Unia Neuchâtel ont été mis aux poursuites
pour non-paiement de leurs cotisations. La démarche a
choqué à l'interne.
Montrée du doigt pour être "à la botte de
Berne", Catherine Laubscher minimise les difficultés: "J'ai
travaillé 13 ans à la centrale nationale.
Cela dérange certains. Mais il n'y a pas plus de
problèmes à Neuchâtel qu'ailleurs. Nous avons des
objectifs de campagnes et de recrutement par secteur. C'est normal. Je
rappelle que ce sont les cotisations des membres qui nous permettent de
payer les salaires et de faire notre travail syndical." Quid des
poursuites engagées contre les mauvais payeurs? "Ce n'est pas ma
première priorité. Pour le moment, nous n'avons mis aux
poursuites aucun des membres qui n'ont pas payé leurs
cotisations en 2010."
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Bund 22.2.11
Der "Duke" nimmt es mit allen auf
Roland Herzog ist ein äusserst engagierter
Vollblutgewerkschafter und geniesst in der Basis grossen Rückhalt.
Mit Autoritäten hat er es aber nicht so. Die Unia-Leitung stellt
ihn deshalb kalt. Die Krise in der grössten Gewerkschaft der
Schweiz droht sich auszuweiten.
Reto Wissmann
Roland Herzog hat in seinen vielen Jahren als
Gewerkschaftsfunktionär schon viele Arbeitskämpfe
ausgefochten. Stets setzte er sich dabei für die Rechte der
einfachen Angestellten ein und rang manchem Arbeitgeber
Zugeständnisse ab. Doch nun ist der "Duke", wie er in Anspielung
auf seinen Nachnamen genannt wird, an einen mächtigen Gegner
geraten. Seine eigenen Chefs haben ihn der Leitung der Unia-Sektion
Bern enthoben und bis zur Pensionierung ins Zentralsekretariat
strafversetzt (der "Bund" berichtete). Wie er es stets tut, wenn er
eine Ungerechtigkeit vermutet, gibt Herzog aber nicht klein bei,
sondern steigt auf die Barrikaden. Unterstützt wird er von 40
Angestellten der Gewerkschaft. Seit Donnerstag bestreiken sie die
Sektionssekretariate Bern und Oberaargau-Emmental - ein einmaliger
Vorgang in der Schweizer Gewerkschaftsszene.
In den Internetforen sind die Fronten klar. Herzog wird als
engagierter, umgänglicher, basisnaher Gewerkschafter beschrieben,
der den selbstherrlichen Gewerkschaftsbossen vor der Sonne steht. "Er
ist ein sehr guter Gewerkschafter. Es ist unglaublich, was sie mit ihm
gemacht haben", heisst es beispielsweise auf www.derbund.ch. Er sei ein
Vollblutgewerkschafter, der praktisch rund um die Uhr für die
Mitglieder da sei und dessen Herz für die einfachen Arbeiter
schlage. "Der Duke lebt für die Unia", heisst es in einem weiteren
Kommentar.
Neue Leitung, altgedienter Kämpe
Von den Chefs der Unia-Region Bern tönt es allerdings ganz
anders: Herzog fehle die Bereitschaft, mit der Leitung "konstruktiv
zusammenzuarbeiten". Zudem habe er Abmachungen nicht eingehalten,
Informationen vorenthalten und die neue Leitung nicht akzeptiert.
Dadurch sei die "Leitungssituation" in der Region Bern blockiert
worden. Seit 2009 sind die grüne Grossrätin Natalie Imboden
und Udo Michel als Co-Regionsleiter Herzogs Vorgesetzte. Herzog selber
arbeitete früher für die Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI)
und wurde nach der Gründung der Unia zum Sekretär der Sektion
Bern gewählt. In rund einem Jahr hätte der 59-Jährige
pensioniert werden sollen, da er offenbar mehr als zwei Jahre
Überzeit angehäuft hat.
Nachdem eine erste Verhandlungsrunde am Freitagabend ohne
Ergebnis blieb, versuchen Gewerkschaftsleitung und Streikende heute
erneut eine Lösung zu finden. Bis dahin haben sie Stillschweigen
vereinbart. Herzog war gestern nicht erreichbar. Entsprechend diffus
bleiben deshalb die Hintergründe des Konflikts. Klar ist, Herzog
gilt als äusserst engagierter Gewerkschafter. In jüngster
Vergangenheit hat er sich unter anderem im Kampf gegen den Abbau von
fast 500 Stellen bei der Berner Maschinenfabrik Wifag und gegen die
Schliessung der Kartonfabrik in Deisswil Respekt verschafft. Aber nicht
nur die Arbeiter würdigen Herzogs Arbeit: "Er ist ein harter, aber
fairer Verhandlungspartner, der sich sehr für die Anliegen der
Belegschaft und der Unia eingesetzt hat", sagt Hans-Ulrich Müller.
Der CS-Banker kennt Herzog aus den Verhandlungen um einen Neubeginn in
den Hallen der ehemaligen Kartonfabrik.
Nebst den Blumen, die Herzog erhält, gibt es aber auch
kritische Stimmen. So fragt man sich unter Gewerkschaftsmitgliedern,
wie ein Funktionär zwei Jahre Überzeit anhäufen konnte,
obwohl er offenbar von seinen Vorgesetzten zu einem Abbau gedrängt
worden war. Deutlich wird im ganzen Konflikt damit auch, dass der
studierte Soziologe und Ökonom ein Problem mit Vorgesetzten hat.
Corrado Pardini, SP-Grossrat und Mitglied der
Unia-Geschäftsleitung Schweiz, formuliert es so: "Herzog stellt
Autoritäten oft infrage und kommuniziert gerne mit allen auf
Augenhöhe." Selber habe er in der Zusammenarbeit mit Herzog aber
nie Probleme gehabt.
Genau hier dürfte der Kern des Konflikts liegen, der sich
zur nationalen Unia-Krise ausweiten könnte. Die 2004 aus einer
Fusion entstandene Riesengewerkschaft mit ihren 200 000 Mitgliedern und
fast 1000 Angestellten funktioniert heute weniger basisdemokratisch,
als dies einigen lieb ist. "Gewisse Hierarchien sind in einem Betrieb
wie der Unia notwendig", entgegnet Pardini, "wir müssen aber eine
bessere Balance zwischen Profistrukturen und Mitbestimmung der Basis
finden."
"Man kann nicht gegen alles sein"
Dass sich dabei einzelne Funktionäre querstellen,
stösst innerhalb der Gewerkschaft auf Kritik. "Es braucht
Spielregeln, an die sich alle halten müssen", sagt der ehemalige
SP-Grossrat Martin von Allmen. Auch eine Gewerkschaft müsse mit
der Zeit gehen und immer wieder ihre Strukturen hinterfragen. Von
Allmen ist seit 20 Jahren Gewerkschafter und heute Sekretär der
Unia-Sektion Berner Oberland - die sich nicht am Streik beteiligt. "Man
kann nicht gegen alles sein." Er habe das Gefühl, so von Allmen,
dass die Sektion Bern in letzter Zeit jedes Sachthema zu einer
Personalfrage hochstilisiert habe.
Der Fall Herzog droht sich nun bereits auszuweiten.
Ausserkantonale Sektionen solidarisieren sich mit den streikenden
Bernern. Unzufriedene fordern eine weitreichende Demokratisierung der
Strukturen. Eine solche Grundsatzdebatte würde allerdings viel
Kraft binden. Eine Lösung ist jedoch derzeit nicht absehbar.
Für die Regionalleitung ist die Absetzung Herzogs nicht
verhandelbar, die Streikenden hingegen beharren auf einer
Wiedereinsetzung ihres "Dukes".
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BZ 22.2.11
Unia-Streik geht weiter
BernDie Gespräche der Unia-Geschäftsleitung mit einer
Streikdelegation werden heute fortgesetzt. Der Streik in zwei Sektionen
dauert an.
Der interne Protest in der Gewerkschaft Unia ist noch nicht zu
Ende. Die Angestellten der Sektionen Bern und Oberaargau-Emmental waren
letzte Woche in einen Streik getreten. Am Freitag fanden erste
Verhandlungen mit der Unia-Geschäftsleitung statt. Die beiden
Parteien beschlossen, die Verhandlungen heute weiterzuführen. Der
Streik in den beiden Sektionen wird aber auch diese Woche
weitergeführt.
Entzündet hatte sich der Zwist, weil Roland Herzog,
langjähriger Sekretär der Sektion Bern, von der Unia-Leitung
kurz vor seiner Pensionierung abgesetzt wurde. Die Streikenden,
allesamt Angestellte auf den Unia-Sekretariaten, forderten, Herzogs
Absetzung müsse rückgängig gemacht werden. Kritisiert
wurde zudem der "autoritäre Führungsstil" der Leitung Region
Bern und der Unia-Geschäftsleitung.
hrh
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NZZ 22.2.11
PdA unterstützt Unia-Streik
Arbeitskampf innerhalb der Gewerkschaft
sig. · Unia, die grösste Einzelgewerkschaft der
Schweiz, wird für einmal links überholt: "Die Partei der
Arbeit solidarisiert sich im laufenden Arbeitskampf mit den
Belegschaften der Unia-Sektionen Bern und Oberaargau-Emmental",
schreibt die PdA in einer Mitteilung. Wohlgemerkt: Die Berner
Kommunisten unterstützen nicht etwa Arbeiter bei ihrem Kampf gegen
einen kapitalistischen Ausbeuter. Sie stellen sich vielmehr an die
Seite von Gewerkschaftern, die gegen ihre Gewerkschaft streiken.
Die rund 40 Unia-Angestellten hatten vergangene Woche die Arbeit
niedergelegt, um gegen die Absetzung des Berner Sektionschefs Roland
Herzog zu protestieren. Dieser soll Abmachungen nicht eingehalten und
sich Beschlüssen widersetzt haben. Der 59-jährige Herzog, der
die Zeit bis zu seiner Pensionierung auf dem Unia-Zentralsekretariat
hätte verbringen müssen, bestreitet die Vorwürfe. Am
Dienstag soll eine Aussprache zwischen der Unia-Leitung und den
Streikenden stattfinden. Die PdA fordert derweil die "basis- und
demokratiefernen Funktionäre" der Unia auf, ihre "skandalöse
Personalpolitik" zu beenden, und "verlangt nach personellen
Konsequenzen auf Leitungsebene".
Ein interner Streik bei einer Gewerkschaft stellt ein
landesweites Novum dar. Andere arbeitsrechtliche Auseinandersetzungen
sind aber keine Seltenheit. Anfang 2008 wurden drei
Unia-Kadermitarbeiter wegen Mobbing zu bedingten Bussen verurteilt. Im
gleichen Jahr suspendierte die Unia ebenfalls wegen Mobbing drei
Angestellte im Tessin. Die Gewerkschaft Syna musste letztes Jahr acht
entlassenen Mitarbeitern den Lohn nachzahlen, nachdem diese vor Gericht
obsiegt hatten.
---
Bund 21.2.11
Partei der Arbeit
Unterstützung für Streikende bei der Unia
Die Partei der Arbeit solidarisiert sich im laufenden
Arbeitskampf mit den Belegschaften der Unia-Sektionen Bern und
Oberaargau-Emmental. Die Partei unterstützt gemäss einer
Mitteilung die Forderung nach Wiedereinsetzung von Sektionsleiter
Roland Herzog und nach Rücknahme der Verwarnung des
Co-Präsidenten der nationalen Personalkommission, Jazmi Jakurti.
Der autoritäre und arrogante Führungsstil einiger
Funktionäre drohe die Gewerkschaft Unia zu lähmen und
füge der Glaubwürdigkeit gewerkschaftlicher Forderungen nach
Mitsprache und Mitbestimmung massiven Schaden zu.(pd)
---
20 Minuten 21.2.11
Harte Fronten im Unia-Konflikt
BERN. Die Berner Unia-Angestellten streiken weiterhin. Inzwischen
hat sich aber eine Delegation von ihnen mit Vertretern der nationalen
Gewerkschaftsleitung getroffen. Die Gespräche verliefen bisher
ergebnislos, sollen aber am Dienstag weitergehen. Die Partei der Arbeit
stellt sich nun hinter die Streikenden: Der geschasste Sektionsleiter
Roland Herzog soll wieder eingesetzt werden.
---
Langenthaler Tagblatt 21.2.11
Externe stören das Stillschweigen der Unia
Bern/Oberaargau Eine Delegation der nationalen
Geschäftsleitung der Unia hat sich am Freitagnachmittag noch mit
einer Delegation der Streikversammlung der Sektionen Bern und
Oberaargau-Emmental zu Gesprächen getroffen. Die beiden Parteien
haben vereinbart, die Verhandlungen morgen Dienstag fortzusetzen. Der
Streik in den beiden Sektionen werde aber heute weitergeführt. Im
Übrigen wurde vereinbart, dass gegenüber den Medien bis zur
zweiten Verhandlung nicht weiter kommuniziert wird.
Extern kein Stillschweigen
Während die zerstrittenen Parteien innerhalb der Unia
Stillschweigen vereinbart haben, spricht die Partei der Arbeit (PdA).
Sie solidarisiert sich im laufenden Arbeitskampf mit den Belegschaften
der Unia-Sektionen Bern und Oberaargau-Emmental. Sie unterstützt
deren Forderung nach Wiedereinsetzung von Sektionsleiter Roland Herzog
und nach Rücknahme der Verwarnung des Co-Präsidenten der
nationalen Personalkommission Nazmi Jakurti. "Der autoritäre und
arrogante Führungsstil einiger basis- wie demokratieferner
Funktionäre droht die Gewerkschaft Unia zu lähmen", schreibt
die Partei der Arbeit in einer Mitteilung. Die PdA spricht von einer
"skandalösen Personalpolitik gegenüber einer bis anhin
äusserst engagierten Belegschaft" und verlangt nach personellen
Konsequenzen auf Leitungsebene. (uby/mgt)
---
pdabern.ch 19.2.11
Medienmitteilung der PdA Bern
Arbeitskampf innerhalb der UNIA
Die Partei der Arbeit solidarisiert sich im laufenden Arbeitskampf mit
den Belegschaften der UNIA Sektionen Bern und Oberaargau-Emmental und
unterstützt deren Forderung nach Wiedereinsetzung von
Sektionsleiter Roland Herzog und nach Rücknahme der Verwarnung des
Co-Präsidenten der nationalen Personalkommission Jazmi Jakurti.
Der autoritäre und arrogante Führungsstil einiger basis- wie
demokratieferner Funktionäre droht die Gewerkschaft UNIA zu
lähmen und fügt der Glaubwürdigkeit gewerkschaftlicher
Forderungen nach Mitsprache und Mitbestimmung massiven Schaden zu. Dass
die abgehobene Regionsleitung ihre skandalöse Personalpolitik
gegenüber einer bis anhin äusserst engagierten Belegschaft
gerade in einer Zeit verschärfter allgemeiner Arbeitsbedingungen
durchzuzwängen versucht, ist mehr als skandalös und verlangt
nach personellen Konsequenzen auf Leitungsebene.
Bern, 19.2.2011
---
Bund 19.2.11
Gespräche im Unia-Konflikt blieben bis am Abend ergebnislos
Die Gewerkschafter der Unia-Sektionen Bern und
Oberaargau-Emmental streiken weiter. Ein erstes Treffen mit einer
Delegation der nationalen Geschäftsleitung der Unia am Freitag hat
offenbar noch zu keinem Ergebnis geführt. In einer gemeinsamen
Medienmitteilung informierten die nationale Delegation und die
Delegation der Streikversammlung gestern Abend, dass sie am kommenden
Dienstag weiterverhandeln. Bis dahin werde gegenüber den Medien
nicht weiter kommuniziert.
Im Streik sind bis zu 40 Mitarbeiter der Unia-Region Bern. Sie
protestieren gegen das "autoritäre Gehabe" der Regionsleitung
("Bund" von gestern). Sie stellen zwei Forderungen: Erstens solle die
Regionsleitung die Absetzung des 59-jährigen Berner Sektionschefs
Roland Herzog rückgängig machen. Zweitens müsse die Unia
die Verwarnung eines Mitglieds der Personalkommission
zurücknehmen. Die Versetzung Herzogs sei nicht verhandelbar, hatte
die Spitze der Unia Schweiz am Donnerstag verlauten lassen. Herzog wird
vorgeworfen, er habe Beschlüsse der Regionsleitung nicht umgesetzt
und seine Chefin zu wenig informiert.(sda)
---
BZ 19.2.11
Lange Gespräche
GewerkschaftDie Verhandlungen der Unia-Chefs mit den Streikenden
dauerten gestern lange. Zu Ergebnissen kam man nicht, die
Gespräche gehen in eine zweite Runde.
Gestern um 14 Uhr begannen in Bern die Gespräche bei der
Gewerkschaft Unia. Die Verhandlungen waren eine Folge des Streiks von
40 Mitarbeitern, welche damit gegen die Absetzung von Roland Herzog als
Leiter der Sektion Bern protestierten (siehe Ausgabe von gestern). Das
Treffen zwischen Vertretern der Unia-Geschäftsleitung und den
Streikenden zog sich in die Länge. Bis am Abend führten die
Verhandlungen zu keinen Ergebnissen. Sie werden am Dienstag fortgesetzt.
hrh/sda
---
Schweiz Aktuell 18.2.11
Streiktaktik der Unia
Der Streik vor dem Tessiner Elektrounternehmen Trasfor ist nicht von
den Angestellten initiiert. Die Gewerkschaft Unia hat stark
nachgeholfen. Mit eigenen Autos hat sie die Fabrikeingänge
blockiert und die Mitarbeiter ermuntert, nicht arbeiten zu gehen.
http://videoportal.sf.tv/video?id=164b6032-fa4e-4fb7-b280-59a817f25dd9
---
Bund 18.2.11
Unia gerät unter Beschuss von eigenen Mitarbeitern
Gewerkschafter gegen Gewerkschafter: Unia-Mitarbeiter legen
Arbeit nieder.
In einem schweizweit beispiellosen Vorgang haben bis zu 40
Mitarbeiter der Unia Region Bern ihre Arbeit niedergelegt. Mit dem
Streik protestieren sie gegen das "autoritäre Gehabe" der
Regionsleitung. Nach Angaben des Personalverbands VPOD ist es das erste
Mal, dass bei einer Schweizer Gewerkschaft gestreikt wird. Der Konflikt
schwele seit langem, erklärten die Streikenden gegenüber den
Medien. Die Regionsleitung gehe respektlos mit dem Personal um und
versuche - wie auch gewisse Leute auf nationaler Ebene -
autoritäre Strukturen durchzusetzen.
Führung beschwichtigt
Am Sitz der Unia Schweiz im Egghölzli versuchte man den Ball
flachzuhalten. Mediensprecher Nico Lutz betonte, in jedem Unternehmen
könne es solche Konflikte geben. Auch eine Gewerkschaft sei davor
nicht gefeit. Andreas Rieger bedauerte als nationaler Co-Präsident
Schweiz die Eskalation des Konflikts. Dass die Unia zusehends
autoritär geführt werde, glaubt Rieger nicht.Die
Regionsleitung hat den Berner Sektionschefs Roland Herzog abgesetzt,
weil dieser lautCo-Regiosekretärin Natalie Imboden nicht
kooperativ gewesen sei (siehe "Bund" von gestern). Herzog habe
Beschlüsse der Regionsleitung nicht umgesetzt und sie als Chefin
ungenügend informiert. Daher habe man beschlossen, Herzog zu
versetzen. Der 59-Jährige, der zuletzt als kämpferischer
Gewerkschafter für die Deisswiler Arbeiter ins Rampenlicht
getreten war, soll die Zeit bis zu seiner Pensionierung auf dem
Unia-Zentralsekretariat verbringen.
Diese Versetzung sei nicht verhandelbar, betonte die Spitze der
Unia Schweiz. Trotzdem wollen die nationale Gewerkschaftsführung
und die Regionsleitung heute mit den Streikenden an einen Tisch sitzen.
Denn in einem Punkt sind sie sich einig: Der Konflikt ist schlecht
fürs Unia-Image. "Es darf nicht sein, dass unsere Mitglieder unter
dem Konflikt leiden", sagte Rieger.Die Unia hat landesweit 900
Angestellte, die sich um rund 200 000 Mitglieder kümmern. Bern ist
die grösste Unia-Region mit rund 25 000 Mitgliedern. Die knapp 90
Angestellten arbeiten in drei Sektionen, wovon die Sektion Oberland den
Streik nicht mitmacht.(sda)
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BZ/Berner Oberländer 18.2.11
40 Unia-Mitarbeiter im Streik
BernFür einmal streiken sie selber: 40 Mitarbeiter der
Gewerkschaft Unia haben die Arbeit niedergelegt, weil ihr Chef gehen
musste.
Ein Streik - ausgerechnet bei der Gewerkschaft Unia. Rund 40
Angestellte der Sektionen Bern und Oberaargau-Emmental haben die Arbeit
niedergelegt. Die Protestaktion richtet sich gegen den Beschluss der
Chefetage, wonach Roland Herzog, Leiter der Unia-Sektion Bern, seinen
Posten räumen muss. Das habe das Fass zum Überlaufen
gebracht, hiess es gestern bei den Streikenden. Diese kritisieren auch
den "autoritären Führungsstil" der Leiterin Region Bern und
der Geschäftsleitung.
Unia-Co-Präsident Andreas Rieger wies die Vorwürfe
zurück und begründete die Absetzung Herzogs. Heute Freitag
ist ein Gespräch zur Klärung der Situation angesetzt.hrh
Seite 2
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Unia-Personal streikt für seinen geschassten Chef
GewerkschaftEin Unikum: 40 Angestellte der Unia sind im Streik.
Sie protestieren so gegen die Absetzung von Roland Herzog, Leiter der
Sektion Bern. Heute will die Geschäftsleitung schlichten.
Das hat es bei Schweizer Gewerkschaften noch nie gegeben: einen
Streik der eigenen Mitarbeiter. Was sonst eine Kampfmassnahme der Unia
in fremden Firmen ist, läuft jetzt in den eigenen Reihen ab. Vor
dem Sekretariat der Sektion Bern an der Monbijoustrasse standen gestern
Frauen und Männer in roten Unia-Jacken, hinter ihnen ein
Transparent: "Das Unia-Personal ist im Streik". Als die Kamera des
Schweizer Fernsehens läuft, ertönen gar Sprechchöre.
"Wer ist unser Sektionsleiter?", schreit eine Frau. "Roland Herzog"
rufen die Umstehenden im Chor.
Herzogs Rückkehr gefordert
Die Protestaktion richtet sich gegen den Entscheid der
Unia-Leitung, den charismatischen Berner Gewerkschafter kurz vor seiner
Pensionierung abzusetzen (Ausgabe von gestern). Am Streik beteiligen
sich rund 40 Angestellte. Nebst der Sektion Bern sind es die
Mitarbeiter der Sektion Oberaargau-Emmental. Diejenigen der Sektion
Berner Oberland streiken nicht.
An einer Medienkonferenz begründeten die Unia-Angestellten
ihren Protest. "Es schwelt schon seit längerem ein Konflikt",
erklärte Elise Gerber, Co-Präsidentin der Personalkommission.
Die Angestellten goutieren den Führungsstil nicht, wie ihn der
Vorstand der Region Bern und die Geschäftsleitung praktizieren.
"Es gab immer wieder Angriffe auf Personen, die kritisch sind",
stellte der abgesetzte Roland Herzig fest. Die autoritären
Tendenzen hätten zugenommen. Man werde nicht in Entscheide
miteinbezogen. "Die Gewerkschaft lebt aber vom Einbezug ihrer
Mitarbeiter, sonst muss sie zumachen."
Die Absetzung des Sektionsleiters Herzog hat das Fass nun zum
Überlaufen gebracht. Die Streikenden fordern, Herzog müsse
wieder auf seinen Posten. Und sie verlangen auch, dass die
Geschäftsleitung eine Verwarnung des Langenthaler
Gewerkschaftssekretärs Nazmi Jakurti rückgängig macht,
weil sie gegen Unia-Reglemente verstosse.
Chefetage beschwichtigt
Ganz andere Töne waren gestern aus der Chefetage zu
hören. Bei der anschliessenden Medienkonferenz in der
Unia-Zentrale in Bern spielten die Verantwortlichen den Konflikt
herunter. "Am Streik ist nur rund ein Drittel der Mitarbeiter aus dem
Kanton Bern beteiligt", sagte Pressesprecher Nico Lutz. Der
Unia-Betrieb laufe in wesentlichen Teilen "normal weiter". Zum Streik
geführt habe wohl eine Kombination des grossen Drucks, der auf den
Mitarbeitern laste, und des Personalentscheids, sagte Lutz.
Seit ihrer Wahl vor anderthalb Jahren habe es "massive Probleme"
mit dem Leiter der Sektion Bern gegeben, sagte Natalie Imboden,
Co-Leiterin der kantonalbernischen Unia. Sie habe keine Einsicht in
Protokolle erhalten, sei von Sitzungen ausgeschlossen worden, und
Entscheide seien nicht angepackt und umgesetzt worden. "Die
Zusammenarbeit mit Roland Herzog war massiv gestört." Es habe
verschiedentlich Gespräche gegeben - vergebens.
Unia-Co-Präsident Andreas Rieger erklärte, Vorgesetzte
hätten nun einmal Weisungsrecht. Wenn dies zum Eklat führe,
"kann ein Konflikt manchmal nicht anders gelöst werden - auch wenn
es um einen alteingesessenen und verdienten Mann wie Roland Herzog
geht".
Zum Streik in der Unia sagt Präsident Rieger: "Das schadet
unserer Organisation. Doch ich bin zuversichtlich, dass sich die Lage
wieder normalisiert." Heute findet ein Gespräch zwischen der
Unia-Leitung und den Streikenden statt.
Herbert Rentsch
---
Langenthaler Tagblatt 18.2.11
Gewerkschafter bleiben hart
Bern/Oberaargau Der Konflikt bei der Gewerkschaft Unia Bern
spitzt sich zu: In einem schweizweit beispiellosen Vorgang haben bis zu
40 Mitarbeiter der Unia Region Bern sowie im Oberaargau und Emmental
gestern erneut die Arbeit niedergelegt (vgl. az Langenthaler Tagblatt
von gestern). Mit dem Streik protestieren sie gegen das
"autoritäre Gehabe" der Regionsleitung. Arbeiten wollen sie erst
wieder, wenn zwei Forderungen erfüllt sind: Erstens muss die
Regionsleitung die Absetzung des Berner Sektionschefs Roland Herzog
rückgängig machen. Und zweitens muss die Unia die Verwarnung
des nationalen Präsidenten der Personalkommission, Nazmi Jakurti,
zurücknehmen. Er präsidiert auch den Gewerkschaftsbund
Oberaargau.
Laut dem Personalverband VPOD ist es das erste Mal, dass bei
einer Schweizer Gewerkschaft gestreikt wird. Der Konflikt schwele seit
langem, erklärten die Streikenden. Der Fall Herzog habe das Fass
nun zum Überlaufen gebracht. Die Regionsleitung gehe respektlos
mit dem Personal um und versuche, autoritäre Strukturen
durchzusetzen. Insbesondere in Co-Regionalsekretärin Natalie
Imboden habe man das Vertrauen verloren.
Gibt es Verhandlungen?
Am Sitz der Unia Schweiz im Berner Egghölzli versuchte man
gestern Nachmittag, den Ball flach zu halten. Sprecher Nico Lutz
betonte, in jedem Unternehmen könne es solche Konflikte geben.
Auch eine Gewerkschaft sei davor nicht gefeit. Andreas Rieger bedauerte
als nationaler Co-Präsident die Eskalation. In der Sache zeigte er
sich aber unnachgiebig. Die Absetzung von Herzog sei nötig
gewesen, auch wenn er aufgrund des Persönlichkeitsschutzes dazu
nicht nähere Angaben machen könne.
Co-Regiosekretärin Imboden erneuerte vor den Medien den
Vorwurf, ihr Untergebener Herzog sei nicht kooperativ gewesen. Er habe
Beschlüsse der Regionsleitung nicht umgesetzt und sie als Chefin
ungenügend informiert. Der 59-Jährige, der zuletzt als
kämpferischer Gewerkschafter für die Arbeiter der
Kartonfabrik Deisswil auffiel, soll deshalb die Zeit bis zu seiner
Pensionierung auf dem Unia-Zentralsekretariat verbringen. Diese
Versetzung sei nicht verhandelbar, betonte die Spitze der Unia Schweiz.
Trotzdem wollen die nationale Gewerkschaftsführung und die
Regionslei- tung am Freitag mit den Streikenden an einen Tisch sitzen.
(sda/tg)
---
aufbau.org 17.2.11
http://www.aufbau.org/index.php?option=com_content&task=view&id=996&Itemid=1
Streik der Unia-Funktionäre!
Thursday, 17. February 2011
Die Unia-Führung zeigt wieder mal, was sie von der Basis und
"innergewerkschaftlicher Demokratie" hält. Diesmal wird der Berner
Sektionsleiter abgesetzt und die Personalkomission verwarnt. Die
Sektion Bern und Oberaargau-Emmental am 16. 2. in den Streik getreten
und ruft zur Solidarität auf. Der Streik steht auch für eine
basisorientierte Gewerkschaftspolitik.
Bitte Unterschriftensammlung unterschreiben.
http://www.aufbau.org/images/stories/flugis/Unterschriften%20Sammlung%2020110216.pdf
Versammlungen: Do. 17.2. und Fr. 18.2.: 19 Uhr, Monbijoustr. 61 Bern
Interview mit Jörg Studer: hier
http://www.aufbau.org/index.php?option=content&task=view&id=997
Material:
Petition unterschreiben
http://www.aufbau.org/images/stories/flugis/Unterschriften%20Sammlung%2020110216.pdf
Interview mit Jörg Studer
http://www.aufbau.org/index.php?option=content&task=view&id=997
Solidaritätserklärungen
http://www.aufbau.org/index.php?option=content&task=view&id=998
Facebook
http://www.facebook.com/home.php#!/profile.php?id=100000686057575&sk=wall
Hintergründe und aktuelles
http://www.aufbau.org/index.php?option=com_content&task=view&id=996&Itemid=109
Solikomitee gegründet (17.2.)
http://www.aufbau.org/index.php?option=com_content&task=view&id=996&Itemid=109
Absetzung des Streikkomitees Bellinzona
http://www.aufbau.org/index.php?option=com_content&task=view&id=638&Itemid=111
***
Bern, den 17.2.2011
Nationales Komitee von solidarischen Unia-Mitarbeitenden gegründet
- Diskussion über notwendige Veränderungen in unserer
Gewerkschaft lanciert
Kolleginnen und Kollegen aus den Sektionen/Regionen Biel-Seeland,
Basel, Solothurn, Aargau und Oberwallis haben sich heute Nachmittag an
einem Streiktreffen in Bern zusammengefunden.
Solidaritätserklärungen aus Zürich-Schaffhausen und
anderen Regionen trafen schriftlich ein. Delegierte aus den
verschiedenen Regionen haben ihre Arbeit aufgenommen, um die
Streikaktivitäten zu verstärken. Die Liste der Delegierten
ist zum Zeitpunkt dieser Mitteilung unvollständig. Weitere
Sektionen werden ihre Teilnahme dem Komitee mitteilen.
Ziel der Delegierten dieses Komitees ist die politischen
Hintergründe der Streikaktivitäten herauszuarbeiten und
entsprechende Vorschläge zu formulieren. Natürlich werden die
zwei Hauptforderungen der Sektionen Bern und OAE unterstützt und
die sofortige und bedingungslose Erfüllung gefordert. Wir halten
unmissverständlich fest, dass unser Hauptanliegen nicht die
personenbezogenen Konflikte betreffen, sondern das Umfeld, in dem diese
stattfinden. Sie stehen als Stellvertretung von vielen ähnlichen
Konflikten (Verwarnungen, Mobbing, Kündigungen), die seit Jahren
unsere Organisation prägen. Es sind grundsätzliche
gewerkschaftliche Problemfelder, die wir bisher ungelöst vor uns
herschieben. Deshalb ist der Konflikt in Bern einer der vielen Angriffe
auf Mitglieder und Beschäftigten der Unia.
Wir verurteilen autoritäre und repressive Massnahmen gegen
Mitarbeitende und gegen die Personalkommission. Klar ist auch, dass der
Druck auf die Mitarbeitenden ständig gewachsen und teilweise
unerträglich geworden ist. Wenn die Ziele immer höher und
unrealistischer gesteckt werden, führt dies zu einer permanenten
Überlastung der Mitarbeitenden. Die Führung von oben rein
durch Vorgaben der Mitgliederzahlen und viele gleichzeitig
stattfindenden Kampagnen bringen eine gewerkschaftsfeindliche Kultur
innerhalb der Unia hervor. Die Mitglieder und Beschäftigten haben
nichts zu sagen, sondern lediglich die Ziele zu erfüllen. Die
Ressourcen reichen jedenfalls nicht für die Erfüllung der
gestellten Ziele vor.
Wir verurteilen die verleumderische Darstellung des Konfliktes der
nationalen GL und des Präsidiums, wonach sie die Eskalation des
Konflikts den Streikenden zuschieben. Es war die GL, die diese
Medienkampagne losgetreten hat. Die Streikenden waren hingegen
gezwungen, öffentlich darauf zu reagieren. Es kann aber auch nicht
unser Ziel sein, dass wir gewerkschaftsinterne Konflikte
öffentlich austragen. Wir fordern Massnahmen, den Konflikt mit
internen Mitteln anzugehen.
Zudem ist es inakzeptabel, dass offensichtlich in verschiedenen
Sektionen versucht wird, Kolleginnen und Kollegen von einer aktiven
Solidarisierung abzuhalten. Das Gegenteil stellen wir hier fest: Wir
freuen uns über die grosse Mobilisierungskraft.
Wir fordern Kolleginnen und Kollegen von bisher unbeteiligten Regionen
auf, sich zu informieren, sich einzubringen und sich zu solidarisieren.
Wir haben eine Informationskampagne lanciert, durch die wir mit den
Vertrauensleuten eine Diskussion über die inhaltliche Ausrichtung
der angewendeten Methoden der Unia führen wollen. Denn das
Vertrauensleuteprojekt widerspricht diametral dem, was wir momentan
innerhalb der Unia erleben. Wenn es darum geht, mit kritischen
Meinungen der VL konfrontiert zu sein, werden sie nicht ernst genommen.
Deshalb fordern wir alle: Eine Unia von unten!
Die Delegierten der Sektionen/Regionen Basel, Solothurn, Biel-Seeland,
Aargau und Oberwallis
***
Soliaufruf der Streikenden. 17. Feb.:
Liebe Kolleginnen und Kollegen
Herzlichen Dank für die zahlreichen
Solidaritätsbezeichnungen, welche heute bereits bei uns
eingegangen sind!
Die vielen solidarischen Reaktionen von Basismitgliedern und
Mitarbeitenden aus den verschiedensten Sektionen und Regionen zeigen
uns, dass es sich bei diesem Konflikt um grundsätzliche Fragen in
der Unia handelt: Was für eine Gewerkschaft wollen wir? Wollen
wir, dass eine hierarchische Geschäftsleitung mit neoliberalen und
autoritären Methoden über die Basis und die Mitarbeitenden
hinweg ihre Marschrichtung vorgibt, oder wollen wir eine
Gewerkschaftsbewegung, die tatsächlich von unseren Mitgliedern
getragen wird? Für uns ist die Antwort klar: wir wollen eine
Gewerkschaft, die von unten getragen wird!
In der Beilage findet ihr eine Petition mit unseren Forderungen. Bitte
unterschreiben, die ArbeitskollegInnen zum unterschreiben motivieren
und an uns zurück schicken!
Ausserdem: Donnerstag und Freitag um 19h finden an der Monbijoustr. 61
in Bern Versammlungen statt, zu der alle solidarischen Leute eingeladen
sind.
Mit kollegialen Grüssen
Das Personal der Sektionen Bern und Oberaargau-Emmental
Für weitere Informationen:
Jörg Andres ( joerg.andres@unia.ch), Elise Gerber Perez
(elise.gerber@unia), Nazmi Jakurti (nazmi.jakurti@unia.ch), Cihan
Apaydin (cihan.apaydin@unia.ch) oder euch bekannte KollegInnen.
***
Erklärung der bestreikten Unia-Geschäftsleitung
Woche 7, 17. Februar 2011
Nach dem Leitungswechsel in der Sektion Bern hat ein Teil der
Belegschaft der Unia Region Bern die Arbeit niedergelegt. Nun wird der
Konflikt von ihnen leider bewusst eskaliert und heute mit einer
Medienkonferenz an eine breite Öffentlichkeit getragen.
Hintergründe zum Leitungswechsel in der Unia Sektion Bern
Im Sommer 2009 wurden Natalie Imboden und Udo Michel von den
Delegierten der Region Bern, der nationalen Geschäftleitung und
der nationalen Delegiertenversammlung als neue Regionsleitung
gewählt. Der Leiter der Unia Sektion Bern Roland Herzog hat die
gewählte Regionsleitung und seine direkte Vorgesetzte Natalie
Imboden von Anfang an nicht akzeptiert. Konkret verweigerte er
wiederholt:
- Einladungen, Protokolle und Informationen des Sektionsvorstand sowie
von Teamsitzungen an die Regio-Leitung weiterzuleiten,
- Beschlüsse der Regions-Geschäftsleitung (deren Mitglied der
Sektionsleiter auch ist) umzusetzen und über wichtige Projekte
innerhalb der Sektion zu informieren sowie
- die vorgesetzte Regionsleitung über Strategie und Entscheide in
heiklen Kampagnensituationen zu informieren (z.B. Schliessung
Kartonfabrik Deisswil).
Damit verstiess der Sektionsleiter nicht nur systematisch gegen
gültige Reglemente und Kompetenzregelungen in der Unia sondern
auch gegen explizite Abmachungen, welche er gegenüber der
Regio-Leitung eingegangen war. Weder mündlich noch schriftliche
Ermahnungen noch ein Gespräch mit den Co-Präsidenten der
Gewerkschaft Unia führten zu einer Verbesserung.
Die Verweigerungs- und Blockadehaltung gegenüber der Regio-Leitung
erschwerte nicht nur deren tagtägliche Arbeit massiv. Sie
führte zudem dazu, dass die Sektion Bern sich aus zentralen - von
den Gremien beschlossenen - Unia-Kampagnen ausgeklinkt hat. So hat es
die Sektion Bern bisher noch nicht einmal geschafft einen
Verantwortlichen für die laufende Mindestlohn-Kampagne zu
benennen. Ähnlich passiv verhält sich die Sektionsleitung bei
anderen zentralen Kampagnen.
Diese besorgniserregende Entwicklung haben das Co-Präsidium der
Gewerkschaft Unia sowie die Regionsleitung dazu bewogen, den in
nächster Zeit sowieso anstehenden Leitungswechsel in der Sektion
Bern vorzuziehen und Roland Herzog zu versetzen bzw. auf der
Unia-Zentrale anzugliedern. Zusammen mit den zuständigen Gremien
wollen sie für die Sektion möglichst bald eine breit
abgestützte Nachfolgelösung suchen, damit die Sektion zu
einem normalen Funktionieren zurückfinden und ihre Aufgaben als
Gewerkschaft erfüllen kann.
Bedauerliche Eskalationsstrategie
Am Mittwoch 16. Februar luden Co-Präsident Renzo Ambrosetti und
der Personalverantwortliche Michael von Felten die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter der Sektion Bern auf 09 Uhr zu einer Personalinformation
ein. Diese fand mit einer Minderheit der Beschäftigten statt. Die
Protestierenden nahmen daran nicht teil. Sie verlangten ultimativ die
Rücknahme des Versetzungs-Entscheids und drohten mit einem Streik.
Die Unia-GL machte klar, dass sie zu Gesprächen bereit ist, aber
keine Ultimaten akzeptieren kann und lud zu einem weiteren Termin auf
14 Uhr ein. Um 13.30 lehnte die Gruppe um Roland Herzog dieses
Gesprächsangebot ab und erklärte, das Personal der Sektionen
Bern und Oberaargau/Emental befände sich im Streik. Zudem
kündeten sie ein Mediencommunique auf 16 Uhr an, falls die GL den
Versetzungsentscheid (und eine mit diesem Fall nicht
zusammenhängende Verwarnung) nicht zurücknehme.
Diesem Ultimatum konnte die GL nicht entsprechen. Heute Vormittag haben
die Protestierenden eine Medienkonferenz in Bern angekündigt, mit
der sie für noch mehr Medienaufmerksamkeit sorgen will.
Angesichts der Eskalationsstrategie bleibt der Unia-Leitung leider
nichts anderes übrig, als die Gründe für ihren Entscheid
auch gegen aussen zu nennen und gegenüber den Medien Stellung zu
nehmen. Für die Medien ist dies alles natürlich attraktiv.
Die Unia als ganzes wird davon leider massiven Schaden tragen. Ein Teil
der Unia-Mitarbeitenden nimmt dies offensichtlich in Kauf. Das ist sehr
bedauerlich. Die Leidtragenden sind letztlich unsere Mitglieder und die
vielen Menschen, welche ihre Hoffnungen in eine starke Unia setzen. Wir
appellieren an alle Beteiligten, dies trotz der Eskalation dieses
Konfliktes nicht aus den Augen zu verlieren.
Co-Präsidium der Gewerkschaft Unia
***
Erklärung der Streikenden
Hintergrund. Mail vom 16. Feb:
Woche 7, 16. Februar 2011
a.. Vorgezogener Leitungswechsel in der Unia Sektion Bern
b.. Gesprächsangebot der Geschäftsleitung
c.. Gespräch mit Personalkommission angesetzt - Verwarnung bereits
gestern sistiert
d.. Arbeitsniederlegung des Gewerkschaftspersonals der Sektionen Bern
und Oberaargau-Emmental
Vorgezogener Leitungswechsel in der Unia Sektion Bern
An der gestrigen Sitzung der nationalen Geschäftsleitung mit dem
Sektionsleiter der Sektion Bern wurde Roland Herzog (Duke) darüber
informiert, dass er ab sofort die Leitung der Sektion Bern abgeben
muss. Diese willkürliche Entscheidung der nationalen Leitung
akzeptiert weder die Basis noch das Personal der Sektionen Bern und
Oberaargau-Emmental! Solche Machtspiele sind einer Gewerkschaft
unwürdig und dürfen nicht auf dem Rücken der Mitglieder
und des Personals ausgetragen werden.
Die gesamte Auseinandersetzung zwischen den Mitarbeitenden der Sektion
Bern / Sektion Oberaargau-Emmental und der regionalen und nationalen
Leitung zieht sich bereits über ein Jahr hin. Es gab in
verschiedenen Punkten Konflikte, die das Vertrauen zwischen den
einzelnen Gremien aus der Basis (Sektionsvorständen,
Regio-Vorständen usw.), dem Personal und der Regio-Leitung aufs
Massivste gestört haben. Weder die regionale noch die nationale
Leitung haben wirklich versucht, dieses Problem zusammen mit uns zu
lösen. Es wurden uns immer wieder leere Versprechungen gemacht.
Die Begründungen, die zur Absetzung von Roland Herzog
führten, sind fadenscheinig. Das Ziel ist eine Machtkonzentration
in der Region bzw. bei der Regio-Leitung. Die Sektionen und die Basis
sollen so geschwächt werden. Dies können wir unter keinen
Umständen dulden!
Gesprächsangebot der Geschäftsleitung
Heute Morgen war das Personal der Sektionen Bern und
Oberaargau-Emmental, mit einigen wenigen Ausnahmen, in der Zentrale, um
den tagenden Zentralvorstandsmitgliedern mit einer Protestaktion klar
die beiden aufgestellten Forderungen zu kommunizieren (siehe Mailkopie
im Anhang).
Gespräch mit der Personalkommission angesetzt - Verwarnung gestern
sistiert???
Wir haben uns in den letzten 12 Monaten zu oft in fruchtlose
Diskussionen verstricken und uns mit leeren Versprechen abspeisen
lassen! Das Mass ist voll!
Die Verwarnung vom Co-Päsidenten der nationalen Personalkommission
ist weder für die Gremien der Sektionen noch für das gesamte
Personal der beiden Sektion nachvollziehbar. Ausserdem ist für uns
sehr fragwürdig, was eine "sistierte" Verwarnung genau bedeutet.
Entweder wird eine Verwarnung zurückgezogen, oder nicht! Das ist
arbeitsrechtlicher Unsinn!!!
DIE SEKTIONEN BERN UND OBERAARGAU-EMMENTAL HABEN HEUTE MITTAG UM 11:00
UHR DIE ARBEIT AUF UNBESTIMMTE ZEIT NIEDERGELEGT!
DIE GESCHÄFTSLEITUNG WURDE DARÜBER INFORMIERT. DIESE TATSACHE
HAT DIE NATIONALE GESCHÄFTSLEITUNG VERSCHWIEGEN. DIES SPRICHT
FÜR SICH.
WIR RUFEN SÄMTLICHE MITARBEITENDEN DER GESAMTEN UNIA SCHWEIZ AUF,
SICH MIT UNS ZU SOLIDARISIEREN UND UNS ZU UNTERSTÜTZEN!
Kontaktinformationen
Personalkommission der Sektionen Bern und Oberaargau-Emmental
Cihan Apaydin
078 852 33 12
Elise Gerber
079 339 39 75
Perez Nazmi Jakurti
079 278 20 65
Jörg Andres
079 751 61 60
--
http://www.aufbau.org/index.php?option=content&task=view&id=997
"Ich bin stolz auf die streikenden Sekretäre"
Thursday, 17. February 2011
STREIKENDE FUNKTIONÄRE Die Unia-Sektionen Bern und
Oberaargau-Emmental bestreiken die Unia-Geschäftsleitung. Damit
bringen sie etwas aufs Tablett, was schon lange rumort. Wir haben mit
Jörg Studer (Präsident der Unia Nordwest-Schweiz und
Personlakomissions-Präsident bei Clariant) über die Situation
gesprochen. Weitere Hintergründe gibt es unter www.aufbau.org.
Die streikenden SekretärInnen protestieren seit dem 16. Februar in
erster Linie gegen die Absetzung des Sektionsleiters und gegen die
Verwarnung der Personalkomissionsvertreter der SekretärInnen durch
die nationale Unia-Geschäftsleitung. Hinter dem Konflikt stehen
aber auch unterschiedliche Vorstellungen über die
Gewerkschaftspolitik. Die Streikenden fordern eine "Gewerkschaft von
unten".
Du warst gestern in Bern, die Streikenden besuchen. Wie war das
für Dich?
J: Ich muss sagen, ich war begeistert, als ich die erste Meldung
gelesen haben. Ich haben dann sofort alle Kontaktadressen
durchtelefoniert und wusste "Dort muss ich hin". Ich bin mit einer
riesen Freude nach Bern gefahren. Endlich entwickelt sich dieser
Apparat, das sind für die Gewerkschaft revolutionäre Zeiten.
Schon viel zu lange hat die Basis nichts mehr zu sagen. Jetzt stehen
Leute auf gegen die Direktiven von oben, gegen die Apparatschicks. Ich
unterstütze Herzog und den Personlakomissions-Vertreter voll und
ganz,
In Bern habe ich gestaunt. Die Sache ist dort super organisiert. So wie
die Kollegen, Sekretäre und Leute von der Basis, miteinander
diskutiert haben, Streikposten und Medienmitteilungen zusammen
besprochen haben, niemand fällt dem anderen ins Wort. Ich habe
endlich wieder das Gefühlt gehabt "Das ist wieder meine
Gewerkschaft". Das hat mir saumässig gut getan.
Als ich ankam, sah ich an der Türe einige Basler Sekretäre.
Sie waren auch schon dort. Das, was die Berner machen, betrifft viele
in der ganzen Schweiz. Viele Leute sind extrem sauer auf die nationale
Leitung der Unia. Und ich kann das verstehen. Es hat lange gedauert,
aber jetzt ist diese Wut ausgebrochen. In jeder Sektion werden jetzt
Versammlungen einberufen. Ich hoffe, dass der Kampf überschwappen
wird auf andere Sektionen. Ich habe die Hoffnung, dass sich die
Gewerkschaft wieder zurückorientiert zur Basis.
Ich muss sagen, ich hätte nicht gedacht, dass so etwas noch
passiert in der Unia. Endlich bewegen sich die kritischen Leute nicht
mehr alleine.
Wieso hättest Du das nicht gedacht?
J: Ich bin seit ich 16 Jahre alt bin ein Gewerkschaftsmitglied. Bei der
GBI hat man noch gespürt, dass die Basis etwas zu sagen hat. Aber
heute bin ich in der Unia in Basel das einzige Basismitglied in der
Geschäftsleitung. Das ist ein gefährliches Zeichen, das
spüre ich, das kommt nicht gut.
Am letzten ausserordentlichen Unia-Kongress in Laussanne hätten
die Vertrauensleute gestärkt werden sollen. Mir persönlich
war es ein grosses Anliegen, dass zum Beispiel der Zentralvorstand
wieder mit Milizleuten besetzt wird. Das ist heute nur noch ein
Profiapparat. Aber wir haben die Abstimmung verloren. Nun, es ist klar,
"Demokratie" kann man steuern. Für mich persönlich war das
noch mal ein weiteres sehr schlechtes Zeichen für den Apparat und
ich war der Überzeugung "Shit. Da wird sich nichts mehr bewegen,
da geht nichts mehr". Deshalb bin ich jetzt so erfreut, ja ich bin
voller Emotionen, dass plötzlich doch noch Leute aufstehen und
etwas ändern wollen.
Die Sekretäre in Bern wollen, dass die Basis wieder das Sagen hat
und nicht vom Apparat alles vorgespurt bekommt. Dass die Vorstände
und Delegiertenversammlungen, welche die Basis repräsentieren,
wieder ernstgenommen werden. Wir, die Milizleute, kommen aus den
Betrieben heraus. Ich verstehe schon, dass wir deshalb nicht immer das
Know-How haben, vielleicht nicht so gut im Schreiben sind, etwas
länger haben, um Abläufe zu verstehen. Das ist klar. Für
die Profis im Apparat ist es dann mühsam, mit der Basis noch
Extrasitzungen zu machen. So übergehen sie uns. Aber es geht
nicht, dass dann die Profis im Apparat und einfach auf die Seite
schieben. Für mich ist klar, dass es zu Job von Sekretären
gehört, eben die Basis zu schulen, damit wir eben solche Sachen
lernen. Man kann doch nicht einfach mit einer Erwartungshaltung an die
Basis herantreten, die müssten alles schon können, und wenn
nicht, dann übergeht man sie.
Die Gewerkschaft muss wieder zurück zur Basis. Es ist höchste
Zeit. Wenn wir das jetzt nicht schaffen, dann ist die Unia bald ein
Scherbenhaufen wie in England. Nur mit dem Unterschied dann, dass nicht
eine Thatcher uns kaputt gemacht hat, sondern die eigene Leitung.
Die streikenden Sekretäre sprechen von allgemeineren Tendenzen
gegen die sie protestieren. Kannst Du uns das erklären?
J: Ja, ich war gestern dabei, als wir den Brief zum
Solidaritätsaufruf besprochen haben. Dort wurden die Unia-Methoden
als neoliberal bezeichnet. Da bin ich erschrocken und habe gemerkt "Ja,
da stimmt, so wie das zur Zeit in der Gewerkschaft funktioniert, das
ist neoliberal". Die Streikenden sagen, man müsse zurück zur
Basis. Dann muss man aber aufhören mit der Wunschvorstellung, dass
jeder Funktionär 400 Mitglieder pro Monat werben soll. Ich weiss
schon, dass die Mitgliederzahl zentral ist. Aber man darf nicht alles
darauf setzen. Wenn wir eine gestärkte Basis haben, die eben
glaubwürdig ist, dann gibt es automatisch auch richtige Aufnahmen.
Und natürlich geht es auch um Machtkämpfe in Bern. Die kennen
wir auch von uns, bei Clariant. Dort hätten wir eigentlich einen
klaren Gegner, nämlich den Unternehmer, gehabt. Aber die internen
Machtkämpfe im Apparat haben mich persönlich aufgerieben. Das
hätte ich vorher nie gedacht, da war ich blauäugig. Der
Apparat hat nicht mitgekämpft. Was da abgelaufen ist, war und ist
ein Skandal und hanebüchern.
Sobald wir mit Basisleuten mehr machen wollten, wurden wir von oben
gestoppt. Und wenn man als Basismitglied es dann wagt, die Führung
zu überspringen, dann wird man knallhart kaltgestellt und ins
Offsite gedrängt. Das haben wir selber erfahren müssen, als
wir das Konsultationsverfahren bei Clariant anfechten wollten. Wir
haben dann sogar im Betrieb Unterschriften gesammelt, um unsere
Interessen als Unia-Mitglieder gegen das Regionalsekretariat der Unia
Nordwestschweiz durchzusetzen. Das ist hart für ein
überzeugtes Gewerkschaftsmitglied. Aber wir müssen auch
intern kämpfen. Wir müssen am Morgen in den Spiegel schauen
können, und deshalb müssen wir immer alles geben.
Und deshalb bin ich sehr stolz auf die streikenden Sekretäre in
Bern. Sie riskieren bewusst ihre Kündigung, aber sie ziehen es
durch. Das sind top Leute. Ich sage immer "Man kann viele Sitzungen und
Verhandlungen machen, aber wenn es dampft, dann muss man den Willen
haben, auch gegen den eigenen Chef vorzugehen".
Es sei mal dahingestellt, wie dieser Kampf ausgeht. Aber sicherlich
schützt die Öffentlichkeit zur Zeit die Streikenden. Was ist
nachher, wie können sie sich vor der nationalen
Geschäftsleitung schützen? Wir erinnern daran, dass das
Streikkomitee GiuLeMani - kaum war es nicht mehr im Fokus der
Öffentlichkeit - auch abgesägt und bestraft wurde. Da ist die
Leitung kaltblütig.
Die Sekretäre lassen sich jetzt von der VPOD vertreten. Das Risiko
besteht natürlich immer, dass nach dem Erfolg die Leute
kaltgestellt werden. Vielleicht sitzt die Geschäftsleitung den
Streik mal aus, gibt nach und in einem werden dann die Leute versetzt
oder gekündet. Dann müssen sie einfach wieder von vorne
starten. Aber die Sache hat jetzt schon hohe Wellen geworfen und etwas
bewirkt. Nur schon bei mir. Es ist für mich das erste Mal, dass so
etwas passiert, und das gibt Leuten wie mir wieder Hoffnung.
Die Leitung wäre wirklich gut beraten, wenn sie jetzt die Chance
nutzt und mit offenen Ohren und ohne jegliche Sanktionen mit den Leuten
zusammenhockt und gemeinsam schaut, was für Fehler gemacht worden
sind. Das muss echt und transparent geschehen, nicht nur einfach zum
Schein. Und wir alle müssen natürlich ein Auge darauf
behalten, dass es jetzt wirklich mal eine Änderung gibt.
Seit es die Unia gibt, wird von "Stärkung der inneren Demokratie"
gesprochen. Wieso kommt dieses Thema immer wieder auf, wenn doch von
der Führung ganz offensichtlich kein Interesse daran besteht?
J: Wie gesagt, Demokratie kann man leicht steuern. Das Problem liegt
tiefer. Es gibt Sekretäre, denen ist die Basis wichtig. Die
fördern die Vertrauensleute, kritisch zu sein und mitzudenken. Das
sind auch die, die dann wirklich die funktionierendsten und
stärksten Sektionen haben. Aber ganz vielen Sekretären ist
das nicht wichtig. Die suchen einfach irgendeinen einen Job und finden
ihn bei der Unia. Die sind dann gar nicht politisch und haben auch
keine Ahnung. Natürlich könnte man das auch lernen in der
Unia, aber das scheint nicht gewollt von oben. Vor allem aber braucht
ein ein gewisses Mass an politischem Grundverständnis, wenn man
Sekretär werden will.
Und da muss ich als Basis-Mann feststellen, dass der Mix nicht mehr
stimmt. Früher hat man Leute aus dem Betrieb, aus der Basis
aufgebaut und als Sekretäre angestellt. Die hatten dieses
Grundverständnis. Heute stellt man irgendwelche Leute ein.
Natürlich bruacht es auch Studierte und Intellektuelle, aber es
braucht eben auch Leute, die mal im Betrieb gearbeitet haben und
wissen, wovon sie sprechen. Dieser Mix stimmt schon zu lange nicht
mehr. Ich habe das Gefühl, bei der GBI war das noch besser, das
kann ich aber nicht belegen.
Schon immer sehen wir ja gute Leute in der Gewerkschaft, die verheizt
werden und dann gehen. Deshalb haben wir immer wieder Ansätze
unterstützt, dass sich kritische Funktionäre vernetzen. Das
letzte grössere Projekt war das "Netzwerk für eine
kämpferische ArbeiterInnenbewegung", welches aus dem
Officine-Streik entstanden ist. Könnte dieser Kampf jetzt eine
solche Vernetzung voranbringen?
Ansätze von Vernetzung gibt es ja. Überall wird gesprochen.
Aber ob die dann halten, ist die Frage. Die Führung wird schauen,
dass es den kritischen Sekretären nicht gelingt, sobald sie zu
mächtig werden. Sie werden dann die Leute in Einzelgesprächen
bearbeiten. Und wenn sich ein Sekretär versucht, auch mit Leuten
ausserhalb der Gewerkschaft, zu vernetzen, dann wird er an die Kandarre
genommen und diszipliniert. Mir kommt das alles vor wie in einer ganz
normalen Firma. Aber die Gewerkschaft kann man nicht einfach leiten wie
eine Firma.
Aber in Bern wurde gestern ein Signal gesetzt. Und wenn ich es
vergleiche mit den Revolten in den arabischen Ländern, so denke
ich auch hier: Viele sagen "Es längt". Die Berner tun, was wir uns
schon lange wünschen. Und ich hoffe, dass sich das ausdehnt auf
andere Sektionen.
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RABE-INFO
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Mo. 28.Februar 2011
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- Verbot von Zwangsehen- Terre des Femmes kritisiert
bundesrätliche Vorschläge
- Wir brauchen ein alternatives Lokalradio- RaBe Pionier Willi Egloff
ist Kopf der Woche
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Fr. 25. Februar 2011
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Ständeratsausmarchung geht es auch um eine Nationalratswahl
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im Fußballfanbereich übt harsche Kritik an der FIFA wegen
Katar 2022
- In unserer Serie zum 15. Geburtstag von Radio RaBe:
Käbeli, Schalterli und Mikrofönli - Revolutionen in der
Radiotechnik
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Do. 24. Februar 2011
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- Zwischen Hoffnung und Verzweiflung - Lybien-Demo in Bern
- Mehr getötete FussgängerInnen auf Schweizer Strassen -
Mittelinseln könnten Leben retten
- Serie zum 15-jährigen Geburtstag von Radio RaBe:
- Staatsgefährdend und ein Konglomerat von nicht
gesellschaftskonformen Menschen - Wie das Radioabenteuer begann
Links:
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Mi. 23. Februar 2011
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Handvoll Spekulanten zahlen muss? - Was wir von der Finanzkrise lernen
könnten
- Was wir uns zum runden Geburtstag wünschen? RaBe wird
15jährig - ModeratorInnen über ihr Radio
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Di. 22. Februar 2011
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- Novartis Generalversammlung: AktionärInnen auf KOnfrontationskurs
- Deutsch für Fremdsrachige: zu wenig Mundartkurse
- Schweiz und Geld: Bankengeheimnis weicht sich auf
Links:
http://www.actares.ch/D/framesetD.htm
http://www.kommunikation.unibe.ch/content/medien/medienmitteilungen/news/2011/sprachpolitik/
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Mo. 21. Februar 2011
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- Vom Aussterben bedroht- die Seeforelle ist der Fisch des Jahres
- Kampf für Unabhängigkeit- die Jugendorganisation SEGI will
ein sozialistisches Baskenland
---
Fr. 18. Februar 2011
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- Die ägyptische Armee - als schützende Kraft der
Demonstranten gefeiert - soll Regierungsgegner gefoltert haben
- Frauenbilder, Rollenbilder und wie man sich am besten vernetzt: Damit
beschäftigt sich die Frauenvernetzungswerkstatt
- Moi c`est moi: Der Film über Hoffnung, Vertrauen und
Freundschaft in Bern West feiert nächste Woche Premiere
Links:
http://www.frauenvernetzungswerkstatt.ch
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KULTUR-MILLIONEN
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Bnnd 26.2.11
Pulver will für Stabilität in der Kultur sorgen
Die Kulturförderung im Kanton Bern wird auf eine neue Basis
gestellt.
Wie soll der Kanton Bern künftig seine rund 50 Millionen
Franken an Kultursubventionen verteilen? Bernhard Pulver beantwortete
diese Frage gestern mit einem neuen Kulturförderungsgesetz. "Es
bringt keine Revolution", sagte der Kulturdirektor. Für die
kulturellen Abenteuer seien die Kulturschaffenden zuständig, er
seinerseits wolle für Stabilität und Kontinuität in der
Kulturförderung sorgen. Einige Veränderungen wird es aber
dennoch geben. So will der Kanton zum alleinigen Subventionsgeber der
national bedeutenden Institutionen Zentrum Paul Klee, Kunstmuseum Bern
und Freilichtmuseum Ballenberg werden. Bei der Finanzierung der
Kulturanbieter von regionaler Bedeutung werden die Regionsgemeinden
stärker mit einbezogen. Künftig müssen sich alle
Gemeinden am Kulturangebot ihres regionalen Zentrums beteiligen. Unter
dem Strich wird es aber nicht mehr Geld für die Kultur geben,
machte Pulver gestern klar. "In der derzeitigen finanzpolitischen Lage
können wir froh sein, wenn wir das aktuelle Angebot
aufrechterhalten können. Doch gute Ideen hängen nicht nur am
Geld."(rw) - Seite 25
--
"Gute Ideen hängen nicht nur am Geld"
Mut und Abenteuerlust seien nicht beim Gesetzgeber, sondern bei
den Kulturschaffenden gefragt, sagt Kulturdirektor Bernhard Pulver.
Gestern zeigte er auf, wie er künftig die Kultur fördern will.
Interview: Reto Wissmann
Herr Pulver, welches subventionierte Kulturangebot haben Sie als
Letztes genossen?
Die James-Cook-Ausstellung im Historischen Museum Bern.
Der Kanton Bern fällt bezüglich Kulturausgaben im
Vergleich zu anderen grossen Kantonen ab. Wie beurteilen Sie das
Angebot aus der Sicht des Kulturkonsumenten?
Insgesamt als sehr gut und vielfältig.
Und aus Sicht des Politikers?
Als Kulturdirektor würde ich gerne noch viel mehr tun
für die Kultur. Manchmal staune ich, wie schwer es Kulturausgaben
in den politischen Gremien haben. Schliesslich ist es etwas vom
Essenziellsten im Leben, sich mit Kunst auseinanderzusetzen.
Finanzpolitisch sind wir aber tatsächlich nicht in der Lage, ganz
vorne mitzumischen. Doch gute Ideen hängen nicht nur am Geld.
Konkret heisst das: Mehr Geld für die Kultur wird es nicht
geben.
Ja, ich sehe derzeit nicht, dass wir den Kulturetat aufstocken
können. Es gibt zwar noch einige Finanzierungslücken zu
schliessen, etwa beim Zentrum Paul Klee. In der derzeitigen Lage
können wir aber froh sein, wenn wir das aktuelle Angebot
aufrechterhalten können.
Mit dem neuen Kulturförderungsgesetz stellen Sie das ganze
Kulturangebot auf eine neue Basis. Wird das der Konsument merken?
Wir wollen zum Beispiel die Kulturvermittlung ausbauen, was vor
allem die kleinen Kulturkonsumenten merken werden. Ansonsten
ändert gegen aussen wenig. Wir sichern jedoch das aktuelle
kulturelle Angebot ab - was für den Konsumenten auch schon etwas
ist.
Bringt das neue Gesetz denn den Kulturtreibenden und den
Kulturinstitutionen etwas?
Ja, hier ändert sich mehr. Wir haben beispielsweise die
Kriterien geklärt, nach denen wir Unterstützungsbeiträge
vergeben, und wir verbessern die soziale Sicherheit der
Kulturschaffenden. Ausserdem vereinfachen wir die Steuerung der
Institutionen.
Kritiker bemängeln, die neue Kulturförderung sei nicht
innovativ und setze keine Schwerpunkte.
Ich will eine stabile und gute Basis für die Förderung
legen, dies ist tatsächlich nicht sehr aufregend. Mut und
Abenteuerlust sind bei den Kulturschaffenden gefragt. Ich bin nicht
derjenige, der kulturelle Abenteuer auslösen soll, sondern ich
versuche, Stabilität zu garantieren.
Sie sagen es selber: Das neue Gesetz ist nicht sehr aufregend.
Dennoch war es eine ziemliche Zangengeburt, an der sich schon Ihr
Vorgänger Mario Annoni versucht hatte. Warum ist das so schwierig?
Das Verhältnis zwischen Politik und Kultur ist sehr
spannungsgeladen. Das hat auch mit der Rolle der Kultur zu tun, die uns
infrage stellen und herausfordern soll. Ausserdem gibt es vonseiten der
Politik ein gewisses Misstrauen, dass die Kulturinstitutionen zu wenig
betriebswirtschaftlich denken. Wir haben in den letzten Jahren daran
gearbeitet, das Verhältnis zwischen Kultur und Politik zu
klären und Vertrauen zu schaffen - sind aber immer noch nicht am
Ziel.
Es gilt auch Misstrauen abzubauen, wonach die Politik lediglich
Kultur unterstützt, die von einem Teil der Bevölkerung als
"elitär" bezeichnet wird. Bringt das neue Gesetz auch der Volks-
und Laienkultur etwas?
Das ist eine alte, aber nichtsdestotrotz berechtigte Diskussion.
Der grösste Teil der Gelder geht an die grossen, etablierten
Institutionen. Es gibt aber auch sehr viel Unterstützung für
Volks- und Laienkultur. Ein gewisser professioneller Anspruch ist aber
Voraussetzung. Daran halten wir auf jeden Fall fest.
Der Kanton subventioniert künftig das Zentrum Paul Klee, das
Kunstmuseum Bern und das Freilichtmuseum Ballenberg alleine. Die
anderen müssen sich weiter mit mehreren Geldgebern abmühen.
Entsteht eine Zweiklassengesellschaft?
Teilweise ja. Die drei Institutionen mit nationaler Ausstrahlung
erhalten eine einfachere Steuerung. Für die anderen verbessert
sich diesbezüglich wenig. Bei der Unterscheidung in nationale und
regionale Institutionen geht es aber nicht um die Qualität des
Angebots, sondern um die geografische Ausstrahlung.
Wie wollen Sie Ihren Spielraum bei den einmaligen
Unterstützungsbeiträgen künftig nutzen?
Wir wollen vermehrt Akzente setzen. Im Bereich Tanz- und
Theaterpädagogik haben wir dies bereits gemacht. Ein weiterer
Schwerpunkt ist die Filmförderung. Damit können wir das
reiche Filmschaffen im Kanton Bern erhalten.
Kulturvermittlung für Kinder und Jugendliche liegt Ihnen
offenbar am Herzen. Der Grosse Rat hat jedoch Ihr Projekt Bildung und
Kultur massiv zusammengestrichen. Bleibt dennoch etwas übrig?
Auf jeden Fall. Das Projekt Bildung und Kultur bringt den Schulen
sehr viel. Und im Rahmen der Kulturförderung werden Museen,
Theater oder Orchester im Kanton Bern angehalten,
Kulturvermittlungsprojekte auszuarbeiten.
--
Wer bekommt Geld?
Der Kanton Bern unterstützt die Kultur jährlich mit
rund50 Millionen Franken. Gut 6 Millionen gehen als einmalige
Beiträge an kulturelle Projekte oder direkt an Kulturschaffende.
11 Millionen fliessen an die Musikschulen, und gut 2 Millionen Franken
erhalten die Regionalbibliotheken. Der grösste Teil der Gelder
fliesst jedoch in Form von regelmässigen Subventionen an
Kulturinstitutionen in den städtischen Zentren. 2007 waren dies
knapp 32 Millionen.
Welche Institutionen nach Inkrafttreten des neuen
Kulturförderungsgesetzes unterstützt werden, ist noch nicht
klar. Es ist jedoch davon auszugehen, dass sich an der heutigen Liste
wenig ändern wird. Vollständig durch den Kanton
subventioniert werden künftig dasZentrum Paul Klee, das
Kunstmuseum Bern sowie das Freilichtmuseum Ballenberg. Von Kanton,
Standortgemeinde, Regionsgemeinden sowie allenfalls weiteren
Trägern werden andere grosse Kulturstätten wie das
Historische Museum Bern, das Stadttheater Bern oder die Dampfzentrale
unterstützt. Kleinere Institutionen mit eher lokaler Bedeutung,
wie etwa das Theater Tojo oder das Berner Kammerorchester, bekommen
kein Geld vom Kantonund sind auf die Unterstützung ihrer
Standortgemeinde angewiesen. (rw)
---
BZ 26.2.11
Alle sollen künftig zahlen
KulturpolitikNächste Woche geht das kantonale
Kulturförderungsgesetz in die Vernehmlassung. Künftig soll
sich jede Gemeinde an den Kulturausgaben beteiligen.
Es sei ein pragmatisches Kulturförderungsgesetz, sagte
gestern Regierungsrat Bernhard Pulver vor den Medien.
Überraschungen birgt es keine, aber dennoch einige Neuerungen.
Einerseits werden die Aufgaben der Subventionsträger entflechtet:
Künftig subventioniert der Kanton Institutionen mit nationaler
Ausstrahlung allein. Namentlich sind dies das Freilichtmuseum
Ballenberg, das Zentrum Paul Klee und das Kunstmuseum Bern.
Andererseits werden Kulturbetriebe mit regionaler Ausstrahlung, etwa
die neue Institution Konzert Theater Bern, in Zukunft von allen
Regionsgemeinden mitfinanziert. Dies könnte in der Vernehmlassung,
die nächste Woche beginnt, auf Widerstand stossen. Das
Kulturförderungsgesetz soll 2013 in Kraft treten.lm Seite 18
--
Kultur soll jede Gemeinde etwas kosten
KulturpolitikGestern hat Regierungsrat Bernhard Pulver das neue
kantonale Kulturförderungsgesetz vorgestellt. Neu sollen alle
Gemeinden ihren Kulturbatzen entrichten. Der Kanton ist künftig
als alleiniger Geldgeber für Kulturinstitutionen mit nationaler
Ausstrahlung verantwortlich.
36 Jahre. So alt ist das aktuelle Kulturförderungsgesetz des
Kantons Bern. Es wurde zwar mehrmals revidiert, doch die Berner
Kulturlandschaft hat sich seit 1975 grundlegend verändert. Sie sei
nicht nur grösser geworden, sagte Regierungsrat Bernhard Pulver an
der gestrigen Medienorientierung, dank wachsender Mobilität
würden Interessierte stärker als früher Kulturangebote
ausserhalb ihrer Wohngemeinde nutzen. Diesen Veränderungen
trägt der Entwurf für das total revidierte Kulturgesetz nun
Rechnung. Es ist kein revolutionärer Wurf, wie selbst Pulver
einräumt, aber eine solide, pragmatische Rechtsgrundlage, die
Bewährtes weiterführt und Schwachstellen optimiert. Der
Entwurf basiert auf der bereits breit diskutierten und vom Grossrat
abgesegneten Kulturstrategie von 2009. Hier die wichtigsten Neuerungen
und Knackpunkte:
Die Grossen subventioniert und steuert der Kanton allein:
Heute werden alle grösseren Kulturbetriebe von mehreren
Subventionsträgern (Kanton, Standortgemeinde, Regionalkonferenz)
unterstützt. Entsprechend schwerfällig gestaltet sich deren
Steuerung. In Zukunft bestimmt der Kanton als alleiniger
Subventionsgeber über Kulturinstitutionen mit nationaler und
internationaler Ausstrahlung. Dazu gehören das Freilichtmuseum
Ballenberg, das Zentrum Paul Klee und das Kunstmuseum Bern. Die beiden
Letzteren sollen unter der Ägide des Kantons bis 2013 ihre
Zusammenarbeit intensivieren. Ob es zu einer Zusammenlegung kommt, wird
derzeit geprüft.
Alle Gemeinden müssen künftig an die Kultur zahlen:
Kulturinstitutionen mit regionaler Ausstrahlung werden heute nur
von jenen Gemeinden mitgetragen, die rund um eine Zentrumsgemeinde
liegen. Solche Lücken werden nicht mehr geduldet. Künftig
sollen alle Gemeinden an regionale Kulturbetriebe zahlen, weil sie
ebenfalls von deren Kulturangebot profitieren. Der Kanton schickt zwei
Finanzierungsvarianten in die Vernehmlassung: Bei der ersten zahlen der
Kanton und die Standortgemeinden je einen Anteil von 42,5 bis 45
Prozent an die regionalen Kulturinstitutionen, die übrigen
Regionsgemeinden 10 bis 15 Prozent. Bei der zweiten Variante finanziert
der Kanton einen Anteil von 40 Prozent, die Standortgemeinde
höchstens 50 Prozent und die übrigen Gemeinden mindestens 10
Prozent. Egal, welche Variante angenommen wird - der finanzielle
Verteilschlüssel wird damit vereinheitlicht.
Förderkriterien sollen transparenter werden:
Der Kanton subventioniert nicht nur Institutionen, er
fördert auch die kantonale Kulturszene und einzelne
Kunstschaffende durch Projektbeiträge, Stipendien und
Auszeichnungen. Die Förderkriterien werden im neuen Gesetz zwar
nur generell formuliert, sollen aber in Merkblättern konkretisiert
und für die Praxis verständlich aufbereitet werden. Zudem
kann sich der Kanton künftig an der beruflichen Vorsorge der
Kulturschaffenden beteiligen.
Das sind die Knackpunkte:
Das neue Gesetz wirkt sich auf die Finanzen des Kantons und der
Gemeinden aus. Die Umverteilung der Kulturausgaben geschieht zwar dank
dem Finanz- und Lastenausgleich für den Kanton kostenneutral.
Bernhard Pulver bestätigt jedoch, dass die Standortgemeinden von
regionalen Kulturinstitutionen, also insbesondere die Städte,
künftig tendenziell entlastet werden, während die umliegenden
Gemeinden mit einer finanziellen Mehrbelastung rechnen müssen. Das
gilt vor allem auch für jene Gemeinden, die sich heute nicht an
den Kulturkosten beteiligen. Dass diese Neuerungen zu reden geben
werden, liegt auf der Hand. Die Erfahrung zeigt: Je weiter eine
Gemeinde von einer Standortgemeinde, zum Beispiel Bern, entfernt ist,
desto weniger ist sie gewillt, die Kulturausgaben der regionalen
Kulturinstitutionen mitzufinanzieren.
Unklar ist auch, welche Kulturbetriebe als regional bedeutend
eingestuft werden. Dass etwa die neue, mit 37 Millionen subventionierte
Institution Konzert Theater Bern dazugehören wird, ist
unbestritten. Aber was ist zum Beispiel mit der Berner Dampfzentrale?
Auch hier sind Diskussionen zwischen den verschiedenen Playern
vorprogrammiert.
So gehts weiter:
Nächste Woche geht der Gesetzesentwurf bis Ende Mai in die
Vernehmlassung. Danach wird - voraussichtlich im ersten Halbjahr 2012 -
die überarbeitete Fassung im Grossen Rat behandelt. Ergreift
niemand das Referendum, tritt das Kulturförderungsgesetz Anfang
2013 in Kraft.
Lucie Machac
Kulturausgaben 2011
Der Kanton hat dieses Jahr ein Kulturbudget von insgesamt 69
Millionen Franken. Darin enthalten ist die Kulturförderung (50
Mio. inkl. Personal- und Sachaufwand, 46 Mio. reine
Kulturförderung), die Denkmalpflege (9 Mio.) und der
archäologische Dienst (10 Mio.). Über 80 Prozent der
kantonalen Kulturausgaben gehen heute an Institutionen mit nationaler
und regionaler Ausstrahlung. Mit den restlichen 20 Prozent
unterstützt der Kanton vor allem Kulturprojekte oder
Kulturschaffende in Form von Stipendien oder Auszeichnungen. Das
Kulturbudget macht lediglich 0,7 Prozent der kantonalen Ausgaben aus,
die 2011 auf knapp 10 Milliarden budgetiert sind. Pro Kopf gibt der
Kanton Bern 48 Franken für (reine) Kulturförderung aus. Im
Vergleich mit anderen Kantonen mit grossen Städten befindet er
sich damit im unteren Drittel.lm
--
Wer zahlt künftig was?
Zu den Kulturinstitutionen mit nationaler Ausstrahlung, die
künftig vom Kanton allein subventioniert werden, gehören das
Freilichtmuseum Ballenberg (Gesamtsubventionen 676 000 Franken im
laufenden Jahr), das Zentrum Paul Klee (5,9 Mio.) und das Kunstmuseum
Bern (6 Mio.). Die Liste der Kulturbetriebe mit regionaler Ausstrahlung
muss erst erstellt werden. Valable Kandidaten sind: Konzert Theater
Bern, das Kunsthaus Langenthal, das Centre Pasquart in Biel oder das
Kunstmuseum Thun. Diese Kulturbetriebe werden vom Kanton, den
Standortgemeinden und den Regionsgemeinden finanziert.lm
---
Bund 25.2.11
Ein CEO fürs Theater?
KulturpolitikDie Suche nach einem Aushängeschild für
die neue Grossinstitution Konzert Theater Bern stösst auf Kritik.
Trotzdem halten die Verantwortlichen am Stellenprofil des
künftigen Direktors fest.
Wer führt Berns grössten Kulturbetrieb in die Zukunft?
Seit zwei Monaten läuft die Suche nach einem Direktor für
Konzert Theater Bern, dem Fusionsprodukt aus Stadttheater und Berner
Symphonieorchester. Gesucht wird keine künstlerische Leitung,
sondern eine "unternehmerische Persönlichkeit", die unter anderem
das Gesamtbudget erstellt und in umstrittenen Fragen das letzte Wort
hat. Erfahrungen in der Leitung eines Kulturbetriebs werden nicht
verlangt.
Das sorgt für Kritik - sowohl innerhalb der betroffenen
Institutionen als auch in der Kulturszene. Vor allem in der Freien
Szene wird die Sorge vor einem "kunstfernen Feudalherrscher" und
"Super-CEO" kultiviert. Aber auch von Expertenseite sind Vorbehalte zu
vernehmen. "Das Führungsmodell zeugt von einer Unkenntnis der
Materie", urteilt Walter Boris Fischer, Verfasser von Standardwerken
zum Thema Kulturmanagement.
Doch die Verantwortlichen lassen sich nicht beirren. "Mit der
Betonung des Unternehmerischen werden Prioritäten gesetzt und
nicht weitere erwünschte Fähigkeiten ausgeschlossen", sagt
der designierte Stiftungsratspräsident Hans Lauri und verweist auf
das Beispiel des Theaters St. Gallen.mei Seite 3
--
Bern sucht den "Super-CEO": Wer führt den grössten
Kulturbetrieb in die Zukunft?
Kulturpolitik. Ein "kunstferner Wirtschaftskopf" für Konzert
Theater Bern? Seit zwei Monaten läuft die Suche nach einem
Aushängeschild für die neue Grossinstitution, die
künftig mit 37 Millionen Franken subventioniert wird. Trotz
verbreiteter Skepsis halten die Verantwortlichen an der geplanten
Führungsstruktur und dem Stellenprofil des künftigen
Direktoriums fest.
Es geht um viel - viel Geld und Macht. Und der Fahrplan ist
ambitioniert: Bereits Mitte Juli soll das Fusionsprodukt aus
Stadttheater und Berner Symphonieorchester seinen Betrieb aufnehmen.
Unter Hochdruck arbeitet der designierte Stiftungsrat um
Ex-Ständerat Hans Lauri derzeit daran, die neue Institution
Konzert Theater Bern auf die Beine zu stellen. Zu den Aufgaben des
Gremiums gehört die Suche nach einem Aushängeschild für
den Grossbetrieb, der mit rund 37 Millionen Franken subventioniert wird
- falls neben dem Stadtrat auch das Volk dem Subventionsvertrag
zustimmt.
Das Profil ist klar: Gesucht wird eine "unternehmerische
Persönlichkeit mit Affinität zu Theater und Konzert", die den
Kulturbetrieb gegen aussen vertritt, das Gesamtbudget erstellt, die
Spartenleiter führt und bei umstrittenen Fragen das letzte Wort
hat. "Aufbauend auf den künstlerischen Produktionen beeinflussen
Sie das betriebswirtschaftliche Ergebnis durch Ihre Aktivitäten in
Marketing und Sponsoring sowie über die Verkaufs- und
Preispolitik", heisst es in der Stellenausschreibung, die im Dezember
veröffentlicht wurde. Erfahrung in der Leitung eines
Kulturbetriebs muss die künftige Direktion nicht mitbringen,
dafür "einen höheren Abschluss in Betriebswirtschaft und/oder
Kulturmanagement".
Furcht vor dem "Super-CEO"
Ein "Wirtschaftskopf" mit umfassender Machtbefugnis an der Spitze
von Berns grösstem Kulturbetrieb? Das sorgt allenthalben für
Stirnrunzeln - sowohl innerhalb der betroffenen Institutionen als auch
in der Kulturszene. Aus dem Fenster lehnen will sich kaum jemand. Vor
allem in der Freien Szene wird aber wortreich die Sorge vor einem
"kunstfernen Feudalherrscher" und "Super-CEO" kultiviert. Dass die
Stellenausschreibung vor einschlägigen Wirtschaftsvokabeln
strotzt, wird als Indiz dafür genommen, das "die Kunst" am Ende zu
kurz kommen könnte. Regisseur Samuel Schwarz, der umtriebigste
Kritiker aus der Freien Szene, sieht gar "eine Ideologie von
Investment-Bankern" am Werk. "Die Ausschreibung lief über die
Kadervermittlungsfirma Mercuri Urval, die im Internet mit den Zeilen
‹Mehr als 80 000 Kaderstellen über 120 000 CHF - Sie verdienen
mehr!› für sich wirbt. Dieser Anreiz spricht die völlig
falschen Personen für die Leitung eines so hochkomplexen
Kulturbetriebs an. Bei einem Theater geht es um Menschen, nicht um
Wertschöpfung im Sinne des Investment-Bankings." Es sei "nicht zu
verantworten, dass so viel Geld in eine solche Struktur fliesst, die zu
stark von den Qualitäten eines CEO abhängig ist, der zudem in
einem Husch-Husch-Verfahren gewählt wird."
Da Schwarz, der Polemiker vom Dienst, seit Jahren Ambitionen auf
ein Stadttheater-Amt hegt, gehört er nicht zu den berufensten
Kritikern. Doch auch von "unverdächtiger" Expertenseite sind
Vorbehalte zu vernehmen: Walter Boris Fischer, Ex-Dramaturg und
-Regisseur, Kulturberater und Verfasser mehrerer Standardwerke zum
Thema Kulturmanagement, wundert sich über das Führungsmodell
von Konzert Theater Bern. "Das geplante Führungsmodell zeugt von
einer Unkenntnis der Materie", urteilt Fischer. "Es ist zwar richtig,
einen Kulturbetrieb - und erst recht einen so komplexen wie Konzert
Theater Bern - nach betriebswirtschaftlichen Maximen zu führen."
Aber: an erster Stelle müsse immer das Künstlerische stehen.
"Das scheint mir hier nicht der Fall zu sein." Es genüge nicht,
wenn eine Direktion "Affinität zu Theater und Konzert" mitbringe.
"Gefragt sind Erfahrungen in der Führung von Kulturbetrieben und
intime Kenntnisse, was künstlerische Arbeit betrifft." Die Arbeit
mit Künstlern sei eine fundamental andere als in der Wirtschaft.
"Ich halte ein Intendantenmodell mit einer künstlerischen Leitung
für sinnvoller."
"Umfassender Suchprozess"
Ob die Resonanz auf die Ausschreibung den Skeptikern recht gibt?
Laut Insidern sind innerhalb eines Monats nach der Ausschreibung
"bloss" 30 Bewerbungen eingegangen - ohne valable Kandidaten. Der
designierte Stiftungsratspräsident Hans Lauri will davon
allerdings nichts wissen: "Das Interesse entspricht vollständig
meinen Erfahrungswerten aus Suchprozessen für die oberste
Kaderstufe während der letzten Jahre. Der künftige
Stiftungsrat kann eine echte Wahl unter verschiedenen qualifizierten
Bewerbungen treffen." Zudem, so Lauri, habe man sich für einen
"umfassenden Suchprozess" entschieden und gleichzeitig mit der
Stellenausschreibung auch "persönliche Netzwerke" aktiviert - das
übliche Berufungsverfahren also.
Vorbild St.Gallen
Vom gewählten Führungsmodell werde man nicht
abrücken, sagt Lauri. Man behalte sich aber "gezielte kleinere
Weiterentwicklungen" vor. "Das Organigramm betont auf der obersten
Führungsebene (Direktion) die allgemeinen unternehmerischen
Fähigkeiten und auf der zweiten Ebene der Spartenleiter die
künstlerischen Kompetenzen. Mit der Betonung des Unternehmerischen
werden Prioritäten gesetzt und nicht weitere erwünschte
Fähigkeiten ausgeschlossen." Das Modell bewähre sich in
ähnlicher Form seit Jahren beim Theater St. Gallen.
Auf die Frage, wann die neue Direktion bekannt gegeben wird, sagt
Lauri: "Die Abschlussarbeiten in diesem wichtigen Geschäft werden
aus naheliegenden Gründen erst nach der Volksabstimmung im Mai
stattfinden können, was unschön ist."
Oliver Meier
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Kandidatenkarussell
Namen über Namen - aber kaum realistische Kandidaten
Wild wuchern die Gerüchte, wenn es um die Besetzung der
Schlüsselpositionen geht. Nur die wenigsten Namen, die ins Feld
geführt werden, passen allerdings optimal ins vorgebene
Stellenprofil. Und: Von Kandidatinnen ist kaum die Rede. Klar ist: Wer
erfolgreich ist und einen laufenden Vertrag hat, meldet sich in der
Regel nicht auf eine Stellenausschreibung. Die besten Kandidaten holt
man auf dem Berufungsweg.
Immer wieder genannt wird der Ökonom, Manager und
Ex-Schauspieler Andreas Spillmann. Der Zürcher war von 2000 bis
2005 am Schauspielhaus Zürich engagiert - erst als
kaufmännischer, später als künstlerischer Direktor ad
interim. Spillmann ist derzeit Direktor des Schweizerischen
Landesmuseums - und wenig spricht dafür, dass er den Posten
verlassen wird. Wunschkandidat vieler ist der Berner Dominique Mentha,
derzeit Direktor des Luzerner Theaters.
Allerdings passt er kaum ins betriebswirtschaftliche
Stellenprofil.
Dasselbe gilt für Christoph Nix (Intendant in Konstanz) und
Dieter Kaegi (Direktor der Opera Ireland), die sich gerüchteweise
beworben haben sollen. Kaegi dürfte, wenn überhaupt, eher
für das Amt des Musikleiters infrage kommen - die zweite
Schlüsselposition in der neuen Institution. Dies gilt auch
für zwei weiter Namen, die hinter den Kulissen zu hören sind:
Mischa Damev (Leiter Musik des Migros-Genossenschafts-Bundes) und der
junge Zürcher Kulturmanager und -vermittler Matthias von Orelli.
Die These, wonach Marcel Brülhart, "Mister Euro" und Manager
des Projekts "Konzert Theater Bern", in einer ersten Phase auch den
Direktionsposten übernehmen könnte, wird von den
Verantwortlichen dezidiert zurückgewiesen.mei
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POLICE BE
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BZ 25.2.11
Polizei fragt nach
KantonspolizeiDie Berner Kantonspolizei lässt die
Bevölkerung in 17 Gemeinden derzeit zu ihrem Sicherheitsempfinden
befragen.
Im Auftrag der Kantonspolizei Bern führt das
Meinungsforschungsinstitut GFS Zürich seit Mitte Januar in 17
grösseren Gemeinden des Kantons Bern eine Umfrage durch. Das Ziel
der Befragung ist es, mehr über das Sicherheitsgefühl der
Bevölkerung zu erfahren und später basierend auf den
Ergebnissen gezielte Massnahmen einzuleiten. Die Ergebnisse dienen auch
dazu, weitere Daten für die Kriminalitätsstatistik zu
erhalten.
In der Umfrage werden beispielsweise folgende Fragen gestellt:
Sind Sie mit der aktuellen Polizeiarbeit zufrieden? Fühlen sich
die Einwohnerinnen und Einwohner an gewissen Orten unsicher? Sind Sie
Opfer einer Straftat geworden, die Sie nicht angezeigt haben? Zu den 17
Gemeinden, in denen die Umfrage durchgeführt wird, gehören
Bern, Biel, Thun, Burgdorf, Langenthal sowie Interlaken.
pd
---
BZ 24.2.11
Sind Bürger sicher?
Umfrage der Polizei
Den Puls fühlen - das tut die Kantonspolizei Bern. In diesen
Tagen erhalten rund 1000 Spiezerinnen und Spiezer Post. Der Grund
dafür: Im Auftrag der Kapo werden in den 17 so genannten
Ressourcengemeinden - das sind jene, die Leistungen bei der
Kantonspolizei einkaufen - Umfragen durchgeführt. Das geschieht in
unserem Lesergebiet in Spiez, Interlaken, Saanen, Thun und Steffisburg.
Ziel der Aktion sei es, mehr über das Sicherheitsgefühl der
Bevölkerung zu erfahren und später, basierend auf den
Ergebnissen, gezielte Massnahmen einzuleiten, so die Kapo. "Sind sie
mit der aktuellen Polizeiarbeit zufrieden?" oder "Fühlen sie sich
an gewissen Orten unsicher?": So lauten nur zwei Fragen an die
Bevölkerung.
Und so funktionierts: Das Forschungsinstitut GFS-Zürich
kontaktiert pro Gemeinde rund 1000 Personen, die dann einen Fragebogen
im Internet ausfüllen können. Die Auswertung erfolgt durch
das Rechtswissenschaftliche Institut der Uni Zürich. Ergebnisse
liegen im Herbst vor. jss
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Umfrage zur Sicherheit
LangenthalEin Umfrage soll zeigen, wie sicher sich die
Bevölkerung fühlt.
Im Zusammenhang mit der Einführung der Einheitspolizei in
Langenthal hat der Gemeinderat eine Projektgruppe eingesetzt und
beauftragt, geeignete Massnahmen zur Verbesserung der Sicherheit in
Langenthal auszuarbeiten. "In einem ersten Schritt erfolgt nun eine
Befragung der Bevölkerung", schreibt der Gemeinderat. In enger
Zusammenarbeit mit der Kantonspolizei werden in den kommenden Tagen
1000 Langenthalerinnen und Langenthaler persönlich angeschrieben.
Die Personen sind nach bestimmten Kriterien ausgewählt worden. Die
Fragen zum Thema und ihre Auswertung sind in Zusammenarbeit mit der
Universität Zürich vorbereitet worden. "Die Resultate der
Umfrage werden nach ihrer Auswertung mit den Daten aus der
Kriminalstatistik verglichen und dann in eine Sicherheitsdiagnose
überführt", so der Gemeinderat. Die Resultate sollen
Aufschluss über die objektive, aber auch die empfundene Sicherheit
in Langenthal liefern. Die Projektgruppe erwartet aus der
Sicherheitsdiagnose verbindliche Informationen, welche dazu dienen,
Massnahmen im Bereich der öffentlichen und persönlichen
Sicherheit zielgerichtet und effizient einzusetzen.
rgw
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Bund 23.2.11
Kantonspolizei
Umfrage bei der Bevölkerung zum Sicherheitsgefühl
Im Auftrag der Kantonspolizei werden zurzeit in verschiedenen
Gemeinden Umfragen durchgeführt. Ziel ist es, mehr über das
Sicherheitsgefühl der Bevölkerung zu erfahren und später
basierend auf den Ergebnissen gezielte Massnahmen einzuleiten. Im Fokus
stehen die 17 sogenannten Ressourcengemeinden, das sind solche, welche
umfassende Leistungen bei der Kantonspolizei einkaufen. Dazu
gehören etwa die Städte Bern, Biel, Thun, Burgdorf,
Interlaken und Langenthal. Das Forschungsinstitut GFS Zürich
kontaktiert pro Gemeinde rund 1000 Personen.(pkb)
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20 Minuten 23.2.11
Polizei will wissen, wo der Schuh drückt
BERN. Wovor fürchten sich die Berner? Entsprechen ihre
Ängste der realen Gefahrensituation? Solche Fragen untersucht eine
Studie in 17 grossen Gemeinden des Kantons.
"Es ist mir wichtig, zu wissen, wo die Bevölkerung der Schuh
drückt, damit wir unsere Sicherheitspolitik nach ihren
Bedürfnissen ausrichten können", sagt Gemeinderat Reto Nause.
100o Stadtberner haben in den letzten Tagen einen Brief von ihm
erhalten, in dem er sie bittet, in einer Online-Umfrage Auskunft
über ihr Sicherheitsempfinden zu geben. Ähnliche Schreiben
erhalten die Einwohner von 16 weiteren grossen Berner Gemeinden.
"Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass in den
nächsten 12 Monaten versucht wird, in Ihre Wohnung einzubrechen?",
lautet eine typische Frage. Aber auch Angaben zur Wahrnehmung der
Polizeiarbeit, Schmutz, Sprayereien oder erlittenen Tätlichkeiten
und sexuellen Übergriffen werden vertraulich erfasst.
Statt nur angezeigte Straftaten zu zählen, schafft die
Studie ein umfassendes Stimmungsbild: "Sicherheit ist ein sehr
subjektives Gefühl", sagt Nause, "die Kriminalstatistik zeigt
zwar, welche Delikte sich häufen, aber vielleicht fühlen sich
unsere Bürger durch andere Umstände viel eher bedroht."
Spannend werde auch der Erfahrungsaustausch mit anderen Städten
und Kantonen: Die Uni Zürich wertet neben der Berner Studie auch
eine nationale Opferbefragung aus. Erste Ergebnisse sollen im Herbst
vorliegen.
Patrick Marbach
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POLICE CH
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NZZ 25.2.11
Parlament will das Grenzwachtkorps aufstocken
Uneinigkeit mit dem Bundesrat über Eckwerte und Vorgehen
In der Frühjahrssession ist die Stärke des
Grenzwachtkorps einmal mehr Thema. Gefordert wird auch eine klarere
Kompetenzabgrenzung gegenüber den Polizeikorps der Kantone.
Hanspeter Mettler
Der Bundesrat soll das Grenzwachtkorps (GWK) personell
ausreichend stark dotieren. Darüber herrscht im Parlament seit
Jahren Einigkeit. Der heutige Sollbestand von 1928 Grenzwächtern
wird durchwegs als knapp bemessen beurteilt. Die Lage in Libyen
könnte den Druck auf den Bundesrat zusätzlich erhöhen.
In der kommenden Woche wird sich der Nationalrat ein weiteres Mal mit
dem Thema befassen, und zwar im Rahmen der Differenzbereinigung zu
einer Motion von Hans Fehr (svp., Zürich) vom September 2008.
200 bis 300 Profis
Mit dem Vorstoss soll der Bundesrat beauftragt werden, das GWK
"so rasch als möglich um 200 bis 300 Profis zu verstärken,
damit eine lagegerechte Kontrolldichte sichergestellt werden kann". Der
Nationalrat stimmte der Motion mit 156 zu 9 Stimmen zu. Der
Ständerat änderte den Vorstoss dann insofern ab, als er
lediglich "eine ausreichende Alimentierung" des GWK verlangt. Wie der
Bundesrat war er der Meinung, es sei nicht sinnvoll, den GWK-Bestand
auf Gesetzesstufe zu verankern. An den Bedenken betreffend fehlende
Personalressourcen hielt die kleine Kammer aber fest. Die
Sicherheitskommission (SiK) des Nationalrats hat Anfang Woche ihrem Rat
nun beantragt, dem Ständerat zu folgen. Der Bundesrat anerkannte
im Januar in einem Bericht zwar einen Stellenmehrbedarf des GWK, lehnte
eine Aufstockung um 200 bis 300 Stellen aber ab - auch mit dem Verweis
auf die Zollverwaltung, die lediglich einen Mehrbedarf von 35 Stellen
angemeldet hatte. Diese sind in den letzten Wochen vom Bundesrat
bewilligt worden.
Motionär Fehr will an seinem ursprünglichen Vorstoss
festhalten. Sonst drohten Unverbindlichkeit und Verwässerung,
sagte er auf Anfrage. Eigentlich fehlten noch mehr als die 200 oder 300
Grenzwächter, denn rund 200 seien derzeit auf den Flughäfen
im Einsatz, moniert der SVP-Nationalrat. Der Chef des GWK, Jürg
Noth, widerspricht: Bei den Grenz- und Zollkontrollen auf neun der
zwölf Flughäfen, die Schengen-Aussengrenzen darstellen,
handle es sich um eine Kernkompetenz der Grenzwächter. Fehr
begründet seinen Vorstoss unter anderem mit den zahlreichen
afrikanischen Asylbewerbern, die via die sogenannte "Lampedusa-Route"
oft unkontrolliert in die Schweiz einreisten. Noth bestätigt, dass
die Südgrenze - zusammen mit Genf, Basel West und dem Rheintal -
zu den Problemzonen gehöre. Mit lagebedingten
Schwerpunkteinsätzen werde dem begegnet. Bisher sei die aktuelle
Lage in Nordafrika an der Schweizer Grenze allerdings nicht
spürbar gewesen.
Nationalrat Fehr (und der Ständerat in der modifizierten
Motion) erheben eine weitere Forderung: Der Bundesrat soll für
eine konkurrenzfähige Besoldung der GWK-Mitarbeiter sorgen, vorab
der jüngeren, um die Abwanderung zu den kantonalen Polizeikorps zu
reduzieren. Die Landesregierung hat in ihrem Bericht vom Januar die
Löhne im GWK ihrerseits kurz und bündig als
konkurrenzfähig bezeichnet. Die ständerätliche SiK
wiederum anerkennt, dass den Grenzwächtern in Genf seit Anfang
2009 eine jährliche Arbeitsmarktzulage von 3000 Franken ausbezahlt
wird. Es brauche aber "flächendeckende Massnahmen".
"GWK keine Hilfspolizei"
Diskussionen rund um das GWK haben in letzter Zeit nicht nur der
Personalbestand und die Saläre ausgelöst. Erörtert
wurden auch konzeptionelle Fragen. So erhob die SiK des Nationalrates
Anfang Woche die Forderung, dass der Bund und die Kantone ihre
Zusammenarbeit im Polizeibereich klären, insbesondere jene
zwischen den Polizeikorps der Grenzkantone und dem Grenzwachtkorps,
aber auch die Kooperation auf den Flughäfen und im Bahnverkehr.
Gefordert wird eine Liste der Sicherheitsaufgaben, die aufgrund der
Verfassungsvorgaben zu den Kernleistungen der Kantone gehören.
In die gleiche Kerbe schlug im letzten Herbst die
Geschäftsprüfungskommission (GPK) des Ständerates. Sie
hielt in einem Bericht zur strategischen Führung in der
Eidgenössischen Zollverwaltung fest, dass die Zusammenarbeit des
GWK mit den kantonalen Sicherheitsorganen zwar grundsätzlich
pragmatisch organisiert sei und gut funktioniere. Auf der anderen Seite
sei die Aufgaben- und Kompetenzverteilung zwischen dem Bund und den
Kantonen seit längerem politisch umstritten und nicht hinreichend
geklärt - konkret namentlich bei der Frage, welche polizeilichen
Aufgaben das GWK zuhanden der Kantone wahrnehmen darf.
GPK-Chef Noth sagt, die Grenzwächter operierten
grundsätzlich aus einem Zolldispositiv heraus; es sei stets ein
Bezug zu den Zollaufgaben gegeben. Würden bei deren Erfüllung
anderweitige Feststellungen gemacht, werde die Polizei beigezogen.
Daneben erbringe das GWK auf Anfrage der Kantone
Spezialdienstleistungen wie etwa die Unterstützung der Polizei bei
Grossanlässen, bei Dokumentenprüfungen oder bei
Fahrzeuguntersuchungen. Die GPK hat in ihrem Bericht dazu Fragen
gestellt. Natürlich sei das GWK besonders für Kantone mit
knappen Polizeiressourcen eine willkommene Unterstützung. Aber die
Grenzwächter dürften nicht zur nationalen Hilfspolizei
werden, schreibt die GPK.
Zwei Organe im selben Raum
Die SiK des Ständerates wiederum stellte wiederholt klar,
dass die längerfristige Inanspruchnahme von Personal des
Verteidigungsdepartementes (VBS) - zurzeit rund 50 Angehörige der
Militärischen Sicherheit sowie Durchdiener - durch das GWK eine
unbefriedigende, nicht nachhaltige Lösung sei. Zumal auch bei der
Militärischen Sicherheit Personalengpässe bestünden.
Nach Auskunft von Jürg Noth plant der Bundesrat nun aber, die
Unterstützung des GPK durch VBS-Personal Ende 2012 auslaufen zu
lassen.
Fragt man bei Kantonen und der Konferenz der kantonalen Justiz-
und Polizeidirektoren (KKJPD) nach, erhält man ähnliche
Antworten wie von der Ständerats-GPK. Die Zusammenarbeit der
Polizeikorps mit dem GWK funktioniere grundsätzlich gut. Mitunter
aber ergäben sich Abgrenzungsprobleme, wenn zwei Sicherheitsorgane
im selben Raum tätig sind. Mit Schengen (Stichwort
"Schleierfahndungen" hinter der Grenze) neige das System etwa beim
Informationsfluss und bei der Kontrolltätigkeit stärker zu
Doppelspurigkeiten. Die St. Galler Regierungsrätin und heutige
KKJPD-Präsidentin Karin Keller-Sutter trat einmal mit dem
Vorschlag an die Öffentlichkeit, den gesamten Grenzpolizeibereich
des GWK mittels Leistungsvereinbarung in die Verantwortung der Kantone
zu übergeben. Selbstverständlich sei der Grenzschutz eine
Bundesaufgabe; dabei solle es auch bleiben, betonte die St. Gallerin.
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KNAST
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Bund 23.2.11
Hungerstreik: Alles bleibt offen
Dürfen Ärzte wie im Fall Rappaz zur
Zwangsernährung verpflichtet werden? Das Bundesgericht drückt
sich vor einem klaren Urteil.
Jürg Ackermann
Noch im letzten Herbst sprach das Bundesgericht eine deutlichere
Sprache. Eine Zwangsernährung sei bei einem Hungerstreik
zulässig, urteilten die Lausanner Richter im Falle von Bernard
Rappaz. Nun macht das Bundesgericht wieder einen Schritt zurück
und lässt offen, ob die Ärzte von der Walliser Justiz
verpflichtet werden durften, den rebellischen Hanfbauern zwangsweise zu
ernähren. Die Begründung: Da Rappaz an Weihnachten seinen
Hungerstreik abgebrochen habe, erübrige sich ein Urteil.
"Wir sind froh über diesen Nicht-Entscheid", sagt Jacques de
Haller, der Präsident der Ärzteverbindung FMH, der die
Lausanner Richter damals scharf kritisierte. Das Bundesgericht habe
eingesehen, dass es in einer derart komplexen Frage keine einfachen
Lösungen gebe. "Wir Ärzte müssen uns wehren, als
verlängerter Arm der Behörden instrumentalisiert zu werden."
Verständnis bringt auch Karin Keller-Sutter auf. Die Vorsteherin
der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren sagt, ein Grundsatzurteil
zur Zwangsernährung sei schwierig, da "ein solches nicht jedem
Fall gerecht werden kann". Die St. Galler Regierungsrätin lehnt
wie de Haller die Zwangsernährung ab: Das Selbstbestimmungsrecht
gelte auch für Häftlinge.
Leise Kritik kommt jedoch aus dem Parlament. Politiker wie
Ständerat Hermann Bürgi (SVP, TG) hätten sich
gewünscht, dass das Bundesgericht eine deutlichere
Interessenabwägung zwischen dem Selbstbestimmungsrecht und dem
Schutz des Lebens vorgenommen hätte. "Es bleiben zu viele Fragen
offen", sagt der Präsident der ständerätlichen
Rechtskommission, auch mit Blick auf Forderungen nach einem nationalen
Gesetz für den Umgang mit Hungerstreikenden. Nach dem Nicht-Urteil
der Bundesrichter dürfte dieses jedoch in noch weitere Ferne
gerückt sein.
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BZ 22.2.11
Was, wenn Häftlinge hungern?
Fall RappazDie Berner Regierung wappnet sich für den Fall,
dass auch sie dereinst einen Häftling nur mit Zwangsernährung
am Leben erhalten könnte.
Die Hungerstreiks des Walliser Hanfbauern Bernard Rappaz
beschäftigen auch im Kanton Bern. Grossrat Dave von Kaenel (FDP,
Villeret) stellt in einer Interpellation Fragen zur
Zwangsernährung. In seiner Antwort hält der Berner
Regierungsrat fest, wie sich das kantonale Gesetz über den Straf-
und Massnahmenvollzug dazu stellt: Demnach könnte die Berner
Regierung keine Zwangsernährung anordnen, "solange von einer
freien Willensbildung der betroffenen Person ausgegangen werden kann".
Verzwickt würde die Situation, wenn ein Berner Häftling
zu Beginn eines Hungerstreiks - bei noch klarem Verstand - in einer
Patientenverfügung festlegen würde, dass er auch im Fall
einer späteren Urteilsunfähigkeit auf ärztliche Hilfe
verzichten würde. Hier könnte sich laut der Berner Regierung
ein Konflikt eröffnen: Die Vollzugsbehörde könnte die
Zwangsernährung unter ärztlicher Leitung anordnen, die
Ärzteschaft würde sich aber wohl an der
Patientenverfügung orientieren.
Deshalb habe das Amt für Freiheitsentzug und Betreuung
zusammen mit der ärztlichen Direktion des Inselspitals "den Dialog
aufgebaut", um zu klären, wie mit den kontroversen Standpunkten
bei einem allfälligen künftigen Fall einer möglichen
Zwangsernährung vorzugehen wäre.
Susanne Graf
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Bund 18.2.11
Experte fordert mehr Personal für Berner Strafvollzug
Wie der Berner Straf- und Massnahmenvollzug sicherer werden kann.
Walter Däpp
"Entgegen den in den Medien erhobenen Vorwürfen existieren
weder in Witzwil noch in St. Johannsen eigentliche Missstände": So
kommentiert Regierungsrat Hans-Jürg Käser, der Direktor der
Polizei- und Militärdirektion, einen Untersuchungsbericht
über den bernischen Straf- und Massnahmenvollzug, den er vor
Jahresfrist in Auftrag gegeben hat. Auslöser für den Auftrag
an den Experten Andreas Werren, den ehemaligen Leiter des Amts für
Justizvollzug im Kanton Zürich, waren Vorfälle im
Massnahmenzentrum St. Johannsen und in der Strafanstalt Witzwil: Ein
St.-Johannsen-Insasse soll während eines unbewilligten "Ausgangs"
ein Mädchen missbraucht haben, und in Witzwil wurden
Missstände in Bezug auf Internetzugang, Handy-Gebrauch und Umgang
mit Drogen kritisiert.
62 Delikte in zehn Jahren
Experte Andreas Werren listet in seinem 83-seitigen Bericht
insgesamt 62 Delikte auf, die, "soweit rekonstruierbar", zwischen 2000
und 2010 von Gefangenen in bernischen Anstalten begangen wurden - wovon
5 Fälle in St. Johannsen "schwere Delikte gegen die physische,
psychische oder sexuelle Integrität" betrafen. Trotzdem kommt er
zu einer positiven Gesamtwürdigung: Die genannten Fälle
zeigten zwar, dass jede Fehleinschätzung eine wesentliche
Gefährdung für die Öffentlichkeit darstellen könne,
doch in bernischen Anstalten sei "die Sicherheit grundsätzlich in
hohem Masse gewährleistet".
Die Empfehlungen des Berichts würden ernst genommen,
versichert Regierungsrat Käser: So werde die Kompetenzregelung bei
Vollzugslockerungen im Massnahmenvollzug überprüft; die
Regierung erkenne "das Erfordernis einer personellen Verstärkung
der Sicherheitsdienste und in der medizinischen und therapeutischen
Versorgung" der Insassen. Handlungsbedarf bestehe auch in Bezug auf die
Führungsstruktur des Amts für Freiheitsentzug und Betreuung
mit seinen 900 Mitarbeitenden und 1000 Vollzugsplätzen. - Seite 21
--
Zeugnis für Strafvollzug: Note "gut" mit Abstrichen
Nach den Vorwürfen über Missstände in Witzwil und
St. Johannsen empfiehlt eine externe Expertise mehr Personal und
klarere Kompetenzen beim offenen Vollzug.
Andreas Weidmann
Im Herbst 2009 geriet der Straf- und Massnahmenvollzug im Kanton
Bern schweizweit in die Schlagzeilen: Innert kurzer Zeit waren mehrere
Fälle von Sexualstraftätern bekannt geworden, die aus dem
offenen Freiheitsentzug im Massnahmenzentrum St. Johannsen entwichen.
Besonders ein Fall schockierte die Öffentlichkeit, jener von Y. H,
der im August 2009 einen bewilligten unbeaufsichtigten Aufenthalt in
der sogenannten Fischereizone der Anstalt dazu nutzte, über den
Zihlkanal zu schwimmen und in Neuenstadt ein Mädchen zu
missbrauchen.
In die Schlagzeilen geriet aber auch das nur wenige Kilometer
entfernte Witzwil: In der Anstalt floriere der Drogenhandel, die
Insassen dürften unkontrolliert Besuch empfangen und hätten
freien Zugang zu Internet und Handy, behauptete ein ehemaliger
Häftling in einem Artikel des "SonntagsBlicks", der im Kanton Bern
gehörig politischen Staub aufwirbelte: Im Grossen Rat führten
die beschriebenen Vorkommnisse parteiübergreifend zu einer Reihe
von Vorstössen, die nicht nur Rechenschaft über die konkreten
Vorkommnisse verlangten, sondern Fragen zur generellen Sicherheit des
Straf- und Massnahmenvollzugs stellten.
Auf Geheiss des Parlaments gab Polizeidirektor Hans-Jürg
Käser (FDP) daraufhin eine externe Untersuchung in Auftrag. Als
Experten beauftragte er den ehemaligen Leiter des Justizvollzugs im
Kanton Zürich, Andreas Werren. Dieser präsentierte gestern
zusammen mit den Berner Verantwortlichen seinen Bericht. Der
Zürcher Experte liefert darin weniger eine Beurteilung der
einzelnen publik gewordenen Vorfälle als eine Gesamtschau des
bernischen Straf- und Massnahmenvollzugs. Dazu gehört auch eine
Zusammenstellung sämtlicher gravierender sicherheitsrelevanter
Vorkommnisse der vergangenen zehn Jahre (vgl. Kasten).
"Kein alarmierendes Bild"
Werrens Fazit: Die genannten Fälle zeigten zwar, dass jede
Fehleinschätzung eine wesentliche Gefährdung der
Öffentlichkeit darstellen könne, aber in den bernischen
Anstalten sei "die Sicherheit grundsätzlich in hohem Mass
gewährleistet". Die Daten geben für den Zürcher Experten
grundsätzlich "kein alarmierendes Bild" ab. Er verwies auf die
insgesamt 1000 Vollzugsplätze im Kanton Bern und die jährlich
mehr als 300 000 Vollzugstage. Auch angesichts der Zahl der bewilligten
Urlaube und Hafterleichterungen sei die Quote an Fehlentscheiden in
allen Bereichen sehr gering. Eine Ausnahme sind laut dem Experten die
Ausbrüche aus geschlossenen Anstalten, die seit 2006 aber markant
hätten reduziert werden können. Dies sei ein Hinweis darauf,
dass die Verantwortlichen "aus schlechten Erfahrungen gelernt"
hätten und die Gefängnisse "grundsätzlich sicherer
geworden sind".
"Nicht vollumfänglich stimmig"
Das Problem liegt laut Werren jedoch beim Einzelfall: Besonders
beim Massnahmenzentrum St. Johannsen habe "jeder einzelne Rückfall
ein sehr hohes Schädigungspotenzial". Bei allen untersuchten
Fällen von Delinquenz im offenen Vollzug hätten
"Beurteilungsfehler eine wichtige Rolle gespielt, sei es in Bezug auf
die Platzierung, das Flucht- oder das Rückfallrisiko". Zur Frage,
ob diesen Fehlern eine Verletzung von Dienstpflichten zugrunde liege,
machte Werren keine Aussagen: "Dazu brauchte es detailliertere Analysen
der Einzelfälle.
In verschiedenen Bereichen ortet der Expertenbericht jedoch
Verbesserungspotenzial. Kritik übt Werren besonders am
Fallmanagement in St. Johannsen: Der offene Vollzug in der Anstalt
erscheine angesichts der Klientel an psychisch teils auffälligen
Tätern "nicht vollumfänglich stimmig". Werren empfiehlt
deshalb eine Überprüfung und Klärung der Kompetenzen,
was Lockerungen des Massnahmenvollzugs anbetrifft. Bisher seien diese
Entscheide weitgehend von den Anstaltsverantwortlichen getroffen
worden. Anzustreben sei, die Vollzugsbehörden stärker in
diese schwierigen Entscheide mit einzubeziehen. Bei den
Sicherheitsdiensten der Anstalten brauche es zudem personelle
Verstärkungen, Gleiches gelte für die Therapieabteilung von
St. Johannsen.
"Personal macht guten Job"
"Weder in Witzwil noch in St. Johannsen herrschen eigentliche
Missstände", sagte Polizeidirektor Käser zum Bericht. Dies
freue ihn für das Personal, das ganz offensichtlich "einen guten
Job" mache.
Käser stellte sich klar hinter den offenen Strafvollzug, der
seit 2009 besonders von der SVP immer wieder kritisiert worden ist.
Unter dem Strich bringe dieser dank des resozialisierenden Effekts mehr
Sicherheit. "Jeder Rückfall ist aber einer zu viel", sagte
Käser. Das Abwägen, ob ein Gefangener für den offenen
Vollzug infrage komme, sei hochsensibel. Fehleinschätzungen
könnten indessen nie völlig ausgeschlossen werden.
Den notwendigen Personalausbau bezifferte Käser auf 15 bis
20 Stellen, "thematisieren" will ihn der Polizeidirektor im Rahmen des
Budgets 2012. Einfach dürfte dies jedoch nicht werden, fehlt dem
Strafvollzug im Kantonsparlament doch eine eigene Lobby. Zudem stimmten
erst am letzten Wochenende die Bernerinnen und Berner einer massiven
Senkung der Autosteuern zu, die einen Steuerausfall von 100 bis 120
Millionen Franken für den Kanton bedeuten. Das Budget des Amts
für Freiheitsentzug und Betreuung mit seinen 900 Mitarbeitenden
beträgt 150 Millionen Franken pro Jahr.
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Sicherheitsbilanz Schwere Rückfälle trüben das Bild
Fünf schwere Rückfälle von Gewaltstraftätern
während des Vollzugs in St. Johannsen überschatten die
Sicherheitsbilanz des bernischen Straf- und Massnahmenvollzugs in den
vergangenen zehn Jahren. Die Zahlen:
Ausbrüche: Zwischen dem Jahr 2000 und Mitte 2010 ereigneten
sich insgesamt 33 Ausbrüche aus geschlossenen Anstalten (Thorberg
und Hindelbank), geschlossenen Anstaltsabteilungen oder
Regionalgefängnissen. Aus diesen Ausbrüchen resultierten
gemäss dem Expertenbericht von Andreas Werren "soweit bekannt"
keine neuen Delikte.
Unerlaubte Abwesenheiten aus dem offenen Vollzug:Im
Beobachtungszeitraum verzeichnete der offene Vollzug 478 unerlaubte
Abwesenheiten (dazu zählen etwa eine verspätete Rückkehr
oder Nichtrückkehr aus dem Urlaub). Aus diesen unerlaubten
Abwesenheiten resultierten zwei neue Delikte, je eines in St. Johannsen
(Vergewaltigung) und Witzwil (Fahrzeugdiebstahl).
Neue Delinquenz: 62 Gefangene begingen (soweit erfasst und
rekonstruierbar) in den vergangenen zehn Jahren neue Delikte. 25 davon
ereigneten sich innerhalb der Anstalten, 37 während eines
Ausgangs, eines Urlaubs oder während anderer Abwesenheiten. In 16
der 62 Fälle handelte es sich um eine Delinquenz von Gefangenen,
die wegen eines schweren Gewalt- oder Sexualdelikts inhaftiert waren.
In 5 dieser Fälle, alle betreffen die Anstalt St. Johannsen, haben
die Täter erneut ein solches Delikt begangen. Zu ihnen gehört
der Pädophile Y. H (vgl. Haupttext), der Sexualtäter D. S,
der im Mai 2005 im Hafturlaub in Bern eine Drogensüchtige zum
Oralsex zwang, sowie der Fall von O. B, der im Frühling 2005
während eines Arbeitsexternats in der Nähe von Schwarzenburg
durch sexuelle Handlungen mit Abhängigen straffällig wurde.
Drogen in Witzwil:Zwischen 2000 und 2009 wurden 23 Strafverfahren
wegen Handel, Besitz oder Konsum von Betäubungsmitteln
eröffnet. Im gleichen Bereich gab es pro Jahr zwischen 76 und 174
Verstösse gegen die Anstaltsregeln, die Tendenz ist seit 2007
sinkend.
Besitz unerlaubter Gegenstände(zum Beispiel Mobiltelefone):
Hier gab es pro Jahr zwischen 3 und 31 Verstösse, auch hier ist
die Tendenz seit 2007 klar sinkend. (awb)
--
Zur Sache
"Klar, dass jeder Fall einer zu viel ist"
Martin Kraemer, der Untersuchungsbericht über den bernischen
Straf- und Massnahmenvollzug erteilt Ihnen und Ihren 900 Mitarbeitenden
gute Noten, setzt aber auch Fragezeichen. Zufrieden?
Ja. Nach Vorwürfen in den Medien gegen Witzwil und St.
Johannsen und entsprechenden Vorstössen im Grossen Rat ("Hat der
Kanton seinen Straf- und Massnahmenvollzug im Griff?") bin ich froh,
dass unsere Arbeit von einer unabhängigen Instanz nun
grundsätzlich positiv beurteilt wird. Unsere Mitarbeitenden
verdienen es, dass ihnen der Rücken gestärkt wird.
Es gibt aber auch Kritik. Der Experte erkennt zwar "kein
alarmierendes Bild in Bezug auf die Gewährleistung von
Sicherheit", erinnert aber - allein in St. Johannsen - an fünf
Rückfälle mit schweren Delikten zwischen 2000 und 2010.
Es ist klar, dass jeder dieser Fälle einer zu viel ist. Und
wir wissen auch, dass sich jeder bedauerliche Einzelfall für
gewisse Medien ausgezeichnet eignet, effekthascherisch präsentiert
zu werden. Eine hundertprozentige Sicherheit ist aber nicht zu
gewährleisten, wenn man im prognostischen Bereich tätig ist.
Die fünf genannten Fälle verpflichten uns jedoch, noch
genauer hinzuschauen - Einzelfälle also nicht einfach ad acta zu
legen, sondern intensiver zu analysieren, mit dem Ziel, solche
Fälle möglichst zu vermeiden.
Um das Risiko von Fehleinschätzungen zu minimieren,
empfiehlt der Experte, die Kompetenzordnung in Bezug auf
Vollzugslockerungsschritte sei zu überprüfen.
Ja. Doch das Abwägen zwischen Sicherheit und der
Vorbereitung eines Insassen auf das Leben nach dem Vollzug ist und
bleibt eine Gratwanderung. Es wird nie hundertprozentig
abschätzbar sein, wie sich ein Insasse wirklich entwickelt - ob
unsere therapeutischen Settings greifen oder nicht.
Der Experte stellt fest, die personellen Ressourcen für
Therapie und Sicherheit seien nicht ausreichend.
Das stimmt. Ich bin mir aber bewusst, dass es nicht einfach sein
wird, zusätzliche Mittel zu erhalten. Regierungsrat Hans-Jürg
Käser setzt sich auf politischer Ebene aber engagiert dafür
ein.
Speziell ist, dass die Insassen des Massnahmenzentrums St.
Johannsen im Gegensatz zu allen anderen Anstalten nicht vom
Forensisch-Psychiatrischen Dienst der Universität Bern betreut
werden, sondern von einem eigenen Therapie-Team. Der Experte spricht
von "Isoliertheit".
Ich stehe zur jetzigen Sonderlösung. Sie ist historisch zu
erklären. Wir haben seinerzeit einen eigenen Dienst aufgebaut,
weil wir damals vor allem im Massnahmenzentrum St. Johannsen vom
Forensisch-Psychiatrischen Dienst schlecht bedient wurden.
Was ist für Sie im 83-seitigen Untersuchungsbericht sonst
zentral?
Natürlich die Empfehlung, die Führungsstruktur zu
überprüfen. Es stimmt, dass es für mich schwierig ist,
allen meinen 15 direkt unterstellten Organisationseinheiten stets
gerecht zu werden. Ich werde auch verlangen, dass St. Johannsen
künftig vermehrt auf Aussensicht achtet und nicht eine Art Insel
im Vollzug ist. Das Ziel muss sein, Fehleinschätzungen zu
verhindern. Jede kleine Unachtsamkeit, jede Fehleinschätzung, kann
gravierende Folgen haben.
Der offene Vollzug nach dem Grundsatz "so viel Sicherheit wie
nötig, so wenig Freiheitsbeschränkung wie möglich" ist
nicht infrage gestellt? Nein, der offene Vollzug ist unabdingbar. Sonst
kämen die Insassen nach der Strafverbüssung vom geschlossenen
Vollzug direkt in die Freiheit. Das wäre ein zu grosser
Schritt.(wd)
Martin Kraemer ist Vorsteher des Amts für Freiheitsentzug
und Betreuung.
--
Kommentar
Verantwortlich sind nicht nur die Verantwortlichen
Walter Däpp
Viel Papier - 83 Seiten, prall gefüllt mit Informationen,
Analysen, Folgerungen, Wertungen, Würdigungen, Kritik und
Empfehlungen: Der Untersuchungsbericht über das Funktionieren des
bernischen Straf- und Massnahmenvollzugs, den Polizeidirektor
Hans-Jürg Käser vor einem Jahr, nach Vorfällen in den
Anstalten St. Johannsen und Witzwil, in Auftrag gegeben hatte, ist
"dicke Post".
Dies allerdings - und das darf alle 900 Berner
Strafvollzugsmitarbeitenden freuen - vor allem bezogen auf den Umfang
des Berichts, nicht auf die Brisanz seines Inhalts. Denn der Experte,
Andreas Werren, ehemaliger Leiter des Amts für Justizvollzug im
Kanton Zürich, urteilt darin vorwiegend positiv über das, was
im Straf- und Massnahmenvollzug im Kanton Bern geleistet wird - und
dies, wie er schreibt, erst noch zu vergleichsweise niedrigen Kosten:
Die Sicherheit sei "grundsätzlich in sehr hohem Mass
gewährleistet", und man habe "markante Entwicklungsschritte"
gemacht, um sie noch weiter zu verbessern.
Neben den guten Noten verteilt er aber auch kritische Fussnoten:
etwa in Bezug Verbesserungsmöglichkeiten im Massnahmenzentrum St.
Johannsen nach Fehleinschätzungen und fünf
Rückfällen mit schweren Delikten in den vergangenen zehn
Jahren. Aber auch in Bezug auf ungenügende Therapie- und
Sicherheitsressourcen.
Die Berner Strafvollzugsverantwortlichen haben also Grund, den
Bericht erfreut zur Kenntnis zu nehmen. Sie haben aber auch die
Pflicht, ihn selbstkritisch zu lesen, darin formulierte Kritik zu
beherzigen, Empfehlungen umzusetzen. Dies im Wissen, dass Politiker,
Medien und Öffentlichkeit auch in Zukunft sehr sensibel auf
"bedauerliche Einzelfälle" reagieren werden. Doch auch sie,
Politiker, Medien und Öffentlichkeit, werden Verantwortung
mitzutragen haben: etwa wenn es darum geht, zu Forderungen nach
zusätzlichen personellen Ressourcen im Betreuungs-, Therapie- und
Sicherheitsbereich Ja zu sagen.
---
BZ 18.2.11
Mehr Mittel für Vollzug
Kanton BernIn den Anstalten Witzwil und im Massnahmenzentrum St.
Johannsen herrschen keine eigentlichen Missstände. Zu diesem
Schluss kommt ein Expertenbericht.
Dem Berner Polizei- und Militärdirektor Hans-Jürg
Käser (FDP) ist ein Stein vom Herzen gefallen: Der vor einem Jahr
in Auftrag gegebene Expertenbericht stellt dem bernischen Straf- und
Massnahmenvollzug weitgehend gute Noten aus. Der Regierungsrat gab die
externe Untersuchung vor einem Jahr in Auftrag, weil es in den
Anstalten Witzwil und im Massnahmenzentrum St. Johannsen zu
verschiedenen Vorfällen wie etwa Ausbrüchen oder Drogenhandel
unter den Insassen gekommen war.
Allerdings stellt der Bericht auch Mängel fest. So sind die
Sicherheitsdienste der Berner Gefängnisse personell unterdotiert -
um das Niveau der Sicherheit zu erhöhen, bräuchten die
Anstalten zusätzliche Ressourcen.
Erste Massnahmen getroffen hat die Vollzugsanstalt St. Johannsen.
Die Institution, welche 2009 wegen eines Missbrauchsfalls
unrühmliche Schlagzeilen machte, hat ihre Strukturen verbessert
und plant einen Ausbau von Personal und Bauten. Direktor Franz Walter
zeigte sich erfreut, dass der Expertenbericht die eigenen Massnahmen
bestätigt. Um die Verbesserungen zu realisieren, müsse die
Regierung nun die finanziellen Mittel sprechen.as/cze Seite 12 + 13
--
Strafvollzug - Expertenbericht
Knapper Personalbestand in Gefängnissen
Ein Expertenbericht stellt dem bernischen Straf- und
Massnahmenvollzug ein gutes Zeugnis aus. Eigentliche Missstände
herrschen danach weder in den Anstalten Witzwil noch im
Massnahmenzentrum St. Johannsen. Allerdings gibt es Defizite bei der
Sicherheit.
Im Vergleich zu anderen Kantonen gibt der Kanton Bern wenig
für seine Gefängnisse aus. Trotzdem stellt nun ein
Expertenbericht dem bernischen Straf- und Massnahmenvollzug ein
weitgehend gutes Zeugnis aus. Das Personal erfülle seine Aufgaben
absolut korrekt und auf gutem bis hohem Niveau, sagte Regierungsrat
Hans-Jürg Käser (FDP), als er gestern den Bericht vorstellte.
Die Regierung gab diesen in Auftrag, nachdem 2009 mehrere
Vorfälle aus den Anstalten Witzwil und aus dem Massnahmenzentrum
St. Johannsen bekannt geworden waren (siehe Box). Während des
vergangenen Jahres durchleuchtete der externe Experte Andreas Werren,
ehemaliger Leiter des Amtes für Justizvollzug des Kantons
Zürich, die bernischen Gefängnisse, Anstalten und die
entsprechenden Behörden.
Fünf Fälle wiegen schwer
Werren erstellte zunächst statistisches Material, das bis
anhin nicht umfassend vorhanden war. In den Jahren 2000 bis 2009
begingen, soweit dies erfasst war, insgesamt 62 Gefangene neue Delikte.
25 davon innerhalb der Institutionen, 37 ausserhalb. Laut Werren sei
dies statistisch gesehen "eine sehr geringe Quote". Allerdings seien
fünf Fälle mit schweren Delikten bekannt. Diese trübten
die sonst positive Bilanz. Es brauche beispielsweise auch eine
Überprüfung und Klärung der Kompetenzen bei der
Gewährung von Vollzugslockerungen im Massnahmenvollzug.
Hier sieht Werren Handlungsbedarf vor allem im Massnahmenzentrum
St. Johannsen. Dort sind gefährlichere Täter als sonst
üblich in offenen Anstalten untergebracht. Die Entscheide für
Vollzugslockerungen würden indessen analog offener Anstalten
gehandhabt.
Käser stellte sich gestern hinter die Form des offenen
Strafvollzugs. Seit 2009 wurde namentlich im bürgerlichen Lager
Kritik an dieser Vollzugsform laut. Das Abwägen, ob ein Gefangener
für den offenen Vollzug infrage komme, sei hochsensibel.
Fehleinschätzungen könnten nie völlig ausgeschlossen
werden, betonte Käser. "Der offene Vollzug ist nicht in der Lage,
und das darf man von ihm auch nicht erwarten, dass er die
Öffentlichkeit zu 100 Prozent vor weiteren Delikten schützen
kann."
Bestehe der Verdacht, dass ein Gefangener fliehe oder weitere
Straftaten begehe, werde er nicht in den offenen Vollzug aufgenommen,
führte Franz Walter, Direktor des Massnahmenzentrums St.
Johannsen, aus.
Strafvollzug ohne Lobby
Laut Käser zeigt der Expertenbericht, dass weder in Witzwil
noch in St. Johannsen eigentliche Missstände herrschten. "Das
freut mich für das Personal, das ganz offensichtlich einen guten
Job macht."
Doch es ist nicht alles Gold, was glänzt. Der Bericht nennt
auch Defizite. So bemängelte Werren, dass St. Johannsen in der
Therapie der Insassen nicht wie alle anderen Anstalten mit dem
forensischen psychiatrischen Dienst der Uni Bern zusammenarbeite,
sondern einen eigenen Dienst betreibe. Auch sei der Personalbestand der
Sicherheitsdienste zu tief. Er werde den vorgeschlagenen Personalausbau
im Rahmen des ordentlichen Budgetprozesses thematisieren, verspricht
Käser. Dies dürfte nicht einfach sein. "Im Kantonsparlament
wird laut nach Sparen gerufen, und der Straf- und Massnahmenvollzug hat
keine Lobby."
sda/as
--
"Ich urteile nicht über Richter"
Polizeidirektor Hans-Jürg Käser (FDP) ist erleichtert
über das positive Ergebnis des Expertenberichts. Dessen Kritik
nimmt Käser ernst und erklärt, wo bereits Massnahmen
ergriffen wurden und wo er noch Korrekturen vornehmen will.
Herr Käser, der Expertenbericht stellt dem Berner Straf- und
Massnahmenvollzug ein gutes Zeugnis aus. Sind Sie erleichtert?
Hans-Jürg Käser: Dass der Bericht zu einem positiven
Schluss kommt, habe ich eigentlich erwartet. Trotzdem bin ich froh,
dass dies nun durch die Untersuchung bestätigt wurde.
Dennoch ortet der Bericht Verbesserungspotenzial und gibt
Empfehlungen ab.
Für St. Johannsen haben wir bereits im November 2009
Massnahmen zur Verbesserung der Sicherheit eingeleitet. Ein Teil davon
ist bereits umgesetzt. Gestützt auf die Empfehlungen des
Expertenberichts, werden wir nun auch strukturelle Korrekturen angehen.
Etwa bei der besseren Vernetzung von Behörden und Fachleuten, wenn
es um die Beurteilung von Häftlingen sowie die Lockerung des
Vollzugs geht.
Laut Bericht ist mehr Sicherheitspersonal in den Anstalten
nötig. Um wie viele Stellen geht es, und was kostet dies?
Wir haben dies erkannt und bereits eine personelle
Verstärkung vorgenommen. So wurden letztes Jahr auf dem Thorberg
im Bereich Sicherheit fünf Stellen geschaffen. Für das
laufende Jahr haben wir weitere insgesamt siebeneinhalb Stellen auf dem
Thorberg und in St. Johannsen geschaffen. Wie viele zusätzliche
Stellen nötig sind, prüfen wir derzeit. Über diese
befindet die Regierung in der Finanzplanung. Die Gesamtkosten kann ich
derzeit nicht beziffern. Wir rechnen jedoch pro Stelle mit Kosten von
rund 120 000 Franken.
85 Prozent der Insassen von St. Johannsen wurden wegen schwerer
Sexualdelikte oder wegen Delikten gegen Leib und Leben verurteilt. Ende
2009 galten 18 von 79 Häftlingen als gemeingefährlich. Weist
die Justiz die falschen Leute in den offenen Vollzug ein?
Ich urteile nicht über die Arbeit der Justiz. Nicht alle
Gerichte arbeiten jedoch gleich.
Sie sprechen sich für den offenen Strafvollzug aus. Was
gewichten Sie höher: die Sicherheit der Bevölkerung oder die
persönliche Freiheit der Häftlinge?
In dieser Frage gibt es kein Entweder-oder. Mit den heutigen
therapeutischen Massnahmen ist die Sicherheit im offenen Vollzug besser
gewährleistet. Dieser kann die schädigenden Folgen des
Freiheitsentzugs weitgehend vermeiden. Zudem bietet er mit seinen
Übungsfeldern die Möglichkeit, die Wiedereingliederung der
Eingewiesenen in die Gesellschaft zu fördern. Damit leistet der
offene Vollzug einen erheblichen und nachhaltigen Beitrag zur
Verhinderung von Rückfällen. Dies ist wichtig, weil
irgendwann einmal die Strafe abgesessen ist und die Straftäter
wieder in die Freiheit entlassen werden.
Interview: Andrea Sommer
--
St. Johannsen hat die Sicherheit erhöht
Die Anstalt St. Johannsen hat erste Massnahmen zur Erhöhung
der Sicherheit getroffen. Fluchtversuche können dennoch nicht
ausgeschlossen werden.
Eineinhalb Jahre nach dem Skandal um den Kinderschänder von
St. Johannsen (siehe Kasten) stellt eine Untersuchung der Anstalt in Le
Landeron ein gutes Zeugnis aus. Kritik gibt es dennoch: Sowohl
Therapie- als auch Sicherheitsressourcen seien momentan "nicht
adäquat".
Eine Frage des Geldes
Für Anstaltsdirektor Franz Walter bestätigt der Bericht
die geleistete Arbeit: "Nach dem Vorfall 2009 haben wir sehr genau
hingeschaut, was schiefgelaufen ist." Der aktuelle Bericht decke sich
stark mit der internen Analyse. So wolle man in Zukunft stärker
auf das Primat der Sicherheit setzen. Es fänden mehr
Standortbestimmungen und Anwesenheitskontrollen statt, zudem
würden insbesondere Eintritte und Rückversetzungen noch
kritischer beurteilt. Das sei nicht nur positiv: "Künftig
könnten mehr Straftäter ohne Therapie direkt in die Freiheit
entlassen werden", hält Walter fest.
Um die Änderungen umzusetzen, benötigt Walter
zusätzliches Personal. Ein Teil der beantragten Stellen im
Sicherheitsbereich sei von der Regierung bereits bewilligt worden - der
Entscheid über die restlichen ist noch hängig. Ebenfalls
unklar ist, ob die 3,5 Millionen Franken gesprochen werden, welche St.
Johannsen für die Umsetzung der baulich-technischen Massnahmen
fordert. Das Gelände soll neu in fünf Sicherheitszonen
eingeteilt werden. Entweichungen könnten so nach maximal zwei
Stunden erfasst werden. In den meisten Fällen würde durch
einen Alarm unmittelbar klar, dass ein Zaun überstiegen wurde.
Sicherheit oder Therapie?
"Der Fall aus dem Jahr 2009 kann sich so in dieser Form nicht
mehr wiederholen", sagt Franz Walter. Damals wurde das Fehlen des
Täters während vier Stunden nicht bemerkt. Gänzlich
ausschliessen könne man eine Flucht aber nie, so der Direktor: "Es
bleibt immer das Restrisiko Mensch." Auch die bestmögliche
Prognostik hinterlasse laut Walter eine Unschärfe bei der
Beurteilung - das Risiko einer Fehleinschätzung könne nur auf
ein Minimum reduziert werden. In St. Johannsen bewege man sich auf
einem "sehr tiefen Niveau der Eintretenswahrscheinlichkeit".
Anstaltsdirektor Walter weist dabei auch auf das Dilemma des
offenen Strafvollzugs hin: "Je besser wir das Leben nach der Entlassung
simulieren, desto weniger Straftäter werden rückfällig",
sagt Walter. Studien würden belegen, dass die Quote um den Faktor
drei gesenkt werden könne. So entsteht ein Zielkonflikt zwischen
Sicherheit und Therapie: Würde man den offenen Vollzug abschaffen,
hätte man zwar eine maximale Sicherheit während des Vollzugs
- danach jedoch ungenügend therapierte Straftäter mit
höherer Rückfallgefahr.
Christian Zeier
--
Kinderschänder von St. Johannsen
Rückblick Die Geschichte begann in St. Johannsen. Ende
August 2009 entwischte ein verurteilter Kinderschänder beim
Fischen aus dem Massnahmenzentrum am Bielersee, missbrauchte im nahen
Strandbad ein Mädchen und kehrte wieder in den offenen Vollzug
zurück. Als bekannt wurde, dass bereits 2008 ein
Serienvergewaltiger aus dem Zentrum verschwunden war, stellte sich bald
die Frage nach der Sicherheit des Vollzugs. Rund 85 Prozent der
Insassen in St. Johannsen wurden wegen schwerer Delikte gegen Leib und
Leben oder gegen die sexuelle Integrität verurteilt. Ende 2009
waren 18 der 79 Insassen als gemeingefährlich qualifiziert.
Ebenfalls hinterfragt wurde die Sicherheit in den Anstalten
Witzwil in Gampelen. Dort gab es in der Vergangenheit zwar mehr
Entweichungen, allerdings sind die Insassen nicht als
gemeingefährlich eingestuft. Der gestern veröffentlichte
Bericht weist zudem auf einen häufigen Drogen- und Handybesitz in
Witzwil hin. Die Verstösse hätten allerdings in den letzten
Jahren klar abgenommen.cze
--
BZ Kommentar
WER A SAGT MUSS AUCH B SAGEN
Andrea Sommer
Wer in der Schweiz ein schweres Delikt begeht, wird zur Strafe
nicht einfach weggesperrt. Oberstes Ziel ist die Resozialisierung.
Diesen Anspruch regelt der Gesetzgeber im Schweizerischen
Strafgesetzbuch. Danach sind Freiheitsstrafen so zu gestalten, dass das
soziale Verhalten des Gefangenen gefördert wird. Insbesondere
seine Fähigkeit, straffrei zu leben. Dies mit gutem Grund:
Irgendwann sind die meisten Freiheitsstrafen abgesessen, und der
einstige Straftäter ist wieder auf freiem Fuss. Und weil das echte
Leben am besten in der Praxis erlernt wird, ist es wichtig, dass der
Vollzug nach und nach gelockert wird. So können die Gefangenen
kontrolliert kleine Freiheiten üben.
Mindestens so wichtig ist der Schutz der Allgemeinheit vor
gefährlichen Straftätern. Dies sah auch der Gesetzgeber so,
als er den Schutz der Allgemeinheit ebenso im Strafgesetzbuch
verankerte wie die Aufgabe der Resozialisierung.
Die Vergangenheit zeigte jedoch, dass dieser Schutz im bernischen
Strafvollzug nicht immer funktioniert. Eben hier hakt auch der
Expertenbericht ein und empfiehlt, die Sicherheitsdienste der
Gefängnisse und Anstalten personell zu verstärken.
Für die Politik gilt deshalb: Wer A sagt, muss auch B sagen.
Damit der hehre Anspruch der Resozialisierung nicht an der
Sparwirklichkeit scheitert.
andrea.sommer@bernerzeitung.ch
---
Langenthaler Tagblatt 18.2.11
Personalnot im Strafvollzug
Kanton Bern Bericht findet keine "Missstände" - aber viel
Geld, das fehlt
Mehr Personal und eine Klärung der Kompetenzen bei
Vollzugslockerungen: Dies sind die Empfehlungen des Experten, der nach
happigen Vorwürfen den bernischen Straf- und Massnahmenvollzug
durchleuchtet hat.
Grundsätzlich stellt der gestern veröffentlichte
unabhängige Prüfbericht dem Straf- und Massnahmenvollzug im
Kanton aber gute Noten aus. Er attestiere Bern, dass das Personal seine
Aufgaben absolut korrekt und gut bis sehr gut erfülle,
kommentierte Polizei- und Militärdirektor Hans-Jürg
Käser (FDP) vor den Medien in Bern.
Käser entnimmt dem Bericht weiter, dass heute weder in
Witzwil noch St. Johannsen "eigentliche Missstände" herrschten.
Das freue ihn fürs Personal, das ganz offensichtlich "einen guten
Job" mache, führte Käser aus.
"Kuscheljustiz" - oder doch nicht?
Er werde den Personalausbau im Budgetprozess einbringen, so der
politisch Verantwortliche. Doch das dürfte nicht einfach sein: "Im
Grossen Rat wird laut nach Sparen gerufen und der Straf- und
Massnahmenvollzug hat keine Lobby", so Käser.
2009 gerieten St. Johannsen und Witzwil in die Kritik: entwichene
Insassen, Drogenhandel, unkontrollierte Besuche und Internetzugang -
das Wort "Kuscheljustiz" kam auf.
Käser stellte sich auch gestern dezidiert hinter den offenen
Strafvollzug. Seit 2009 wurde namentlich im bürgerlichen Lager
Kritik daran laut.
St.-Johannsen-Direktor Franz Walter mahnte, werde dessen Praxis
massiv verschärft, gelangten sofort mehr Täter in den
geschlossenen Vollzug und damit später untherapiert in die
Freiheit. (sda)Kommentar rechts, Seite 17
--
"Es gibt keine eigentlichen Missstände"
Straf- und Massnahmenvollzug Experte empfiehlt Bern, mehr
Personal und Kompetenzen zu klären
Samuel Thomi
"Entgegen den in den Medien erhobenen Vorwürfen existieren
weder in Witzwil noch in St. Johannsen eigentliche Missstände."
Hans-Jürg Käser schliesst aus seinem Fazit des gestern
präsentierten Expertenberichtes: "Der Straf- und Massnahmenvollzug
in bernischen Einrichtungen erfolgt grundsätzlich getreu dem
gesetzlichen Auftrag", so der zuständige Regierungsrat. Und: Mit
den Resultaten des Gutachtens, das die Regierung bei Andreas Werren,
früherer Leiter des Zürcher Justizvollzuges, in Auftrag gab,
sieht Käser den in den letzten zwei Jahren mehrfach
geäusserten Vorwurf der "Kuscheljustiz" entkräftet.
Dafür spreche nicht zuletzt, dass etwa der Besitz von Drogen und
Mobiltelefonen in Strafanstalt Witzwil rückläufig ist. "So,
wie es keine drogenfreie Gesellschaft gibt, ist auch ein Strafvollzug
ganz ohne Drogen nicht möglich", kommentierte Käser.
Witzwil: Regelverstösse nehmen ab
Nebst grundsätzlichem Lob für die Arbeit enthält
der Bericht bisweilen aber auch heftige (Detail-)Kritik: So mangelt es
in Berns Anstalten an Personal. Im zuständigen Amt für
Freiheitsentzug und Betreuung ist die Führungsspanne zu gross.
Oder die Kompetenzen, wer für Vollzugslockerungen zuständig
ist, müsse noch genauer geklärt werden (vgl. Kästchen).
Der letzte Punkt war denn auch eine der Ursachen, die zur Untersuchung
führten: "Die Abwägung, ob ein Verurteilter für den
offenen Vollzug infrage kommt, ist ein sensibler Akt", so Käser.
"Fehleinschätzungen können nie ganz ausgeschlossen werden."
Franz Walter, Direktor der Massnahmenvollzugsanstalt St.
Johannsen, ergänzte: "Besteht der Verdacht, dass ein Gefangener
flieht oder weitere Straftaten begeht, wird er heute nicht mehr
aufgenommen." Schliesslich, so Walter, sei der offene Vollzug "eine
stete Gratwanderung". In der grossen Mehrzahl der Fälle sei die
Wirkung unbestritten. Und man habe nun fünf Detektionszonen
eingerichtet, um allenfalls Flüchtige rascher zu bemerken, doch:
"Wir wollen St. Johannsen nicht in eine geschlossene Anlage
verwandeln." Dazu mahnte Walter, werde die Praxis allzu streng
verschärft - wie das etwa die SVP mehrfach forderte -, gerieten
künftig nur mehr Straftäter in den geschlossenen Vollzug und
später einmal untherapiert wieder in die Freiheit.
Andreas Werren kommt ferner zum Schluss, der oft kritisierte
Besitz von Drogen und Handys in Witzwil - so genannte
Regelverstösse - seien "im Zehnjahresvergleich klar
rückläufig". Direktor Hans-Rudolf Schwarz nahm dies
"befriedigt" zur Kenntnis.
--
Keine Statistik zu Vorfällen
Der Expertenbericht bemängelt, amtsintern führe der
Kanton keine umfassende Statistik zu sicherheitsrelevanten Daten.
Amtsleiter Martin Kraemer teilt die Kritik, sieht bei einer Aufstockung
"an anderen Orten dringenderen Bedarf". Andreas Werren hat aus den
vorhandenen Angaben dennoch eine Statistik erstellt: So gab es zwischen
2000 und 2010 33 Ausbrüchen aus geschlossenen Anstalten, in den
letzten Jahren massiv weniger. Zeitgleich kam es im offenen Vollzug zu
478 unerlaubten Abwesenheiten; in Witzwil und St. Johannsen wurde je
ein neues Delikt begangen. Ferner begingen in derselben Zeit 62
Gefangene neue Delikte - 25 in den Institutionen selbst, der Rest im
Ausgang oder Urlaub. Fünf Fälle (alle in Johannsen) waren
schwere Delikte. (sat)
Einzelfälle besser "managen"
Zwar attestiert Andreas Werren dem bernischen Amt für
Freiheitsentzug und Betreuung "klar definierte und funktionierende
Führungsinstrumente und -strukturen". Selbes gelte für die
vorgesetzte Polizei- und Militärdirektion (POM). Deren Chef
Hans-Jürg Käser werde "offen, transparent und zeitgerecht
informiert" und könne so seiner Verantwortung gerecht werden.
Dennoch sei die Führungsspanne von Amtsleiter Martin Kraemer zu
gross (15 direkt unterstellte Einheiten). Laut Käser ist das
Problem erkannt und eine Reorganisation geplant. Ebenso die
Experten-Kritik am Einzelfallmanagement: "Jeder Fall geht über
meinen Tisch", sagt zwar Kraemer. Doch Zuständigkeiten bei
allfälligen Massnahmen-Lockerungen müssten noch klarer
werden, so Werren. (sat)
Mehr Sicherheitspersonal
2010 wurden auf dem Thorberg zwar 5 und per 2011 in St. Johannsen
und Thorberg weitere 7,5 Stellen geschaffen. Dennoch seien "mehrere
berechtigte weitere Stellenbegehren des Amtes für Freiheitsentzug
und Betreuung hängig", so Hans-Jürg Käser. "Die
Regierung anerkennt den Handlungsbedarf", kommentierte er die Kritik im
"Bericht Werner"; insbesondere bei den Sicherheitsdiensten in den
Konkordatsanstalten (Thorberg, Hindelbank, Witzwil und St. Johannsen)
tue eine Aufstockung dringend not. Der Untersuchungsbericht geht gar
noch weiter und sieht Ausbaubedarf auch bei gewissen
Regionalgefängnissen: "So, dass rund um die Uhr jeweils eine
für allfällige Interventionen ausreichende Besetzung
möglich ist." (sat)
--
Kommentar
Gute Noten reichen nicht
Samuel Thomi
Der Straf- und Massnahmenvollzug im Kanton funktioniert
grundsätzlich gut bis sehr gut. Das externe Gutachten ergibt auch,
kein anderer Kanton betreue seine Verurteilten so günstig wie
Bern. Ob all dem Lob droht die teils massive Detailkritik an der
Anstalt Witzwil und dem Massnahmenzentrum St. Johannsen vergessen zu
gehen.
Die Untersuchung von Andreas Werren, der in den letzten Jahren
erhobene "Kuscheljustiz"-Vorwürfe klärte, zeigt auch
ungeschönt Mängel in Berns Anstalten. So ist nun amtlich,
dass bezüglich Vollzugslockerungen die Verantwortlichkeiten intern
klarer definiert werden müssen und der Amtsleiter zu vielen
Organisationen vorsteht. Dass nicht immer alle Klienten beim Eintritt
richtig eingeschätzt wurden. Oder dass zu wenig
Sicherheitspersonal respektive Geld zur Verfügung steht. Und:
Sollen die Verbesserungen umgesetzt werden, wirds teuer.
Nicht jeder Expertenbericht in Berns jüngerer Geschichte
bezog derart klar Stellung. Das ist dem Verfasser zugutezuhalten. Nun
aber zählt, was Berns Politik daraus macht. Erste Anzeichen eines
Mentalitätswandels, den Straf- und Massnahmenvollzug nicht weiter
zu tabuisieren, reichen nicht. Diese Ankündigung muss nun gelebt
werden. Als die Anstalten in der Kritik standen, bestätigten
Justiz, Verwaltung und Regierung jeweils nur, was bekannt war.
Dass der Wandel nottut, zeigt nicht zuletzt die jüngst von
der SVP mehrfach geforderte Abschaffung des offenen Vollzugs. Solange
jedoch das Ziel einer Strafverbüssung die Reintegration
beinhaltet, einstige Täter also nicht von einem Tag auf den
anderen unvorbereitet entlassen werden sollen, müssen die Angebote
des offenen Vollzugs auf allen Ebenen so sicher wie möglich
gemacht werden.
samuel.thomi@azmedien.ch
---
20 Minuten 18.2.11
Mehr Personal in Strafanstalten gefordert
BERN. Der Straf- und Massnahmenvollzug im Kanton Bern
erfüllt grundsätzlich die Sicherheitsanforderungen. Zu diesem
Schluss kommt Andreas Werren, ehemaliger Leiter des Amts für
Justizvollzug des Kantons Zürich. Werren nahm als externer Experte
die Berner Strafanstalten unter die Lupe, nachdem das Gefängnis
Witzwil und das Massnahmenzentrum St. Johannsen in die Kritik geraten
waren. Drogenhandel, unkontrollierte Besuche und freier Zugang zum
Internet sorgten 2009 in Witzwil für einen Skandal. Das
Massnahmenzentrum St. Johannsen in Le Landeron geriet im selben Jahr in
die Schlagzeilen, nachdem ein Sexualstraftäter aus dem offenen
Vollzug entwichen war und sich an einem Mädchen vergangen hatte.
Trotz des guten Zeugnisses schlägt Werren aber vor, mehr Personal
einzustellen und klare Kompetenzen für Vollzugslockerungen zu
schaffen.
NINA JECKER
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AJZ BIEL
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Bund 25.2.11
Gaswerkareal erhält für 54 Millionen ein neues Gesicht
Dem vom Stadtrat beschlossenen Paket muss das Stimmvolk noch
dreifach zustimmen.
Grünes Licht für die Umgestaltung des Bieler
Gaswerkareals: Das Stadtparlament hat am Mittwochabend den für die
Neugestaltung des Areals nötigen Kredit von insgesamt 54 Millionen
Franken genehmigt. Bevor gebaut werden kann, muss das Bieler Stimmvolk
über drei der vom Rat beschlossenen Vorlagen befinden. Die erste:
Das Grundstück, das zurzeit als Parkplatz des Kongresshauses
genutzt wird, muss erst von Altlasten befreit werden, die unter dem
Asphaltbelag versiegelt sind. Die giftigen Abfälle stammen aus der
1967 eingestellten Gasproduktion. Für deren Beseitigung sind
insgesamt 8 Millionen Franken veranschlagt.
In einem zweiten Schritt sollen die über 600 Parkplätze
in ein unterirdisches Parkhaus verlegt werden. Es ist geplant, dass
diese die stadteigenen Parking Biel AG baut. Die Kosten betragen 28
Millionen Franken. Dazu gewährt die Stadt Biel aus der
Sonderrechnung Parkplatzwesen ein zinsloses Darlehen von 3 Millionen
und ein verzinsliches Darlehen von 5 Millionen. Der Rest wird über
Bankkredite finanziert.
Landverkauf an Shopping-Center
In der zweiten Volksvorlage geht es um die Gestaltung des Areals.
Über dem Parking ist ein öffentlicher Platz geplant,
östlich davon ein Park. Mit der Erneuerung des Kongresshaus-Parks
ergeben sich Kosten von 15,2 Millionen Franken. Damit die Nordseite des
Platzes eine angemessen gestaltete Fassade erhält, hat die Stadt
Biel die Eigentümerin des angrenzenden Shopping-Centers dafür
gewonnen, einen Anbau zu erstellen. Dafür will sie ihr 5600
Quadratmeter Land verkaufen - Volksvorlage Nummer drei. Der daraus
resultierende Buchgewinn von 8 Millionen Franken wird weitere Projekte
mitfinanzieren. Dasselbe gilt für 12 Millionen aus einem anderen
Landverkauf. Als Gefäss dafür hat das Stadtparlament die
Spezialfinanzierung Esplanade geschaffen.
Schliesslich soll mit der Umgestaltung die Gelegenheit genutzt
werden, das Nebenhaus des Autonomen Jugendzentrums (AJZ) durch einen
Anbau an das Konzertlokal im ehemaligen Gaskessel zu ersetzen.
Dafür stellt die Stadt Biel dem AJZ 2,8 Millionen Franken zur
Verfügung.
Kritik von links und rechts
Obwohl das Paket im Rat eine Mehrheit fand, gab es auch kritische
Stimmen. Den Grünen waren die Vorlagen zu wenig ökologisch
und nachhaltig. Ihr Antrag, für den Anbau des Einkaufszentrum das
Minergie-P-Label vorzuschreiben, unterlag deutlich. Die Bieler
Volkspartei bekämpfte dagegen den AJZ-Beitrag. Die meisten
Gegenstimmen erhielt der Landverkauf.(sda)
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AUSNÜCHTERUNGSZELLE
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Landbote 24.2.11
Unschöne, aber nützliche Einrichtung
ZÜRICH. Der seit letztem März laufende Pilotversuch mit
der Zentralen Ausnüchterungsstelle (ZAS) in Zürich soll um
ein Jahr verlängert werden.
Bis Mitte nächsten Monat will der Zürcher Stadtrat
über den Verlängerungsantrag des Polizeidepartements
entscheiden. Dabei handle es sich um eine "reine Formsache", wie Reto
Casanova, Sprecher des Polizeidepartements, zu einem Bericht des
"Tages-Anzeigers" von gestern sagt. Die Zahlen belegten, dass die im
vergangenen März eröffnete ZAS eine nützliche
Einrichtung sei - "so unschön sie auch ist". Sie habe deutlich zur
Entlastung der Quartierwachen beigetragen.
Laut Casanova besteht durchaus Bedarf für eine dauerhafte
Lösung. So bestünden Pläne, die ZAS mit dem
Vermittlungs- und Rückführungszentrum (VRZ) zusammenzulegen.
Diese Einrichtung für Drogenabhängige ist in der Kaserne
untergebracht. Ein Entscheid darüber erwartet Casanova
frühestens im kommenden Herbst.
Durchschnittlich 12 Benutzer
Bis Ende 2010 haben insgesamt 510 Betrunkene ihren Rausch in den
ausgedienten Gefängniszellen in der Nähe des Hauptbahnhofes
ausschlafen müssen. Pro Wochenende zählt die ZAS
durchschnittlich zwölf Benutzerinnen und Benutzer. Ein Grossteil
der in die ZAS Eingelieferten ist zwischen 18 und 40 Jahre alt,
männlich und stammt aus der Stadt oder dem Kanton Zürich. Die
Kosten für die Ausnüchterung werden grösstenteils auf
die Benutzer abgewälzt. Ein "Zimmer" kommt diese teuer zu stehen:
Je nach Aufenthaltsdauer sind sie der ZAS 600 bis 950 Franken schuldig.
Die Zahlungsmoral war zu Beginn schlecht, wie der zuständige
Projektleiter Anfang Oktober beklagte. Seither sei die Situation jedoch
"deutlich besser" geworden, sagt Casanova.
Immer an den Wochenenden
Geöffnet ist die ZAS immer von Freitagabend bis
Sonntagnachmittag. Für die nächtliche Betreuung stehen
jeweils ein Polizist, drei Angestellte einer Sicherheitsfirma sowie
zwei medizinische Fachpersonen bereit. (sda)
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Tagesanzeiger 23.2.11
"Hotel Suff" in der Urania-Wache soll ein weiteres Jahr geöffnet
bleiben
Die Stadt Zürich will den Pilotversuch mit der landesweit
ersten Zentralen Ausnüchterungsstelle verlängern. Die
Zahlungsmoral der Trinker hat sich verbessert - trotz Preisen von bis
zu 950 Franken pro Nacht.
Von Martin Huber
Zürich -Betrunkene, die die öffentliche Ordnung, sich
selbst oder andere gefährden, kann die Polizei auch künftig
in spartanisch eingerichteten Zellen unterbringen:Die Zentrale
Ausnüchterungsstelle (ZAS) in der Urania-Hauptwache nahe dem
Hauptbahnhof habe sich "sehr gut bewährt", sagt Reto Casanova,
Sprecher von Zürichs Polizeivorsteher Daniel Leupi (Grüne).
Das Polizeidepartement will den Pilotversuch deshalb um ein Jahr
verlängern.
Das letzte Wort in der Sache hat der Stadtrat, der Anfang
März über den Antrag entscheiden wird. Ein Ja dürfte
allerdings Formsache sein. Casanova: "Wir rechnen damit, dass der
Versuch verlängert wird." Die beteiligten Institutionen, das
Polizeidepartement und das Gesundheits- und Umweltdepartement, seien
für das Weiterbestehen der Einrichtung. Der Bedarf dafür sei
"klar ausgewiesen".
Die Ausnüchterungsstation war im vergangenen März als
ein auf ein Jahr befristetes Pilotprojekt in Betrieb genommen worden
mit dem Ziel, die Regionalwachen der Polizei und die Notfallstationen
der Spitäler zu entlasten. Seither ist die Einrichtung jeweils von
Freitag, 22 Uhr, bis Sonntag, 15 Uhr geöffnet. Die Betrunkenen
stehen in den Zellen unter medizinischer Aufsicht. Die Stadt rechnet
unter dem Strich mit Kosten von rund 330 000 Franken pro Jahr.
Nur wenige Minderjährige
Laut Departementssprecher Reto Casanova wurden bis Ende 2010
insgesamt 510 Betrunkene in der ZAS eingeliefert. Im Durchschnitt
brachte die Polizei pro Wochenende 12 Personen dort unter, wovon im
Schnitt eine in ein Spital überwiesen werden musste. 75 Prozent
der "Gäste" stammten aus Stadt und Kanton Zürich, lediglich 5
Prozent waren Frauen. Die ursprüngliche Annahme, dass viele
minderjährige "Komasäufer" in die Ausnüchterungszellen
gebracht werden, hat sich nicht bewahrheitet. Laut Casanova waren nur
sehr wenige Personen unter 18 Jahre alt, der Hauptharst der
Aufgegriffenen war zwischen 18 und 40 Jahre alt. Drei Viertel aller
ZAS-Klienten seien von Drittpersonen bei der Polizei gemeldet worden,
was zeige, dass die Stadtpolizei nicht aktiv Jagd auf Betrunkene auf
Zürichs Strassen mache.
Die eingewiesenen Personen verhalten sich in der ZAS nicht selten
renitent. Aber darauf sei man vorbereitet, wie Casanova betont. Die
Überwachung der Betrunkenen hat die Stadtpolizei einer privaten
Sicherheitsfirma übertragen, was anfänglich auf Kritik
stiess. Laut Casanova hat es in dieser Hinsicht bisher keinerlei
Probleme gegeben.
Ausnüchtern auf eigene Kosten
Als Novum in der Schweiz werden die Kosten für die
Ausnüchterung in der ZAS auf die Eingelieferten
überwälzt. Damit unterscheidet sie sich von den
Notfallstationen der Spitäler, wo nicht die Betrunkenen zur Kasse
gebeten werden, sondern in aller Regel die Krankenkassen die Kosten
für die Ausnüchterung übernehmen. Wer dagegen in der
Ausnüchterungszelle eine ganze Nacht lang betreut werden muss,
bezahlt 950 Franken - gleich viel wie für ein Doppelzimmer im
Luxushotel. Wer in weniger als drei Stunden wieder auf den Beinen ist,
muss 600 Franken berappen.
Die Zahlungsmoral der Ausgenüchterten hat sich laut Casanova
in den vergangenen Monaten "wesentlich verbessert". Anfänglich
hatte es mit dem Inkasso für die teuren Süffelzellen
gehapert. Nach sechs Monaten Betrieb waren erst 90 000 von 250 000
Franken, die in Rechnung gestellt worden waren, bezahlt. Allerdings
muss sich die Stadt mit Rechtsstreitigkeiten bezüglich der
Ausnüchterung und deren Verrechnung in der ZAS auseinandersetzen.
"Es gab einige wenige Einsprachen", sagt Casanova. Nähere Angaben
wollte er mit Blick auf die laufenden Verfahren nicht machen.
Standortfrage ungeklärt
Die Zentrale Ausnüchterungsstelle soll vorerst weiter in der
Hauptwache Urania untergebracht bleiben. Pläne, die Einrichtung
mit dem seit 15 Jahren in der Kaserne im Kreis 4 bestehenden
Vermittlungs- und Rückführungszentrum für
Drogenkonsumenten zusammenzulegen, sind laut Casanova immer noch
aktuell, allerdings noch nicht spruchreif.
Die Suche nach einem neuen gemeinsamen Standort dauere an. Ein
Entscheid werde frühestens nächsten Herbst fallen. Das
Zürcher Projekt stösst auch in anderen Schweizer Städten
auf Interesse. So hat sich das Berner Kantonsparlament Ende Januar
für die Einrichtung einer zentralen Ausnüchterungszelle
ausgesprochen. Auch im Kanton Luzern hat sich die Regierung zu einem
ähnlichen Vorstoss positiv geäussert. Sie würde
Ausnüchterungszellen begrüssen, will aber zuerst die
Erfahrungen aus Zürich abwarten.
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REPRESSION & HETZE
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Sonntagsblick 27.2.11
Das sagt der Staatsanwalt
Fehrs Schläger zeigt keine Reue
VON ROMINA LENZLINGER
Die Attacke auf SVP-Mann Hans Fehr muss der Schweiz Sorgen
machen. Dies zeigen die Ermittlungen. Die Linksautonomen griffen den
Politiker gezielt an. Von Reue keine Spur.
Es passierte am Rande der Albisgüetlitagung am Abend des 21.
Januar. Linksautonome griffen den Zürcher SVP-Nationalrat Hans
Fehr (64) an und verprügelten ihn. Ein gezielter Angriff, wie nun
klar ist. "Die Chaoten haben Fehr als Fehr erkannt. Sie traten bewusst
auf ihn ein, weil ihnen seine politische Haltung missfällt", sagt
Staatsanwalt Markus Imholz. Die Attacke sei eine völlig neue
Dimension von Gewalt - eine, die er in dieser Art in der Schweiz noch
nie gesehen habe. Dadurch werde das Delikt noch viel gravierender.
Einer der mutmasslichen Täter, ein 32-jähriger Zürcher
sitzt seither in Haft. "Von Reue ist bei ihm nichts zu spüren",
sagt Imholz. Ob der Häftling möglicherweise beabsichtigt, zu
kooperieren und seine Kollegen preisgeben will, will der Staatsanwalt
nicht verraten.
Noch sind nicht alle Täter gefasst. Doch es wird eng. Imholz
wird diese Woche vier weitere Gespräche führen. Er schliesst
nicht aus, dass er weitere Personen verhaften lässt. Ende Woche
will er die Resultate seiner Ermittlungen der Öffentlichkeit
präsentieren.
Inzwischen ist klar, dass die Wortführerin der
Linksautonomen, Andrea Stauffacher, nichts mit der Attacke auf den
SVP-Hardliner zu tun hatte. "Sie wird weder vorgeladen noch befragt.
Ich weiss nicht einmal, ob sie an der Kundgebung mit dabei war", sagt
Imholz.
Sicher scheint, dass Frauen eine zentrale Rolle spielten.
Möglich ist, dass sie Fehr sogar das Leben retteten. "Es ist
richtig, dass Frauen die Schläger stoppten." Fehr selbst, der sich
nicht äussern will, geht es mittlerweile deutlich besser.
---
St. Galler Tagblatt 24.2.11
Vorstösse wegen Vermummten an WEF-Demo
SVPler haben auf Kantons- und Stadtebene Vorstösse zur Demo
gegen das WEF eingereicht. Sie kritisieren, das Vermummungsverbot sei
nicht durchgesetzt worden.
An der bewilligten Anti-WEF-Demo am 22. Januar in der Stadt St.
Gallen waren vermummte Demonstranten dabei. Im Kantonsrat und im
Stadtparlament eingereichte Vorstösse beschäftigen sich nun
mit der Demo, an der rund 400 Personen teilnahmen und es zu
Prügeleien kam. Beide kommen aus den Reihen der SVP und stellen
unter anderem die Frage, warum das Vermummungsverbot nicht durchgesetzt
worden sei.
Polizeiliche "Raucherhetze"?
Die drei Kantonsräte, welche im Sarganserland und dem
Untertoggenburg zu Hause sind, äussern sich zudem zur Kontrolle
des Rauchverbots. Unter dem Titel "Falsche Prioritäten der
Polizei?" stellen sie fest, dass die Kantonspolizei vier
Kantonspolizisten für eine Raucher-Razzia im Sarganserland
einsetze. Es "verwundere sehr", dass die Polizei für solche "nicht
sicherheitsrelevanten Aktionen" Zeit finde. Zudem wollen sie von der
Regierung wissen, ob die Polizei nicht wichtigere Aufgaben als diese
"Raucherhetze" habe. Solche Aktionen würden "den Frieden unter der
Bevölkerung stören" und liessen "den Glauben an die Vernunft
anzweifeln".
"Die Polizei schaute zu"
Die Stadt-SVPler hingegen beschäftigen sich ausschliesslich
mit der Demo. "Das Vermummungsverbot wurde missachtet und die Polizei
schaute zu", stellen sie fest. Weil sie davon ausgehen, dass die
Polizei bei einer kleineren Anzahl Demonstrierender eingegriffen
hätte, fragen sie. ab wie vielen Demo-Teilnehmern sie "nicht mehr
einschreite". Zudem wollen sie die Kosten für den Polizeieinsatz
und die Sachschäden beziffert wissen und Auskunft über
"Personenschäden". Sie erkundigen sich auch, ob sich die Polizei
"bei den unbeteiligten Opfern des Saubannerzuges um Wiedergutmachung
bemüht oder entschuldigt" habe. (kl)
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BZ 18.2.11
Wegen zu dicker Handgelenke ersetzt die Armee alle Handschellen
Armee. Weil das Handgelenk des Durchschnittsmenschen heute dicker
ist als noch vor zwanzig Jahren, ersetzt die Armee alle ihre
Handschellen durch neue grössere. Gleichzeitig stockt sie den
Bestand von 1500 Stück auf 6800 auf und führt eine neue
Fesselungspraxis ein.
Die Schweizer Armee ersetzt ihren gesamten Bestand an
Handschellen. Gleichzeitig erweitert sie ihn von rund 1500 Stück
auf 6800. Die 6800 neuen Handschellen sollen im nächsten Jahr
geliefert werden. Armeesprecher Daniel Reist bestätigt
entsprechende Recherchen dieser Zeitung. Wie viel die Beschaffung der
neuen Fesseln kostet, ist noch nicht klar.
Handschellen für alle
Bis jetzt standen ordnungsgemäss nur der Militärpolizei
Handschellen zur Verfügung. Alle anderen Truppen mussten zur
Fesselung Kabelbinder benutzen - sowohl in der Ausbildung wie auch in
Ernstfalleinsätzen wie etwa dem WEF.
Kabelbinder sind schmale Kunststoffriemen. Sie werden eigentlich
zur Bündelung von Stromkabeln hergestellt. Sie lassen sich
allerdings nur einmal verwenden. Zum Öffnen müssen sie
zerschnitten werden. Fesselungen von Personen sind ein Bestandteil in
der Ausbildung vieler Truppengattungen.
Mit dem Kauf der neuen Handschellen führt der Bund in der
ganzen Armee eine neue Fesselungspraxis ein. Künftig sollen
Soldaten und andere Armeeangehörige aller Truppengattungen
Fesselungen nur noch mit Handschellen statt mit Kabelbindern
durchführen. Dies sowohl in der Ausbildung wie auch bei
Einsätzen. Damit will die Armee eine Vereinheitlichung der
Fesselungsmethoden erreichen. Armeesprecher Reist begründet die
Umstellung folgendermassen: "Die breite Verwendung von Kabelbindern als
Einwegartikel verursacht hohe wiederkehrende Kosten." Kabelbinder haben
laut Reist noch andere Nachteile: Sie bergen bei Verwendung als
Fesselungswerkzeug Verletzungsgefahr - wegen
Durchblutungsstörungen oder beim Aufschneiden der
Kunststoffriemen. Zudem seien sie auch weniger sicher als Handschellen.
Zu dicke Handgelenke
Die Begründung der Armee, weshalb die vorhandenen 1500
Handschellen ersetzt werden, klingt im ersten Augenblick wie ein
Scherz: Man habe festgestellt, dass "die bislang verwendete Handschelle
dem heutigen Umfang von Handgelenken zunehmend nicht mehr genügt",
sagt Armeesprecher Reist. Das sei nicht etwa ein Witz, das Handgelenk
des Durchschnittsmenschen sei in den letzten Jahren tatsächlich
kräftiger und damit breiter geworden, so Reist.
Ausserhalb der Armee haben Kabelbinder als Fesselungsinstrument
allerdings noch lange nicht ausgedient: Kantonspolizeien verwenden bei
Demonstrationen oder ähnlichen Einsätzen bis heute sehr oft
Kabelbinder statt Handschellen.
Mischa Aebi
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Mehr Durchdiener
Armee Immer mehr Armeeangehörige leisten ihren Dienst am
Stück. 2010 wurden über 3800 Durchdiener rekrutiert, 75
Prozent mehr als im Vorjahr. Nicht verändert hat sich die Rate der
Dienstuntauglichen.
Im Jahr 2010 hat die Armee insgesamt 41 959 Stellungspflichtige
rekrutiert, wie das Verteidigungsdepartement (VBS) am Donnerstag
mitteilte. Dies sind rund 5 Prozent mehr als im Vorjahr. Ein Teil von
ihnen wurde zurückgestellt.
Von den am Ende 40 535 Beurteilten waren 66 Prozent für den
Militärdienst und 16 Prozent für den Zivilschutz tauglich.
Rund 18 Prozent waren weder für den Militärdienst noch
für den Zivilschutz tauglich. Im Vergleich zum Vorjahr blieb die
Rate damit konstant.
Die Tauglichkeitszahlen lägen im Rahmen der letzten
fünf Jahre, schreibt das VBS. Zugenommen hat - neben der Zahl der
Durchdiener - die Zahl der Frauen: Im Jahr 2010 liessen sich 141 Frauen
freiwillig rekrutieren, 2009 waren es 115. Bei den Frauen waren rund 77
Prozent tauglich.
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BIG BROTHER VIDEO
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NZZ 25.2.11
Virtuelle und reale Schauplätze polizeilich observieren
Der Regierungsrat will neue Grundlagen im Polizeigesetz schaffen
- und wartet dennoch ungeduldig auf eine Bundeslösung
Unter anderem die Videoüberwachung und die Observation
öffentlicher Räume, realer oder virtueller, sollen im
kantonalen Polizeigesetz neu geregelt werden. Letzteres betrifft auch
Chatroom-Überwachungen oder das Vorgehen gegen Drogendealer.
brh. · Seit vergangenem Herbst wird in der Schweiz heftig
darüber debattiert, warum in der neuen eidgenössischen
Strafprozessordnung die rein präventive verdeckte Ermittlung nicht
mehr geregelt wird. Es geht beispielsweise darum, dass die
Strafverfolger in Internetforen oder in Chatrooms für Jugendliche
als Teilnehmer mit falscher Identität (etwa als "Lara_13")
auftauchen und abwarten, was geschieht. Mit solchen
"fishing-expeditions" wollen sie herausfinden, ob sich in den Foren
kriminelle Elemente mit unlauteren Absichten tummeln. Die Polizei hat
Interesse daran, auch ausserhalb einer Strafuntersuchung tätig
werden zu dürfen, und zwar ohne dass ein konkreter Tatverdacht
besteht und ohne dass eine Anzeige erstattet wurde. Man will in einem
frühen Stadium einschreiten können - bevor es zur Straftat
kommt. Dieser Möglichkeit sieht sich die Polizei beraubt: wegen
der Gesetzeslücke in der Strafprozessordnung, aber auch wegen des
strengen Umgangs des Bundesgerichts mit der verdeckten Ermittlung.
Vernehmlassung gestartet
Vor diesem Hintergrund schlägt der Regierungsrat vor, die
polizeiliche Observation und die polizeiliche Kontaktaufnahme mit einer
falschen Identität neu im kantonalen Polizeigesetz zu verankern -
und wartet trotzdem ungeduldig auf eine Bundeslösung. Der
Vernehmlassungsentwurf für die vorgeschlagenen
Gesetzesänderungen ist am Donnerstag veröffentlicht worden.
Man gehe im Kanton Zürich weiterhin davon aus, dass
präventive polizeiliche Fahndungen sowie das verdeckte Auftreten
ohne konkreten Tatverdacht im Bundesrecht klar von der
bewilligungspflichtigen verdeckten Ermittlung abgetrennt werden
müssten, sagte Jolanda van de Graaf, Sprecherin der
Sicherheitsdirektion. Mit der neuen Regelung im Polizeigesetz wolle man
einfach parat sein, wenn die Lücke im Strafprozessrecht gestopft
werde: "Der Bund wird mit unserer kantonalen Lösung nicht
dispensiert." Die neuen Paragrafen sprechen den Polizeien die Kompetenz
zu, den öffentlichen Raum offen oder verdeckt zu beobachten sowie
Kontakte zu knüpfen, "ohne die wahre Identität und Funktion
bekanntzugeben". Verboten bleibt nach wie vor, zur kontaktierten Person
ein besonderes Vertrauensverhältnis aufzubauen.
Doch was ändert sich in der polizeilichen Arbeit konkret,
wenn die neuen, vom Regierungsrat vorgeschlagenen Paragrafen in Kraft
treten? "Vorerst nichts", sagt die Sprecherin der Sicherheitsdirektion,
"es ändert sich erst etwas, wenn der Bund die Strafprozessordnung
ergänzt hat." Die heiklen Internetforen wie auch die heiklen
Strassen und Plätze im öffentlichen Raum werden weiterhin
beobachtet; aber eingreifen oder verdeckt teilnehmen darf die Polizei
erst, wenn sie einen konkreten Tatverdacht hat oder wenn eine Anzeige
erfolgte. Es könne nicht die Rede davon sein, so van de Graaf,
dass die Polizei gar nichts mehr tue. Man observiere nach wie vor,
einfach unter stark eingeschränkten Voraussetzungen. So wird etwa
darauf verzichtet, sich unter falschen Angaben in einem Chatroom
einzuloggen oder in einer Versteigerungsplattform mitzubieten - wenn
dies nur rein präventiv geschieht, ohne Anzeige und ohne konkreten
Verdacht.
Regeln zur Videoüberwachung
Die vom Regierungsrat vorgeschlagenen Änderungen des
Polizeigesetzes betreffen nun aber nicht nur die verdeckte Fahndung.
Die Exekutive musste auch die polizeiliche Videoüberwachung neu
regeln, weil das Bundesgericht auf Beschwerde hin die alte Fassung als
zu weitgehend und zu vage taxiert und die Norm deshalb aufgehoben
hatte. Die neue Regelung ist um einiges ausführlicher und
konkreter ausgefallen, allerdings ist sie ohne den kantonalen
Datenschutzbeauftragten ausgearbeitet worden. Bruno Baeriswyl will sich
nun im Rahmen der Vernehmlassung zur vorgeschlagenen neuen Lösung
äussern, wie er am Donnerstag auf Anfrage sagte.
Eine dritte Änderung des Polizeigesetzes betrifft den Umgang
mit den Hotelmeldescheinen. 2008 führte der Kanton Zürich die
elektronische Hotelkontrolle ein, was es der Polizei seither
ermöglicht, sämtliche Neueingänge täglich mit
schweizerischen und internationalen Polizeidatensystemen abzugleichen.
Dank diesen Kontrollen, so der Regierungsrat, entdecke die Polizei
jeden Monat bis zu 300 Personen, die zur Verhaftung ausgeschrieben
seien.
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Landbote 25.2.11
Überwachung als Prävention?
Zürich. Die Polizei darf im Kanton Zürich wegen eines
Bundesgerichtsentscheids seit Dezember 2009 keine neuen
Überwachungskameras mehr im öffentlichen Raum installieren.
Jetzt soll diese Lücke geschlossen werden. Die
Sicherheitsdirektion gibt eine Ergänzung zum Polizeigesetz in die
Vernehmlassung. Darin soll festgeschrieben werden, wer wo zu welchem
Zweck den öffentlichen Raum per Video überwachen darf.
Wichtig ist die Gesetzesgrundlage vor allem dort, wo es um Aufnahmen
geht, auf denen Personen erkennbar sind. Bei Grossveranstaltungen wie
Demos oder Fussballmatches will die Polizei auch nicht auf
Überwachung verzichten. Kameras würden präventiv auf
Vandalen und Randalierer wirken, sagt Jolanda van de Graaf, Sprecherin
der Sicherheitsdirektion.
Viktor Györffy von den Demokratischen Juristen Zürich
bezweifelt hingegen die Wirksamkeit der Videoüberwachung. "Ich
halte sie für eine Illusion." Er kritisiert den Einsatz von
Kameras bei Demonstrationen "vor allem im Zusammenhang mit dem
Staatsschutz". (sa) Seite 21
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Umstrittene Überwachung neu geregelt
Zürich. Der Kanton muss die Videoüberwachung im
öffentlichen Raum detaillierter regeln. Um Straftaten zu
verhindern, will die Polizei weiterhin an Grossanlässen wie Demos
filmen dürfen. Eine Ergänzung zum Polizeigesetz geht jetzt in
die Vernehmlassung.
Sabine Arnold
Der Paragraf zur Videoüberwachung im kantonalen
Polizeigesetz lautete früher äusserst schwammig: "Die Polizei
darf zur Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben allgemein
zugängliche Orte mit technischen Geräten offen oder verdeckt
überwachen und soweit notwendig Bild- und Tonaufnahmen machen."
Eine Beschwerde dagegen von links-grüner Seite - unter anderem von
den Demokratischen Juristinnen und Juristen Zürich - war vor
Bundesgericht erfolgreich. Dieses kippte im September 2009 die
bisherige Bestimmung aus dem Gesetz. Sie sei zu vage und ohne
Einschränkungen formuliert und tangiere die persönliche
Freiheit der Bürger.
Die Sicherheitsdirektion hat gestern eine Ergänzung des
kantonalen Polizeigesetzes in die Vernehmlassung gegeben. Zur
Stellungnahme eingeladen seien "alle Interessierten", sagt Jolanda van
de Graaf, Sprecherin der Sicherheitsdirektion. Der Paragraf zur
Videoüberwachung ist nun konkreter formuliert, vor allem dort, wo
es um Aufnahmen geht, auf denen Personen identifizierbar sind. Die
Polizei soll "begrenzte Örtlichkeiten" mit Videokameras
überwachen dürfen, um strafbare Handlungen wie
Sachbeschädigungen zu verhindern sowie Personen zu schützen.
Kameras sollen auf öffentlichen Strassen und Plätzen, zum
Beispiel vor Fussballstadien, zum Einsatz kommen, sagt van de Graaf.
Dies darf nur auf Anordnung einer Polizeioffizierin oder eines
-offiziers geschehen, und die Öffentlichkeit muss darüber
informiert werden.
Erlauben will die überarbeitete Bestimmung auch die
technische Überwachung von Grossveranstaltungen wie
Demonstrationen oder Sportanlässen durch Kameras oder Drohnen.
Einerseits sei dies für die Steuerung der Sicherheitskräfte
notwendig. Andererseits sollen die Kameras laut van de Graaf
Randalierer und Vandalenakte verhindern, also präventiv wirken.
Weil die Polizei damit das Grundrecht der Demonstrationsfreiheit
antastet, muss sie die Aufnahmen "sofort" auswerten und vernichten,
sofern sie nicht als Beweise in einem Strafverfahren dienen. Nach der
alten Regelung mussten die Aufnahmen spätestens nach einem Jahr
gelöscht werden; neu nach einer maximalen Aufbewahrungsdauer von
100 Tagen.
In diesem Vorschlag seien zwar mehr Details zur
Videoüberwachung geregelt, sagt Viktor Györffy von den
Demokratischen Juristinnen und Juristen Zürich. "Dass sie wirksam
ist, kann aber nach wie vor niemand beweisen. Ich halte diese
Vorstellung für eine Illusion." Györffy hält die
generelle Überwachung von Demonstrationen für "sehr
bedenklich", vor allem im Zusammenhang mit dem Staatsschutz. In der
letzten Fichenaffäre habe sich gezeigt, dass Personen, die dreimal
an einer Demonstration in eine Kontrolle gerieten, bereits als
staatsschutzrelevant galten.
Pädophile im Internet
Neben der Videoüberwachung will die Ergänzung vor allem
das polizeiliche Handeln, das Straftaten verhindert, auf eine
gesetzliche Grundlage stellen. Darunter fällt zum Beispiel die
verdeckte Überwachung von Kommunikationsplattformen im Internet.
Mit dieser wollten sie nicht nur Pädophilen in Chatrooms auf die
Schliche kommen, sagt van de Graaf, sondern zum Beispiel auch
Verkäufern von Hehlerware auf Versteigerungsplattformen.
Die Vernehmlassungsfrist läuft noch bis zum 31. Mai. Der
Kantonsrat wird sich in der zweiten Jahreshälfte mit dem Gesetz
beschäftigen.
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20 Minuten 25.2.11
Überwachungen im öffentlichen Raum: Neue Regeln
ZÜRICH. Wegen einer Lücke im Polizeigesetz darf die
Polizei im Kanton Zürich seit Dezember 2009 keine neuen
Überwachungskameras im öffentlichen Raum mehr installieren.
Dies soll sich ändern dank einer Ergänzung des Gesetzes, die
aber zuerst in die Vernehmlassung muss. Die neue Bestimmung regelt die
Videoüberwachung detaillierter, insbesondere wenn Kameras zur
Erkennung von Personen eingerichtet werden. Zudem soll es mit der
Ergänzung des Gesetzes der Polizei auch wieder möglich sein,
präventiv im Internet zu ermitteln, wenn etwa Verdacht auf
Pädophilie besteht.
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BZ 24.2.11
Studen hat die ersten Videokameras installiert
Studen. Die Überwachungskameras sind montiert - insgesamt elf
Stück bei Bahnhof und Feuerwehrmagazin. Studen übernimmt
damit im Kanton eine Vorreiterrolle.
Studen soll sicherer werden. Seit Anfang Jahr überwacht die
Gemeinde als erste im Kanton ihre neuralgischen Plätze mit
Kameras. Beim Feuerwehrmagazin sind drei, beim Bahnhof acht Geräte
montiert. Der Bahnhof dient gemäss Gemeindepräsident Mario
Stegmann (FDP) als beliebter Drogenumschlagsplatz. Auch beschwerten
sich Einwohner regelmässig über Vandalismus.
Die Vorfälle gingen in letzter Zeit zurück, konstatiert
Stegmann. Dies aber schon, bevor die Überwachungskameras
installiert waren. "Vielleicht genügte allein die
Ankündigung", vermutet er. Die Kameras sind seit Januar in
Betrieb. Der Gemeindepräsident ist stolz auf Studens
Vorreiterrolle in Sachen Sicherheit. "Doch nun müssen sich die
Geräte auch bewähren."
Günstiger als Securitas
Auf jeden Fall auszahlen wird sich die Anschaffung gemäss
Stegmann in finanzieller Hinsicht: In den letzten Jahren
hat die Gemeinde jeweils rund 25 000 Franken für Securitas-Dienste
ausgegeben. Die Installation der Kameras hat 45 000 Franken gekostet.
Hinzu kommen Unterhaltskosten von jährlich rund 1500 Franken pro
Anlage. Stegmann: "Der Nutzen der Überwachungskameras ist viel
grösser. Sie sind 365 Tage 24 Stunden in Betrieb." Die
Securitas-Leute hingegen patrouillierten einige Stunden pro Woche.
Die acht Geräte beim Bahnhof sind gut verteilt: In den
beiden Wartesälen, beim Veloständer und in der
Unterführung hat es elektronische Augen. Gemeindeschreiber Ruedi
Stuber verwaltet die Schlüssel zum Computerraum - einmal pro Monat
schaut er da nach dem Rechten.
Um die Privatsphäre der Leute zu wahren, hat die Gemeinde
bewusst auf eine Liveüberwachung verzichtet. Die fix montierten
Kameras zeichnen nur auf, wenn sich in ihrem Perimeter etwas bewegt.
Sollte etwas vorfallen und jemand Anzeige erstatten, hat nur die
Polizei Zugriff auf die Daten: Sie kopiert diese vor Ort auf eine CD
oder einen USB-Stick. Die Daten auf der Festplatte werden
spätestens nach 100 Tagen automatisch gelöscht. Auf blauen
Schildern wird auf die Überwachung hingewiesen. Der Kanton
schreibt das vor.
Abfallsünder im Visier
Studen genehmigte die Videoüberwachung an der
Gemeindeversammlung im Sommer 2007. Vom Einreichen des Gesuchs an die
Kantonspolizei bis zur Installation dauerte es ein Jahr. Studen bekam
die Vorreiterrolle auch im behördlichen Papierkrieg zu
spüren. "Geärgert hat mich, dass das Dossier ewig in der
Schublade liegen geblieben ist, weil der kantonale Datenschützer
auf die Ergebnisse des gemeindeeigenen Datenschützers warten
musste", sagt Stegmann. Doch Mario Stegmann ist dennoch zufrieden. Und
liebäugelt bereits mit neuen Standorten. Zum Beispiel bei der
Sammelstelle für rezyklierbare Abfälle im Grien: "Es gibt
Leute, die dort illegal ihren brennbaren Abfall deponieren. Das
verursacht uns immense Kosten."
Seit Mitte 2010 ist die kantonale Gesetzesgrundlage für die
Videoüberwachung in Gemeinden geschaffen. Nebst Studen
verfügen bis jetzt Münsingen und Busswil über eine
Bewilligung, wie die Kantonspolizei auf Anfrage sagt. Sieben weitere
Gemeinden haben ein Gesuch eingereicht. Andere klären ihren Bedarf
an Kameras ab. Stegmann: "Ich bin überzeugt, dass sie von unseren
Erfahrungen profitieren werden."
Simone Lippuner
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Schaffhauser Nachrichten 23.2.11
Interview. Michael Zehnder setzt sich als Wissenschaftler mit dem
Nutzen der Videoüberwachung auseinander
"Kaum sinnvoll, Bagatellfälle auszuwerten"
Schaffhauser Politiker fordern, dass die Videoüberwachung auch bei
Bagateildelikten beigezogen werden soll.
Wir haben einen Experten gefragt, was er davon hält und was
internationale Studien zur Wirksamkeit der Video-überwachung sagen.
VON JAN HUDEC
Ist die Videoüberwachung ein wirksames Mittel gegen
Kriminalität?
Michael Zehnder: Bisherige Studien - ein Grossteil davon wurde in
Grossbritannien verfasst - zeigen ein gemischtes Bild. Die Wirksamkeit
der Videoüberwachung hängt sehr stark vom Kontext ab. Also
davon, welche Räume überwacht werden und auf welche Delikte
man fokussiert. Evaluationsstudien haben gezeigt, dass die Kameras in
abgeschlossenen Bereichen erfolgreicher sind als in offenen. So sind
zum Beispiel Diebstähle in Parkhäusern und auf
Parkplätzen dank Kameraüberwachung zurückgegangen. In
stark frequentierten öffentlichen Räumen, zum Beispiel in
Stadtzentren, sieht es anders aus, Hier gibt es auch in internationalen
Studien keine eindeutigen Belege für die Wirksamkeit einer
Kameraüberwachung. Es gibt Studien, die einen leichten
Rückgang der Krimina-lität verzeichnen, andere stellen sogar
eine Zunahme fest.
Sie erwähnten, die Wirksamkeit hänge auch von den
Delikten Michael ab. Welche Taten können denn durch
Kameraüberwachung vermindert werden?
Zehnder: Überwachungskameras wirken grundsätzlich besser
gegen rational geplante Delikte, beispielsweise Taschendiebstahl und
dergleichen. Dagegen wirken sie schlechter bei emotionalen, impulsiven
Taten, zum Beispiel bei Gewaltübergriffen und Delikten im
Zusammenhang mit Alkoholkonsum.
In Schaffhausen geht es ja gerade um jene Delikte, die im Ausgang
passieren (Schlägereien, Sachbeschädigungen, Littering). Man
hat dann immer die präventive Wirkung betont. Was sagen die
Studien dazu?
Zehnder: Die Evidenz dafür ist höchstens gemischt. Das
heisst, wenn man die verfügbaren internationalen Studienresultate
betrachtet, ist die Wirksamkeit der Kameras bei den besagten Delikten
eher fraglich. Des Weiteren kann Kameraüberwachung als Nebeneffekt
~ auch zu einer Verschiebung von Kriminalität führen.
Das heisst?
Zehnder: Es gibt sehr unterschiedliche Formen dieses möglichen
Verschiebungseffekts.
Primär werden territoriale, das heisst räumliche
Verschiebungen von Kriminalität diskutiert. Es kann jedoch auch zu
einer taktischen Verschiebung kommen. Bei einem Fall in Australien, wo
versucht wurde, den Drogenhandel auf einem öffentlichen Platz
durch Kameras einzuschränken, änderten die Täter ihr
Vorgehen (Warenübergabe an einem anderen Ort) und trugen
plötzlich Kopfbedeckungen, welche das Gesicht verbargen.
Das sind aber eher geplante Taten. Wie sieht es bei Affekthandlungen
aus?
Zehnder: Für eine abschliessende Beurteilung gibt er hierzu noch
nicht genügend Evidenz. Die Verschiebung birgt aber die Gefahr,
dass die negativen Folgen von Kriminalität noch grösser
werden. Dass zum Beispiel aus einem leichten Übergriff eine
Vergewaltigung werden kann, wenn ein Übergriff an einem
dezentraleren Ort stattfindet, wo sich sonst niemand aufhält.
Was halten Sie von der Schaffhauser Videoüberwachung?
Zehnder: Die Schaffhauser Umsetzung scheint relativ sinnvoll. Denn eine
permanente Live-Überwachung bindet natürlich Ressourcen.
Polizisten, die vor Kontrollraum-Bildschirmen sitzen, könnten auch
vor Ort patrouillieren. Allerdings kann eine punktuelle
Live-Überwachung bei kritischen Situationen nützlich sein.
Schaffhauser Politiker fordern, die Aufnahmen der Videokameras
auch bei Bagateildelikten auszuwerten. Wäre das sinnvoll?
Zehnder: Dies ist eine Frage von Kosten und Nutzen. Natürlich
müssen die Aufnahmen der Kameras auch ausgewertet werden, sonst
fehlt ihnen die Legitimation. Meiner Meinung nach ist dies jedoch bei
Kleinst- und Bagatellvorfällen, welche strafrechtlich nicht
verfolgt werden können (z. B. Littering), kaum sinnvoll. Man muss
sich fragen, wofür das Geld sonst noch eingesetzt werden kann, zum
Beispiel für mehr Polizeipräsenz. SoIche alternative
Massnahmen müssen gegeneinander abgewägt werden.
Sie evaluieren ja zurzeit die Videoüberwachung in Luzern.
Was bräuchte es, um die Wirksamkeit der Kameras in Schaffhausen zu
prüfen?
Zehnder: Man braucht in erster Linie detaillierte
Kriminalitätsdaten. Die Delikte müssen sehr kleinräumig
verortet werden können. Ausserdem müssen die Statistiken auch
zeitlich (z. B. monatlich) differenziert sein, weil es ausgeprägte
saisonale Schwankungen gibt. Im Sommer passiert mehr, weil mehr los ist
auf der Strasse. Des Weiteren braucht man Kontrollgebiete. Also
vergleichbare Orte, welche nicht kameraüberwacht sind. Damit
lässt sich kontrollieren, ob die Kriminalität generell zu-
oder abgenommen hat. Eine gewisse Schwierigkeit der Evaluation besteht
jedoch auch darin, dass die Videoüberwachung oft Teil eines
umfassenderen Massnahmenpakets ist. Teilweise wird die
Polizeipräsenz erhöht, die Beleuchtung verstärkt oder
mehr gereinigt. Es ist entsprechend schwierig zu identifizieren, wie
gross der eigentliche Effekt der Videoüberwachung war. Statistisch
kann man dies in den Griff bekommen, aber nur mit einer guten
Datengrundlage.
Das klingt sehr aufwendig. Braucht es die Evaluation
überhaupt?
Zehnder: In der Schweiz wird bereits auf Verfassungsebene verlangt,
dass bei möglichen Eingriffen in Grundrechte das
Verhältnismässigkeitsprinzip gewahrt werden muss. Dies setzt
de facto eine Evaluation voraus. Man muss fundiert untersuchen, ob eine
solche Massnahme wirksam ist oder nicht.
In Schaffhausen wird die Videoüberwachung von der
Verwaltungspolizei zusammen mit der Schafjhauser Polizei und dem
Datenschutzbeauftragten evaluiert. Ist das nicht heikel?
Zehnder: Unabhängigkeit, das zeigt auch die Forschung, wäre
sicherlich wünschenswert. In England zum Beispiel wurden
umfassende Evaluationen vom Innenministerium finanziert.
Wenn die Auswertung nun innerhalb der Polizei selber stattfindet,
besteht natürlich die Gefahr von Interessenkonflikten. Es
wäre sicher von Vorteil, wenn die Wirksamkeit der
Videoüberwachung von einer externen, unabhängigen Stelle
geprüft würde.
--
Zur Person
MichaeL Zehnder
Michael Zehnder, geboren 1979, studierte Okonomie an der
Universität Zürich und schloss 2005 mit dem Lizenziat ab. Er
ist Assistent an der Universität Basel (Wirtschaft und Politik)
und verfasst zurzeit - im Rahmen eines Nationalfondsprojekts - eine
Dissertation zum Thema "Die Ökonomik von Kameraüberwachung
und öffentlicher Sicherheit". Zudem evaluiert er das
Videoüberwachungssystem der Stadt Luzern
---
10vor10 sf.tv 22.2.11
Streit um das eigene Bild
Diese Woche kämpft der Schweizer Datenschutzbeauftragte Hanspeter
Thür vor Bundesverwaltungsgericht gegen den amerikanischen
Internetriesen Google. Der Streitpunkt: Google Street View.
http://videoportal.sf.tv/video?id=130fb100-d957-4b22-ac57-26f7711e515b
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BIG BROTHER SPORT
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St. Galler Tagblatt 24.2.11
Schuld sein will niemand
Die Auseinandersetzung zwischen der Delta Security und FCSG-Fans
im Letzigrund gibt zu reden. Wie sinnvoll ist es, Delta-Leute wegen
einiger Pyrofackeln in einen Fansektor zu schicken?
Daniel Walt
st. gallen. Wenn es in Fussballstadien zu unschönen Szenen
kommt, geht die Sicht der Beteiligten meist komplett auseinander. Das
ist auch nach dem Gastspiel des FC St. Gallen im Zürcher
Letzigrund nicht anders. Gesichert ist: In der Anfangsphase der Partie
zündeten St. Galler Fans Pyrofackeln. Etwas später drangen
Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes Delta Security in den
Gästesektor ein. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen
Fans und den Sicherheitsleuten, die sich schliesslich zurückzogen.
"Ohne aggressives Auftreten"
Was genau ist vorgefallen? Wie die für die Sicherheit im
Stadion verantwortliche Delta Group mit Hauptsitz in Weinfelden
festhält, sei nach Spielbeginn festgestellt worden, dass im
unteren Teil des St. Galler Sektors Pyrofackeln verteilt würden.
Dann sei diskutiert worden, wie das Abbrennen verhindert werden
könnte. Die Verantwortlichen sahen die Lösung darin,
Sicherheitsleute in den St. Galler Sektor zu schicken - "präventiv
und ohne aggressives Auftreten", so die Delta Group.
Etwas später - die ersten Pyros waren bereits abgebrannt -
begab sich der Delta-Frontmann in den St. Galler Sektor und wollte in
den unteren Bereich gelangen. "Höflich" habe er sich durchgefragt,
wie die Delta Group schreibt. Der obere Teil des Blocks habe sich aber
unvermittelt umgedreht und die Delta-Leute angegriffen. In der Folge
hätten diese die Aktion abgebrochen, um keine Eskalation zu
provozieren. Weil der Delta-Frontmann aber von einigen Fans gefasst und
nach unten in den Block gezogen worden sei, habe sich die Gruppe um
dessen Schutz gekümmert. Nach einem Gerangel habe sich die Delta
dann wieder zurückgezogen. Es sei nicht Tränengas, sondern
Pfefferspray verwendet worden.
Martin Bartholdi, Fanverantwortlicher des FC St. Gallen,
äussert sich nach wie vor nicht zu den Ereignissen vom Samstag -
die Vorfälle würden intern besprochen, um nach einer
Lösung zu suchen. Wer sich in Fankreisen umhört, stösst
allerdings auf Kritik am Vorgehen der Delta-Leute. So ist die Rede
davon, dass beim Eindringen in den St. Galler Sektor Leute
weggedrückt worden seien - unter anderem soll eine Frau einige
Treppenstufen weiter nach unten gestossen worden sein. Im FCSG-Fanforum
gab es denn auch Lob für den Zusammenhalt, den die Kurve
gegenüber den Delta-Leuten gezeigt habe: "Alle, die im Stadion
waren, wissen, wie die Geschichte wirklich war. Dass die Deltas ein
aggressiver Schlägertrupp sind, haben sie der ganzen Schweiz nicht
erst seit heute bewiesen", schreibt ein User.
Kritik von den Fans
Kritik aus Fankreisen an der Delta: Das ist nicht neu - solche
Vorwürfe kommen regelmässig auch von Anhängern anderer
Clubs. Das Unternehmen schreibt dazu: "Wir investieren jährlich
einen mittleren sechsstelligen Betrag in die Rekrutierung sowie Aus-
und Weiterbildung unserer Mitarbeiter. Mit unserem Rekrutierungssystem
versuchen wir mit aller Konsequenz, gewaltbereite Leute auszusondern."
Zum Fall eines Delta-Angestellten, der vor einiger Zeit via Facebook
Fans Gewalt androhte, schreibt Delta, der Mann sei kurz nach seinen
Äusserungen fristlos entlassen worden.
War die Aktion nötig?
Bleibt die Frage, ob es nötig war, wegen einzelner Pyros
Delta-Leute in einen Block zu schicken und die Eskalation in Kauf zu
nehmen. "Aufgrund unserer Erfahrungen, dass wir solche
Präventionsmassnahmen bereits bei anderen Spielen praktiziert
haben, ohne dass es zu Ausschreitungen kam, entschied sich unser
Einsatzleiter, dies auch hier zu tun", so die Delta mit Verweis auf das
Pyroverbot.
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BIG BROTHER
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Thurgauer Zeitung 26.2.11
Hooligans am Pranger
Darf die Kantonspolizei St. Gallen Bilder von Fussball-Hooligans
im Internet publizieren? - Seit zwei Jahren nimmt die Fachstelle
für Datenschutz Stellung zu solch heiklen Fragen.
Jeanette Herzog
St. Gallen. Seit dem 12. Dezember 2008 stehen die Schweizer
Grenzen für EU-Bürger offen, die Schweiz tauscht
Fahndungsinformationen mit den EU-Ländern aus und arbeitet im
Bereich Asylwesen mit der EU zusammen: Die Übereinkommen von
Schengen und Dublin stellen ganz neue Anforderungen an den Datenschutz
in der Schweiz.
167 Anfragen im ersten Jahr
Seit Anfang Januar 2009 verfügt der Kanton St. Gallen
deshalb über ein eigenes Datenschutzgesetz und seit Anfang Februar
2009 auch über eine unabhängige Fachstelle für
Datenschutz. Zwei Juristinnen im Teilpensum kümmern sich um
Anfragen aus der Bevölkerung, vom Kanton und von den Gemeinden:
Corinne Suter Hellstern ist Leiterin der Fachstelle und Claudia
Hanimann Wenk ihre Stellvertreterin. Bereits im ersten Jahr haben die
beiden Frauen 167 Anfragen beantwortet. "Wir waren gut ausgelastet,
zumal wir uns auch noch um den Aufbau der Fachstelle kümmern
mussten", sagt Suter. Von grossem öffentlichem Interesse war 2009
insbesondere die Publikation von mutmasslichen Fussball-Hooligans durch
die Kantonspolizei im Internet. Die Fachstelle für Datenschutz
nahm zu diesem Fall Stellung und kam zum Schluss, dass für eine
Publikation von Fahndungsfotos neben den gesetzlichen Grundlagen auch
die Verhältnismässigkeit gewahrt werden muss. Es muss sich
also um eine schwere Straftat handeln und der Verdacht muss dringend
sein. Zudem müssen erst alle anderen Massnahmen ausgeschöpft
werden, die einen geringeren Eingriff in die Persönlichkeitsrechte
bedeuten. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, darf die Polizei
Hooligan-Bilder ins Internet stellen.
Viel für ein 100-Prozent-Pensum
Im Jahr 2010 verdichtete sich das Arbeitsvolumen der Fachstelle
für Datenschutz weiter. "Es sind über 200 Anfragen
zusammengekommen", sagt Corinne Suter. Dafür, dass die Fachstelle
nur über ein 100-Prozent-Pensum verfüge, sei das viel.
Zahlreiche Fragen stammen von den Gemeinden, die sich um den Aufbau
ihrer eigenen unabhängigen Fachstellen bemühen.
"Wir hoffen, dass die Installation der regionalen Fachstellen
für uns eine Entspannung bringt", sagt Suter. Denn auch die
Anfragen aus der Bevölkerung seien vielseitig. Eine Person habe
sich erkundigt, ob es für eine Forschungsarbeit zulässig sei,
Adressen der Einwohnerinnen und Einwohner zu erhalten, um daraus eine
Personen-Stichprobe zu ziehen. Eine andere wollte wissen, ob die
Arbeitslosenkasse Unterlagen wie Lohnabrechnungen, Kontoauszüge,
Steuerveranlagungen bearbeiten dürfe.
"Mir gefällt die Arbeit"
Bei solchen Anfragen überprüfen wir zuerst, ob es eine
gesetzliche Grundlage gibt und ob die Daten für die
Aufgabenerfüllung notwendig sind", erklärt Corinne Suter. Sie
kümmert sich aber nicht nur um Einzelfragen, sondern ist auch
immer wieder mit Projekten beschäftigt. Sie hat beispielsweise das
Mammographie-Screening des Kantons aus der Sicht des Datenschutzes
begleitet. "Mir gefällt meine Arbeit sehr gut, weil wir uns auf
der Fachstelle für Datenschutz mit einem spannenden Thema
beschäftigen, das sich stetig weiterentwickelt", sagt sie.
---
Langenthaleer Tagblatt 23.2.11
Noch 1100 Berner und 100 Organisationen fichiert
Staatsschutz In einigen Fällen lief die Frist ab, in anderen
wurden Datensätze bereinigt: Nun fichiert der Bund noch 1100
Bernerinnen und Berner sowie 100 bernische Organisationen.
Ein Aufschrei ging durchs Land, als vor gut drei Jahren bekannt
wurde, dass der Bund wieder im grösseren Stil Bürger-Daten
sammelt - etwa über unbescholtene Basler Grossräte. Bei der
Untersuchung der so genannten zweiten "Fichenaffäre" stiess die
Geschäftsprüfungsdelegation der nationalen Räte auch auf
"mindestens 1800 Datensätze" aus dem Kanton Bern, so der Berner
Datenschützer damals zum az Langenthaler Tagblatt.
Heute sind es weniger: Da einerseits fünfjährige
Fristen zur Aufbewahrung der Daten abliefen, und andererseits
Datensätze bereinigt wurden, haben noch 1100 Bernerinnen und
Berner einen Eintrag im nationalen Staatsschutzinformationssystem.
Weiter, so Berns Regierung in eben veröffentlichten
Antworten auf Interpellationen Margreth Schärs (SP/Lyss) und
Natalie Imbodens (Grüne/Bern), seien 100 Organisationen
registriert.
Keine Angaben zum Inhalt
Gesammelt werden die Daten nicht nur vom Nachrichtendienst des
Bundes (NDB), sondern auch von Mitarbeitern mit Staatsschutzaufgaben im
Korps der Kantonspolizei Bern (Kapo). Letzten Juni sagte
Polizeidirektor Hans-Jürg Käser im Grossen Rat, diese
Arbeiten würden vom Bund mit 1,27 Millionen Franken jährlich
abgegolten. Daher, so nun die Regierung, könne sie auch keine
Angaben zu deren Inhalt machen. Es sei aber "noch nie" passiert, dass
die Kapo Rückmeldungen erhielt, gemeldete Daten hätten keine
Staatsschutzrelevanz gehabt oder seien unrechtmässig erhoben
worden.
Ferner hält die Regierung fest, seit Oktober sei die mit den
anderen Kantonen erarbeitete bessere Daten-Kontrolle in Kraft. Von der
Möglichkeit eines externen Kontrollorgans rät die
Kantonsregierung aus Effizienz- und Effektivitätsgründen
jedoch ab. (sat)
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POLICE VD
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Landbote 25.2.11
Polizist hat Amt missbraucht
Lausanne. Das Lausanner Bezirksgericht hat gestern einen
39-jährigen Polizisten wegen Amtsmissbrauchs zu einer Geldstrafe
von sieben Tagessätzen zu 85 Franken verurteilt - auf
Bewährung. Dieser hatte einen Verdächtigen nachts an
Lausannes Stadtrand ausgesetzt, nachdem der Mann am 8. Februar 2010
gegen 2.15 Uhr vor einer Patrouille geflohen war. Als die Polizisten
den jungen Afrikaner stoppten und ihn später nach dem Grund seiner
Flucht fragten, antwortete dieser lächelnd, er würde halt
gerne rennen. Der Polizeibeamte liess sich offenbar provozieren und
brachte ihn an den nördlichen Stadtrand Lausannes, der an einen
Wald grenzt. Hier könne er sich seinem Sport widmen, sagte er. Der
Afrikaner verirrte sich und musste den Notruf wählen. Der Polizist
war darauf suspendiert worden, legte aber Berufung ein. (sda)
---
20 Minuten 24.2.11
Amtsmissbrauch: Polizist rekurriert
LAUSANNE. Weil er einen Verdächtigen mitten in der Nacht am
Stadtrand von Lausanne ausgesetzt hatte (20 Minuten berichtete), musste
sich gestern ein Polizist vor dem Lausanner Bezirksgericht wegen
Amtsmissbrauch verantworten. Der Staatsanwalt verlangt eine bedingte
Geldstrafe. Der 39-jährige angeklagte Polizist war im Juni 2010
suspendiert und später entlassen worden. Gegen seine Entlassung
hatte er Rekurs eingelegt. Das Urteil des Lausanner Bezirksgerichts ist
für heute vorgesehen.
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CLUBLEBEN LU
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Wilisauer Bote 25.2.11
Rassismus nicht tolerieren
Postulat. Der Kantonsrat überwies mit 76:36 Stimmen unter
Namensaufruf ein Postulat von Lathan Suntharalingam (SP, Luzern). Er
forderte Massnahmen, damit in Luzerner Clubs nicht mehr
Zutrittsverweigerungen aufgrund rassistischer Motive praktiziert werden
können. Der Regierungsrat war bereit, das Postulat
entgegenzunehmen und verwies in seiner Antwort auf eine laufende
Bundesstudie. Die Regierung werde aufgrund dieser Studie entscheiden,
welche Massnahmen im Kanton Luzern umgesetzt werden sollen. Guido
Luternauer (SVP, Schenkon) stellte einen Ablehnungsantrag und wurde
dabei von seiner Fraktion und vereinzelten Kantonsräten von CVP
und FDP unterstützt. Der Begriff Rassismus sei zu schwammig und
Einschränkungen bedeuteten einen Eingriff in die Gewerbefreiheit.
Die Befürworter argumentierten hingegen, hier gehe es um die
Würde des Mens chen. ca.
---
20 Minuten 24.2.11
Clubs halten an ihrer Türpolitik fest
LUZERN. Luzerner Clubbesitzer wollen sich nicht vorschreiben
lassen, wen sie in ihre Clubs lassen: Wie eine Umfrage von 20 Minuten
zeigt, reagieren sie mit Unverständnis auf den neuen
Kantonsratsbeschluss, strengere Vorschriften für die
Einlasskontrollen von Clubs zu erlassen. "Es sollte Sache des
Betreibers bleiben, zu entscheiden, wer rein darf", findet Milos Kant,
Inhaber des Clubs Opera. "Wir haben viel weibliches Publikum, das wir
vor betrunkenen, aufdringlichen und aggressiven Gästen
schützen." Auch Martin Knöpfel, Inhaber des Clubs The Loft,
will sich weiter auf sein Gefühl verlassen - egal, was ihm vom
Kanton "vorgeschrieben werde". Ähnlich tönt es aus dem Rok:
"Aggressive und besoffene Personen möchten wir auch in Zukunft
abweisen können. Unsere Gäste sollen sich wohl und sicher
fühlen." Hintergrund des Beschlusses war die Vermutung der SP,
dass viele Leute aus rassistischen Gründen von Clubs abgewiesen
würden. nop
---
NLZ 22.2.11
Gegen Rassismus votiert
Clubs
Lukas Nussbaumer
Das Parlament bekennt sich klar gegen Rassismus - und
erklärt ein Postulat der SP erheblich. Die SVP und Teile von CVP
und FDP opponierten erfolglos.
Lukas Nussbaumer
lukas.nussbaumer@luzernerzeitung.ch
Wer jemanden aus rassistischen Motiven nicht in seinen Nachtclub
lässt, macht sich strafbar: Das war gestern Nachmittag im
Kantonsrat unbestritten.
Umstritten war dagegen, ob ein Postulat von Lathan Suntharalingam
(SP, Luzern) erheblich erklärt werden soll. Suntharalingam
verlangte von der Regierung Bericht darüber, welche Massnahmen zu
ergreifen sind, damit in Luzerner Clubs keine Zutrittsverweigerungen
aufgrund rassistischer Motive ausgesprochen werden.
SVP und Grüne: Namensaufruf
Der Antrag des SP-Parlamentariers, unterstützt von der
Regierung, obsiegte nach längerer und emotional geführter
Diskussion. Zu Stande kam das Stimmenverhältnis von 74 zu 36 nach
einem Namensaufruf, den Katharina Meile (Grüne, Luzern) und
Hanspeter Bucher (SVP, Römerswil) verlangt hatten - ihr Antrag
erreichte das nötige Drittelquorum. Gegen die
Erheblicherklärung stimmten sämtliche anwesenden
SVP-Räte. Dazu widersetzten sich zehn CVP- und vier
FDP-Parlamentarier der Mehrheitsmeinung in ihren Fraktionen. Bei SP und
Grünen fiel das Ja einstimmig aus (siehe linke Spalte).
Die Befürworter des Postulats argumentierten, der Vorstoss
sei als Zeichen gegen Rassismus zu verstehen. Das Thema sei sehr
wichtig, das anerkenne auch die Regierung mit ihrer Unterstützung
des Vorstosses, sagte etwa CVP-Sprecher Michael Zeier-Rast (Luzern).
Für Grüne-Sprecherin Katharina Meile geht es nicht an, "so zu
tun, als ob nichts passiert wäre". Hinter Suntharalingam und
dessen Anliegen stellten sich auch Romy Odoni (FDP, Rain), Trix
Dettling (SP, Buchrain) und Giorgio Pardini (SP, Luzern), der sagte:
"Hier geht es um die Würde des Menschen."
SVP: Vorstoss "nicht brauchbar"
Von den Gegnern der Erheblicherklärung meldeten sich
ausschliesslich SVP-Vertreter zu Wort. Guido Luternauer (Schenkon)
sagte, der Begriff Rassismus sei äusserst schwammig, es mache
deshalb keinen Sinn, das Postulat zu befürworten. Sein
Fraktionskollege Moritz Bachmann (Malters) meinte, es könnten doch
nicht alle Türen offen sein, es gebe auch ein Recht auf
Privatsphäre. Marcel Omlin (Rothenburg) bezeichnete den Vorstoss
als "nicht brauchbar".
Sozial- und Gesundheitsdirektor Guido Graf erklärte, der
Kanton Luzern werde aufgrund von Studien entscheiden, welche Massnahmen
zum Schutz vor Diskriminierung umgesetzt werden.
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RUHE & ORDNUNG
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St. Galler Tagblatt 28.2.11
SVP-Stadtrat und die Nulltoleranz
FRauenfeld. Seit drei Monaten bekämpfen Politik und Polizei
auf dem stark frequentierten Bahnhof Frauenfeld das
Unsicherheitsgefühl von Passanten und Pendlern mit Nulltoleranz.
Hängergruppen und Betrunkene waren für Belästigungen und
Littering verantwortlich. Schliesslich wurde gar eine Frau fast
vergewaltigt. Die Frauenfelder wollten das nicht länger
tolerieren. SVP-Stadtrat Werner Dickenmann will an seiner rigiden
Politik festhalten. Sagt aber auch, dass er nicht nur glücklich
mit den derzeitigen Massnahmen sei. (pex) thurgau lokal 37
--
Stadtrat hält an Nulltoleranz fest
In Frauenfeld gibt ein Thema schon seit Wochen zu reden: Die
Sicherheit auf dem Bahnhof. Bekanntlich gilt seit einem Monat
Nulltoleranz. Zwischenbilanz: Die SVP Frauenfeld lud am Samstag zu
einem Rundgang auf dem SBB-Gelände ein.
Evi Biedermann
Frauenfeld. Etwa 10 000 Menschen frequentieren täglich den
Frauenfelder Bahnhof. Er ist damit Dreh- und Angelpunkt vieler Pendler,
aber auch von Menschen, die ihn sich zum Treffpunkt machen. Eine so
hohe Nutzung ruft nach einem tragbaren Sicherheitskonzept.
Umso mehr, als sich die Frauenfelder in letzter Zeit einer
wachsenden Zahl von Hängergruppen und Randständigen auf dem
Bahnhofareal gegenübersahen. Verbunden damit kam es zu
Abfallproblemen und Belästigungen.
Es brauche Grundordnung
Seit Anfang Dezember gilt deshalb auf dem Bahnhofareal die
Nulltoleranz. Damit alle wissen, wie man es gerne hätte, wurde
eine Bahnhofordnung aufgestellt. "Jedermann darf sich auf dem
Bahnhofareal aufhalten", betont der Noch-Stadtrat Werner Dickenmann
(SVP). Aber es brauche eine gewisse Grundordnung.
Was sonst noch zur Nulltoleranz gehört und wie die
Erfahrungen damit seit der Einführung sind, erklärte der
für die öffentliche Sicherheit zuständige Leiter am
Samstag an einem Informationsanlass auf dem Bahnhof gleich selbst: Die
Verwaltung des Sicherheitsapparats bezeichnete er als eine
"Querschnittaufgabe".
Alle sind zuständig
Dickenmann sagte: "öV, Verkehr, Werkhof, Sicherheit, Jugend,
Soziales: Alle Abteilungen sind für den Bahnhof zuständig."
Die privaten Eigentümer seien ebenfalls gefordert. Zum
Sicherheitskonzept gehöre auch die Bewältigung des Abfalls,
denn "wo eine Sauerei ist, entsteht Unsicherheit".
So wird das Bahnhofareal heute täglich zweimal von den
Männern des Werkhofs gereinigt. Abfallsünder werden zudem von
Bahnhofpaten und der Bahnhofpolizei Securitrans auf ihr Fehlverhalten
hingewiesen. Securitrans und die Kantonspolizei hätten zudem ihre
Kontrolltätigkeit verstärkt. Das Sicherheitsgefühl der
Bevölkerung sollen auch die 13 Videokameras stärken, die auf
dem Bahnhofareal installiert sind.
Nulltoleranz bleibt
Insgesamt gebe es derzeit eine spürbare Balance zwischen
Prävention, Repression und Intervention, erklärte Dickenmann.
"Die gefühlte Wahrnehmung jedoch weicht von der angestrebten
Wahrnehmung ab." Man werde also auf Kurs bleiben, versicherte er. Die
dadurch steigenden finanziellen Aufwendungen könne man
verantworten.
Wie häufig patrouilliere die Polizei auf dem Bahnhof? Laut
Dickenmanns Auskunft etwa bis zu fünfmal pro Tag. Er räumte
jedoch ein, es sei schwierig, eine exakte Zahl zu nennen. Dickenmann
hofft in diesem Zusammenhang, dass von den nun bewilligten 50
Polizeistellen auch ein Teil an Frauenfeld gehe.
Und wie steht es um ein noch härteres Durchgreifen?
"Einsperren und am nächsten Tag wieder freilassen…, wo liegt da
der Sinn?" war Dickenmanns Antwort. Darüber hinaus räumte der
Stadtrat ein, auch nicht glücklich mit den derzeitigen Massnahmen
zu sein.
--
Vergewaltigt
27. November 2010: Eine Tat am Bahnhof sorgte endgültig
für Nulltoleranz: Ein 32-Jähriger fiel eine Frau an, riss sie
zu Boden und nötigte sie sexuell. Als sich Passanten
näherten, flüchtete der Täter. Er wurde nach kurzer
Fahndung gestellt und gestand die Tat. Die Frau wurde leicht verletzt.
(tam)
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JUGENDPOLITIK
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Aargauer Zeitung 23.2.11
Securitas statt Ländlermusik
"Hängerszene" Im Aarauer City-Märt soll urchige Musik
Teenager fernhalten - in anderen Einkaufscentern hält man nichts
davon
Maja Sommerhalder
"Ländlermusik, um Jugendliche fernzuhalten? Ich weiss nicht
so recht. Da gibt es andere Methoden", sagt Matthias Grieder vom Shoppi
Tivoli. Was im Spreitenbacher Einkaufscenter nicht infrage kommt, ist
im Aarauer City-Märt Realität. Hier setzt man ganz bewusst
auf urchige Musik, um Junge fernzuhalten. Liegenschaftsverantwortliche
Monika Frei formuliert es in der az Aargauer Zeitung vom 21. Februar
so: "Wir lassen keine Popmusik laufen, um nicht unnötig Junge in
die Mall zu locken." Denn: Es sei ja bekannt, dass es in der
Vergangenheit schon Probleme gegeben habe mit Jugendlichen.
"Jugendliche nicht vergraulen"
Probleme mit Jungen kennt man auch im Shoppi Tivoli Spreitenbach,
wie Grieder sagt: "Einige machen sich bei uns breit, essen und lungern
stundenlang herum. Eine solche ‹Hängerszene› dulden wir nicht. Das
gilt auch für Bettler." Dann schreite jeweils der
Sicherheitsdienst ein. Im schlimmsten Fall gibt es Hausverbot. Etwa 30
Jugendliche und Erwachsene sind im Shoppi Tivoli davon betroffen: "Das
bringt mehr als Ländlermusik." Die meisten Jugendlichen seien aber
gute Kunden, die man nicht von vornherein fernhalten wolle.
Auch Patrick Sutter, Infrastrukturverantwortlicher der Brugger,
Badener und Bremgarter Migros-Märkte, hält nicht viel von
Ländlermusik als Jugendabwehr: "Bei uns gibt es
Überwachungskameras und wir setzen die Securitas ein, wenn es
Probleme gibt." Herumlungernde Jugendliche werden aus den
Einkaufszentren verwiesen. Vor allem Vandalismus ist in den Zentren
immer wieder Thema: "Es wird Abfall liegen gelassen oder an
Gegenstände geschrieben."
"Bei Problemen suchen wir Dialog"
Im Aarauer Telli Center und im Oftringer Einkaufscenter A1 werden
hingegen herumlungernde Jugendliche toleriert, so lange sie sich an die
Regeln halten, wie Centermanager Jörg Engeler erklärt. Bei
Problemen schreite der Ordnungsdienst ein, das komme eher selten vor:
"Jugendliche sind wichtige Kunden, die wir nicht vergraulen wollen."
Deshalb laufe in den beiden Einkaufscentern auch Pop- statt
Ländlermusik. Auch in den Coop-Centern in Würenlingen,
Wettingen, Muri und Reinach werden die Kunden mit populärer Musik
statt mit Ländler berieselt, wie Centerleiter Severin Hug
bestätigt: "Wenn es Probleme gibt, suchen wir den Dialog. Das
funktioniert gut."
--
Schrille Pfeiftöne haben ausgedient
Ländermusik ist nur ein Mittel, um Jugendliche zu
vertreiben. Vor einigen Jahren war ein Gerät der Renner, das
hochfrequente Pfeiftöne aussendet. Die schrillen Töne
können nur Jugendliche hören, die sie als äusserst
unangenehm empfinden. Inzwischen ist das Interesse an dem Gerät
aber abgeflacht. Die Schweizer Firma, die es vertrieb, will sich aus
dem Geschäft zurückziehen. Auf angenehmere Töne setzt
man seit dem letzten November im Bahnhof Heerbrugg (SG). Zur Beruhigung
erschallt dort klassische Musik. So sollen die Passanten zum
Weitergehen animiert werden und sich nicht mehr gruppieren. (som)
---
20 Minuten 22.2.11
Jugendstrafen: Gesetz wird begrüsst
BERN. Das neue kantonale Gesetz, das einschneidende Massnahmen in
Kinder- und Jugendheimen regelt, stiess in der Vernehmlassung auf ein
positives Echo. Gegenstand des Entwurfs sind etwa disziplinarische
Massnahmen, die eingesetzt werden, wenn Jugendliche gegen Regeln
verstossen. Dazu gehört als schwerwiegendste Sanktion der
Einschluss in eine Disziplinarzelle bis zu sieben Tage. Dazu kommen
Sicherungsmassnahmen wie Körperkontrollen sowie Urin- und
Blutproben oder Zwangsmittel wie Fesselung und Reizstoffe. Das
Parlament berät im Juni über das Gesetz.
---
20 Minuten 22.2..11
Jugendliche werden überall vertrieben
BERN. Harte Zeiten für Jugendliche: Im Aargau werden sie mit
Ländlermusik aus Einkaufszentren vertrieben, im Thurgau sollen sie
nicht mehr Bus fahren. Bereits in der Vergangenheit hat man sie mittels
klassischer Musik von Bahnhofsplätzen vertrieben. Für
SP-Vizepräsident Cédric Wermuth ein Skandal: "Indem man
Jugendliche vertreibt, werden keine Probleme gelöst." Was es
brauche, seien mehr Jugendhäuser.
--
"Jugendliche haben zu wenig Aufenthaltsräume"
BERN. Teenies nirgends willkommen: Sie werden aus
Warenhäusern und Bussen vertrieben - etwa durch Ländlermusik.
Bei der Stadtbusverwaltung Frauenfeld hat man die Nase voll: "Die
Schüler benutzen den Bus als Treffpunkt und nehmen anderen
Fahrgästen die Plätze weg", so Roland Büchi. In
Frauenfeld hängen deshalb zur Zeit Plakate, die die Jugendlichen
auffordern, nicht dauernd im Bus hin- und herzufahren, wie die
"Thurgauer Zeitung" schreibt. Im Aargau vertreibt man die Jugendlichen
derweil mit Ländlermusik: "Wir lassen keine Popmusik laufen, um
Junge nicht in die Mall zu locken", sagt Monika Frei,
Geschäftsführerin der Liegenschaftsverwaltung des
City-Märt zur "Aargauer Zeitung". Grund dafür seien unter
anderem Probleme mit Teenagern in der Vergangenheit. Im Hotel Chur hat
man sich herumlümmelnde Jugendlichen bereits erfolgreich vom Hals
geschafft - dank eines Gerätes, das hochfrequente Pfeiftöne
aussendet, die nur Jugendliche hören. Und die Gemeinde Heerbrugg
SG lässt seit dem Herbst am Bahnhof klassische Musik laufen, in
der Hoffnung, Vandalismus und Littering in den Griff zu bekommen.
Teenager werden landauf landab von öffentlichen Plätzen
vertrieben - für SP-Vizepräsident Cédric Wermuth ein
Skandal: "Jugendliche haben zu wenig Raum, wo sie sich aufhalten
können, ohne konsumieren oder an einem Programm teilnehmen
müssen." Die einzigen Orte, wo sie sich ausserhalb ihrer vier
Wände aufhalten können, seien somit der Bahnhof oder eben
Einkaufszentren.
Einsperren statt präventiv vertreiben, fordert dagegen
SVP-Nationalrat Ulrich Schlüer: "Die 48-Stunden-Einsperrfrist muss
genutzt werden, damit sich jugendliche Delinquenten vor dem Arbeitgeber
oder der Schulleitung rechtfertigen müssen."
Deborah Sutter
--
Was bewirken Verbote und Vertreibungen?
Herr Gehrig*, was bringen solche Verbote und Vertreibungen?
Leo Gehrig: Das Gegenteil der erwünschten Wirkung: Der
Abenteuergeist der Jugendlichen wird damit nur angestachelt. Sie finden
immer neue, ausgefallenere Orte, um rumzuhängen.
Welche Massnahmen erbrächten die erwünschte Wirkung?
Vielen Jugendlichen, die Probleme machen, fehlen echte
Auseinandersetzungen. Erwachsene müssten sich wohlwollend, aber
dennoch bestimmt und mit einer klaren Sprache etwa mit kiffenden
Jugendlichen auseinandersetzen. Das erfordert aber einiges mehr an
Engagement als das simple Anbringen von Plakaten.
Was ist der Anreiz für Jugendliche, sich an Bahnhöfen
oder in Einkaufszentren aufzuhalten?
Jugendliche, denen zu Hause Geborgenheit, Halt und Wärme
fehlen, suchen sich diese innerhalb der Clique. Die Gruppe wird so zur
Ersatz-Familie. sut
*Leo Gehrig ist Jugendpsychologe und ehemaliger Lehrer.
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RANDSTAND BS
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Basler Zeitung 22.2.11
Randständige werden nicht vertrieben
Ohne Dach. "Randständige Personen gehören zu unserer
Gesellschaft, aus diesem Grund haben auch sie das Anrecht, sich im
öffentlichen Raum aufzuhalten, solange sie gewisse Regeln
einhalten." Dies schreibt der Regierungsrat in der Antwort auf eine
Anfrage von SP-Grossrätin Tanja Soland. "Der Regierungsrat
verfolgt deshalb auch keine Vertreibungspolitik, wie dies andere
Städte kennen." Bei der Neugestaltung der Theodorsgrabenanlage
wurde wegen eines abschlägigen Beschlusses der Stadtbildkommission
auf einen Unterstand verzichtet (die BaZ berichtete 2009 darüber).
---
20 Minuten 22.2.11
SP-Frau fordert mehr Platz für Randständige
BASEL. Randständige werden in Basel immer mehr aus dem
öffentlichen Raum vertrieben, so SP-Grossrätin Tanja Soland.
In einer schriftlichen Anfrage an die Regierung wollte sie etwa wissen,
ob bei Umgestaltungen bewusst unbequeme Sitzgelegenheiten und fehlende
Überdachungen eingeplant werden. Nun antwortete ihr die Regierung.
"Formell transparent, inhaltlich bin ich aber grösstenteils nicht
einverstanden", so Soland gestern. So schreibt die Regierung etwa, dass
eine fehlende Überdachung ästhetische Gründe habe. "Man
sieht, dass die Regierung nicht wirklich Interesse an dem Thema hat",
so Soland. Sie erwägt nun, einen konkreten Vorstoss zu lancieren,
dass sich die Stadtentwicklung grundsätzlich des Themas annehmen
soll. lua
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DROGEN
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telem1.ch 28.2.11
Drogenhölle Bahnhof Aarau
http://telem1.ch/de/overlayplayer---0--0--0--T000317955.html
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Profil 28.2.11
http://www.profil.at/articles/1108/560/290032/drogenmissbrauch-sind-usa-rauschgiftkriminalitaet
(26.2.11)
Drogenmissbrauch: Sind die USA für die Rauschgiftkriminalität
verantwortlich?
Christlichen Amerikanern ist es gelungen, die ganze Welt für ihren
Kreuzzug gegen Rauschmittel einzuspannen. Ergebnis: 30.000 Tote allein
in Mexiko - aber nicht durch Drogen, sondern durch deren vermeintliche
Bekämpfung.
Von Robert Buchacher
Seine Heimatstadt Ciudad Juárez habe sich "in ein Schlachthaus
verwandelt", schreibt der mexikanische Journalist Arturo Chacon in
einem Bericht, der im vergangenen Oktober von mehreren
ausländischen Zeitungen, darunter vom Berliner "Tagesspiegel",
übernommen wurde. "Die Mörder arbeiten rund um die Uhr, am
helllichten Tag und mitten in der Nacht, auf Straßen,
Plätzen und hinter verschlossenen Türen. Jede Woche
exekutieren sie etwa 70 Menschen: Männer, Frauen, Jugendliche,
Kinder. Die meisten werden erschossen, einige mit Klebeband auf Nase
und Mund erstickt. Transparente kündigen an, wer als Nächstes
dran ist."
In der 1,3-Millionen-Einwohner-Stadt an der
mexikanisch-US-amerikanischen Grenze ist die öffentliche Ordnung
zusammengebrochen. Jeder, der sich dem Drogenkartell in den Weg stellt
oder sich weigert, dessen Interessen zu wahren, ob Polizisten,
Staatsanwälte, Behördenvertreter oder Journalisten, ist des
Todes. Allein im vergangenen Jahr wurden in der Stadt am Rio Grande
mehr als 2000 Menschen von Mafiakillern umgebracht, teils auch in
Kämpfen rivalisierender Banden, die einander eine der lukrativsten
Drogen-Schmuggelrouten in die USA streitig machen. Mit 130 Morden pro
100.000 Einwohner und Jahr gilt Ciudad Juárez derzeit als
gefährlichste Stadt der Welt. Aus Sicherheitsgründen wohnt
der Bürgermeister in der texanischen Nachbarstadt El Paso auf der
anderen Seite der Grenze.
In seinem neuen, diese Woche erscheinenden Buch "Drogenkrieg - (ohne)
mit Ausweg" analysiert der profil-Kolumnist und ehemalige
profil-Herausgeber Peter Michael Lingens die religiösen, sozialen
und politischen Wurzeln des Krieges gegen Drogen, wie ihn
christlich-konservative Kreise in den USA via UN der ganzen Welt
aufgezwungen haben, und befasst sich eingehend mit der Frage, ob dieser
Krieg aufgrund seiner Kollateralschäden nicht mehr schade als
nütze und letztlich nur den Drogenkartellen in die Hände
arbeite.
Anhand wissenschaftlicher Studien weist Lingens penibel nach, dass
dieser Krieg, wenn überhaupt, immer nur vorübergehend
erfolgreich war und dass die Berichte der in Wien ansässigen
Drogenbehörde der Vereinten Nationen UNODC (United Nations Office
on Drugs and Crime) ein schönfärberisches Zeugnis sind, das
sich die Behörde selbst ausstellt, um damit ihre
Existenzberechtigung zu unterstreichen. Die weltweite Drogenproduktion
und der Drogenhandel seien nicht, wie behauptet, deutlich
zurückgegangen, sondern zumindest gleich geblieben, wenn nicht
sogar angestiegen - trotz Einsatzes von Abermilliarden an Kriegskosten.
Sinkende Einzelhandelspreise seien dafür ein sicherer Indikator.
Die Heroinproduktion in Afghanistan läuft auf Hochtouren, weil die
einst radikal drogenfeindlichen Taliban heute mit den Erlösen aus
dem Heroinhandel ihre Waffen finanzieren. Und in Lateinamerika hat der
Krieg gegen Drogen lediglich zu Umstrukturierungen und Verlagerungen
der Kartelle geführt. Der blutige Drogenkrieg in Teilen Mexikos
ist Folge einer solchen Verlagerung: Weil die Bekämpfung des
Medellín- und anderer Drogenkartelle in Kolumbien Erfolge
zeitigte, splitterten sich die Gangster in kleinere Einheiten auf.
Kartelle in Mexiko übernahmen einen erhebliche Teil des
Geschäfts - der große Drogenstrom in Richtung USA und Europa
fließt wie eh und je.
Lehren ziehen
Die Welt, so Lingens, sollte aus den bisher gemachten Erfahrungen
endlich die Lehren ziehen. Wie unter anderen schon von Arnold
Schwarzenegger, manchen Drogenexperten und Wissenschaftern angedacht,
plädiert auch Lingens für einen Strategiewechsel: Anstatt,
wie in den USA praktiziert, Hunderttausende Kleindealer wegen
Weitergabe von Marihuana ins Gefängnis zu stecken und dem
Steuerzahler damit erhebliche Kosten aufzubürden, sollte man die
vergleichsweise ungefährliche Droge nach dem Vorbild der
Niederlande freigeben. Der Staat, so Lingens, könnte auch harte
Drogen wie Kokain und Heroin selbst billig produzieren und über
ein Staatsmonopol nur Apotheken abgeben. Eine solche Strategie
würde die derzeitige exorbitante Handelsspanne von bis zu tausend
Prozent beseitigen, damit den Drogenkartellen die Basis entziehen und
das Problem massiv entschärfen.
Lingens liefert keine einfachen Bilder der Situation und erhebt mit
seinen Vorschlägen auch keinen Anspruch auf ein Allheilmittel. Er
wägt Vor- und Nachteile gegeneinander ab und ist als Skeptiker
gegenüber staatlichem Wirtschaften am Ende doch überzeugt,
dass im Fall Drogen kein Weg an staatlicher Intervention
vorbeiführe. Fraglich bleibt, ob ein solcher Strategiewechsel
politisch durchsetzbar wäre und ob sich die internationale
Drogenmafia den staatlichen Entzug ihrer Geschäftsbasis, die
jährlich viele Milliarden Dollar abwirft, kampflos gefallen lassen
würde.
Eindrucksvoll verfolgt Lingens den Weg der Droge vom Genuss- und
Heilmittel als Teil alter Kulturen bis hin zum weltweiten Sucht- und
Kriminalitätsproblem, schildert, welche die richtungsweisenden
religiösen, politischen und publizistischen Strömungen und
Personen waren, die hinter der heutigen westlichen Drogenpolitik
standen, und wie etwa die britische Regierung versucht hat, den
maßgeblichen Teil eines wissenschaftlichen Berichts zu
vertuschen, der einer Bankrotterklärung der herrschenden
Drogenpolitik gleichkommt.
Er liefert dabei überraschende Details, wie etwa, dass
amerikanische Farmer noch im 18. Jahrhundert gesetzlich verpflichtet
waren, Hanf anzubauen, und dass es noch um 1850 in den USA mehr als
8000 Hanfplantagen gab. Immer wieder zieht er Parallelen zwischen
früheren und heutigen Situationen: Die Einstellung der
amerikanischen Mittelschicht des 19. Jahrhunderts gegenüber
Alkohol entspreche der Einstellung der heutigen amerikanischen
Mittelschicht gegenüber Marihuana, Heroin und Kokain.
Und in der Vergangenheit wie heute fanden die Menschen Ventile, um die
Verbote zu unterlaufen. So wie heute in Salatbeeten, Blumenkisten und
Kellern heimlich Marihuana angebaut wird, begannen viele Amerikaner
nach Einsetzen der Alkohol-Prohibition Anfang der zwanziger Jahre des
vergangenen Jahrhunderts in der Badewanne Wein zu keltern. Der
Obstverbrauch stieg deutlich an. Binnen weniger Jahre
vergrößerte sich die Rebanbaufläche in Kalifornien um
das Siebenfache. Durch "Selbstgebrannten" starben jährlich 10.000
Menschen.
Die Verteufelung von Suchtmitteln in den USA färbt auf die Gesetze
ab: Bis heute werden Suchtdelikte in den Staaten strenger bestraft als
in Europa. Das hängt mit den tiefen Ressentiments zusammen, mit
denen das christlich-konservative Amerika Genuss- und Suchtmitteln von
Anfang an begegnete. Aus ihrem Selbstbild als gottgefällige,
rechtschaffene, tugendhafte Bürger wandten sich religiöse
weiße Amerikaner gegen Drogen als etwas Unamerikanisches, etwas,
das von Einwanderern von außen, quasi aus dem Reich des
Bösen, eingeschleppt wird: Opiumpfeifen rauchende Chinesen, Koka
kauende Latinos, Marihuana rauchende Mexikaner. Gebräuchliche
Ausdrücke wie "Neger-Droge" illustrieren, wie sich Rassismus und
Fremdenfeindlichkeit mit der Abwehr von Rauschmitteln vermischten.
Drogenkultur
Im Grunde haben die Amerikaner nie akzeptiert, dass der Gebrauch von
Genuss- und Rauschmitteln zu jeder menschlichen Kultur gehört. So
war beispielsweise das Kauen von Kokablättern in vielen
Ländern Lateinamerikas über Jahrhunderte ebenso wenig ein
Problem wie das Rauchen von Opiumpfeifen in China. Erst als die Briten
in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts versuchten, Opium
als Türöffner gegen chinesische Handelsbeschränkungen
einzusetzen, verschärfte sich die Lage. Mithilfe massiver
Einfuhren von bengalischem Opium wollten die Briten chinesische Beamte
bestechen und möglichst viele Chinesen von ihren Lieferungen
abhängig machen. Als sich Kaiser Daoguang mit der Beschlagnahme
und Verbrennung von 22.000 Kisten britischen Opiums zur Wehr setzte,
kam es zum Opiumkrieg (1839-42), in dem die Chinesen unterlagen. Hohe
Entschädigungszahlungen und die Abtretung Hongkongs an die Briten
waren der Preis für den Frieden. Zusätzlich hatten die
britischen Einfuhren den Opiumkonsum in China angekurbelt, sodass sich
das Kaiserhaus zu einer strikten Drogenpolitik veranlasst sah.
Als die USA im spanisch-amerikanischen Krieg 1898 die Philippinen
besetzten, werteten sie die dort verbreitete Drogenkultur als Ursache
für die Unterentwicklung des Inselreichs und griffen zu
ähnlich strengen Maßnahmen gegen Suchtmittel wie schon zuvor
die Chinesen. Die strikte Drogenpolitik der neuen Kolonialherren blieb
nicht ohne Auswirkungen auf das amerikanische Mutterland, wo
christliche Frauenvereine und Prediger bereits kräftig Stimmung
gegen den Alkoholkonsum machten.
Die "Anti-Saloon-League", die mit dem Alkohol gleich alle übrigen
Laster bekämpfte, welche in diesen Etablissements gediehen, wuchs
zu einer politischen Kraft, ohne deren Unterstützung Politiker bei
Wahlen chancenlos waren. Ein Bundesstaat nach dem anderen erklärte
sich als "trocken", im Kongress stellten die "Dries" (Alkoholgegner)
bald die Mehrheit gegenüber den "Wets" (Alkoholbefürworter) -
so war der Weg in die Prohibition und in die Entstehung mafioser
Strukturen vorgezeichnet: Schließlich versprach der Handel mit
illegalen Alkoholika Milliarden gewinne.
Denn im benachbarten Kanada konnte Alkohol weiterhin legal produziert
und verkauft werden. Daher kurbelten die dortigen Destilleure ihre
Produktion an. Die Familie Bronfman (Seagrams Whiskey) beispielsweise
begründete mithilfe der Prohibition ihren Reichtum. Findige
Geschäftsleute schafften den begehrten Stoff in präparierten
Waggons, auf Fregatten und Schnellbooten in die USA. "Hochprozentiger"
wurde zu Preisen gehandelt wie heute Heroin und Kokain. Bald lieferten
sich diverse Gangs wie etwa jene des Mafiapaten Al Capone blutige
Revierkämpfe. Polizei und Justiz waren entweder bestochen - oder
machtlos, weil sich für die Morde keine Zeugen fanden.
Das Alkoholverbot fiel 1932, nachdem die Demokraten unter
Präsident Franklin D. Roosevelt in der Wirtschaftskrise erkannt
hatten, dass durch die Prohibition viele Arbeitsplätze und
Steuereinnahmen verloren gingen, während sich die Mafia und
ausländische Produzenten goldene Nasen verdienten. Im Jahr 1916
gab es zum Beispiel in den USA 1300 Bierbrauereien, im Jahr 1926 keine
mehr. Die einzige Lehre, welche die USA langfristig aus den Erfahrungen
mit der Prohibition zogen, war die Erkenntnis, dass es nichts bringt,
wenn man ein Verbot isoliert verhängt, während Länder
rundum Produktion und Handel weiter betreiben. So reifte
allmählich die Idee, es müsse irgendwann gelingen, eine
weltweite Initiative gegen Suchtmittel zu starten.
Noch in der Ära der Alkohol-Prohibition begannen in den USA
Kampagnen auch gegen andere Drogen, vor allem gegen Marihuana.
Während es im 19. Jahrhundert Cannabis, Opium und Kokain zu
medizinischen Zwecken wie etwa zur Schmerzbehandlung in den USA frei zu
kaufen gab, verhängte in den zwanziger Jahren des vergangenen
Jahrhunderts ein Bundesstaat nach dem anderen ein Anbauverbot für
Hanf, weil man darin eine Quelle für eine neue, gefährliche
Droge erblickte. Die Blätter des Zeitungszaren William Randolph
Hearst berichteten regelmäßig Horrorgeschichten über
angeblich unter dem Einfluss von Marihuana verübte Morde. Die
gleichen religiösen und politischen Kreise, die schon zuvor den
Kreuzzug gegen den Alkohol geführt hatten, wandten sich nun gegen
die "tödliche Droge", wie Cannabis selbst in der "Washington Post"
bezeichnet wurde.
Eine der zentralen Figuren der Hetze war ein Schweizer Einwanderer
namens Harry J. Anslinger, der als erster "Drogenzar" in die Geschichte
eingegangen ist und der nicht nur die Drogenpolitik der USA, sondern
auch der gesamten Vereinten Nationen maßgeblich bestimmte. Als
Leiter des Federal Bureau of Narcotics wurde er trotz Wirtschaftskrise
mit einem stattlichen Budget ausgestattet, das er durch entsprechende
Aktivitäten zu rechtfertigen trachtete. Er fand für diesen
Zweck ein ideales Angriffsziel: Cannabis, das in seinem Auftrag fortan
nur noch "Marihuana" genannt wurde. Auf diesen Stoff ließen sich
viele Ressentiments des frommen Amerika fokussieren.
Schauer-Märchen
So wird Anslinger auch als Urheber folgender, in einem der
Hearst-Blätter abgedruckten Behauptung angesehen: "Es gibt 100.000
Marihuana-Raucher in den USA, und die meisten davon sind Neger,
Hispanics, Filipinos und Entertainer. Die satanische Musik, Jazz und
Swing, beruht darauf, dass Marihuana konsumiert wird. Marihuana
lässt weiße Frauen Sex mit Negern und Entertainern suchen."
Die Amerikaner glaubten die Mär ebenso wie Ans lingers Behauptung,
das Wort "Haschisch" gehe auf das persische Wort "Hashashin"
zurück, "von dem wir das englische Wort ‚assassin‘ (morden) haben".
Nach jahrelangem publizistischem Kampf schaffte es Anslinger, dass die
Amerikaner Marihuana für eine völlig neue Droge hielten, die
mit dem guten alten Hanf nicht das Geringste zu tun hätte. Nicht
nur das: Er schaffte es auch, dass Marihuana in seiner
Gefährlichkeit mit Drogen wie Kokain und Heroin gleichgesetzt
wurde und folglich mit allen erdenklichen Mitteln zu bekämpfen
sei. Als Vertreter einer Bundesbehörde brachte er im Kongress
einen diesbezüglichen Gesetzesantrag ein, der von einem einzigen
Abgeordneten, dem Arzt William C. Woodward, beeinsprucht wurde:
Anslingers Behauptungen seien nichts als ein Sammelsurium von
fragwürdigen Zeitungsartikeln, ohne jeden Beweis. Das Gesetz wurde
beschlossen.
Während seiner gesamten Amtszeit hatte Anslinger für ein
internationales Abkommen gekämpft, das seine Sicht übernahm.
1962 gelang es ihm als Repräsentant der Weltmacht USA, ein solches
Abkommen bei der Narkotika-Kommission der Vereinten Nationen
durchzusetzen. "Seither ist die ganze Welt gezwungen, Cannabis wie
Heroin zu verfolgen", schreibt Lingens.
Aufgrund der in der US-Verfassung garantierten Freiheitsrechte ist der
Konsum von Drogen erlaubt, nicht aber der Besitz. Wer zweimal auch nur
mit einer kleineren Menge Marihuana erwischt wird, gilt bereits als
Dealer und fasst eine unbedingte Freiheitsstrafe aus.
Als Folge davon sind die Gefängnisse notorisch
überfüllt, mit 2,7 Millionen Strafgefangenen und weiteren
vier Millionen auf Bewährung sind die USA heute die Nation mit den
meisten Gefängnisinsassen der Welt - zu einem beträchtlichen
Teil aufgrund der Drogenpolitik. Pro Jahr geben die Vereinigten Staaten
35 Milliarden Dollar für den Strafvollzug aus. Um die steigende
Belastung zu begrenzen, wurden Gefängnisse privatisiert. Damit hat
sich eine regelrechte Gefängnisindustrie etabliert, mit
börsennotierten Unternehmen und eigenen Messen für
Gefängnisbedarf. Davon leben viele Zulieferer und Arbeitnehmer,
deren Jobs bei einer liberaleren Politik verloren gingen.
Die republikanischen US-Präsidenten Richard Nixon (1969 bis 1974)
und Ronald Reagan (1981 bis 1989) sahen im Drogenproblem eine
"Bedrohung der nationalen Sicherheit" und starteten daher einen "War on
Drugs", einen Krieg gegen Drogen: Hilfszahlungen erhielten nur
Länder, die diesen Krieg unterstützten. Auf diese Weise stieg
Kolumbien zum Empfänger der höchsten US-Auslandshilfe nach
Israel und Ägypten auf. Bedingung: Der Marihuana-Anbau musste
durch Niederbrennen der Felder gestoppt werden.
Reines Kokain
Daraufhin wichen die Bauern auf Kokapflanzen aus. Anstatt die
Blätter zu kauen, wie in Lateinamerika üblich, wurde jetzt in
Geheimlabors reines Kokain hergestellt. In den USA wuchs die Nachfrage
nach dem weißen Pulver, so baute Pablo Escobar das
Medellín-Kartell auf. Er selbst gehörte als Herrscher
über das Drogengeschäft in den USA bald zu den reichsten
Männern der Welt, mit einem Besitz von Tausenden Hektar,
Flugplätzen und Häfen.
So ein Imperium entsteht nicht auf Samtpfoten: Insgesamt sollen
Escobars Auftragskiller 450 Polizisten und 30 Richter ermordet haben.
Aus Angst vor der Rache des Kartells führten Richter ihre Prozesse
in der Folge nur noch hinter Masken. Neben dem Justizminister starben
weiterere kolumbianische Politiker unter den Kugeln des Kartells. Und
in Bogotá flog sogar ein Zeitungsgebäude in die Luft.
Doch in Medellín wurde Escobar als Wohltäter verehrt. Er
saß im Stadtrat und im Regionalparlament und sorgte für
wohlplatzierte Investitionen, die ihm die Bewunderung der lokalen
Bevölkerung sicherten. Auf Druck der USA erklärte sich die
Regierung bereit, gegen Escobar vorzugehen. Im Zuge eines Gentlemen's
Agreement kam es zu einer Verfassungsänderung, die dem
Medellín-Boss eine Auslieferung in die USA ersparte. Offiziell
erhielt er fünf Jahre Gefängnis, die er freilich in einer
luxuriösen Villa verbrachte.
Die USA trainierten Spezialeinheiten, um seiner habhaft zu werden. Als
sein Versteck entdeckt wurde und seine Flucht scheiterte, jagte er sich
eine Kugel in den Kopf. Daraufhin übernahm das Cali-Kartell einen
Großteil der Medellín-Marktanteile. Offiziell hat sich das
Medellín-Kartell aufgelöst, aber es existiert in Form
kleinerer Kartelle weiter. Es kam zu Umstrukturierungen und
Verlagerungen, ohne dass Produktion und Handel dauerhaft litten. Das
zentrale Ziel des Krieges gegen Drogen, das Angebot zu verringern,
damit die Preise in die Höhe zu schrauben und dadurch den Stoff
für potenzielle Konsumenten unattraktiv erscheinen zu lassen,
wurde weder durch die Zerschlagung des Medellín-Kartells noch
durch diverse neue Initiativen erreicht.
Clinton scheiterte
Nachdem eine Studie der Rand Corporation ergeben hatte, dass die
Lieferung von Waffen, Kampfhubschraubern sowie die Bereitstellung von
Ausbildungsprogrammen und all der Einsatz beträchtlicher
Geldmittel nichts gefruchtet hatten, suchte Präsident Bill Clinton
eine Kursänderung in Richtung vermehrte Behandlung von
Süchtigen, scheiterte mit seinem Vorhaben aber im Kongress. Der
Bevölkerung erschien der polizeiliche und militärische Kampf
gegen Drogen zielführender.
Da erwies sich die von George W. Bush initierte "Andean Counterdrug
Initiative", die zugleich linke Guerilleros, Terroristen und den
Drogenhandel treffen sollte, zumindest militärisch als
erfolgreicher: Unter dem kolumbianischen Präsidenten Alváro
Uribe wurden die Kartelle zerschlagen, die Unterminierung des
Rechtsstaats schien beendet. Aber: Der Drogenstrom versiegte nicht, er
floss nur nicht mehr direkt in die USA, sondern nach Mexiko, wo neue
Kartelle das Geschäft der alten kolumbianischen übernahmen.
Ergebnis: Drei mexikanische Kartelle mit ihren Privatarmeen stehen
heute 50.000 mexikanischen Soldaten gegenüber. Der Kampf forderte
bisher 30.000 Tote, und die Spirale der Gewalt dreht sich immer weiter.
Die Bevölkerung in den betroffenen Gebieten sehnt sich nach Zeiten
zurück, in denen Politik, Polizei und Drogenkartelle in gutem
Einvernehmen für Ruhe und Ordnung sorgten. Zwar konnte der Kampf
der Regierung da und dort vor übergehende Erfolge erzielen, aber
am Drogenangebot oder am Preisniveau hat das nichts geändert. Im
Gegenteil: Im Jahr 2006 registrierte das US-Justizministerium 100
mexikanische Drogengroßhandelszentralen und
Vertriebsorganisationen in den USA, im Jahr 2009 waren es doppelt so
viele.
Unter lateinamerikanischen Politikern wachsen deshalb die Zweifel
über die Sinnhaftigkeit des Krieges gegen Drogen: Der ehemalige
Präsident Mexikos, Ernest Zedillo, der ehemalige Präsident
Kolumbiens, César Gaviria Trujillo, und der ehemalige
Präsident Brasiliens, Fernando Henrique Cardoso, erklärten in
einer gemeinsamen Stellungnahme, die Drogenpolitik der USA dränge
ganz Südamerika in eine Abwärtsspirale. Cardoso sagte
öffentlich: "Der Krieg gegen Drogen ist ein verfehlter Krieg."
Unterdessen wird der Grundannahme der US-Drogenpolitik, dass Marihuana
ähnlich gefährlich sei wie Heroin und Kokain, durch gleich
mehrere britische Untersuchungen der Boden entzogen. Im Jahr 2005 legte
eine Kommission unter der Leitung des langjährigen BBC-Direktors
John Birt im Auftrag der britischen Regierung eine Studie über das
Suchtpotenzial und damit die Gefährlichkeit verschiedener Drogen
vor. Ganz oben auf der Liste stehen Heroin und Crack (je vier Punkte),
in einer zweiten Gruppe rangieren Kokain, Amphetamine, Tabak und
Alkohol (je drei Punkte), danach kommen Ecstasy und Cannabis (je zwei)
und LSD (ein Punkt). Demnach rangieren legale Drogen wie Alkohol und
Nikotin deutlich vor illegalen Drogen wie Cannabis oder LSD. Eine im
Jahr 2007 im angesehenen Medizinjournal "Lancet" veröffentlichte
Studie kam zu weitgehend übereinstimmenden Ergebnissen.
Als der Drogenberater der britischen Regierung, David Nunn, der an der
"Lancet"-Studie federführend beteiligt war, im Jahr 2009 bei
seiner von allen maßgeblichen Fachleuten geteilten
Einschätzung blieb und von der britischen Regierung verlangte, die
Gefahrenklassifizierung an die wissenschaftlichen Erkenntnisse
anzupassen, erzwang die zuständige Staatssekretärin seinen
Rücktritt. Was Nunn als "Spannungen zwischen Politik und
Wissenschaft" abtut, hält Buchautor Lingens für "das zentrale
Problem der Drogenpolitik: Sie wird nach politischen, nicht nach
wissenschaftlichen Kriterien gemacht, und nach diesen Kriterien
müssen illegale Drogen gefährlicher als legale sein."
Der Birt-Bericht verglich aber nicht nur das Suchtpotenzial der
verschiedenen Drogen, sondern auch das Sterberisiko: Demnach sterben in
Großbritannien pro Jahr im Schnitt 625 Menschen durch eine
Überdosis oder Verunreinigung von Heroin, 97 durch Methadon, 25
durch Ecstasy, 20 durch Crack, zwölf durch Amphetamine, elf durch
Kokain. Cannabis und LSD scheinen in der Totenstatistik nicht auf.
Alkohol hingegen verursachte pro Jahr in England unter 21 Millionen
Konsumenten 6000 Todesfälle, wobei in dieser Zahl freilich sowohl
die akuten wie die chronischen Verläufe enthalten sind, und
chronisches Rauchen führte pro zu Jahr zu rund 100.000 Todesopfern
unter geschätzten 9,4 Millionen Rauchern. Noch Fragen?
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Österreich
Kunstgras
rauchen
Die Verbreitung illegaler Suchtmittel ist in Österreich
seit Jahren konstant. Die wahre Gefahr geht von legalen
Substanzen aus.
Koks im Wert von bis zu fünfhundert Euro zog sich Lisa
F. (Name von der Redaktion geändert) in manchen
Nächten durch die Nase. "Ich verkehrte in Kreisen, in
denen der Konsum üblich war. Zuerst habe ich gestaunt,
wie viele und welche Personen Drogen nehmen, doch dann wurde
es auch für mich normal", so die österreichische
Künstlerin. Die Wirkung beschreibt sie als "unglaubliche
Euphorie", der dann der Absturz folgte.
Sie versank in tiefe Depression. Erst als sie realisierte,
wie viel Geld sie bereits für die Sucht ausgegeben hatte
und dabei vor allem ihre Kinder vernachlässigte, wollte
sie aufhören. "Erst dann merkte ich, wie tief ich
bereits in der Sucht steckte und wie schwer es ist, davon
loszukommen. Heute nehme ich Antidepressiva, um meinen
Serotoninspiegel zu regulieren."
Wie Lisa K. haben etwa 3,7 Prozent der Österreicher die zweitmeistverbreitete illegale Droge
Kokain zumindest einmal probiert. Damit liegt die Alpenrepublik unter dem EU-Durchschnitt (4,1 Prozent) und weit hinter den Spitzenreitern in Westeuropa. Beachtliche 9,4
Prozent der Briten und 8,3 Prozent der Spanier sollen schon einmal Koks probiert haben.
Die Verbreitung illegaler Drogen wie Koks sowie von Psychopharmaka beläuft sich laut Daten der Sucht- und
Drogenkoordination Wien generell auf etwa sechzehn Prozent,
wobei Cannabis mit Abstand den größten Teil ausmacht.
Diese Rate blieb in den vergangenen Jahren -relativ konstant, nur beim Konsum von Cannabis ist ein leichter, aber kontinuierlich ansteigender Trend zu verzeichnen.
Laut Schätzungen der europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht haben 75,5 Millionen Europäer zumindest einmal in ihrem Leben Marihuana geraucht. Das entspricht in etwa -einem Fünftel der Bevölkerung im Alter zwischen 15 und 64 Jahren. Dabei ist allerdings zu beachten, dass sich Konsumgewohnheiten bei Cannabis und anderen illegalen Suchtmitteln deutlich nach Geschlecht, Wohnort und Bildungsgrad unterscheiden. So verfügt der Großteil der Marihuana-Konsumenten zumindest über einen Maturaabschluss, während die meisten Kokainkonsumenten nur einen Lehrabschluss haben (siehe Grafik).
Betrachtet man den Lebenszeitkonsum, der auch einmaliges Probieren einschließt, so liegt Österreich mit 23,8 Prozent knapp über dem -europäischen Durchschnitt (22,5). Absolute Spitzenreiter sind Dänemark (38,6 Prozent), die Tschechische Republik (34,2 Prozent), Italien (32 Prozent) und England (31,1 Prozent).
Auch Andreas Holzer, stellvertretender Leiter des Suchtmittelbüros im Bundeskriminalamt, bestätigt, dass die Verbreitung von illegalen Substanzen in Österreich bis auf Cannabis seit Jahren stabil ist:
"Der Anstieg des Marihuana-Konsums resultiert auch daraus, dass es immer mehr Indoor-Plantagen gibt und deshalb weniger aus dem Ausland bezogen werden muss."
Die Verbreitung anderer Substanzen ändert sich - je nach Trend -
saisonal. Modedrogen wie Ecstasy oder LSD waren in den neunziger Jahren en vogue, in den letzten zehn Jahren verschwanden sie fast wieder von der Bildfläche. Dafür kommen andere Substanzen ins Spiel, wie Holzer weiß: "Zurzeit ist beispielsweise vermehrt Ketamin im Umlauf. Das ist ein Narkosemittel, aus der Veterinärmedizin, das Nahtoderfahrungen auslösen kann."
Wie leicht sich Szenekenner solche -Substanzen zumindest in Großstädten wie Wien beschaffen können, glaubt der türkischstämmige Filmregisseur Hüseyin Tabak zu wissen, der für seine mehrfach preisgekrönte Doku "Kick Off" eine Gruppe von ehemaligen Drogensüchtigen und Alkoholkranken zur Fußballweltmeisterschaft der Obdachlosen nach Australien begleitet hat: "Ich habe mit vielen Süchtigen und Dealern gesprochen. Sie haben mir versichert, dass Insider innerhalb von fünf Minuten jeden Stoff besorgen können."
An klassischen Umschlagplätzen wie
U-Bahn-Stationen geben sich Dealer Eingeweihten nur durch Blickkontakte und -bestimmte Verhaltensweisen zu erkennen, während die übrigen Passanten nichts mitbekommen.
Tabak, dessen Film "Kick Off" soeben auf DVD erschienen ist, will sich den Drogen auch weiterhin widmen. Zurzeit arbeitet er an einem Spielfilmdrehbuch zum Thema. "Ich fand die Lebensgeschichten der Protagonisten meiner Doku fesselnd, ich war beeindruckt, wie sie es aus dem Sumpf geschafft haben und wie sie täglich gegen einen Rückfall kämpfen. Denn das Verlangen scheint nie zu vergehen."
Derzeit bereiten Suchtexperten jedoch weniger illegale, sondern völlig legale Subs-tanzen die größten Sorgen, nämlich die so genannten "Legal Highs". Darunter fällt beispielsweise die aus synthetischen Cannaboiden bestehende Droge "Spice", die schneller und stärker wirkt als herkömmliches Marihuana, aber legal erhältlich ist, weil sie offiziell als Räucherwerk gehandelt wird. Auf der Packung wird lediglich davor gewarnt, die Mischung einzunehmen oder als Tee zu konsumieren.
Ähnlich ist die Situation beim Gamma-Butyrolacton (GBL), das in der Industrie vorwiegend als Lösungsmittel verwendet wird. Oral eingenommen, kann es rauschähnliche Zustände auslösen, wie sie auch durch Ecstasy hervorgerufen werden.
In Österreich sind zwar der Handel mit und die Weitergabe von Spice und GBL seit 2009 verboten, allerdings nicht gerichtlich strafbar nach dem Suchtmittelgesetz. Der Konsum ist damit legal, nur der Handel offiziell verboten. Allerdings gibt es im Internet durchaus zahlreiche mögliche Bezugsquellen. Die Seiten bestehen zumeist nur für kurze Zeit und tauchen später unter neuem Namen wieder auf. Die Konsumenten können für Online-Bestellungen nicht belangt werden, weil der Konsum nicht strafbar ist. Das zunehmend als Informations- und Bezugsquelle für Drogen genutzte Internet stellt auch erfahrene Ermittler vor völlig neue Hürden - und die Dealer vor ungeahnte Möglichkeiten.
Ohnehin sind die Strafen bei Verstößen gegen das Suchtmittelgesetz in Österreich milde. "Es wird der Grundsatz Therapie vor Strafe angewendet, Drogensüchtige müssen sich statt einer -Haftstrafe einer Therapie unterziehen. Das Bundeskriminalamt legt den Schwerpunkt auf die Verfolgung von internationalen Drogenhändlern", so Suchtmittelspezialist Holzer. Auch muss jemand mit größeren Mengen erwischt werden,
um die geforderten Grenzmengen zu überschreiten. Bei Marihuana liegt die Grenze beispielsweise bei 20 Gramm reinem TCG-Gehalt, in der getrockneten Hanfplanze sind jedoch nur sechs bis elf Prozent davon enthalten.
Doch es scheint, als könnten die synthethischen Cannaboide dem Natur-Gras bald den Rang ablaufen. Auch die europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht, die ausdrücklich vor einem bevorstehenden Boom der Legal Highs warnt, räumt in ihrem aktuellen Jahresbericht ein, dass sich die Bekämpfung dieser Substanzen auf rechtlich dünnem Eis bewegt: "Schwierigkeiten ergeben sich daraus, dass einige dieser Substanzen zu legalen nichtmedizinischen Zwecken genutzt, zu angeblich legalen Zwecken vertrieben (...) werden können. Daher können selbst mit gut durchdachten Kontrollmaßnahmen nicht alle Probleme in diesem Bereich gelöst werden."
Drogenfahnder Holzer hält die Substanzen für gefährliche Newcomer: "Viele der Legal Highs sind noch nicht ausreichend getestet, was auch schwierig ist, da es sich um eine große Gruppe von ähnlichen Subs-tanzen handelt. Wir wissen nur aus
der bisherigen Erfahrung, dass diese Stoffe durchaus gefährlich sind und mitunter sogar zu massiven Gesundheitsgefährdungen führen können."
Laut einer Ifes-Umfrage wittern die Österreicher die Suchtgefahr für Jugendliche anderswo: Die meisten von ihnen nennen nach Nikotin und Alkohol vor allem Computerspiele und Internet als die Bereiche mit dem größten Suchtpotenzial.
Tina Goebel
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Geschichte
Reich des Bösen
1808
Gründung der ersten "Temperance Association" in den USA (New York), welche Mäßigung beim Alkoholkonsum propagiert.
Um 1830
Beginn der industriellen Revolution. Der Schnapskonsum amerikanischer Arbeiter ist dreimal so hoch wie heute. Überall sind Betrunkene zu sehen.
1839-42
Opiumkrieg. Um die Handelsbeschränkungen der chinesischen Qing-Dynastie zu durchbrechen, Beamte zu bestechen und Chinesen süchtig zu machen, liefern die Briten als erstes Drogenkartell der Geschichte massenhaft bengalisches Opium nach China. Als die Chinesen den Handel verbieten und 22.000 Kisten des von Briten eingeführten Opiums verbrennen, schickt das British Empire eine Kriegsflotte. Die
im Kampf unterlegenen Chinesen müssen hohe Entschädigungen für das verbrannte Opium zahlen und Hongkong an die Briten abtreten.
1850
Christliche Frauenvereine und Prediger erwirken im Bundesstaat Maine das erste Produktions- und Verkaufsverbot für Alkohol in den USA.
1866
Die neu gegründete "Prohibition Party" kämpft für die Ausdehnung des Alkoholverbots auf alle US-Bundesstaaten.
1881
Der US-Bundesstaat Kansas ächtet Alkohol in der Verfassung.
1908
Verbot des nichtmedizinischen Konsums von Opium und Kokain.
1910
Nach der Revolution in Mexiko suchen Mexikaner vermehrt Arbeit in den USA. Viele Einwanderer rauchen Marihuana, ein Kraut, das die Amerikaner als "Neger-Droge" bezeichnen.
1917
Bundesweites Alkoholverbot in den USA, das 1920 als 18. Amendment Verfassungrang erlangt. Getränke, die mehr als 0,5 Prozent Alkohol enthalten, gelten als "gifthaltig".
Ab 1920
Prohibition. Gerissene Geschäftemacher und kriminelle Gangs übernehmen den -Alkoholschmuggel, vor allem aus dem benachbarten Kanada, wo das Alkoholgeschäft legal ist. In den Städten entstehen so genannte "Speakeases", Klubs, in denen die Mitglieder jede Art von Alkohol bekommen. Allein in New York soll es 30.000 solcher Klubs gegeben haben.
1929
Auswüchse der Prohibition: Beim Saint Valentine's Day Massacre in Chicago erschießen Mitglieder der Gang des Mafia-paten Al Capone sieben Rivalen.
1932
Aufhebung des im 18. Amendment festgelegten Alkoholverbots. Ausschlaggebend waren Arbeitsplatz- und Steuerargumente im Zuge der Wirtschaftskrise. Mit Ende des Alkoholverbots beginnen die Kampagnen gegen Marihuana, vor allem in den Blättern des Zeitungszaren Randolph Hearst, die über das an sich harmlose Kraut wahre Schauergeschichten zu berichten wissen. Sogar die seriöse "Washington Post" nennt Marihuana eine "tödliche Droge".
1937
Verbot des Hanfanbaus in allen Staaten der USA. Maßgeblicher Kopf hinter der entsprechenden Gesetzesinitiative war ein Schweizer Einwanderer namens Harry J. Anslinger, Chef des Federal Bureau of Narcotics, Erfinder vieler Gräuelgeschichten über Marihuana.
1962
Den USA gelingt es, in der UNO den Beschluss zum weltweiten Kampf gegen Produktion und Handel von Drogen durchzusetzen. Der maßgebliche Kopf hinter dieser Strategie war wiederum Harry J. Anslinger.
1972
Präsident Nixon ruft einen "War on Drugs" aus, den Krieg gegen Drogen, der bis heute andauert.
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nzz.ch 28.2.11
Keine neue Abstimmung über Anlaufstelle in Winterthur
Bundesgericht zu umstrittenem Treffpunkt für Randständige
Die Abstimmung über die Anlaufstelle für
Randständige an der Zeughausstrasse in Winterthur muss nicht
wiederholt werden. Das Bundesgericht hat die Beschwerde von Anwohnern
abgewiesen.
(sda) Das Winterthurer Stimmvolk hatte im November 2009 einen
Kredit über 722'000 Franken bewilligt, um ein altes Haus an der
Zeughausstrasse zu einer Anlaufstelle für Randständige
umzubauen. Die Gegner des Projekts erhoben gegen den Urnengang
Stimmrechtsbeschwerde, die das Zürcher Verwaltungsgericht vor rund
einem Jahr abwies.
Ihr Gang vors Bundesgericht ist nun ebenfalls erfolglos
geblieben. Die Richter in Lausanne räumen zwar ein, dass die
Argumente der Gegner in der Abstimmmungsbotschaft in einer kleineren
Schrift abgedruckt wurden als die Empfehlung von Regierung und
Parlament.
Inhaltlich seien die Stimmberechtigten indessen objektiv
über Vor- und Nachteile informiert worden. Angesichts des klaren
Abstimmungsergebnisses - die Vorlage war mit 62 Prozent
Ja-Stimmen angenommen worden - könne nicht davon
ausgegangen werden, dass das Resultat ohne den gestalterischen Mangel
anders ausgefallen wäre.
Im vergangenen Jahr hatte das Verwaltungsgericht bereits die
Beschwerde gegen die Baubewilligung abgewiesen. Die Gegner verzichteten
allerdings darauf, auch diesen Entscheid beim Bundesgericht anzufechten.
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Sonntag 27.2.11
Drogenanlaufstelle: Rekurs abgelehnt
Winterthur Niederlage für die Gegner der geplanten
Winterthurer Randständigen-Anlaufstelle: Das Verwaltungsgericht
hat ihren Rekurs gegen die städtische Baubewilligung abgelehnt.
Das Gericht bestätigte damit einen Entscheid der Winterthurer
Baurekurskommission, welche die Anwohner mit ihrem Rekurs ebenfalls
abblitzen liess. Ein Sprecher der Stadt bestätigte einen
entsprechenden Artikel des "Landboten". Das Projekt wurde an der Urne
gutgeheissen: Die Stimmberechtigten von Winterthur erteilten mit 62
Prozent Ja-Stimmen grünes Licht für das Sozialprojekt. (sda)
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Basler Zeitung 26.2.11
Wo die kleinen Kugeln rollen
"Die Schweiz ist die beste Stadt in Europa", sagt der
Kokainhändler Josephus Mugundu
Michael Bahnerth
Mit einer mehrmonatigen Aktion versuchte die Basler Polizei rund
um den Jahreswechsel, den "Kügelidealern" Herr zu werden. Das
Geschäft liegt vor allem in den Händen von
dunkelhäutigen, jüngeren Männern, die sich oft als
Asylbewerber in der Schweiz aufhalten.
Sie hiess Aktion Soma und dauerte von Ende November bis Ende
Januar. "Es war ein Erfolg", sagt Klaus Mannhart, Sprecher der Basler
Polizei. "Soma" ist das Kürzel für "Sondermassnahmen", und
die Sondermassnahme war, zwischen Claraplatz und Kaserne vermehrt
Kontrollen durchzuführen und mit dieser "Vergällungspolitik"
dem Heer der "Kügelidealer" Herr zu werden. 597 Personen sind
kontrolliert worden. 451 von ihnen waren "dunkelhäutige
Asylbewerber". 396 von ihnen kamen aus andern Kantonen. Es gab 55
Festnahmen. Der 37-jährige Josephus Mugundu war nicht unter ihnen.
Josephus Mugundu kommt vom Gleis 17 im Zürcher Bahnhof. Es
ist Sonntag, kalt. Er trägt eine blaue Lederjacke, darunter ein
neues T-Shirt der verblassten Rockgruppe Kiss. Er ist schlank,
mittelgross, und er besitzt ein Nokia-Handy, mittlere Preisklasse,
prepaid. Seine Stimme ist sanft, man versteht ihn kaum im Café
Federal, aber das ist nicht das Problem. Wahrheit ist das Problem.
Wahrscheinlich heisst er nicht Josephus Mugundu. Ziemlich sicher
hat er den Schweizer Behörden zumindest eine etwas
aufgeblähte Geschichte erzählt von wegen Opposition,
Verfolgung und Elend. Die Geschichte vieler der 1969 Nigerianer, die
letztes Jahr in die Schweiz gelangten. Er erzählt nichts über
das filigrane Netzwerk, das die nigerianische Mafia hier gespannt hat,
um die Schweiz mit Kokain zu versorgen. Er sagt, natürlich, dass
er nicht in die Schweiz gekommen sei, um zu dealen. Auf der anderen
Seite, warum sollte er lügen? Auf dem Foto erkennt man ihn nicht,
der Name ist nur ein Name, und Asylbewerber ohne Chance wird er auch
danach bleiben.
schwarzes gold. Er ist 37 Jahre alt, das ist sicher, seit 2007
Flüchtling, seit letztem Sommer in der Schweiz. Er war Busfahrer
in Sapele, einer Hafenstadt, 140 000 Einwohner, im Nigerdelta gelegen,
wo die Ölvorkommen sind. Mindestens 600 Milliarden Dollar wurden
dort in den letzten 50 Jahren mit dem schwarzen Gold verdient, Geld,
das am Volk vorbei auf die Konten von ein paar wenigen sprudelte. Seit
einem Jahrzehnt wird, von Südamerika herkommend und in guter
Zusammenarbeit mit der kolumbianischen Mafia, weisses Gold, also
Kokain, auch im Hafen von Sapele gelöscht. Eine Komplizenschaft
von Heer, Verwaltung und einheimischen Kriminellen sorgt für einen
unbürokratischen Ablauf. In den Händen der nigerianischen
Mafia, die wohl die mächtigste private Organisation Afrikas sein
dürfte, gelangt das Kokain entweder über den Seeweg zur
Küste Galiziens oder über den Landweg durch Nigeria, den
Niger und Libyen nach Europa.
Den Landweg hat auch Josephus hinter sich. Fast alle nehmen den
"Sklaventrail", acht Nigerianer nur kamen letztes Jahr mit dem
Flugzeug. Der Landweg, obwohl er mörderisch ist und gleich viel
kostet wie ein Ticket, verspricht mehr Erfolg. Um zu fliegen,
bräuchten sie einen Pass, den haben die meisten nicht. Und wenn
sie Papiere hätten, könnte ihre Identität und ihre
Geschichte relativ rasch abgeklärt werden und bei der europaweit
restriktiven Asylpolitik gegenüber Nigerianern wärs das dann
gewesen.
schnauze voll? Schwer zu sagen, ob Mugundu aus wirklicher Not
geflohen ist oder einfach nur die Schnauze voll hatte von den
Zuständen im Delta. Vom Kampf der Banden um einen Anteil am
schwarzen und weissen Gold. Von der Brutalität der Nigerian Police
Force, die mit der "Order 237" ausstaffiert ist, die ihnen erlaubt,
Verdächtige jederzeit "auf der Flucht" zu erschiessen.
Auch Polizisten wollen ihren Anteil am Reichtum, errichten
willkürlich Strassensperren, und das ist für einen Busfahrer
fatal. Er wollte kein Schmiergeld mehr bezahlen. Sie zerschossen seine
Reifen, verprügelten ihn und meinten, er könne sein Fahrzeug
abholen, wenn er Geld hätte. Und vier neue Reifen, hahaha. "Du
hast als Armer in Nigeria keine Rechte", sagt Josephus.
Eines Abends im Jahre 2006 sah er Bilder von Jugendunruhen in
Frankreich. Wie dort Jugendliche Steine warfen und Molotowcocktails.
Sah, dass die Polizei die Demonstranten nicht gleich abknallte. "Wow",
sagte er zu einem Freund, "was für ein Leben. Das ist das
Paradies."
Vielleicht kam Josephus im Auftrag der nigerianischen Drogenmafia
nach Europa. Vielleicht war es nur wegen einer Lederjacke, dass er zum
"Kügelidealer" wurde. Viele der nigerianischen Asylbewerber, kaum
sind sie in der Schweiz, wollen eine. Und zwar eine, die was hermacht,
die nach Klasse und Style aussieht und vor allem nicht nach
Asylbewerber. Sie haben nicht eine Fahrt in und auf einem
überfüllten, abgehalfterten Lastwagen durch die Sahara und
eine Überquerung des Mittelmeeres in einem Zodiac für
insgesamt 1500 Euro überlebt und im Schnitt fünf Menschen
dabei draufgehen sehen, um hier in eine
Rotkreuz-Altkleidersammlung-Jacke gesteckt zu werden. So funktioniert
der Traum nicht.
Der Traum funktioniert auch nicht im Durchgangszentrum
Winterthur. Josephus im Sechserzimmer. Ein mit Tüchern verhangenes
Bett. Wo das Paradies weiter weg zu sein scheint als seine Familie, die
Eltern, sieben Geschwister, Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins, der
ganze Clan von über 50 Leuten. Sie haben nicht einmal seine
Telefonnummer. Er ruft sie an, einmal die Woche, sagt, es sei alles in
Ordnung, die Schweiz "the best city in Europe", und dass er bald wieder
Geld schicken werde.
Von den elf Franken, die er als Asylbewerber täglich
erhält, lege er sechs auf die Seite und überweise Ende Monat
mit Western Union 180 nach Hause. Er werde mehr schicken in Zukunft,
hatte er seiner Mutter vor ein paar Monaten gesagt. Er habe jetzt eine
Arbeit, im "transportation business". Das ist nicht wirklich gelogen.
Seine Mutter sagte: "Lass uns Gott danken." Und glaubt, er sei im
Kurierdienst unterwegs. Sie fragte, ob das nicht gefährlich sei in
der Schweiz mit den vielen Bergen und Kurven?
Die Pakete haben die Grösse einer Fingerkuppe. Es ist
Kokain, dick mit Frischhaltefolie ummantelt, transportiert im Magen und
beim Empfänger elegant hochgewürgt. Das kann er. Macht
irgendwie was, das aussieht wie Rülpsen, und dann sind die
Kügelchen in seiner Mundhöhle. Wie viel von den 100 Franken,
die ein Gramm Kokain kostet, in seine Tasche fliessen, sagt er nicht.
Er sagt nur: "Nigerianische Mafia."
Traumziel Schweiz. "Immer noch besser als betteln", fährt er
fort. Drei Jahre hat er gebettelt, von 2007 bis 2010, in Italien.
Behauptet er. Im italienischen Auffanglager stehen zehn Leute in einer
Reihe, fünf erhalten eine vorläufige Aufenthaltsbewilligung.
Er hat Glück, darf bleiben, darf Italien aber nicht verlassen. Er
trifft Landsleute, solche, die in der Schweiz waren und
zurückgeschickt wurden nach Italien. Sie sind anders als er. Haben
Lederjacken und Geld für mehr als ein Bier und eine Pizza. Er will
auch in die Schweiz. Er bettelt sich von Stadt zu Stadt, sagt er, bis
er an der Grenze ist. Vorher versteckt er seine italienischen Papiere
bei einem Freund, damit er von den Schweizer Behörden nicht sofort
zurückgeschickt wird. Er hat den Hintereingang zur
Wohlstandsfestung gefunden.
umgehend zurück. Gerne würde er Bus fahren. Geht aber
nicht. Die einzig legale Arbeit für einen Asylbewerber ist
"Freiwilligenarbeit", Schneeschaufeln, Parks putzen. In Afrika
arbeitete er für ganz wenig Geld, im Paradies soll er für
keines arbeiten? Also tut er nichts. Ausser sich nicht unterkriegen
lassen von dem, was ihm jene erzählen, die schon etwas länger
hier sind. Dass die Aufnahmerate für Nigerianer bei knapp 0,1
Prozent liegt und dass drei Viertel seiner Landsleute sowieso umgehend
in jene Länder zurückgeschickt werden, in denen sie Europa
das erste Mal betreten haben. Es sind kostbare Tage in der Schweiz,
trotzdem. Weil sie begrenzt sind. Die Schweizer Mühlen mahlen zwar
langsam, aber sie mahlen. Er will aus dem Paradies so viel mitnehmen
wie möglich, bevor er zurück nach Italien muss.
Also Kokain-Business. Kein grosses Ding. Ein Freund führt
ihn ein in eine kleine Zelle, wo einer der Boss ist und seinen
"Runnern" die Ware zur Verfügung stellt. Er übt das
Hochwürgen und gehört fortan zu den Handlungsreisenden. Er
besitzt ein Generalabonnement 2. Klasse der SBB auf monatlicher Basis,
weil nie gewiss ist, wann das Gastspiel im Paradies endet.
Zürich-Basel-Olten-Luzern-Bern wahlweise und täglich. "Im Zug
bin ich kein Asylbewerber, irgendwie", sagt er. Heute fährt er
nach Basel, macht einen Umweg über Olten, vermutlich, um dort die
Ware in Empfang zu nehmen. Olten und seine Nähe zu den
Städten des Mittellandes ist als Verteilzentrum ideal. In Basel
wird er den Kunden in dessen Wohnung treffen. Seit Soma läuft das
Geschäft in mehr oder weniger privaten Bahnen. "Gut für mich.
Nicht so gut fürs Geschäft."
Was soll ihm schon passieren? Er ist noch im Asylprozess, die
Ware in seinem Bauch. Der Zug geht in ein paar Minuten. Es gibt
Probleme wegen des Fotos am Zürcher Hauptbahnhof. Trotz der
Mütze und der eilig gekauften Sonnenbrille, er will jetzt nicht
fotografiert werden. "Die Polizisten dort?" Er winkt ab: "Zu viele
Afrikaner", sagt er, "nicht gut. Die könnten mich erkennen, und
dann hab ich ein Problem. Nigerianische Mafia." Der Zug fährt ein
und Mugundu verschwindet. Haften bleibt sein allerletzter Satz: "Du
hast als Afrikaner in Europa ein Problem. Du hast als Afrikaner ja
sogar eines in Afrika."
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NZZ am Sonntag 23.2.11
"Ich war fassungslos und schockiert"
David Nichols ist einer der berühmtesten LSD-Forscher. Er
erzählt, wie Drogenhändler seine Arbeit missbrauchen - mit
tödlichen Folgen. Und warum Halluzinogene trotzdem besser sind als
ihr Ruf
NZZ am Sonntag: Seit Jahrzehnten erforschen Sie
bewusstseinsverändernde Substanzen wie LSD oder MDMA, besser
bekannt als Ecstasy. Was interessiert Sie an diesen Drogen?
David Nichols: Als ich 1969 damit anfing, ging es mir um eine
rein wissenschaftliche Frage: Ich wollte wissen, wie es möglich
ist, dass diese Stoffe an denselben Rezeptoren im Gehirn andocken,
obwohl sie chemisch unterschiedlich aussehen. Doch mit der Zeit begann
ich mich intensiver mit der Wirkung dieser Substanzen zu
beschäftigen. Und wenn mich die Leute fragen weshalb, erzähle
ich ihnen gerne eine kleine Geschichte.
Wir sind ganz Ohr.
Denken Sie an Dinge, die Ihr Leben verändern: Sie
können sich verlieben oder heiraten, vielleicht lassen Sie sich
scheiden, oder eines Ihrer Kinder stirbt. Oder Sie nehmen LSD. Viele
Leute, die diese Erfahrung gemacht haben, sehen danach die Welt
völlig anders, zum Guten oder zum Schlechten. Wie ist es
möglich, dass ein chemisches Molekül eine solche Wirkung hat,
und wo genau im Gehirn findet das statt? Solche Fragen rühren an
der Natur des Menschen: Wer sind wir, und was ist der Sinn des Lebens?
Hatten Sie nie das Gefühl, Ihre Arbeit könnte nicht nur
neue Erkenntnisse über die Psyche hervorbringen, sondern den
Menschen auch schaden?
In den USA waren psychedelische Substanzen vor allem während
des Vietnamkrieges populär. Damals gab es viel Aufruhr und soziale
Unruhen. Vermutlich hatte LSD dabei einen wichtigen Einfluss. Jede
Technologie kann vernünftig verwendet oder missbraucht werden.
Psychedelische Substanzen dürfen nur in angemessenem Kontext und
mit entsprechender Vorbereitung eingesetzt werden, sonst können
sie grossen Schaden anrichten.
Wie sollte man sich denn auf den Konsum von LSD vorbereiten?
Beschäftigen Sie sich wochenlang mit Mystik, dann ist die
Wahrscheinlichkeit gross, dass Sie eine mystische oder spirituelle
Erfahrung machen, wenn Sie LSD in einem besinnlichen Rahmen einnehmen.
Tun Sie das aber ohne Vorbereitung und gehen dann in einen Horrorfilm,
wird Ihre Erfahrung ganz anders ausfallen. Psychedelische Substanzen
sind die einzigen Drogen, deren Wirkung vom Zustand desjenigen
abhängt, der sie konsumiert.
Amateur-Chemiker durchforsten mit Vorliebe die wissenschaftliche
Literatur, um Ideen für die Herstellung neuer Designerdrogen zu
finden. Einer von ihnen hat kürzlich öffentlich erklärt,
Ihre Forschungsarbeiten seien für ihn dabei besonders
nützlich.
Ich war mir immer bewusst, dass Substanzen, die wir im Labor
herstellen, auch ausserhalb eingesetzt werden könnten. Ich dachte
aber nicht, dass das zu einem wirklichen Problem würde. Denn die
von uns entwickelten Stoffe unterschieden sich ziemlich von LSD. Doch
dann, in den 1990er Jahren, starben einige Menschen, weil sie
"Flatliners" oder MTA einnahmen - eine Substanz, die dem Ecstasy
verwandt ist und über die wir einige Forschungsarbeiten publiziert
hatten. Mit dem hätte ich nie gerechnet. Ich weiss auch von zwei
oder drei anderen Fällen, wo Menschen starben, nachdem sie Stoffe
einnahmen, die ursprünglich wir entwickelt hatten.
Was für Stoffe waren das?
Es ging dabei zum Beispiel um eine halluzinogene Substanz, die
unter dem Namen "Bromo-Dragonfly" bekannt ist. Das Molekül ist
extrem potent. Ich vermute, dass die Leute das unterschätzten und
eine massive Überdosis konsumierten. Typen, die solche Substanzen
nachbauen und vertreiben, scheren sich keinen Deut um die Sicherheit.
Keiner dieser Stoffe wurde für den Gebrauch beim Menschen
getestet, und die Produzenten hatten keine Ahnung, was geschehen
könnte, wenn sie Tausende Dosen unter die Leute bringen. Das ist
absolut unverantwortlich.
Und worin besteht Ihre Verantwortung als Chemiker, der die Stoffe
entwickelte?
Ich kann nicht kontrollieren, was mit den Dingen geschieht, die
ich publiziere. Das Paradigma der Wissenschaft besteht darin, Forschung
zu betreiben, Wissen zu produzieren und in Publikationen
öffentlich zu machen, so dass andere daraus weitere Erkenntnisse
gewinnen können.
Fühlten Sie sich schuldig, als Sie von diesen
Todesfällen hörten?
Als mir ein Kollege in einem Mail schrieb, Menschen seien wegen
des Missbrauchs von MTA umgekommen, war ich fassungslos und schockiert.
Es beschäftigte mich sehr, dass jemand starb aufgrund von
Informationen, die ich publiziert hatte. Auch wenn ich über das
Ganze keine Kontrolle hatte und wusste, dass die Betroffenen
Überdosen konsumiert hatten.
Hat das Verwenden von Forschungsdaten zu Drogenzwecken in der
jüngsten Zeit zugenommen?
Es macht zumindest den Anschein, dass die Leute vermehrt auf der
Suche nach Legal Highs sind, also nach neuen und deshalb noch nicht
verbotenen Drogen. Das ist wahrscheinlich eine direkte Folge des
strikten Verbots von Substanzen wie LSD oder Ecstasy, die es seit
langem gibt und die vermutlich um einiges sicherer sind.
Wie schwierig ist es, die von Ihnen entwickelten Stoffe
nachzubauen?
Die Chemie der einfachsten Moleküle ist relativ simpel. Wer
ein paar Kurse in organischer Chemie an der Uni belegte und bei der
Laborarbeit gut war, kann die meisten dieser Moleküle nachbauen.
Hinzu kommt, dass im Internet zahlreiche Ratschläge kursieren.
Für die Herstellung der komplexeren Moleküle sind mehr
Kenntnisse und Fähigkeiten nötig. Aber wer einen Master in
organischer Chemie hat, kann auch das schaffen.
Und wie steht es mit der Ausrüstung?
Es braucht keine exotische Ausrüstung dazu. Vieles wird wohl
in Chemielabors gestohlen, wo es niemandem auffällt, wenn ein
Glaskolben verschwindet. Zumindest in den USA ist es fast
unmöglich, dass ein Privater ausserhalb einer Institution
Laborausrüstung oder Chemikalien kaufen kann. Das wird streng
überwacht.
Werden Sie manchmal auch von Drogenproduzenten um Hilfe
angegangen?
Im letzten Jahr erhielt ich vier oder fünf E-Mails. Ein paar
Mal wurde ich um Details zur Synthese bestimmter Moleküle gebeten.
Einmal ging es dabei um eine Substanz, über die wir praktisch
nichts publiziert hatten. Solche Anfragen beantworte ich nicht. Und
wenn ich nach der Dosierung einer Substanz gefragt werde, dann
erkläre ich, dass wir die Moleküle nur bei Ratten, nicht aber
bei Menschen getestet hätten und dass ihre Einnahme für
Menschen gefährlich sein könnte.
Haben Sie jemals darauf verzichtet, Erkenntnisse zu publizieren,
weil sie zu gefährlich sein könnten?
Als wir an Ecstasy beziehungsweise MDMA arbeiteten, beschloss
ich, die Erforschung eines bestimmten Moleküls einzustellen. Ich
war überzeugt, dass es ähnlich wie Ecstasy wirken und sehr
populär werden würde. Es hätte möglicherweise
schwere toxikologische Nebenwirkungen gehabt und zum Tod von Leuten
führen können. Ich publizierte niemals etwas über dieses
Substanz, erwähnte nicht einmal ihren Namen.
Glauben Sie, dass solche Entwicklungen die Freiheit der Forschung
bedrohen?
Forschung ist ein offener Prozess, und es wird von
Wissenschaftern erwartet, dass sie ihre Resultate veröffentlichen.
Daran sollte sich auch in Zukunft nichts ändern. In der Forschung
darf es keine Zensur geben.
Welche Rolle spielen medizinische Anwendungen in Ihrer Forschung?
Ich war sehr beeindruckt von Forschungsarbeiten, in denen Ende
der 1960er und Anfang der 1970er Jahre die Angstzustände
sterbender Patienten mit LSD behandelt wurden. Und bereits in den
1950er Jahren hiess es in der Fachliteratur, LSD lasse sich bei der
Behandlung von Abhängigkeiten und Alkoholismus einsetzen. Leider
waren viele dieser Studien wissenschaftlich zu wenig überzeugend.
Nach jahrzehntelangen Verboten wird LSD in der Schweiz in einem
klinischen Versuch an zwölf Patienten erneut zur Behandlung von
Ängsten eingesetzt. Erleben psychedelische Substanzen eine
Wiedergeburt als Medikamente?
Die Chance dafür besteht. Am Heffter Forschungsinstitut
untersuchen wir Psilocybin zur Behandlung von Angst bei Krebskranken.
Die Resultate einer ersten Studie waren vielversprechend, zwei
grössere Studien sollen das nun belegen. MDMA war in der
Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen bisher sehr
erfolgreich. Leider denken immer noch viele Menschen, diese Substanzen
seien bloss gefährliche Drogen. Gefährlich sind sie nur, wenn
sie unangemessen und unkontrolliert eingesetzt werden. Niemand ist je
an einer Überdosis LSD gestorben.
Interview: Patrick Imhasly
--
David Nichols
David Nichols, 66, ist Professor für Pharmakologie an der
Purdue University in Indiana und ein führender Experte für
psychedelische Substanzen. Er wurde berühmt für Arbeiten, in
denen er die Wirkungsweise von Rauschmitteln wie LSD oder Ecstasy
untersuchte. Nichols ist Mitbegründer des Heffter-Instituts, das
die Erforschung von Halluzinogenen zu medizinischen Zwecken
fördert, unter anderem an der Psychiatrischen
Universitätsklinik Zürich. (pim.)
--
Synthetische Drogen
Ein Spiel auf Rausch und Tod
Aus den Labors gelangen immer wieder neue Drogen auf den Markt.
Die Behörden können kaum Schritt halten
Sie kursieren unter Namen wie "Explosion", "Yucatan Fire" oder
"Chill X" und versprechen euphorische Gefühle, klares Denken oder
ganz einfach die totale Entspannung. Solche Stoffe waren früher
als "Designer-Drogen" bekannt, heute redet man in der
einschlägigen Szene eher von "Research Chemicals" oder "Legal
Highs". Ob es sich nun um Stimulanzien oder Halluzinogene handelt,
gemeinsam ist diesen Drogen, dass sie nirgends in der Natur zu finden
sind. Vielmehr werden sie von Amateur-Chemikern oftmals in
Küchen-Labors kreiert, die dafür die wissenschaftlichen
Publikationen anerkannter Experten wie jene des amerikanischen
Pharmakologen David Nichols plündern (siehe Interview).
Auf zahlreichen Websites - manchmal auch in Head Shops, die
Zubehör für die Cannabis-Szene anbieten - werden die
Rauschmittel als "legal" vertrieben. Das stimmt in den meisten
Fällen. Denn die Stoffe sind so neu, dass die Behörden
ständig hinterherhinken, wenn es darum geht, sie toxikologisch zu
untersuchen und bei Gefahr für Leib und Leben zu verbieten.
Ausserdem sind die Drogenproduzenten clever genug, sich rechtlich zu
schützen, indem sie die potente Ware als "Badesalz" oder
"Dünger für Kakteen" vermarkten oder mit dem Zusatz "nicht
zum Konsumieren geeignet" versehen.
Freiwillige Versuchskanichen
"Weil diese Substanzen zuvor selten beim Menschen getestet
wurden, weiss man sehr wenig über Wirkung, Nebenwirkungen oder
Langzeitfolgen", sagt Alex Bücheli, Drogenfachmann bei der
Jugendberatung Streetwork der Stadt Zürich. "Die Konsumenten sind
sozusagen Versuchskanichen." Nicht nur die ursprünglich von David
Nichols zu Forschungszwecken entwickelten Moleküle "Flatliners"
und "Bromo-Dragonfly" führten zu Todesfällen, auch das
Stimulans Mephedrone soll für den Tod von drei Jugendlichen in
Grossbritannien und Schweden verantwortlich sein. Seit dem 1. Dezember
2010 ist Mephedrone in der Schweiz verboten, wie in den meisten
Ländern Europas. Für die Drogenhändler ist das kein
Problem, stattdessen vertreiben sie über ihre Websites bereits
wieder neue Rauschmittel aus dem Labor, zum Beispiel Synthacaine - ein
lokales Anästhetikum, das dem Kokain chemisch verwandt ist und
eine leicht stimulierende Wirkung haben soll.
24 Substanzen in einem Jahr
2009 wurden im Frühwarnsystem des EU-Monitoring-Zentrums
für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) 24 neue, synthetische
psychoaktive Substanzen erfasst - mehr als je zuvor in einem Jahr. Wie
verbreitet Legal Highs in der Schweiz sind, darüber lässt
sich nur spekulieren. Alex Bücheli sagt, dass sie zumindest unter
jenen Leuten, die das Präventionsangebot von Streetwork nutzen,
sich beraten und ihre Drogen bei Partys oder im Zürcher
Drogeninformationszentrum (DIZ) testen lassen, "kaum ein Thema sind".
Bücheli stellt in der Schweiz eine eher "konservative
Haltung bei der Substanzenvielfalt" fest. "Wenn die Leute gute
Erfahrungen mit ihren Drogen machen und diese Substanzen in einer
gewissen Qualität käuflich sind, haben sie wenig Grund, etwas
Neues auszuprobieren." Zudem könnte das Internet als
Vertriebskanal für manche potenziellen Konsumenten eher eine
Hemmschwelle darstellen, zumal sie bei einer Bestellung Namen und
Postadresse angeben und per Kreditkarte bezahlen müssen.
Um der ständigen Entwicklung neuer Drogen etwas
entgegenzusetzen, wurde in den USA bereits 1986 ein Gesetz
verabschiedet, das eine Substanz für den Gebrauch beim Menschen
automatisch bannt, wenn ihre chemische Struktur einer bereits
verbotenen Substanz ähnlich ist, sie keinen medizinischen Nutzen
hat und das Potenzial für einen Missbrauch gross ist. Doch dieser
Ansatz greift nicht bei gänzlich neuen Kreationen wie den
synthetischen Cannabinoiden.
Für solche Fälle geht die Schweizer
Heilmittelbehörde jetzt einen neuen Weg. Swissmedic will die
laufende Revision des Betäubungsmittelgesetzes nutzen, um eine
Liste für ein provisorisches Verbot von Legal Highs
einzuführen. Dort blieben die Substanzen vorsorglich stehen, bis
die Untersuchungen über ihre Schädlichkeit abgeschlossen
wären.
Patrick Imhasly
---
24 Heures 21.2.11
Nouvelle loi sur les stupéfiants
"Le cannabis bientôt vendu sur ordonnance médicale"
Martine Clerc
Le chanvre médical sera légalisé avant
l'été, mais restera sous haute surveillance. La fin d'un
tabou pour le neurologue Claude Vaney
Martine Clerc
Fumer du cannabis récréatif reste interdit en
Suisse. Pas question de dépénaliser, a
répété le peuple en 2008. Par contre, la nouvelle
loi fédérale sur les stupéfiants, qui devrait
entrer en vigueur d'ici à l'été, ouvre la porte
à une utilisation médicale de produits à base de
chanvre. Le point avec le Dr Claude Vaney, chef du service de
réadaptation neurologique de la Clinique Bernoise à
Montana, et membre de la commission d'experts qui a
préparé la loi. Il est l'auteur de la première
étude en Suisse (2004) qui a permis de mettre en évidence
l'effet du chanvre dans le traitement des symptômes de la
sclérose en plaques.
Vous pratiquez en Valais. Quel impact a eu l'affaire Rappaz sur
la cause du chanvre médical?
Difficile à dire. Le personnage en tout cas a
irrité. Et même si Bernard Rappaz a certainement produit
du chanvre à but thérapeutique, ce n'était
probablement pas la source principale de son chiffre d'affaires…
Que va changer la nouvelle loi sur les stupéfiants?
En termes de chanvre médical, c'est la fin d'un tabou.
Avec la nouvelle loi, il devrait être possible de prescrire du
THC (tétrahydrocannabinol, le principal principe actif du
cannabis) produit à base de cannabis en tant que plante, et non
plus seulement du THC synthétique. Actuellement, en Suisse, nous
ne pouvons prescrire que la préparation nommée Dronabinol
(dénomination commune internationale du THC) produit de
synthèse à base de pelures d'orange…
Le cannabis médical: quels bienfaits et pour qui?
Il donne de bons résultats pour le traitement de douleurs
chroniques d'origine neurologique, notamment pour les gens souffrant de
sclérose en plaques ou paraplégiques suite à un
accident. Chez eux, le chanvre permet de réduire les spasmes
musculaires et les crampes. Il stimule l'appétit chez les
sidéens ou les cancéreux.
Aujourd'hui déjà, des malades se soignent en
automédication en infusant ou en fumant de l'herbe. Vous n'en
avez jamais prescrit?
Non, cela aurait été illégal et punissable.
Je soigne une vingtaine de patients avec les gouttes de THC Dronabinol,
mais je connais beaucoup de malades qui consomment du chanvre
illégalement, en tisane par exemple. Je leur indique uniquement
comment préparer leur infusion. Et soyons clairs, ces personnes
ne cherchent pas à se shooter ou à ressentir des effets
psychotropes. Elles cherchent à diminuer la douleur et à
pouvoir mieux dormir.
Cette loi n'est-elle pas la porte ouverte à l'autorisation
de la "fumette", sous couvert d'usage médical?
En aucun cas. La fumée est nocive et les médecins
ne vont pas la favoriser. Par contre, la loi mettra les malades
à l'abri du marché noir: ils ne devront plus aller se
fournir chez des dealers qui proposent un chanvre avec un très
fort taux de THC provoquant des effets psychotropes. Ils pourront aller
dans une pharmacie avec une ordonnance et obtenir du cannabis
élaboré dans des conditions médicales acceptables.
Aujourd'hui, quelle est votremarge de manœuvre?
Elle est réduite et elle le restera. Pour chaque
prescription, une autorisation de l'Office fédéral de la
santé publique est nécessaire(lire ci-contre).
Il y a vingt ans, vous avez commencé à vous
intéresser au chanvre thérapeutique. Quel a
été le déclic?
Tout est parti du témoignage d'un patient atteint de
sclérose en plaques à la Clinique Bernoise. Il m'a dit
que fumer un joint le soulageait en cas de crampes. Et nous avons
constaté que la substance provoquait sur lui une relaxation
objectivable. A cette époque, ce phénomène
n'était que peu documenté. L'Office fédéral
de la santé publique m'a encouragé à lancer une
étude sur ce thème.
Passez-vous pour un marginal aux yeux du milieu médical?
Les neurologues sont aujourd'hui globalement ouverts à
l'usage du chanvre dans certains traitements spécifiques,
surtout lorsque les traitements habituels s'avèrent inefficaces.
Mais je dois reconnaître que mes confrères avaient
sourilorsque je leur avais présenté les résultats
de mon étude!
--
Un cadre très restrictif
Ce qui changera avec la nouvelle loi sur les stupéfiants
qui devrait entrer en vigueur au 1er juillet? Il sera
possible de demander à Swissmedic l'homologation de
médicaments à base de chanvre autorisés
aujourd'hui dans des pays de l'Union européenne. D'autres
préparations pourraient aussi être fabriquées en
Suisse. Une prescription demeurera cependant obligatoire. Et pas
question pour les malades de cultiver eux-mêmes leurs plants ou
d'en acheter chez des cultivateurs. Ils devront passer par la case
pharmacie. Pour quel type de pathologie?Sclérose en plaques,
certaines douleurs chroniques surtout neurogènes ou encore la
perte de poids en cas de cancer. Actuellement, l'Office
fédéral de la santé publique (OFSP) autorise une
cinquantaine de personnes à être traitées au THC
synthétique, sur demande de leur médecin. Ce chiffre
devrait augmenter, malgré des conditions qui resteront strictes.
Pour obtenir une autorisation, les médecins devront, entre
autres, prouver que la péjoration de la qualité de vie de
leur patient est clairement liée à la maladie, que
d'autres thérapies n'ont pas fonctionné et que le
traitement visé est documenté dans la littérature
médicale. L'autorisation ne sera délivrée que pour
six mois, renouvelable. Pour l'heure, les caisses n'ont pas
l'obligation de rembourser ces traitements.
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SEXWORK
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NLZ 28.2.11
Gehalten wie Sklavinnen
Spanien
Ralph Schulze, Madrid
Hölle statt Paradies: Mit Prügel werden Tausende
Immigrantinnen zur Prostitution gezwungen. Nun versuchen die
Städte mit Verboten der Prostitution zu begegnen.
Ralph Schulze, Madrid
nachrichten@luzernerzeitung.ch
Prügel, Vergewaltigungen, Todesdrohungen, Erpressungen: Mit
diesem kriminellen Instrumentarium werden Tausende afrikanische
Einwanderinnen in Spanien zur Prostitution gezwungen. Wie die
skrupellose Menschen-Mafia vorgeht, enthüllt ein Bericht der
spanischen Kriminalpolizei. Den Beamten war es gelungen, eine Bande zu
überführen, die Immigrantinnen aus Nigeria auf den
Urlaubsinseln Gran Canaria und Mallorca in Bordellen gnadenlos
ausbeutete. Die Frauen wurden wie Sex-Sklavinnen gehalten.
Falsche Versprechen
Die Prostitutionsmafia sucht sich ihre Opfer oft schon in den
Heimatländern aus: Im konkreten Fall wurden in Nigeria
hübsche junge Frauen aus einfachen Verhältnissen mit dem
falschen Versprechen angeworben, ihnen "ein neues Leben in Europa" zu
ermöglichen. "Beschützt" von Helfern der Mafia, die angeblich
den Interessentinnen auch Arbeit auf dem europäischen Kontinent
suchen wollten. Damit die Migrationswilligen Geld verdienen und ihre
Familien in der Heimat unterstützen könnten. Von Prostitution
war natürlich zunächst nicht die Rede.
Gefährliche Bootsüberfahrt
Für die Reise hatte die Bande zwei Routen: Entweder ging es
mit falschen Einreisepapieren per Flugzeug nach Europa. Oder von der
marokkanischen Küste aus mit kleinen motorisierten Booten
übers Mittelmeer nach Südspanien. Vor der illegalen und
lebensgefährlichen Bootsreise wurden die Nigerianerinnen in
Marokko von ihren "Beschützern" immer wieder vergewaltigt - "bis
sie schwanger waren", berichtet die Kripo. Weil schwangere illegale
Migrantinnen von den spanischen Behörden nicht abgeschoben werden.
Nach Geburt Babys geraubt
Einmal in Spanien angekommen, wurden die Frauen auf den Kanaren
und den Balearischen Inseln auf den Strich geschickt. Den Schwangeren
raubte man nach der Geburt die Babys, die als Faustpfand in der Hand
der Mafia blieben und von Handlangerinnen der Bande aufgezogen wurden.
Die Frauen selbst mussten "täglich bis zur Erschöpfung ihren
Körper verkaufen", um ihre "Schulden" bei den
Menschenhändlern zu bezahlen. "Die Frauen lebten", so die
Ermittler, "in völliger Gefangenschaft."
Städte verbieten Prostitution
In diesem Fall stammten die Opfer wie die Täter aus Nigeria.
Neben Afrikanerinnen werden aber auch viele Frauen aus Lateinamerika,
besonders Brasilien, und aus Rumänien mit Lügen über ein
besseres Leben nach Europa gelockt. Die meisten der geschätzten
300 000 Prostituierten, die sich in Bordellen oder auf dem
Strassenstrich in Barcelona, Bilbao, Madrid, Sevilla, Valencia und auf
den Ferieninseln anbieten, sind Immigrantinnen.
Immer mehr spanische Städte versuchen nun mit Verboten die
sich vielerorts ausbreitende Strassenprostitution aus den
Innenstädten und Wohnvierteln zu verdrängen. In der
südspanischen Stadt Sevilla müssen die Kunden der
Strassendirnen neuerdings mit hohen Strafen rechnen: Bis zu 3000 Euro
knöpft die Polizei künftig jenen "Freiern" ab, die im
öffentlichen Strassenraum erwischt werden.
---
20 Minuten 28.2.11
Tribschen: Immobilienfirma ruft zum Mieterprotest auf
LUZERN. Der Streit um die Prostituierten im Tribschenquartier
geht weiter: Jetzt hat eine Immobilienfirma ihre Mieter zum
schriftlichen Protest aufgerufen.
Das Tribschenquartier kommt nicht zur Ruhe. Nachdem eine
Anwohnerin die Prostituierten wegen Lärmbelästigung angezeigt
hat (20 Minuten berichtete), wird nun eine Immobilienfirma aktiv: Sie
hat ihren Mietern einen Brief geschickt, um Unterschriften zu sammeln,
die anschliessend der Stadt zugestellt werden. Gefordert wird darin die
Sperrung der Keller- und der Unterlachenstrasse sowie des Grimselwegs
für den nächtlichen Suchverkehr. "Wir mussten etwas
unternehmen, nachdem sich mehrere Mieter beschwerten, dass sie von
Freiern und Prostituierten belästigt wurden", hiess es auf Anfrage
bei der betroffenen Immobilienfirma. Diese vermietet im
Tribschenquartier 64 Wohnungen - bereits 30 Mieter hätten die
Forderung unterschrieben.
Doch nicht alle Mieter begrüssen die Aufforderung der
Hausverwaltung. "Ich befürchte, dass die Mietpreise steigen
werden, wenn der Strassenstrich vertrieben wird", sagt einer von ihnen.
Ein anderer meint, er habe inzwischen "gelernt, die Anmache zu
ignorieren".
Bei der Stadt will man sich zu der neuen Forderung nicht
äussern. "Zu diesem Thema sind noch politische Vorstösse
hängig. Bevor diese beantwortet sind, werden wir keine Auskunft
geben", so Daniel Deicher, Stabschef der Sicherheitsdirektion.
Lena Berger
---
Blick am Abend 23.2.11
LUZERN/ZUG
Der vergessene Strassenstrich
DROGEN
Der Tribschen-Strich erhitzt die Gemüter. Doch beim
Kreuzstutz ist das Elend grösser.
stefan.daehler@ringier.ch
Der Strassenstrich beim Tribschen-Quartier ist in aller Munde.
Bereits wurden politische Vorstösse lanciert. Dabei geht
vergessen, dass beim Kreuzstutz-Kreisel im BaBeL-Quartier ein weiterer
Strassenstrich existiert, wo die Situation teilweise gar schlimmer ist
als im Tribschen.
Die Prostituierten beim Kreuzstutz-Kreisel sind
offdrogenabhängig. Der Sex findet meistens im Freien statt, um
Geld für ein Zimmer einzusparen. Warum ist dieser Strich kein
Thema? René Fuhrimann vom Verein BaBeL sagt dazu: "Unser
Quartier hat keine Lobby. Hier leben keine einfl ussreichen Leute." Es
gäbe aber auch andere Gründe für die geringere
Aufmerksamkeit. Die Prostituierten seien weniger zahlreich und auch
weniger aufdringlich als im Tribschen-Quartier.
Doch auch das BaBeLQuartier leidet unter dem Strassenstrich:
"Manchmal werde ich von Freiern angesprochen, wenn ich auf den Bus
warte", sagt eine Anwohnerin. Warum wehren sich die Anwohner nicht wie
im Tribschenquartier? Laut Fuhrimann liegt das an der sozialen
Zusammensetzung: "Hier wohnen viele Ausländer, die nicht wissen,
wie man sich Gehör verschafft."
Also setzt sich der Verein BaBeL für die Anwohner ein. Ziel
ist es, bis im Sommer eine Lösung zu finden - dann ist die
Situation am schlimmsten. Deshalb begrüsst Fuhrimann auch die
Diskussion über den Strassenstrich im Tribschen-Quartier: "Es ist
gut, wenn das Problem der Prostitution in Wohnquartieren zur Sprache
kommt. Der politische Druck hilft auch uns."
---
Solothurner Zeitung 22.2.11
Bordell vor den Schulhaustüren
Breitenbach Fahrlehrer Peter Fricker will gegenüber der
Oberstufen-Schule Grien in Breitenbach ein Bordell mit
osteuropäischen Prostituierten eröffnen. Dies stösst bei
Schulleitung und Gemeinde auf heftige Gegenwehr. Peter Fricker ist seit
14 Jahren Fahrlehrer. Nun will sich der 62-Jährige neu orientieren
und sein Theorielokal am Rande der 3500-Seelen-Gemeinde für rund
0,5 Mio. Franken in einen Nachtklub umbauen.
Acht Prostituierte aus Osteuropa sollen künftig in Frickers
Bordell arbeiten. "Die geistige Elite aus dem Ostblock", wie Fricker
sie gegenüber Tele M1 bezeichnet. Der dreifache Vater habe sich
schon immer fürs Sexgewerbe interessiert.
Das "Tropicana" liegt direkt gegenüber dem
Oberstufen-Schulhaus Grien. Laut Fricker sei dies kein Problem, denn
"ein Nachtklub ist ein Nachtklub, und kein Tagklub". Die beiden
Betriebe würden sich gegenseitig nicht in die Quere kommen. Um 20
Uhr sei die Schule längst geschlossen. "Und die Mädchen
rennen ja nicht nackt im Garten rum", sagte Fricker zu "Blick".
Schule und Gemeinde opponieren
Schulleiter Markus Meyer sieht dieses Argument zwar ein, will das
Puff dennoch nicht tolerieren. "Schüler und das Umfeld wissen, was
da passiert", sagt er gegenüber Tele M1. "Das macht uns schon
Sorgen."
Nicht nur der Schulleiter ärgert sich über Frickers
Pläne. Sowohl Schule als auch die Gemeinde haben Einsprachen gegen
das Projekt eingereicht. Auch die Eltern sehen Rot: Sie wollen eine
Interessen-Gemeinschaft bilden und Unterschriften gegen Frickers
Vorhaben sammeln.
Da es sich um ein laufendes Verfahren handle, wolle die
Baukommission keine Stellung zum Vorhaben nehmen, teilt dessen
Präsident Fredy Cuennet-Dreier mit. (lds)
---
NLZ 19.2.11
Bordellgesetz: Entscheid vertagt
Prostitution
Luzia Mattmann
Der Kanton Luzern entscheidet nicht in diesen Tagen, sondern erst
nach den Fasnachtsferien, ob er die Prostitution künftig in einem
speziellen Gesetz regeln will oder nicht. "Wir werden uns unter anderem
nächste Woche mit Vertretern der Stadt treffen, um die Sache zu
besprechen", sagt Madeleine Meier vom Justiz- und
Sicherheitsdepartement auf Anfrage.
Dabei soll es unter anderem um die Bewilligungspflicht von Salons
und Studios gehen, aber auch darum, welche Massnahmen ohne ein
spezielles Bordellgesetz umgesetzt werden können. "Hier denken wir
vor allem an die Gesundheitsförderung und die Sozialversicherung
der Prostituierten, die ja in 90 Prozent der Fälle nicht im Kanton
Luzern wohnen."
Strassenstrich: Gemeindesache
Wie steht es um die in den letzten Tagen in der Stadt Luzern
wieder aufgeflammte Diskussion um den Strassenstrich im
Tribschenquartier? Diese Art der Prostitution sei primär Sache der
Gemeinden und werde in einem allfälligen Gesetz wohl eher nicht
geregelt. Madeleine Meier wendet auch ein, dass die
Strassenprostitution im Vergleich zu Salons, Sex- oder Saunaclubs
relativ klein ist. "Wir gehen von rund einem Dutzend
Strassenprostituierten und etwa 380 Prostituierten in Etablissements
aus", sagt sie. Ausserdem habe die Strassenprostitution in den letzten
Jahren eher abgenommen - Kontaktbars seien grösstenteils an ihre
Stelle getreten. Von den geschätzten 15 Kontaktbars befinden sich
10 in der Stadt und Agglomeration.
In den letzten Tagen sind zum Thema Strassenstrich im Grossen
Stadtrat Luzern zwei Vorstösse eingegangen: Die FDP will vom
Stadtrat Antworten zum Problem, die CVP fordert, dass das Einrichten
spezieller Zonen geprüft wird, in denen Strassenprostitution
verboten werden kann.
Luzia Mattmann
luzia.mattmann@luzernerzeitung.ch
---
Thurgauer Zeitung 19.2.11
Freier sollen bestraft werden
Es sei wichtig, minderjährige Mädchen zu schützen
und von der Prostitution fernzuhalten, meint der Regierungsrat. Die
Forderung nach einem kantonalen Verbot lehnt er freilich ab.
Marc Haltiner
frauenfeld. In Italien muss sich Ministerpräsident Silvio
Berlusconi vor Gericht verantworten, weil er angeblich Sex mit der
minderjährigen Ruby hatte. Aber auch in der Schweiz sei die
Prostitution von Mädchen unter 18 Jahren ein gravierendes Problem,
sagt EVP-Kantonsrätin Regula Streckeisen. Sie reichte deshalb im
März letzten Jahres mit 64 Kantonsrätinnen und -räten
eine Motion ein. Der Regierungsrat müsse die Öffentlichkeit
und potenzielle Freier sensibilisieren, vor allem aber den Schutz der
Minderjährigen verbessern.
Mit dem Ende des Schutzalters
Streckeisen fordert, dass die Freier von minderjährigen
Prostituierten bestraft werden. Diese könnten sich über das
Alter der oder des Prostituierten informieren, zumal die 16- bis
18-Jährigen in der Schweiz nicht geschützt seien. Die
Prostitution sei nicht verboten und legal, sobald jemand mit 16 Jahren
das Ende des Schutzalters erreicht habe. Die Jugendlichen selber sollen
allerdings nicht kriminalisiert werden. Indirekt könne der Kanton
so aber ein Verbot der Teenie-Prostitution erreichen.
Mit den Aussagen Streckeisens zeigt sich der Regierungsrat
einverstanden, wie er in seiner gestern veröffentlichten Antwort
betont. Allerdings zeigt sich der Regierungsrat nicht bereit, die
Motion umzusetzen. Der Grosse Rat solle sie nicht erheblich
erklären. "Ein solches Vorgehen auf kantonaler Ebene erscheint
nicht notwendig."
Strafen sind die Voraussetzung
Grund für das Nein ist die Haltung des Bundesrates, die sich
geändert hat. Im Juni 2010 habe der Bundesrat das
Übereinkommen des Europarates zum Schutz von Kindern vor sexueller
Ausbeutung ratifiziert, und auch National- und Ständerat
dürften folgen, meint der Regierungsrat. Die Schweiz könne
der Konvention aber nur beitreten, wenn sie die Freier unter Strafe
stellt, welche die sexuellen Dienste von 16- bis 18-Jährigen gegen
Geld oder Vergünstigungen beanspruchen.
Mit einer einheitlichen schweizweiten Lösung könne der
Bund zudem verhindern, dass minderjährige Prostituierte in Kantone
ausweichen, die solche Strafen nicht kennen, so die Regierung. Die
Konvention sehe einen europaweiten, umfassenden Schutz der
ungestörten sexuellen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen
vor. Und die Kantone sollen verpflichtet werden, Freier und
Öffentlichkeit auf das Thema aufmerksam zu machen.
Regula Streckeisen ist mit der Antwort zufrieden, auch wenn der
Regierungsrat die Motion nicht annehmen will. "Die Ausgangslage hat
sich komplett geändert. Es ist sinnvoll, dass der Bund gegen
Teenie-Prostitution aktiv wird." Allerdings habe es den Druck von
Vorstössen in mehreren Kantonsparlamenten gebraucht, damit die
Schweiz endlich der Europaratskonvention beitrete. Streckeisen
schliesst nicht aus, dass sie die Motion im Grossen Rat
zurückziehen wird.
Wenige Fälle bekannt
Was das Ausmass der Kinderprostitution im Thurgau angeht, bleibt
der Regierungsrat vage. "Bis anhin scheint die Prostitution
Minderjähriger im ländlich geprägten Kanton Thurgau
zahlenmässig kein relevantes Problem zu sein." Der Kantonspolizei
seien seit 2002 lediglich zwei Fälle von Minderjährigen
bekannt, die sich prostituiert haben (siehe Kasten). Die Fachstellen in
Zürich hätten aber erklärt, dass sich die Dunkelziffer
im Thurgau nicht auf dem gleichen Niveau der Grossstädte bewege.
"Jeder Fall ist einer zu viel", entgegnet Streckeisen.
--
Opfer betreut
Die Kantonspolizei kontrolliert die etwa 60 Bordelle und Clubs im
Thurgau regelmässig, wie die Regierung betont. Bei den letzten
Razzien habe die Polizei total 268 Personen kontrolliert und dabei eine
16jährige Ungarin entdeckt, die als Prostituierte arbeitete. In
Absprache mit der Opferhilfe wurde das Mädchen von einer
Fachstelle in Zürich betreut. (hal)
---
tagesanzeiger.ch 18.2.11
Rekordzahl an Prostituierten stieg 2010 ins Rotlicht-Geschäft ein
20 Minuten / jcu
Zürich ist bei Prostitierten äusserst beliebt. 1050
Neueinsteigerinnen wurden letztes Jahr registriert - ein Drittel mehr
als im Jahr davor.
Die Anzahl an Neueinsteigerinnen im Prostitutionsgewerbe in der
Stadt Zürich ist im vergangenen Jahr erneut gestiegen. 1050
Neueinsteigerinnen zählte die Stadtpolizei im letzten Jahr. 2009
lag die entsprechende Zahl noch bei 795. Besonders auf Frauen aus
Osteuropa hat die Limmatstadt eine grosse Anziehungskraft. Die Anzahl
der sexgewerblichen Betriebe sank in der selben Zeit jedoch von 270 auf
252, wie die Stadtpolizei gegenüber Tagesanzeiger.ch sagte.
Mit 413 Personen bilden die Ungarinnen die grösste Gruppe,
gefolgt von den Rumäninnen (181). 51 stammen aus Polen und 48 aus
Bulgarien. Rolf Vieli, Leiter von "Langstrasse Plus", erklärte
gegenüber "20 Minuten": "Viele denken, hier sei das Paradies und
sie könnten schnell viel Geld verdienen."
Wieviele Prostituierte in Zürich insgesamt arbeiten kann die
Polizei nicht beziffern. Wie Reto Casanova, Sprecher des
Polizeidepartementes gegenüber der Gratiszeitung erklärt,
sollen die Massnahmen mit der neuen Prostitutionsverordnung und dem
Strichplan aber einen Rückgang erwirken. Die Polizei versuche
zudem den Hintermännern das Leben schwerzumachen, damit
Prostituierte gar nicht erst nach Zürich kommen.
---
20 Minuten 18.2.11
1050 Frauen stiegen 2010 in Zürich in Prostitution ein
ZÜRICH. Die Stadt Zürich wird von Prostituierten
überschwemmt: 1050 Neueinsteigerinnen wurden letztes Jahr
registriert - das ist ein Drittel mehr als noch ein Jahr zuvor.
Die Anziehungskraft von Zürich ist für Prostituierte
aus Osteuropa im letzten Jahr noch grösser geworden: "Viele
denken, hier sei das Paradies und sie könnten schnell viel Geld
verdienen. Das muss sich ändern", sagt Rolf Vieli, Leiter von
Langstrasse Plus. Den Anstieg beweisen auch die neusten Zahlen: 1050
Neueinsteigerinnen zählte die Polizei im vergangenen Jahr. 2009
waren es noch 795 Neueinsteigerinnen gewesen. Bereits damals sprach
Vieli von einem "Rekord". Nun ist die Anzahl erneut um einen Drittel
gestiegen - noch mehr Prostituierte stammen dabei aus Osteuropa: 413
Frauen kommen aus Ungarn, 181 aus Rumänien, 51 aus Polen und 48
aus Bulgarien. Wie viele Prostituierte insgesamt in Zürich
arbeiten, kann die Polizei nicht beziffern: "Sie müssen sich nicht
ab- oder anmelden. Einige bleiben lange, andere gehen nach ein paar
Wochen wieder. Die Dunkelziffer ist sehr hoch", sagt
Stadtpolizei-Sprecherin Judith Hödl.
Reto Casanova, Sprecher des Polizeidepartements, sagt: "Die
Massnahmen mit der neuen Prostitutionsverordnung und dem Strichplan
sollten nun einen Rückgang erwirken." Zudem versuche die Polizei,
den Hintermännern das Leben schwerzumachen, damit sie gar nicht
erst nach Zürich kommen. Während die Zahl der Prostituierten
stieg, sank jene der Bordellbetriebe in der Stadt von 270 auf 252.
Vieli: "Zwar gibt es weniger Betriebe, dafür aber mehr Frauen, die
dort arbeiten."
David Torcasso
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Landbote 18.2.11
Immer mehr neue Prostituierte
Thomas Schraner
zürich. Die Zahl der Neueinsteigerinnen ins
Prostitutionsgewerbe ist in der Stadt Zürich erneut gestiegen:
1050 Neueinsteigerinnen hat die Stadtpolizei gezählt, wie
Sprecherin Judith Hödel gestern mitteilte. Vor einem Jahr lag die
entsprechende Zahl bei 795 Personen. Wie in den Vorjahren stammen die
neuen Prostituierten grösstenteils vom Balkan. Mit 413 Personen
bilden die Ungarinnen die grösste Gruppe, gefolgt von den
Rumäninnen (181), den Bulgarinnen (48) und den Polinnen (51). Im
Vergleich zum Vorjahr hat sich die Zahl der Rumäninnen
vervierfacht. Auch aus Ungarn kamen wiederum mehr Frauen als im Jahr
zuvor, darunter viele Roma. Die Gesamtzahl der Prostituierten in
Zürich kennt die Polizei nicht.
Rückläufig ist laut Hödel die Zahl der
Sexetablissements in Zürich. Das sind laut Polizei Bordelle,
Sexkinos und Sexshops. 252 lautet hier die neueste Zahl (Vorjahr 270).
(tsc)
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TRANSSEXUALITÄT
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Schweiz Aktuell sf.tv 28.2.11
Vom Chef zur Chefin
Andreas Meier, der Direktor des Hotels Schwefelbergbad im Berner
Gantrischgebiet, tritt seit Kurzem als Frau auf. Mit seinem Coming-Out
als Transsexueller überraschte er seine Lebenspartnerin, seine
Eltern und die ganze Hotelbelegschaft gleichermassen.
http://videoportal.sf.tv/video?id=76d342e0-fa94-49df-b24c-14a9aa4701e7
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BZ 28.2.11
"Adieu Herr Meier - grüessech Frau Meier"
Coming-out als TranssexuelleSeit Anfang Jahr ist Claudia Meier
Direktorin des Viersternhotels Schwefelbergbad. Das heisst: eigentlich
führt sie es schon seit 10 Jahren - seit sie das Hotel von den
Eltern übernommen hat. Nur hiess sie bisher Andreas Meier und war
ein Mann. Nun aber lebt sie als Frau.
1 Meter 78, dank den hohen Absätzen noch grösser,
schlank, schwarzes Deuxpièces, roter Lippenstift, beim Reden
streicht sie sich die blonden Haare aus der Stirn: Das ist Claudia
Sabine Meier, 42, Direktorin des traditionsreichen Viersternhotels
Schwefelbergbad im Gantrischgebiet.
Kräftiger Händedruck, tiefe, männliche Stimme.
Wenn sie von Gästen erzählt, die sie nach einem "Adieu Herr
Meier" am Telefon später im Hotel dann verblüfft mit
"Grüessech Frau Meier" begrüssen, lacht sie: Auch das ist
Claudia Sabine Meier.
Obwohl die Perücke juckt, wäre Kratzen nicht erlaubt,
weil diese sonst verrutscht. Den Kaffee trinkt sie mit Röhrli,
damit der Lippenstift für die Fotos nicht verschmiert. Und sie
rasiert sich mehrmals täglich, bis die Laserrasur den Bartwuchs
endgültig hemmen wird. Claudia Sabine Meier war noch bis vor
wenigen Wochen Andreas Heribert Meier. Nach "30 Jahren Lügen und
Pokerface" hat sie ihr Coming-out als Transsexuelle und feiert seither
"täglich Weihnachten und Geburtstag gleichzeitig". Viele
Reaktionen habe sie erhalten, "bisher nur positive". Es gab auch
Personen, die Mitleid ausdrückten, dass sie sich so lange habe
verstecken müssen. Für Claudia Meier ist das falsch. "Mitleid
will ich nicht. Ich darf endlich als Frau leben, das zählt."
Bei der Réception liegen Flyer, auf denen steht, wer
Claudia Sabine Meier ist und wer sie war. Sie geht sehr offen mit ihrer
Transsexualität um, beantwortet gerne Fragen. So könne man
dem "Gschnur" am besten begegnen. Sie will ihre Geschichte
erzählen, denn jetzt sei "die Kokosnuss geknackt". Sie wolle
zeigen, wie befreiend es sei, im "richtigen" Geschlecht leben und den
Druck des Versteckens ablegen zu können.
30 Jahre Versteckspiel
Andreas Meier war noch im Vorschulalter, als er an einer
1.-August-Feier im Schwefelbergbad eine Erfahrung machte, die er nicht
vergessen konnte. Seine Schwester trug ein Flamencokleid, er einen
Cowboyanzug. "Ich beneidete sie unglaublich, konnte dieses Gefühl
aber nicht einordnen." Während der ganzen Schulzeit war der
damalige Andreas jener, der am Rand des Spielfelds stand und
gehänselt wurde. In der Pubertät war er ein kompletter
Einzelgänger. Dazu kam das Übergewicht. Noch vor 7 Jahren wog
Andreas Meier 155 Kilo. Heute sind es 70. "85 Kilo Andreas sind
weggeschmolzen", erzählt sie lachend.
30 Jahre lang versteckte er Claudia, wie er "das Weib ihn mir"
nach seinem Chatnamen taufte. Und er log sein Umfeld an. Im Internet
bestellte er Frauenkleider für die fiktive Mitarbeiterin Claudia
Mantel, "damit niemand die Päckli versehentlich öffnete".
Spät abends oder früh morgens schlich er als Andreas mit
einem Koffer aus dem Hotel, um sich als Claudia mit Gleichgesinnten zu
treffen.
Vor einigen Jahren reiste er alleine als Claudia in die Ferien
nach Spanien. "Ich wollte herausfinden, ob ich eine Frau sein oder
einfach Frauenkleider tragen will." Sie stellte fest: "Es ging mir um
mehr als um die Kleider."
Seit einiger Zeit schon geht sie zu einer Psychotherapeutin. Bis
im Herbst wusste niemand ausser ihr von Claudia. Die Partnerin auch
nicht. "Es war schwierig, zu lügen, und belastete mich enorm, aber
es ging nicht anders."
Das "Experiment Claudia 14"
Letzten Herbst begann das "Experiment Claudia 14". Weil er,
ausgelöst auch durch die Sitzungen mit der Therapeutin,
gespürt habe, dass "etwas passieren" müsse. Erstmals lebte er
14 Tage durchgehend als Claudia in einem Hotel in der Schweiz. Nach der
ersten Woche schob die Psychotherapeutin kurzfristig einen Termin ein,
er erschien als Claudia. Sie begrüsste ihn mit "Frau Meier", ganz
selbstverständlich. "Ich merkte: Es funktioniert." Jetzt musste er
raus mit Claudia.
An einem Abend im November erklärte er sich in einem
Restaurant in Zürich seiner Partnerin, mit der er seit 8 Jahren
zusammen ist. "Ich hätte Verständnis für jede Reaktion
gehabt", sagt Claudia Meier heute. "Ich stahl ihr ja von einer Sekunde
zur anderen den Mann." Andreas druckste an jenem Abend erst herum, fand
die richtigen Worte nicht. Als er, der als Überbleibsel der Ferien
Ohrstecker trug, von der Toilette zurückkam, fragte die Partnerin:
"Willst du dich zur Frau umoperieren lassen? Ist es das?" Andreas
nickte nur. Dann brachen beide in Tränen aus.
"Das Ganze hat mich überrollt. Beim Tempo, das Claudia
angeschlagen hat, ist es nicht immer einfach mithalten", sagt die
Partnerin heute und lächelt, "so etwas braucht vor allem Zeit."
Noch am Abend des Coming-outs versprach sie, Claudia "zu begleiten".
Die beiden sind weiterhin ein Paar. Wenn sie zusammen shoppen oder im
Ausgang sind, werden sie als gute Freundinnen wahrgenommen.
Sich gegenüber den Eltern und der Schwester zu offenbaren,
fiel Claudia schwer. Sie stiess aber auf Verständnis. Heute komme
der Vater vorbei und erkundige sich nach "seinem Claudeli". An
Silvester informierte Claudia Meier das Hotelpersonal, dass es eine
neue Chefin gäbe, er aber trotzdem bleibe. Mit der Zeit verstanden
alle, was gemeint war.
Eine halbe Stunde braucht Claudia Meier heute fürs
Schminken. Sie bewegt sich wie eine Frau und nimmt immer mehr Züge
an, die man typischerweise einer Frau zuordnet. Sie könne nach wie
vor laut werden. "Nur gehe ich überlegter vor, subtiler, eher mit
Arsen und Spitzenhäubchen." Sie will eine elegante Frau sein,
keinesfalls billig. Dazu passt ihre Begeisterung für Schuhe, vor
allem für Stiefel.
Auf den hoteleigenen Skilift klettert sie weiterhin, um zu
kontrollieren, ob alles stimmt. Mit dem Traktor räumt sie Schnee
vom Parkplatz. "Erst dachte ich, das geht doch nicht als Claudia. Aber
natürlich geht das."
Kampf mit den Behörden
Als Andreas Meier setzte er sich vehement für die
Gantrischregion ein. Gleich engagiert kämpft Claudia Meier nun
für ihre Rechte als Transsexuelle. "Es belastet mich enorm, wenn
ich öffentlich unter falschem Namen auftreten muss." Auf Kunden-
und Bankkarten sowie auf dem Halbtax-Abo steht nach etlichen
Briefwechseln nun der neue Name. Stets hat sie ein Schreiben der
Psychotherapeutin dabei, das bestätigt, dass bei Andreas Heribert
Meier eine Mann-zu-Frau-Transsexualität diagnostiziert ist. Das
Erscheinungsbild stimme daher nicht mit dem Ausweisfoto überein.
Die Identitätskarte ist hingegen noch die alte: alter Name,
altes Bild. "Das beschert mir schlaflose Nächte", sagt Claudia
Meier. Bald muss sie Verträge für das Hotel unterzeichnen,
"das geht nicht als Andreas". Das Zürcher Institut für
klinische Sexologie & Sexualtherapie (ZISS) hat zuhanden des Berner
Bürgerrechtsdienst ein Schreiben verfasst. Darin steht, dass das
Erscheinungsbild von Claudia Meier als Frau derart überzeugend und
natürlich wirke, dass sie in einer männlichen Rolle
unglaubhaft wäre. Sie leide unter dem männlichen Vornamen.
Das Amt schrieb, dass es eine Bestätigung einer Hormonbehandlung
brauche. "Das lasse ich mir nicht vorschreiben, ich fühle mich
diskriminiert", sagt Meier. Das Gesuch ist zurzeit hängig.
Operation aufgeschoben
Claudia Meier ist gut gelaunt, geradezu euphorisch in diesen
Tagen. Sie schläft wenig, weil sie viel auf Trab hält und sie
bis früh morgens in ihrem Internetblog über das Leben als
Claudia schreibt. Sie sei trotz der psychischen Umstellung
"vollumfänglich orientiert und habe keinerlei
Auffälligkeiten", schreiben die Experten des ZISS.
Eine Hormonbehandlung ist in den nächsten Monaten geplant.
Eine geschlechtsangleichende Operation (Gaop) steht aktuell nicht zur
Diskussion, "aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben". Eine Gaop
würde zwei Monate Ausfall bedeuten. "Das kann ich mir im Hotel
nicht leisten." Zudem will sie ihrer Partnerin Zeit geben - um sich an
Claudia zu gewöhnen.
Text: Wolf Röcken
Bilder: Urs Baumann
"Schweiz aktuell" (SF 1) berichtet heute (19 Uhr) ebenfalls
über Claudia Meier.
--
Transsexualität
Transsexuelle sind biologisch klar männlich oder weiblich,
fühlen sich psychisch aber dem anderen Geschlecht zugehörig.
Einige wollen darum operativ ihr Geschlecht umwandeln. Bis letzten
September musste eine Person davor zwei Jahre psychiatrisch beobachtet
werden. Dann hob das Bundesgericht diese Zeitspanne als Pflicht auf.
Transsexualität gilt als Störung der
Geschlechtsidentität. Die Krankenkassen bezahlen für gewisse
Behandlungen.
Eindeutige Zahlen zu Transsexuellen in der Schweiz gibt es nicht.
Schätzungen gehen von 450 Personen aus. Zahlen aus dem Ausland
zeigen, dass es viel mehr sein dürften.wrs
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INTERSEXUALITÄT
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Südostschweiz 24.2.11
Ein Zwist um Zwitter-Operationen
Weder Bub noch Mädchen: Manche intersexuellen Kinder werden
nach der Geburt geschlechtsangleichend
operiert. Eine Gruppe von Betroffenen will dies verbieten.
Christian Kind, Chefarzt des Ostschweizer Kinderspitals, geht das zu
weit.
Von Jeanette Herzog
St. Gallen. - Daniela Truffer ist als Zwitter geboren. Und wurde
zum Mädchen gemacht. Ärzte entfernten ihr im Kindesalter
einen kleinen Penis und in der Bauchhöhle liegende Hoden. "Die
meisten intersexuellen Kinder werden genitalverstümmelt und
kastriert", sagt Truffer erbost über geschlechtsangleichende
Operationen.
Die 45-jährige Zürcherin kämpft mit weiteren
Betroffenen in der Menschenrechtsorganisation Zwischengeschlecht.org
für ein Verbot von nicht lebensnotwendigen, also kosmetischen
Genitaloperationen an intersexuellen Kindern. Die
geschlechtsangleichenden Operationen und deren Folgen traumatisieren
die Kinder laut Truffer und nehmen ihnen oftmals das sexuelle Empfinden.
Entscheidung ist zwingend
Auch im Ostschweizer Kinderspital in St. Gallen wird
eine kleine Anzahl intersexueller Kinder betreut. Für Chefarzt
Christian Kind gehen die Forderungen von Zwischengeschlecht.org zu
weit. Er ist gegen ein generelles Verbot von geschlechtsangleichenden
Operationen.
Unsere Gesellschaft kenne derzeit nur die zwei Geschlechter
männlich und weiblich, begründet Christian Kind das Dilemma
der Intersexualität. Deswegen muss auch innerhalb der ersten paar
Monate nach der Geburt der Entscheid gefällt werden, ob das Kind
männlich oder weiblich ist. Chirurgische Eingriffe würden
primär vorgenommen, wenn für das Kind eine Gefährdung
besteht und nicht, um das Geschlecht anzugleichen, sagt Kind.
Dennoch würden sich Eltern gemeinsam mit Ärzten in
seltenen Einzelfällen dafür entscheiden, auch nicht
lebensnotwendige geschlechts-angleichende Operationen vorzunehmen. "Ein
Kind beginnt sich mit zwei Jahren zu fragen, ob es nun Mutter oder
Vater gleicht", erklärt Christian Kind. Wenn sein familiäres
Umfeld mit den uneindeutigen Geschlechtsorganen nicht umgehen kann,
werde das Anderssein für das Kind sehr traumatisierend.
Trauma verhindern
Daniela Truffer ist überzeugt, dass Anderssein weniger
schlimm ist, als operiert zu werden. "Erhalten die Eltern
psychologische Unterstützung und wird das Umfeld des Kindes
aufgeklärt, kann es unbekümmert aufwachsen." Dies sei nicht
immer einfach, aber Genitaloperationen und die nachfolgenden
Behandlungen ermöglichten kein unbeschwertes Kindsein. "Ich kenne
keinen operierten Zwitter, der glücklich ist. Wir sind alle
psychisch und physisch versehrt." Truffer selbst hat über Jahre
psychologische Betreuung in Anspruch genommen. Sie wünscht sich,
sie wäre damals nicht operiert worden.
Daniela Truffer und Zwischengeschlecht.org klagen die Ärzte
des Ostschweizer Kinderspitals an, die Eltern zum Teil massiv unter
Druck zu setzen. "Die Ärzte wollen die Kinder operieren", sagt
Truffer.
"Wir drängen niemanden"
Der Chefarzt weist dies vehement zurück: "Wir drängen
niemanden zu einem Eingriff." Im Ostschweizer Kinderspital wird bei der
Behandlung eines intersexuellen Kindes ein multiprofessionelles
Betreuungsteam beigezogen. Chromosomen, Hormone und Geschlechtsorgane
werden überprüft, um allenfalls ein eindeutiges Geschlecht
ausmachen zu können. Ist dies nicht möglich, beraten die
Eltern mit dem Betreuungsteam, das aus Hormonspezialisten,
Gynäkologen und Psychologen besteht, was das Beste für das
Kind sein könnte. Die Entscheidung schliesslich ist eine
gemeinsame, denn die Eltern müssen für eine Behandlung ihr
Einverständnis geben, können aber gleichzeitig keinen
Eingriff verlangen, den die Ärzte ablehnen. Ob bei einem Kind eine
geschlechtsangleichende Operation vorgenommen wird, hat laut Christian
Kind zum Grossteil mit den Eltern zu tun: "Wenn die Eltern ein
intersexuelles Kind nicht annehmen können, dann kann es für
das Wohl des Kindes besser sein, zu operieren."
Daniela Truffer ist da anderer Meinung. "Die Unversehrtheit des
Kindes muss oberste Priorität haben. Schreit ein Kind für den
Geschmack der Eltern zu laut, entfernt man auch nicht seine
Stimmbänder."
Christian Kind sieht das pragmatisch: "Es ist mir lieber, wir
behandeln die Kinder hier, als dass die Eltern in den Osten fahren und
die Operationen dort vornehmen lassen." Betroffene Patienten - ob
operiert oder nicht - würden über Jahre hinweg begleitet. In
der Vergangenheit habe es bestimmt traumatisierende Eingriffe gegeben.
Heute aber gehe man viel sensibler mit dem Thema Intersexualität
um, sagt Kind.
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SQUAT ZH
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Tagesanzeiger 19.2.11
"Ich bin kein Immobilienhai und keine Spekulantin"
Die Architektin Vera Gloor saniert in Zürich Wohnungen. Man
hält ihr vor, an der Mietzinsspirale zu drehen. Sie sagt, sie tue
Gutes.
Mit Vera Gloor sprachen Dario Venutti und Beat Metzler
Die Zürcher Kreise 4 und 5 werden buchstäblich
umgebaut. Alte Gebäude werden saniert oder ganz abgerissen und
neue Wohnungen für Gutbetuchte hingestellt. Was die
Befürworter dieser Entwicklung Aufwertung nennen, bezeichnen
Kritiker als soziale Säuberung: Die Gentrifizierung in den Kreisen
4 und 5 treibe die Mieten in für alteingesessene und
einkommensschwache Menschen unerschwingliche Höhen und zwinge sie
zum Wegzug.
Die Architektin Vera Gloor ist an diesem Prozess beteiligt. Weil
sie auf dem Areal des Tessinerkellers an der Neufrankengasse und in
Gebäuden an der Langstrasse symbolträchtige Liegenschaften
saniert oder neue baut, richtet sich die Kritik gegenwärtig vor
allem gegen sie.
Der Tessinerkeller wurde in dieser Woche abgerissen. Zwei Jahre
lang werden die SBB das Areal als Baustellenzufahrt für ihr
Luxuswohnbauprojekt an den Geleisen nutzen. Dann will Vera Gloor dort
einen Wohnblock bauen.
Sie sind in bescheidenen Verhältnissen in einem Wohnblock in
Zollikerberg aufgewachsen. Hätten sich Ihre Eltern eine Wohnung
leisten können, wie Sie sie heute bauen?
Ich wuchs in einer vierköpfigen Familie auf, die 1300
Franken für eine 4-Zimmer-Wohnung zahlte. Das war in den
60er-Jahren. Ich denke, meine Eltern hätten sich das leisten
können. Aber sie hätten nicht im Stadtzentrum leben wollen.
Auch einen Mietzins gegen 3000 Franken? So viel wird bei Ihnen
eine 108 Quadratmeter grosse Wohnung an der Langstrasse kosten.
Sagen wir einmal: das Doppelte von damals. Das wären dann
2600 Franken. Aber nochmals: Meine Wohnungen sprechen nicht ein Profil
von Menschen an, das gar nicht im Stadtzentrum wohnen will.
Sie betonen stets, Altes erhalten zu wollen, um den
Aufwertungsdruck in den Kreisen 4 und 5 zu dämpfen. Trotzdem wurde
diese Woche der Tessinerkeller abgerissen. Das ist ein Widerspruch.
Der Tessinerkeller musste sowieso eines Tages abgerissen werden.
Vor zwei Jahren hat das Stimmvolk entschieden, die Baulinie an der
Neufrankengasse zu verschieben. Weil in naher Zukunft dort Busse
durchfahren werden, gibt es keinen Platz mehr für das Restaurant.
Wir hätten den Tessinerkeller sehr gerne noch einige Zeit stehen
lassen. Das aber hätte vorausgesetzt, dass wir eine sinnvolle
Zwischennutzung gefunden hätten, bis wir unser Projekt bauen
können. Der bisherige Wirt wollte nicht weitermachen. Eine andere
Nutzung liess sich nicht realisieren, also haben wir entschieden, das
Objekt abzureissen und den SBB eine Baustellenzufahrt für die
Überbauung Urbanhome zur Verfügung zu stellen.
Kritiker werfen Ihnen vor, das Gebäude auf Vorrat abgerissen
zu haben.
Die Realität ist eine andere. In dieser Liegenschaft steckt
Geld drin. Die Eigentümer haben nicht die finanziellen
Möglichkeiten, das Objekt beispielsweise einem coolen
Kulturprojekt zur Verfügung stellen zu können. Sie
würden das selbstverständlich gerne machen, doch die
Minimalkosten müssten gedeckt sein. Schliesslich haben sie
Bankzinsen zu bezahlen.
Sie sind Architektin und gewissermassen die Sprecherin der
Eigentümer. Wem gehört die Liegenschaft?
Es handelt sich um drei Privatpersonen aus Zürich, die ich
persönlich kenne.
Wie heissen sie?
Ich weiss nicht, ob es nötig ist, ihre Namen zu nennen.
Uns würde es interessieren.
Ich mache keine Geheimnisse. Und ich bin klar für
Transparenz und Offenheit. In diesem Fall möchte ich Diskretion
wahren. Aus der Sicht der Eigentümer sind ihre Namen, der
Kaufpreis der Liegenschaft und der Mietzins, den die SBB für die
Baustellenzufahrt zahlen, nicht relevant.
Sie versprechen, auf dem Areal des Tessinerkellers und in andern
Gebäuden im Kreis 4 Wohnungen zu bauen, die bezahlbar sind. Was
heisst das?
Unsere Projekte sind wichtig für den Kreis 4. Leute, die
nicht viel Geld verdienen, sollen die Möglichkeit haben, dort zu
wohnen. Die Lebensqualität des Quartiers besteht gerade darin,
dass dort verschiedene Leute leben. Sie unterscheiden sich in Bezug auf
ihr Alter, ihre Kultur und ihr Einkommen. Das muss weiterhin
möglich sein. Diese Durchmischung ist für mich der Inbegriff
von Urbanität. Diese macht für mich den Reiz Zürichs aus.
Sie bauen also Wohnungen, die sich sowohl der Topbanker wie auch
die Migros-Kassierin leisten können?
Es existieren bereits genügend andere Wohnbauprojekte, die
Topbanker ansprechen. Also muss ich sie nicht unterstützen, damit
sie eine Wohnung finden. Dann gibt es spannende
Genossenschaftsprojekte, welche die Wohnbedürfnisse etwa einer
Migros-Kassierin erfüllen. Wir hingegen wollen Wohnungen für
jüngere und ältere Menschen bauen, die nach neuen, kreativen
Wohnformen, etwa nach einer Alterswohngemeinschaft, suchen. Hätte
ich selber keine Familie und keine Kinder, würde ich sofort in
eine solche Wohnung einziehen.
Das heisst also, dass eine Familie sich keine Wohnung leisten
kann, die Sie bauen.
Das würde ich so nicht sagen. Unsere Wohnungen zielen
einfach nicht auf Familien ab. Wir bauen aber auch nicht für
Doppelverdiener ohne Kinder, sondern für zeitgemässe
Wohngemeinschaften: In diesen sogenannten Clustern hat jeder sein
Zimmer und kann die gemeinsame Küche, das gemeinsame Bad und eine
gemeinsame Lounge benützen. Dort können fünf Personen
leben.
Werden wir konkret: Im Gebäude des früheren
St.-Paul-Cabarets, das Sie auch sanieren und umbauen, wird eine
108-Quadratmeter-Wohnung 2500 Franken kosten . . .
(unterbricht) Es werden 2800 oder 2900 Franken sein.
Geht man davon aus, dass die Miete nicht mehr als ein Drittel des
Lohnes ausmachen soll, muss jemand fast 9000 Franken verdienen, um sich
eine solche Wohnung leisten zu können.
Mir ist klar, dass ein Doppelverdienerpaar das problemlos kann.
Aber auch eine vierköpfige WG: Dann zahlt jeder 750 Franken.
Nochmals: Eine vierköpfige Familie kann sich Ihre Wohnung
nicht leisten.
In einem Neubauprojekt ist das tatsächlich unrealistisch.
Zum Glück gibt es ein anderes Finanzierungsmodell, das ich sehr
clever finde: Das ist die Genossenschaft. Würden auch wir
beispielsweise Vorzugszinsen erhalten, würden wir
selbstverständlich tiefere Mieten verlangen. Wir haben aber kein
Wohltätigkeitsgeld zur Verfügung. Und ich kann nicht zaubern.
Ich kann nur alles dafür tun, um sozialverträgliche Wohnungen
zu bauen.
Kennen Sie viele Leute, die in solchen Wohngemeinschaften leben
wollen?
Natürlich. Ich rede ja ständig mit Leuten über
ihre Wohnbedürfnisse und darüber, was sie zahlen können.
Sie reden davon, die soziale Durchmischung erhalten zu wollen.
Mit Mietzinsen von gegen 3000 Franken befördern Sie allerdings
eine soziale Säuberung: Solche Wohnungen können sich
Anwälte, Grafiker und Journalisten leisten, nicht Familien mit
Migrationshintergrund.
Der Immobilienmarkt wird ja nicht von mir gesteuert. Und ich bin
keine Spekulantin und kein Immobilienhai. Ich mache alles, um
günstig zu kaufen, günstig umzubauen und zu sanieren, damit
ein vernünftiger Mietzins resultiert. Und ich möchte
nachhaltig bauen, damit die Objekte nicht in 30 Jahren wieder
abgerissen werden müssen.
Woher wissen Sie eigentlich, wer im Kreis 4 wohnen will? Und wer
soll in Ihre Wohnungen einziehen?
Es gibt doch so viele junge Leute, die keine günstige
Wohnung im Kreis 4 finden. Auf uns rollt eine Welle von
Business-Appartements im Langstrassenquartier zu. Ich möchte dem
Gegensteuer geben und Wohnraum für andere schaffen, die sich keine
Luxuswohnung leisten können.
Wer soll Ihrer Meinung nach darüber entscheiden, ob jemand
in den Kreisen 4 und 5 wohnen darf? Allein der Markt?
Es braucht Unterstützungsgelder, damit der Markt nicht
entscheidet.
Auf wie viel Geld verzichten Sie mit Ihren Mieten?
Wir könnten sicher das Doppelte verlangen, weil der Markt im
Langstrassenquartier überhitzt ist. Das wollen wir aber nicht. Wir
sind zufrieden, wenn wir die Zinsen an die Banken zahlen und eine
Rendite von vier bis fünf Prozent erzielen können.
--
Vera Gloor
Über das Theater zur Architektur
Vera Gloor ist 1963 als Tochter einer Schwedin und eines
Norddeutschen geboren. Aufgewachsen ist sie in Zollikerberg, "aber
nicht im schönen Teil", wie sie sagt. Nach der Matura studierte
sie in Göteborg Theaterproduktion. Später schloss sie an der
ETH ein Architekturstudium ab, wo sie heute auch als Gastkritikern
auftritt. In ihrem Architekturbüro, das sie 1993 gründete,
beschäftigt sie rund 20 Angestellte. Gloor wohnt und arbeitet in
einer umgebauten Villa an der Krönleinstrasse am Zürichberg.
Sie ist mit dem Tierarzt Christoph Gloor verheiratet und hat vier
Kinder. Bei der Familie leben zudem mehrere Hunde und Katzen.(bat)
---
tagesanzeiger.ch 18.2.11
Der Abriss der "Räuberhöhle"
Tina Fassbind
Zwei Tage lang hat sich ein Abrissbagger durch das Gemäuer
des Tessinerkellers gefressen. Die Bilder vom Ende der historischen
Quartierbeiz im Kreis 4.
Seit Mittwoch stand der Neuhollandbagger 85 mit Verstellausleger
auf dem Areal an der Neufrankengasse 18 im Dauereinsatz. Stück
für Stück frass er sich mit gewaltiger Kraft durch den 146
Jahre alten Bau. Am Donnerstagabend schlug das letzte Stündchen
der ehemaligen "Räuberhöhle", wie das Restaurant
Tessinerkeller liebevoll genannt wurde. Von dem historischen
Gebäude ist ausser Schutt und Asche nichts mehr
übriggeblieben.
Sogar bei Hans-Ueli Kuster, Inhaber der Abrissfirma Kuster
Rückbau, kam Wehmut über das Ende der beliebten Quartierbeiz
auf. "Ich habe dort mit 14 Jahren zusammen mit meinem Vater mein erstes
Bier getrunken", erinnert er sich. "Aber man kann nicht zu sehr in
Nostalgie schwelgen. Das Haus war in einem sehr schlechten Zustand. Das
Gehölz war morsch und verfault, es musste eingerissen werden."
"Es war ein geordneter Rückbau"
Der Abriss ging ohne Probleme vonstatten. "Es war ein geordneter
Rückbau, bei dem Materialien wie zum Beispiel Holz, Metall und
elektrische Leitungen getrennt entsorgt werden", so Kuster. Bis Montag
werde das Areal nun noch planiert, dann übernehme ein Konsortium
der SBB die Leitung der Baustelle.
Die SBB benötigen die Parzelle als Bauplatz für ihr
eigenes Projekt an der Neufrankengasse. Bis 2012 soll dann anstelle des
Tessinerkellers ein Gebäude mit 28 Wohnungen entstehen.
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SQUAT GE
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Le Matin 25.2.11
Un article du "NewYork Times" Flingue Genève
Presse. Le quotidien new-yorkaisrevient sur le manque de lieux de
sortie à Genève. Le tourisme américain dans la
région mis à mal?
"Ces dernières années n'ont pas été
tendres avec la scène alternative genevoise", lance leNew York
Times, dans son édition de mardi. Portrait aussi inattendu que
peu reluisant de la vie nocturne du canton, en revenant sur les
débats qui ont récemment agité le bout du lac:
mise à mort des lieux de culture alternative et manque
généralisé de lieux de sortie pour les jeunes, le
quotidien assassine le canton. Insistant encore sur un récent
sondage commandité par la Ville, qui indique que 94% des jeunes
ne trouvent pas assez d'endroits où faire la fête,
l'article ne risque pas de donner envie aux jeunes Américains de
venir faire un tour du côté de Genève.
Genève tourisme s'étonne
"Nous reconnaissons devoir développer davantage le
tourisme de loisir et nous y employons actuellement", commente Bernard
Cazaban, responsable des relations publiques à Genève
Tourisme, quelque peu étonné par l'article incriminant sa
ville. L'homme ne se dit pourtant pas plus inquiété que
cela par la teneur du papier qu'il juge entre "juste et
démesuré". Il insiste de plus qu'en partenariat avec la
ville, son organisme travaille afin de pallier à cette tendance
d'appauvrissement des lieux de sorties.
"L'origine du malaise remonte à la fermeture de nombreux
squats entre 2007 et 2008", argumente leNew York Times. En
l'occurrence, la fermeture de Rhino ou de La Tour. Selon l'expert en
tourisme, le phénomène ne serait pas que genevois. Zurich
ou Berlin subiraient le même sort. En cause, "les politiques du
logement purement fondé sur la rentabilité portant
préjudice à l'existence de lieux alternatifs pour la vie
nocturne".
fêtards en danger
Soit. Mais, pour l'instant, ce n'est bien que Genève qui
se prend une claque. L'article allant même jusqu'à
mentionner Lausanne comme l'une des rares options de sortie pour les
pauvres Genevois éplorés.
Bernard Cazaban rappelle encore qu'en 2010 la part de touristes
nord américains a continué son évolution constante
atteignant près de 10% et brandit l'enquête internationale
Mercer 2010, qui plaçait Genève au 3e rang mondial en
matière de qualité de vie.
Il n'empêche que s'il fait bon vivre aux abords du jet
d'eau, quand il s'agit de faire la fête, c'est une autre paire de
manches. Et leNew York Timesde mentionner que l'Usine est aujourd'hui
la seule option genevoise de lieu de détente pour fêtards
en mal de culture alternative. Sachant que les partis de droite et
diverses associations des voisinages rêvent de la voir un jour
fermer ses portes, les jeunes Américains feraient bien de se
mettre à apprécier le cinéma suisse ou de se
découvrir vite fait une passion pour le lancer de drapeau.
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ASYL
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St. Galler Tagblatt 25.2.11
Gewalt im - Polizei muss öfters eingreifen
In Kreuzlingen soll es Übergriffe von Securitas-
Mitarbeitern gegen Asylbewerber gegeben haben. Die Polizei spricht auch
vom umgekehrten Fall.
Marina Winder
kreuzlingen. Die Kantonspolizei Thurgau rückt mehrmals im
Monat zum Empfangszentrum für Asylbewerber in Kreuzlingen aus.
Gemäss inoffiziellen Polizei-kreisen sind es sogar mehrere Male in
der Woche. Bei den Einsätzen geht es gemäss Mediensprecher
Daniel Meili meist um "Hilfestellungen vor Ort, beispielsweise wenn
Streitigkeiten eskalieren".
Wie er schildert, kommen in den meisten Fällen die
Asylbewerber alkoholisiert aus dem Ausgang zurück und halten sich
dann nicht an die interne Hausordnung. "Dabei werden nicht selten
Tätlichkeiten gegenüber den Securitas-Mitarbeitern und
anderen anwesenden Asylbewerbern verübt", sagt Meili. Die Polizei
nehme die aufmüpfigen Bewerber in Gewahrsam und bringe sie
vorübergehend im Untersuchungsgefängnis unter.
Auch Amnesty International (ai) hat einen schlechten Eindruck vom
Empfangszentrum in Kreuzlingen. Immer wieder gehen bei der
Menschenrechtsorganisation Klagen wegen physischer und psychischer
Gewalt von Mitarbeitern der Securitas gegen Asylbewerber ein. Eine
ai-Mitarbeiterin spricht von einer "extremen Eskalation". Das Bundesamt
für Migration hat auf die Vorwürfe reagiert und Massnahmen
getroffen. Es korrigierte gestern aber seine ursprüngliche Aussage
und meinte, die Vorwürfe gegen die Securitas-Mitarbeiter
hätten sich nicht bestätigt. Trotzdem erhält ai von nun
an ungehinderten Zugang zu allen Empfangszentren. Zudem hat das
Bundesamt das Auswahlverfahren für Securitas-Mitarbeiter
verschärft. ostschweiz 33
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Kritik am Empfangszentrum
Gemäss Amnesty International läuft es im Empfangs- und
Verfahrenszentrum in Kreuzlingen wesentlich schlechter als an den
anderen Standorten in der Schweiz. Eine Mitarbeiterin spricht sogar von
einer "extremen Eskalation".
Marina Winder
kreuzlingen. Amnesty International (ai) konkretisierte gestern
die Vorwürfe gegen das Empfangs- und Verfahrenszentrum (EVZ)
für Asylbewerber in Kreuzlingen. Ihre Kritik richtet sich vor
allem gegen Mitarbeiter der Securitas. Die Firma erfüllt im EVZ im
Auftrag des Bundesamtes für Migration (BFM) Sicherheitsaufgaben.
Immer wieder seien bei der Menschenrechtsorganisation Klagen wegen
physischer und psychischer Übergriffe auf Asylbewerber
eingegangen. "Wir haben mit verschiedenen Menschen geredet. Ihre
Aussagen haben sich gedeckt, auch jene von Leuten, die sich gegenseitig
nicht kannten", sagt Denise Graf, Koordinatorin bei ai. Sie spricht von
einer "extremen Eskalation" im EVZ in Kreuzlingen Anfang Jahr.
Gemäss Graf wurden im Verlaufe des letzten Jahres mindestens
drei Securitas-Mitarbeiter von ihren Posten abgezogen. "Wir hätten
auch strafrechtlich gegen sie vorgehen können, haben das aber
unterlassen, weil solche Prozedere für die Betroffenen
zermürbend sind und sehr lange dauern", sagt Graf. Sie spricht aus
Erfahrung: Im Jahr 2005 wurde gegen einen Securitas-Mitarbeiter in
Kreuzlingen Klage erhoben. Erst 2008 wurde er in erster Instanz
verurteilt. "Dieses Mal wollten wir das anders lösen."
Versetzt, nicht entlassen
Gemäss Securitas sind in Kreuzlingen keine Mitarbeiter
entlassen worden. Näher auf die Vorfälle eingehen will die
Sicherheitsfirma nicht. Das BFM sprach am Mittwoch noch von personellen
Massnahmen, die wegen der Vorfälle in Kreuzlingen getroffen
wurden. Gestern krebste die Mediensprecherin aber zurück und
korrigierte ihre Aussage: "Fakt ist, dass wir die Vorwürfe von ai
gemeinsam mit Securitas eingehend untersucht haben. Die Vorwürfe
gegen die Securitas-Mitarbeiter haben sich aber nicht erhärtet."
Wie sie weiter sagt, seien zwei namentlich erwähnte Mitarbeitende
während der Dauer der Untersuchungen zwar in anderen Bereichen
eingesetzt worden. "Es sind aber aus diesen Abklärungen weder
Disziplinierungen noch Entlassungen erfolgt."
Die Organisation ai bleibt bei ihren Vorwürfen. Sie
bedauert, dass keine unabhängige Untersuchung geführt wurde.
"Es wäre wichtig gewesen, umfassende Befragungen zu machen."
Graf betont aber auch, dass die erwähnten Vorfälle nur
einzelne Securitas-Mitarbeiter betreffen. Ihre Intervention dürfe
nicht als genereller Vorwurf gegen alle Mitarbeitenden der
Sicherheitsfirma verstanden werden. "Wir sind uns durchaus bewusst,
dass diese Leute einen äusserst schwierigen Job zu erledigen
haben." Zu diesem Job gehöre es auch, dass die
Sicherheitsangestellten bei Auseinandersetzungen körperlich
eingreifen. "Um so wichtiger ist es, dass für diese Aufgabe
kompetente Leute eingesetzt werden, die alleine schon wegen ihrer
Persönlichkeit deeskalierend wirken", sagt Graf. Sie begrüsst
deshalb den Entscheid des BFM, dass die Mitarbeiter der Securitas, die
im EVZ eingesetzt werden, künftig auch ein
Einstellungsgespräch mit einem Mitarbeiter des BFM führen
müssen.
Ausbruch oder Ausflug?
Seit die Aufenthaltsdauer im EVZ verlängert wurde, habe sich
das Problem verschärft, sagt Denise Graf. Die Asylbewerber leben
während 90 Tagen auf engstem Raum, ohne Privatsphäre. Viele
von ihnen erhalten in dieser Zeit einen negativen Bescheid, der all
ihre Hoffnungen zunichte macht. "Die Eskalationen haben zugenommen."
Bezüglich eines Vorfalls im Januar gehen die Aussagen von ai
und dem Mediensprecher der Polizei aber weit auseinander. Während
die ai-Koordinatorin von einem "Ausbruch" von 20 Asylbewerbern spricht,
die es im Heim nicht mehr ausgehalten hätten, spricht der
Polizei-Mediensprecher von einem Ausflug von 20 Asylbewerbern, der ohne
weitere Zwischenfälle am Bahnhof in Kreuzlingen endete. Wieder
anders tönt es aus inoffiziellen Polizeikreisen: Dort wird der
Umgang mit den Asylbewerbern als extrem schwierig beschrieben. Sie
müssten mehrmals in der Woche ausrücken wegen
Sachbeschädigungen, Diebstählen, tätlichen
Auseinandersetzungen - oder um betrunkene Asylbewerber, die sich nicht
mehr an die Hausordnung halten, im Untersuchungsgefängnis
unterzubringen. Oft komme es zu Tätlichkeiten gegenüber
Securitas-Mitarbeitern und anderen Asylbewerbern. Letzteres
bestätigt auch der offizielle Mediensprecher der Kantonspolizei.
Schlimme Zustände im Thurgau
Denise Graf zeigt sich erfreut über das Zugeständnis
des Bundesamtes, wonach ai fortan ungehinderten Zugang zu allen
Empfangszentren in der Schweiz erhält. "So können wir uns
selber ein besseres Bild vor Ort machen." Ihre bisherigen Beobachtungen
hätten gezeigt, dass es an allen anderen Standorten besser
läuft als in Kreuzlingen. Sie will nun die Gründe dafür
herausfinden.
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20min.ch 24.2.11
Flüchtlingszentren: Securitas wird künftig stärker
überwacht
Mitarbeiter der Sicherheitsfirma sollen sich mit Tritten und
Beleidigungen an Flüchtlingen in Kreuzlingen vergangen haben. Das
Bundesamt für Migration hat nun Massnahmen ergriffen.
Lukas Mäder
Die Vorwürfe sind hart: Mehrere Securitas-Mitarbeiter sollen
im Flüchtlingszentrum Kreuzlingen Übergriffe gegen
Asylbewerber begangen haben. Schläge, Tritte sowie Beleidigungen
hätten sie ausgeteilt, so der Vorwurf von Amnesty International.
Nachdem das Bundesamt für Migration (BFM) die Vorwürfe
abgeklärt hat, sollen zwei Mitarbeiter entlassen worden sein,
schreibt die "Thurgauer Zeitung". Doch diese Informationen sind falsch.
"Die Vorwürfe in zwei konkreten Fällen gegen zwei Mitarbeiter
von uns haben sich nicht erhärtet", sagt der Kommunikationsleiter
von Securitas, Urs Stadler, zu 20 Minuten Online. Es habe weder
Disziplinarmassnahmen noch Entlassungen gegeben.
"Verfehlungen im von Amnesty geschilderten Ausmass konnten keine
festgestellt werden", schreibt auch das Bundesamt für Migration
(BFM) auf Anfrage von 20 Minuten Online. Die konkreten Vorwürfe
gegen zwei Securitas-Mitarbeitern hätten sich nicht erhärtet.
Stadler weiss nicht, ob die beiden Angestellten, die zwischenzeitlich
an anderen Orten eingesetzt wurden, bereits wieder in Kreuzlingen
arbeiten. Ebenfalls wisse er nicht, wie die konkreten Vorwürfe
gegen die Securitas-Mitarbeiter gelautet hätten. In weiteren
Fällen von pauschalen Vorwürfen hätte man
Präzisierungen verlangt, die noch nicht eingetroffen seien.
Keine Gespräche mit Securitas
Bei Amnesty lösen diese Aussagen Verwunderung aus. "Es gibt
mehr als zwei Fälle, bei denen Zeit und betroffene Person bekannt
sind", sagt Flüchtlingskoordinatorin Denise Graf zu 20 Minuten
Online. Von angeforderten Präzisierungen weiss sie nichts. Die
Securitas nimmt das Problem offenbar nicht besonders ernst, sagt Graf.
So habe die Firma bereits früher nicht reagiert, als Amnesty um
ein Gespräch gebeten hatte.
Die Menschenrechtsorganisation habe sich auch überlegt,
Strafanzeige gegen die betroffenen Securitas-Mitarbeiter einzureichen,
sagt Graf. "Wenn ich nun die jüngsten Aussagen der Securitas
höre, bereue ich, das nicht getan zu haben." Tatsächlich kam
es nach einem mutmasslichen Übergriff 2005 zu einem
Gerichtsverfahren. Der Sicherheitsmann wurde 2008 vom Bezirksgericht
wegen leichter Körperverletzung verurteilt, dann aber in zweiter
Instanz freigesprochen. In einem anderen Fall befand die Kreuzlinger
Staatsanwaltschaft, die Stiefelspuren auf dem Rücken eines
Asylbewerbers stammten zwar von einer Streitigkeit, bei der es aber
nicht zu strafbaren Handlungen gekommen sei.
Brief an Bundesamt für Migration
Im letzten Jahr hatte Amnesty von verschiedener Seite erneut
Hinweise auf Missstände in Kreuzlingen erhalten. Im November habe
ein erstes Gespräch mit dem BFM stattgefunden, sagt Graf. Als sich
die Situation bis Mitte Januar weiter zuspitzte, schrieb Amnesty einen
Brief an das BFM, in dem es eine Untersuchung und Sofortmassnahmen
verlangte. "Da das BFM unsere Vorwürfe ernst genommen und schnell
reagiert hat, haben wir die Öffentlichkeit nicht informiert", sagt
Graf.
Das BFM betrachtet die aktuellen Vorwürfe offenbar aber
trotz allem nicht als völlig haltlos. Darauf weisen Massnahmen
hin, die das Amt ergriffen hat. Ab sofort erhält Amnesty
ungehinderten Zugang zu den vier Flüchtlingszentren in der
Schweiz. Das ermögliche ihnen, bei Meldungen die Vorwürfe vor
Ort abzuklären beziehungsweise nachzustellen, sagt Graf. Als
zweite Massnahme will das BFM zweimal jährlich Treffen
organisieren, an denen Mitarbeiter der Flüchtlingszentren
sensibilisiert werden. Bereits seit dem 1. Januar hat das Amt das
Rekrutierungsverfahren für Securitas-Mitarbeiter geändert.
Neu kann das BFM bei der Auswahl mitreden. Zudem erhaltende die
Securitas-Angestellten eine weiterführende Ausbildung im Bereich
Migration. Graf von Amnesty ist erfreut, dass das BFM die Problematik
ernst nimmt: "Das ist eine gute Basis für eine konstruktive
Zusammenarbeit."
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Basler Zeitung 18.2.11
"Das Dublin-Verfahren zeigt Wirkung"
Wegen des Abkommens werden weniger Asylgesuche materiell
geprüft, sagt Rolf Rossi
Interview: Katrin Roth
Baselland verzeichnet einen sprunghaften Anstieg der Zahl von
Asylbewerbern mit einem Nichteintretensentscheid. Rolf Rossi
erklärt die Gründe für dieses Phänomen.
BaZ: In der Asylstatistik ist nachzulesen, dass die Zahl der
Nichteintretensentscheide bei Asylbewerbern im Baselbiet von 32 im Jahr
2008 auf 107 im Jahr 2010 angestiegen ist. Wieso?
Rolf Rossi: Diese Entwicklung ist auf das Dublin-Verfahren
zurückzuführen, das langsam, aber sicher Wirkung zeigt. Seit
dem 12. Dezember 2008 wird dieses Verfahren in der Schweiz umgesetzt.
Es sieht vor, dass jedes Asylgesuch jeweils nur von einem der 30
Dublin-Staaten behandelt wird. Dadurch soll vermieden werden, dass ein
asylsuchender Mensch mehrere Gesuche in unterschiedlichen Staaten
einreicht. Asylsuchende, die ein Binnenland wie die Schweiz erreichen,
haben meist schon anderswo Asyl beantragt. Entsprechend nimmt der Bund
weniger materielle Prüfungen von Asylgesuchen vor - und das hat
einen Anstieg der Nichteintretensentscheide zur Folge.
Was sind die Folgen eines solchen Entscheides für die
betroffenen Menschen?
Dann gibt es einen Sozialhilfestopp, das heisst, diese Menschen
erhalten statt Sozialhilfe nur noch Nothilfe. Von dieser ebenfalls 2008
eingeführten Massnahme erhofft man sich eine abschreckende Wirkung
auf Asylsuchende.
Und? Welche Erfahrungen haben Sie im Baselbiet gemacht?
Das muss man differenziert anschauen. Grundsätzlich ist es
so, dass schnelle Entscheide eine kurze Aufenthaltsdauer bewirken, weil
der Integrationszeitraum kurz ist. Bei Personen, die rasch einen
abschlägigen Bescheid bekamen, zeigt diese Massnahme darum sicher
eine gewisse Wirkung. Durchschnittlich schätze ich die
Aufenthaltsdauer von Nothilfebezügern auf rund zweieinhalb Jahre.
Aber wir haben auch - einige wenige - langjährige
Nothilfe-Bezüger im Kanton, die zum Teil noch in den 90er-Jahren
einreisten. Sie stellen allerdings eine Ausnahme dar.
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NOTHILFE
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NZZ 26.2.11
Das System Nothilfe
Weggewiesene Asylbewerber werden im Kanton Zürich rund um
die Uhr betreut - Tagesstruktur gibt es aber keine
Im Kanton Zürich leben rund 1200 abgewiesene Asylbewerber,
welche die Schweiz verlassen müssten. Ein Grossteil von ihnen ist
in Nothilfeunterkünften untergebracht. Dort kümmert man sich
zwar um sie, Tagesstruktur gibt es aber keine.
Fabian Baumgartner
Nur ein paar junge, mehrheitlich dunkelhäutige Männer
steigen an diesem winterlich-kalten Morgen an der Bahnstation
ausserhalb von Adliswil aus und spazieren mit Einkaufstüten zu
einer unscheinbaren und etwas trostlosen Containersiedlung. Sie wohnen
in der Nothilfeunterkunft Adliswil. Weil ihr Asylgesuch abgewiesen
wurde, befinden sie sich illegal in der Schweiz.
Mehrere Jahre im Land
Wenn es nach dem Willen des Kantons ginge, würden sie die
Unterkunft jeweils rasch wieder verlassen und in ihre Heimatländer
zurückkehren. Die Realität sieht jedoch etwas anders aus.
Viele Abgewiesene bleiben oft über mehrere Jahre im Land. Im
Kanton Zürich beziehen zurzeit rund 1200 Personen Nothilfe. 800
davon, hauptsächlich junge Männer, sind auf sieben, zum Teil
unterirdische Unterkünfte verteilt. Die übrigen 400, vor
allem Kranke und Familien mit Kleinkindern, leben aus Platzgründen
nicht in den kantonalen Einrichtungen, sondern werden von den Gemeinden
placiert und unterstützt.
Amnesty International und Flüchtlingsorganisationen
kritisieren namentlich die prekäre gesundheitliche Lage sowie die
Perspektivlosigkeit der Betroffenen. Mit einer Kampagne haben die NGO
Anfang Februar auf die Lage von weggewiesenen Asylbewerbern in den
Zürcher Nothilfeunterkünften aufmerksam gemacht (NZZ 8. 2.
11). In Absprache mit dem Zürcher Sozialamt hatten Vertreter der
Organisationen zuvor die Unterkünfte besucht.
Die Organisationen fordern ein Überdenken des Regimes der
blossen Nothilfe. Ruedi Hofstetter, Chef des Zürcher Sozialamts,
widerspricht den Vorwürfen von Amnesty International und der
Flüchtlingsorganisationen. Es handle sich bei der Nothilfe um ein
rechtsstaatliches Verfahren. Zudem sei die Regelung im Kanton
Zürich im Vergleich zu anderen Kantonen sehr liberal. Man
müsse sich auch im Klaren darüber sein, dass diese Menschen
illegal hier seien und das Land eigentlich verlassen müssten.
Letztlich sei es daher inkonsequent, Asylsuchende nach einem
rechtskräftigen negativen Entscheid weiterhin den Lebensunterhalt
in der Schweiz zu finanzieren.
Ein Kapazitätsengpass
Die Massnahmen, mit denen der Druck auf die abgewiesenen
Asylbewerber erhöht werden sollte, werden zurzeit allerdings nur
zum Teil vollzogen. Eine strengere Handhabung verhindert vor allem ein
Engpass bei den Nothilfeunterkünften, da der Kanton Zürich
Mühe hat, geeignete Liegenschaften zu finden. Seit Jahren wehrt
sich beispielsweise Eglisau vehement gegen den Bau eines Asylzentrums.
Ironischerweise verhindern damit gerade jene politischen Kräfte
eine härtere Linie, die sonst für Strenge im Umgang mit
abgewiesenen Asylbewerbern plädieren. Der Kapazitätsengpass
hat laut Hofstetter nicht nur dazu geführt, dass die Zahl der
Personen - betroffen sind vor allem junge Männer -, die jeweils
nach einer Woche in eine andere Notunterkunft wechseln mussten, stark
gesunken ist. Waren es am Anfang über 100 Personen, so sind
zurzeit weniger als 50 Personen von dieser Massnahme betroffen.
Die Containersiedlung in Adliswil ist mit 140 Plätzen die
grösste ihrer Art im Kanton. Im Gegensatz zu anderen Zentren
wohnen die Menschen hier nicht in Massenlagern, sondern in Vierer- und
Achter-Zimmern, nach Herkunftsregion eingeteilt. Geführt wird das
Zentrum von der privaten ORS-Service-AG, die sechs der sieben
kantonalen Einrichtungen betreibt und auch für den Bund
Betreuungsaufgaben im Asylbereich übernimmt. Insgesamt 13
Mitarbeiter sind 24 Stunden pro Tag für die Betreuung der Bewohner
zuständig.
Unter den Bewohnern befinden sich viele alleinstehende junge
Männer, vor allem aus afrikanischen Ländern. In Adliswil ist
aber auch eine relativ grosse Gruppe aus der Mongolei untergebracht.
Das Zentrum in Adliswil ist neben demjenigen in Altstetten das zweite
im Kanton Zürich, welches Frauen und Kinder beherbergt. Zwölf
Familien mit Kindern sowie einige alleinerziehende Frauen wohnen hier.
Von Montag bis Freitag, jeweils von 9 bis 12 Uhr, werden den Bewohnern
Migrosgutscheine abgegeben. Insgesamt 60 Franken erhalten die Bewohner
so pro Woche. Wer zu spät komme, der erhalte keine Gutscheine
mehr, sagt Zentrumsleiter Heinz Bachmann: Das sei vom Kanton so
autorisiert. Das Einhalten von Regeln sei beim Zusammenleben von so
vielen Menschen unterschiedlicher Herkunft auf engem Raum zentral. Eine
eigentliche Tagesstruktur oder Beschäftigungsmöglichkeiten
wie Sprachkurse gibt es hingegen nicht. Das würde das Ziel, die
Menschen zur Ausreise zu bewegen, unterlaufen, sagt Heinz Bachmann.
Kinder und Jugendliche dürfen immerhin die öffentliche
Schule besuchen. Die abgewiesenen Asylbewerber können sich zudem
etwas hinzuverdienen, wenn sie Arbeiten in der Unterkunft,
beispielsweise die Reinigung der Wäsche oder der Toiletten,
übernehmen. Einige Bewohner werden von Verwandten oder Landsleuten
unterstützt, wie Bachmann sagt. Zudem gebe es finanzielle Hilfe
von Kirchen und Hilfswerken. Es gebe manchmal aber auch Personen, die
durch Schwarzarbeit oder Kleinkriminalität zu Geld gelangten. In
den Unterkünften finde die Polizei bei ihren Razzien allerdings
meist nichts, sagt Bachmann. Und was ausserhalb des Zentrums geschehe,
könne er nicht beeinflussen. Ob die Bedingungen der Nothilfe human
oder inhuman sind, will Heinz Bachmann nicht bewerten. Man halte sich
bei der Betreuung an die kantonalen Richtlinien.
Kaum Auseinandersetzungen
Zu Spannungen kommt es eher selten, wie Bachmann sagt. Und wenn,
dann bleibe es meist bei verbalen Auseinandersetzungen.
Schlägereien gebe es nur in Ausnahmefällen, auch weil harte
Konsequenzen drohten. Die Beteiligten würden nach solchen
Vorfällen mit einem Hausverbot belegt und vorübergehend oder
dauerhaft in anderen kantonalen Unterkünften placiert. Da sich das
Zentrum ausserhalb von Adliswil befindet, halten sich auch die
Beschwerden von Anwohnern in Grenzen. Wie Bachmann sagt, ist die
Unterkunft in der Gemeinde mehrheitlich akzeptiert.
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Blick am Abend 24.2.11
BERN
"Nothilfe ist Schikane mit Konzept"
PROTEST
Asylanten erhalten täglich 8.50 Franken. Zu wenig, findet
"Solidarité sans frontières".
markus.ehinger@ringier.ch
Flüchtlinge leben im Kanton Bern im Elend und leiden unter
Repression. Dieser Meinung ist die Organisation "Solidarité sans
frontières" (Sosf). Moreno Casasola von Sosf: "Die Nothilfe ist
Schikane mit Konzept. Sie versucht die Leute aus dem Land zu zwingen -
aber das funktioniert nicht. Die Menschen werden weiter schikaniert,
kriminalisiert und zermürbt - absichtlich."
Im sogenannten Sachabgabezentrum "Casa Alpina"auf dem Brünig
erhalten die Asylanten jeden Tag Gutscheine im Wert von 6 bis 8.50
Franken. "Da wird die Wahl zwischen persönlicher Hygiene und einem
Stück Käse zur absurden Schikane", sagt Casasola. Ausserdem
würden die Flüchtlinge auf dem Brünig isoliert. "Sie
werden quasi weggesperrt, ein Zugticket können sie sich nicht
leisten."
Solidarité sans frontières"machte heute beim
Bahnhof Bern auf die Situation in der Nothilfe aufmerksam. Passanten
konnten in einem improvisierten Einkaufsladen Produkte für den
täglichen Bedarf einkaufen und erfuhren erst an der Kasse, wie
wenig Geld sie zur Verfügung hatten, "eben so wie auf dem
Brünig ", sagt Casasola.
Das Durchgangszentrum "Casa Alpina" war schon vermehrt in den
Schlagzeilen. Im letzten Dezember führte die Sondereinheit Enzian
der Kapo Bern eine Razzia durch. Von 40 Bewohnern wurden 13 wegen
Drogenhandels angezeigt und sechs verhaftet.
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SANS-PAPIERS
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Le Temps 26.2.11
Poussés par l'hiver, des sans-papiers squattent les jardins
ouvriers
Face à l'occupation sauvage de leurs cabanes, les
occupants des lopins familiaux réagissent diversement. Reportage
"Mersi buko, filen dance." Ce sont les mots, griffonnés
à la hâte, que deux jeunes sans-papiers ont laissés
à ce retraité pour le remercier de les avoir
laissés occuper sa maisonnette de jardin, durant le mois de
janvier. Ils étaient entrés par effraction dans ce
cabanon situé en bordure des jardins familiaux de Villars,
à Genève. Mais Gérard*, 87 ans, n'a
pas eu le cœur de les mettre à la porte ni de prévenir la
police. "Il gelait à pierre fendre ce jour-là, j'ai eu
pitié d'eux. Ce n'étaient que des gamins entre 20 et
25 ans. Ils ne faisaient de mal à personne",
confie-t-il en évoquant sa rencontre avec les deux hommes,
à la fin de décembre 2010.
Ce cas n'est pas isolé. Samedi dernier, à Berne, un
homme de 19 ans, originaire d'Afrique du Nord et
résidant illégalement en Suisse, a perdu la vie dans
l'incendie d'une maison de jardin semblable à celle de
Gérard. Les jardins ouvriers, où se croisent de nombreux
immigrés installés de longue date en Suisse, semblent en
passe de devenir les nouveaux refuges des clandestins.
Gérard se livrait à un contrôle anodin de son
cabanon et de son jardinet de 250 m2 qu'il loue depuis
trente-deux ans. Vivant en appartement, comme la plupart
des usagers des 249 autres maisonnettes que regroupent les jardins de
Villars, il profite de sa petite parcelle de campagne plantée au
milieu de la ville pour bichonner ses rosiers, faire pousser ses
propres légumes et rêvasser sur le petit banc
défraîchi placé devant la bâtisse.
En arrivant sur place, il remarque que le verrou du cabanon a
été forcé. Il frappe à la porte. Un jeune
homme grand et mince vient timidement lui ouvrir. Le retraité
découvre alors un campement de fortune dans son abri de jardin.
"Ils avaient installé un sommier deux places avec des coussins
de chaises longues en guise de matelas, et une petite cuisinière
à gaz qu'ils laissaient allumée en permanence pour se
réchauffer. Ils avaient aussi pris soin de placer des linges
devant la fenêtre et derrière la porte pour se
prémunir des courants d'air et surtout pour éviter que
les passants ne voient s'en échapper de la lumière",
explique Gérard.
"Avec leurs trois mots d'allemand et des gestes, ils m'ont
expliqué qu'ils étaient Russes, que leur ancien logement
de Vernier avait été rasé et qu'ils ne savaient
pas où aller. Comme ils avaient l'air corrects, je les ai
autorisés à rester durant encore dix jours pour peu
qu'ils ne mettent pas le feu et rendent les lieux en l'état",
poursuit le locataire du cabanon. Il va finalement les autoriser
à rester jusqu'au 31 janvier. Mais quand il revient
leur faire une visite à quelques jours de
l'échéance, personne. "Ils avaient laissé toutes
leurs affaires et la porte était ouverte. J'ai simplement
trouvé ce petit mot me remerciant. Quelques jours plus tard,
j'ai entendu une rumeur disant que deux requérants d'asile
avaient été arrêtés dans le quartier.
Peut-être s'agissait-il de mes deux squatters", avance
Gérard, qui n'a jamais revu les deux hommes.
Même si ces abris de jardin font souvent l'objet de
vandalisme et de vols mineurs, selon les dires de Jean-Paul Gigly,
directeur de la Fédération genevoise des jardins
familiaux (FGJF), peu de gens voudraient y passer plus d'une nuit.
Liées à l'histoire du jardin ouvrier apparu au XIXe
siècle, ces bâtisses symbolisant la maison de rêve
au grand air mais à portée de tous restent cependant des
abris sommaires. La plupart ne sont alimentées ni en eau ni
même en électricité.
Autre expérience, cette fois plus traumatisante, avec
Cécile*, habitante de Bernex qui s'est vu squatter, par deux
fois, sa cabane de jardin située aux abords de la forêt
communale. Cette mère de deux adolescents s'est
aménagée, il y a des années, un petit paradis
idéal pour jardiner et profiter, entre amis, des longues
soirées d'été. Mais aujourd'hui, elle redoute de
se rendre sur sa propriété de peur de tomber sur des
squatters.
En mars 2010, Cécile voit de la fumée
s'échapper de la cheminée de son cabanon. Elle contacte
immédiatement les employés municipaux afin qu'ils aillent
y jeter un œil. Ces derniers y découvrent six Géorgiens
endormis. Effrayés, les hommes s'échappent dans la
forêt toute proche, laissant la cabane dans un état
innommable. "Des restes de nourriture traînaient sur le sol et
les meubles, le four et la cuisine étaient dans un état
irrécupérable et j'ai retrouvé des seringues un
peu partout", raconte la propriétaire. Choquée, la
mère de famille laisse tout un été
s'écouler avant d'oser remettre les pieds dans son cabanon.
Le 14 janvier dernier, Cécile se rend compte
que sa propriété est à nouveau occupée. En
voulant ouvrir la porte, elle découvre que le verrou a
été changé. La voilà incapable d'entrer.
L'intervention de la police est demandée. Les agents
arrêtent trois Géorgiens âgés de 29 à
45 ans, endormis sur le canapé-lit. A nouveau, des
immondices partout et un grand désordre témoignent que le
lieu a été occupé durant plusieurs jours. "Ces
intrusions m'ont vraiment choquée. Ça fait mal, c'est un
viol de l'autorité et de la propriété",
confie-t-elle.
Ce que la citoyenne de Bernex craint le plus, c'est que l'adresse
de son cabanon soit désormais inscrite dans le "guide du
routard" des sans-papiers roumains. Nichée dans un lieu
idyllique très prisé des promeneurs, la maisonnette a
déjà fait l'objet de nombreuses propositions d'achat.
Mais l'habitante de Bernex n'y a jamais donné suite.
Jusqu'à aujourd'hui, où la question commence à se
poser.
Des personnes sans domicile fixe qui trouvent refuge dans des
maisonnettes de jardins familiaux, il y en a de plus en plus, selon
Jean-Paul Gigly: "Cet hiver, beaucoup de gens occupent les chalets
à cause du froid", déclare-t-il. Du côté de
Bernex, on estime à cinq ou six les cas de squat de cabanes, sur
230 infractions (vols, effractions) en 2010. "Dans ces situations, nous
recommandons aux locataires d'appeler la police. Avant, c'était
de temps en temps. Mais aujourd'hui, ça a l'air de se
généraliser", explique Eric Frieden, président du
complexe.
*Prénoms fictifs.
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NLZ 21.2.11
Die Meldepflicht bleibt ein rotes Tuch
Sans-Papiers
Kari Kälin
Eine Meldepflicht für Schulen führe nicht automatisch
zur Wegweisung, sagt Bundesrätin Sommaruga. Doch der Widerstand
gegen die Idee ist nicht vom Tisch.
Kari Kälin
kari.kaelin@luzernerzeitung.ch
Sollen Schulen die Ausländerbehörden orientieren, wenn
sie Kinder von Sans-Papiers Lesen und Schreiben beibringen? Seit der
Bundesrat das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD)
beauftragt hat, diese Frage bis Ende 2011 zu prüfen, gehen die
Wogen hoch. "Lehrer müssen die Kinder unterrichten und nicht
verpfeifen", sagt Dominique Föllmi.
Der ehemalige CVP-Bildungsdirektor des Kantons Genf ist ein
Vorkämpfer für die Sans-Papiers. Er sorgte Ende der
1980er-Jahre dafür, dass Kinder ohne Aufenthaltsbewilligung
eingeschult werden durften. Auch Beat W. Zemp, Präsident des
Schweizer Lehrerverbandes, wehrt sich gegen eine mögliche
Meldepflicht: "Die Lehrer können ihren Bildungs- und
Erziehungsauftrag nur dann wahrnehmen, wenn ein gegenseitiges
Vertrauensverhältnis zwischen Lernenden und Lehrenden vorhanden
ist", sagt er.
"Dinge werden sich klären"
Doch würden die Sans-Papiers überhaupt automatisch des
Landes verwiesen, wenn sie im Unterricht ertappt würden? "Nein",
sagt Justizministerin Simonetta Sommaruga. Der Staat habe Kenntnis
über ganz viele Menschen ohne Aufenthaltsrecht, handle aber
trotzdem nicht. "Wenn mein Departement den Bericht zum Datenaustausch
vorlegt, werden sich die Dinge rasch klären", so die
SP-Magistratin. Sie habe nichts dagegen, zu prüfen, ob Schulen
Kinder von Personen ohne Aufenthaltsrecht in der Schweiz melden sollen,
aber: "Daten zu liefern, ist das eine. Doch die Frage lautet: Welche
Konsequenzen hat das für jene Personen, deren Daten den
Behörden übermittelt werden?"
Trotz der bundesrätlichen Worte ebbt die Kritik nicht ab.
"Eine Meldung muss natürlich nicht zur Ausweisung führen -
aber sie kann", sagt Elsbeth Steiner, Sprecherin der
Eidgenössischen Kommission für Migrationsfragen (EKM). "Darum
befürchtet die EKM, dass bei einer Meldepflicht viele Kinder von
Sans-Papiers nicht mehr in die Schule geschickt würden."
Auch Dominique Föllmi interpretiert Sommarugas Votum nicht
als Entwarnung. "Das beruhigt mich überhaupt nicht", sagt der
Genfer Politiker. "Eine Meldepflicht gefährdet das Recht der
Kinder auf Bildung, das die Verfassung und die
UNO-Kinderrechtskonvention garantieren."
Lustenberger für Meldepflicht
Dass der Bundesrat diverse Aspekte zum Datenaustausch unter die
Lupe nimmt, geht auf ein Postulat von Nationalrat Ruedi Lustenberger
zurück. Der Luzerner CVP-Mann plädiert für eine
Meldepflicht von Schulen, sieht diese deswegen "nicht in der Rolle von
Denunzianten". In jeder Schulklasse werde bekanntlich ein
Schülerverzeichnis geführt. "Und weil jede Gemeinde auch eine
Einwohnerkontrolle führt, findet man beim Abgleichen der beiden
Register sofort unangemeldete Personen, welche sich dann beim
näheren Hinschauen allenfalls als Sans-Papiers herausstellen. Auf
diese Angaben soll die Ausländerbehörde Zugang haben", sagt
Lustenberger. Die Lehrer hätten in diesem Ablauf also nicht
anderes zu tun, als ihre Schülerverzeichnisse richtig
auszufüllen. Der Rest sei Sache der Verwaltung und nicht der
Schule.
Doch sollen Sans-Papiers danach ausgeschafft werden? "Wenn einmal
der Status Sans-Papiers festgestellt ist, geht jeder Fall seinen
ordentlichen Rechtsweg. Dies kann entweder in einem Aufenthaltsstatus -
eventuell sogar unter Anrufung der Härtefallklausel - oder dann in
der Ausweisung münden", so Lustenberger.
Karin Keller-Sutter, Präsidentin der Kantonalen Justiz- und
Polizeidirektorenkonferenz (KKJPD) und St. Galler Regierungsrätin,
teilt Lustenbergers Ansicht. Die KKJPD befürworte eine
Meldepflicht, betont sie im Gespräch mit unserer Zeitung. Dies
bedeute nicht eine automatische Wegweisung. "Es findet immer eine
Einzelfallprüfung statt. Je nach Ergebnis kann eine Familie im
Rahmen der Härtefallregelung aufgenommen werden", argumentiert
Keller-Sutter.
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SCHEINEHE
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Newsnetz 24.2.11
Ihre neue Aufgabe bleibt den Zivilstandsbeamten schleierhaft
Claudia Blumer
Mit den neuen Bestimmungen zur Zwangsheirat kommt eine weitere
grosse Aufgabe auf die Zivilstandsbeamten zu. Die Ermittlungsarbeit ist
für sie neu.
Zwangsheirat wird unter Strafe gestellt. Gestern verabschiedete
der Bundesrat die Botschaft zur Gesetzesänderung, mit der
Simonetta Sommaruga jahrelangen Forderungen von Parlamentariern und
ausserparlamentarischen Gruppierungen nachkommt.
Durch die neuen Bestimmungen sind vor allem Zivilstandsbeamte in
der Pflicht. Sie müssen vor der Eheschliessung prüfen, ob das
Gesuch tatsächlich dem freien Willen der Verlobten entspricht. Und
sie müssen künftig eine Strafklage einreichen, wenn sie einen
Zwang feststellen.
"Wir haben grosse Vorbehalte"
Mit dieser zusätzlichen Verantwortung ist der schweizerische
Verband für Zivilstandswesen alles andere als glücklich.
"Gegen Zwangsheiraten vorzugehen ist sehr schwierig", sagt
Präsident Roland Peterhans zu .
Der Verband werde sich nach interner Absprache wahrscheinlich an
die Adresse der Politik richten, sagt Peterhans, der das Zivilstandsamt
der Stadt Zürich leitet. "Wir haben grosse Vorbehalte, was die
Umsetzbarkeit betrifft. Es nimmt uns Wunder, wie das in der Praxis
gehen soll."
Die betroffene Person nicht in Gefahr bringen
Peterhans gibt zu Bedenken, dass Zivilstandsbeamte nicht oder nur
ungenügend für die Ermittlungsarbeit vor dem Hintergrund
interkultureller Probleme ausgebildet sind. "Einen Verdacht
auszusprechen, kann weitreichend sein." Der Zivilstandsbeamte setze
damit nicht nur sich selber einer Gefahr aus, sondern auch die
betroffene Person, die zwangsverheiratet werden soll. "Dieser Person
wird nachher vorgeworfen, sie habe sich so verhalten, dass die
Behörden etwas bemerkt hätten. Es ist uns ein Anliegen, die
Frauen nicht in Gefahr zu bringen."
Hinzu komme, dass die Person, die wider Willen verheiratet werden
soll, im langen Heiratsverfahren von ihrer Familie derart bearbeitet
worden sei, dass sie vor dem Zivilstandsbeamten nichts mehr sage.
"Völlig neue Aufgabenfelder"
Seit Anfang Jahr 2011 sind die Zivilstandsbeamten bereits im
Kampf gegen Scheinehen in der Pflicht. Hier gelten neue Bestimmungen,
und die Zivilstandsämter müssen abklären, ob
Heiratswillige in der Schweiz bleibeberechtigt sind. Können diese
die Rechtmässigkeit ihres Aufenthalts nicht beweisen, müssen
die Beamten dies den Ausländerbehörden melden.
Gegen die Zusatzaufgaben wegen Scheinehen hat sich der Verband
der Zivilstandsbeamten erfolglos gewehrt. "Für uns sind das
völlig neue Aufgabenfelder", sagt Peterhans. "Eine Ziviltrauung
vollziehen oder einen Familienschein ausstellen ist etwas komplett
anderes, als gegen Zwangs- und Scheinehen zu ermitteln."
Ausbildung soll ergänzt werden
Dem soll im Zuge der Gesetzesänderung Rechnung getragen
werden, wie Falco Galli, Informationschef des Bundesamts für
Justiz, auf Anfrage von sagt: "Es ist vorgesehen, die Grund- und
Weiterbildung der Zivilstandsbeamten so zu ergänzen, dass
Zivilstandsbeamte Zwangsheiraten bessern verhindern beziehungsweise
beim Verdacht auf eine Zwangsheirat angemessen vorgehen können."
"In Zukunft werden sich die Zivilstandsbeamten im
Ehevorbereitungsverfahren vergewissern müssen, dass die Verlobten
die Ehe aus freiem Willen schliessen wollen", bestätigt Galli. Die
Beamten seien aber nicht verpflichtet, in der Privatsphäre der
Verlobten zu ermitteln. "Sie werden die Eheschliessung nach wie vor nur
dann verweigern, wenn das Gesuch der Verlobten aufgrund von klaren
Indizien offensichtlich nicht ihrem freien Willen entspricht."
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HÄRTEFÄLLE
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beobachtungstelle.ch 22.2.11
Bundesrat sieht Klärungsbedarf in Sachen Härtefallregelung
Der Bundesrat hat die Interpellation Schenker (17.12.2010) zur
uneinheitlichen Härtefallregelung der Kantone beantwortet.
Schenker verlangte in ihrem Vorstoss eine Stellungnahme des Bundesrats
zur so genannten "Härtefall-Lotterie" in den Kantonen und wollte
zudem wissen, ob diesbezüglich Harmonisierungsbestrebungen geplant
sind und wie die Situation in den einzelnen Kantonen genau aussieht.
Der Bundesrat hält in seiner Antwort fest, dass umfangreiche
Weisungen des Bundesamts für Migration den behördlichen
Ermessensspielraum definieren und den Kantonen "verbindliche Leitlinien
für die Regelung von schwerwiegenden persönlichen
Härtefällen im Einzelfall" geben. Gleichzeitig räumt er
jedoch implizit ein, dass die kantonalen Unterschiede trotz dieser
Weisungen immer noch beträchtlich sind. Es seien zusätzliche
Abklärungen nötig, um die Gründe für diese
Unterschiede aufzudecken. Eine genaue Analyse der Situation in den
Kantonen setzte die Durchführung einer Studie voraus. Aus diesem
Grund soll das BFM bis Ende 2011 eine entsprechende Untersuchung in
Auftrag geben.
Die SBAA begrüsst diesen Schritt und hofft, dass mit dieser
Massnahme der kantonalen Ungleichbehandlung von Härtefallgesuchen
Einhalt geboten werden kann. Die Schweizerische Beobachtungsstelle hat
im vergangenen Herbst einen Fachbericht zum Thema "Familien im
Härtefallverfahren" verfasst und auf dessen Grundlage
Entwürfe für politische Vorstösse ausgearbeitet.
* Interpellation Schenker und Antwort des Bundesrats
http://beobachtungsstelle.ch/fileadmin/user_upload/pdf_divers/Vorstoesse_Deutsch/10.4114_schenker_br.pdf
* SBAA-Bericht "Familien im Härtefallverfahren"
http://beobachtungsstelle.ch/index.php?id=446
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Sonntag 20.2.11
Markante Abnahme bei den Härtefallgesuchen
Neue Zahlen des Bundesamtes für Migration zeigen: Weniger
Asylsuchende und Sans-Papiers erhalten durch die Regelung eine
Aufenthaltsbewilligung
von Sarah Weber
Insgesamt waren es fast fünfhundert Härtefallgesuche
weniger, die das Bundesamt für Migration (BfM) im vergangenen Jahr
beurteilen musste. Am stärksten ist die Abnahme bei den
Härtefallgesuchen von abgewiesenen Asylbewerbern: Waren es 2009
noch 458 Gesuche, wurden 2010 von den Kantonen nur noch 294 Gesuche an
das Bundesamt für Migration weitergeleitet.
Mit der Härtefallregelung können abgewiesene
Asylsuchende, vorläufig Aufgenommene und Sans-Papiers nach
fünf Jahren in der Schweiz eine Aufenthaltsbewilligung beantragen.
Dafür müssen Kriterien wie beispielsweise gute Integration
oder schwerwiegende persönliche Notlage bei einer Rückkehr in
die Heimat, erfüllt sein. Weshalb die Zahl der
Härtefallgesuche gesamtschweizerisch stark zurückgingen,
weiss man beim zuständigen BfM nicht und verweist auf die Kantone.
Diese müssen die Gesuche in erster Instanz bewilligen, bevor sie
ans BfM gelangen, das den definitiven Entscheid fällt. Wie viele
Gesuche insgesamt bei den Kantonen eingereicht wurden, ist nicht
erfasst.
Den Grund für den Rückgang der Gesuche sieht Claudia
Dubacher von der Schweizerischen Beobachtungsstelle für Asyl- und
Ausländerrecht bei der restriktiveren Beurteilung durch die
Kantone. Es würden nicht weniger Gesuche eingereicht, ist Dubacher
überzeugt, "viel eher ist der Rückgang eine Folge davon, dass
in vielen Kantonen die Schraube angezogen worden ist". Geteilt
wirddiese Einschätzung auch von den verschiedenen kantonalen
Rechtsberatungsstellen für Asylsuchende. Die Praxis bei der
Beurteilung von Härtefallgesuchen in den Kantonen sei klar
strenger geworden. Vielen Gesuchstellern wird deshalb von den
Rechtsberatern nicht mehr empfohlen, ein Härtefallgesuch
einzureichen.
Donato Del Duca, Rechtsanwalt bei der Rechtsberatungsstelle
Aargau: "Wir spüren eine Änderung bei der Rechtsprechung:
Junge Männer, die alleinstehend sind, haben praktisch keine Chance
auf einen positiven Entscheid." Dafür habe der Kanton Aargau
angefangen, ausreisepflichtige Familien mit Chancen auf einen positiven
Entscheid, direkt anzuschreiben, so Del Duca.
Auf den Migrationsämtern wehren sich die Zuständigen
gegen den Vorwurf der Verschärfung: Man halte sich an die
Weisungen des Bundesamtes für Migration und habe die Praxis nicht
verschärft, heisst es auf Anfrage bei verschiedenen Kantonen. Viel
mehr seien die Zahlen abhängig von der aktuellen Zusammensetzung
der Asylsuchenden. "Zurzeit sind viele Asylsuchende aus Nigeria in der
Schweiz und die haben selten Anspruch auf eine Härtefallregelung",
erklärt Bruno Zanga, Amtsleiter des Migrationsamtes St. Gallen.
Der Bund bemühe sich zudem, die Verfahren schneller zu erledigen
und deshalb gebe es weniger Pendenzen. Dies sei die Erklärung,
warum die Zahl der Gesuche sinke. Dass zusätzliche Hürden
eingeführt wurden, räumt man nur beim Migrationsamt in
Baselland ein. "Wir verlangen, dass die Gesuchsteller einen Sprachkurs
oder eine Prüfung machen, damit mindestens das Sprachniveau A1
erfüllt ist", sagt Martin Bürgin vom Amt für Migration
Baselland.
Kritisiert wird immer wieder die unterschiedliche Auslegung des
Gesetzes in den einzelnen Kantonen. Dies anerkennt nun auch der
Bundesrat. Er reagierte vergangene Woche auf die Interpellation der
Basler Nationalrätin Silvia Schenker (SP) und will noch 2011 eine
Studie in Auftrag geben, die die Situation in den Kantonen analysiert.
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AUSSCHAFFUNGEN
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20 Minuten 25.2.11
Schickt Bund Familie von Ex-Muslimen in den Tod?
ZÜRICH. Eine kurdisch-syrische Familie wird seit dem
Übertritt zum Christentum in ihrer Heimat mit dem Tod bedroht.
Trotzdem soll sie ausgeschafft werden.
Nach drei negativen Asylentscheiden leiden Horiya (33), Faruq
Hassu (30) und Töchterchen Tireej (18 Monate) Todesangst vor ihrer
Ausschaffung. Weil sie in der Schweiz zum Christentum konvertiert sind,
trachtet ihnen ihre Familie nach dem Leben. Schon in Syrien habe sich
das Paar zum Christentum hingezogen gefühlt, so Faruq Hassu. Nach
ihrer Flucht in die Schweiz, wo 2009 ihre Tochter Tireej zur Welt kam,
sind sie konvertiert. Zurzeit besuchen sie regelmässig die
Gottesdienste der Freien Evangelischen Gemeinde Langenthal.
Für ihre Familie sind die Hassus seither so gut wie tot.
Faruqs Vater drohte am Telefon: "Ich bitte Allah darum, dass ihr
zurückkommt, damit wir euch wie Hunde töten können."
Dennoch soll die Familie raus aus der Schweiz: "Der Asylentscheid
ist rechtskräftig", teilt das Bundesamt für Migration mit.
Daniel Gerner, Sprecher der Organisation Open Doors, die sich weltweit
für verfolgte Christen einsetzt, ist empört: "Uns sind
weitere Fälle bekannt, in denen konvertierte Christen mit dem Tod
bedroht wurden. Dies ist ernst zu nehmen." Auch EVP-Präsident
Heiner Studer kann den Entscheid nicht begreifen: "Ich kenne den Fall
und verstehe nicht, dass Familie Hassu kein Aufenthaltsrecht
erhält."
In einem offenen Brief bitten die Hassus nun Bundesrätin
Sommaruga, ihr Leben zu retten. Es ist ihre letzte Hoffnung. "Ich
wäre bereit, für meinen Glauben zu sterben. Aber ich kann
meine kleine Tochter nicht alleine zurücklassen. Alles, was ich
wünsche, ist in Sicherheit zu leben", sagt Horiya unter
Tränen.
Zora Schaad
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Gericht sieht keine Gefahr
BERN. Die Tonaufzeichnungen der Todesdrohungen von Faruqs Familie
liegen dem Bundesverwaltungsgericht vor, ebenso die Aussage eines
syrischen Anwalts, der den Haftbefehl gegen Horiya bestätigt.
Diese Dokumente wurden nicht gewichtet: "Das Bundesamt für
Migration geht grundsätzlich davon aus, dass Christen in Syrien
nicht verfolgt werden - auch im Falle einer Konvertierung", sagt
Sprecher Michael Glauser gegenüber dem "Langenthaler Tagblatt".
---
WoZ 24.2.11
Ausschaffung
Bedrohte Homosexuelle
Weil er mit Heroin handelte, will das Bundes amt für
Migration einen schwulen Iraner ausschaffen. Nach zwei abgelehnten
Asylgesuchen lebte der Mann ab 2003 mit einem Schweizer zusammen, seit
drei Jahren in ein getragener Partnerschaft. Gegen die Ausweisung legte
er Beschwerde ein: Das Leben Homosexueller sei im Iran schwer bedroht.
Das Bundesverwaltungsgericht verneinte: Homosexualität
werde dort geduldet, "wenn sie nicht in möglicherweise Anstoss
erregender Art öffentlich zur Schau gestellt wird".
Amnesty International (AI) bezeichnet diese Aussage als "nicht
akzeptabel": "Der Zwang, die eigene sexuelle Orientierung und
Geschlechtsidentität aufzugeben oder zu verheimlichen, kann selbst
eine Form der Verfolgung sein." Auch die Verurteilung wegen
Drogenhandels gefährdet den Mann: Die iranische Justiz kann
dafür die Todesstrafe verhängen. Neben AI protestieren auch
der Schwulendachverband Pink Cross und die Homosexuellen Arbeitsgruppen
Basel gegen das Urteil. Der Anwalt des Iraners und AI wollen das Urteil
weiterziehen, wenn nötig bis zum Europäischen
Menschenrechtsgerichtshof in Strassburg. Seit Anfang Jahr wurden im
Iran laut AI schon mindestens 86 Menschen hingerichtet. DYT
http://www.queeramnesty.ch
---
BZ/Berner Oberländer 24.2.11
Wirbel um Abschiebung
BrienzEin 30-jähriger Kurde aus Brienz, der seit neun Jahren
in der Schweiz lebt, steht vor der Abschiebung in den Irak. Am Dienstag
wurde er von der Polizei in Gewahrsam genommen und zur Ausschaffung
nach Bern gebracht.
Die ehemalige Chefin des Flüchtlings im Seehotel Bären
in Brienz, Monique Werro, die ihm nach wie vor Kost und Logis
gewährt, ist empört über diese Ereignisse: "Er hat
seinen Lebensmittelpunkt hier, ist arbeitsam, spricht sehr gut Deutsch,
ist assimiliert und hat eine saubere Weste. Andere machen krumme
Geschäfte und dürfen trotzdem bleiben."jez Seite 3
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Kurde soll zurück in den Irak
brienzDie Inhaberin des Hotels Bären, Monique Werro, wehrt
sich gegen die bevor-stehende Ausschaffung eines ehemaligen
Mitarbeiters. Der Kurde wurde in Gewahrsam genommen. Ihm droht die
Abschiebung in den Irak.
Am Dienstag seien zwei Polizisten gekommen, um Haisam Barwari
abzuholen, schildert Monique Werro. Barwari stellt sie als kurdischen
Flüchtling aus dem Irak vor, der von 2006 bis Oktober 2009 in
ihrem Hotel Bären in Brienz gearbeitet hat. Seit November 2009
habe der heute 30-Jährige jedoch keine Arbeits- und
Aufenthaltserlaubnis mehr und erhalte im Seehotel Unterkunft und Logis.
"Er hat seither nie einen Rappen Sozialhilfe, noch RAV-Gelder bezogen",
berichtet Monique Werro. "Alle Mitarbeiter des Hotels sammeln monatlich
Geldbeträge ein, damit er zumindest ein kleines Taschengeld hat."
Eine Anfrage auf Wiedereinstellung im Bären sei in Bearbeitung.
Pulverfass arabischer Raum
Doch nun scheint eine Wiederbeschäftigung in weite Ferne
gerückt. "Haisam wurde von der Polizei in Gewahrsam genommen und
nach Bern zur Ausschaffung gebracht", erzählt Monique Werro
besorgt, die sich gegen eine bevorstehende Abschiebung des Kurden
ausspricht. "Wie wir alle wissen, ist eine Ausschaffung zurzeit absolut
unmöglich. Der ganze arabische Raum ist ein Pulverfass.
Bürgerkriege sind dort überall wahrscheinlich", verweist die
Hotelchefin auf die aktuellen Ereignisse in Libyen und anderswo.
"Das Ganze ist eine Lotterie"
Monique Werro hofft noch, dass ihr Mitarbeiter, der seit
mittlerweile neun Jahren in der Schweiz lebt, nicht in den Irak
zurückkehren muss. "Er hat seinen Lebensmittelpunkt hier, ist
arbeitsam, spricht sehr gut deutsch, ist assimiliert und hat eine
saubere Weste. Andere machen krumme Geschäfte und dürfen
trotzdem bleiben. Das Ganze ist eine Lotterie, wer bleiben darf und wer
nicht." Vom Migrationsdienst des Kantons Bern war keine Stellungnahme
zu bekommen, lediglich der Hinweis, dass die Stelle keine Auskunft zu
Einzelfällen erteile.
Claudius Jezella
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NZZ 23.2.11
Zweitgutachten zu Herzleiden?
Kritik an Obduktionsbericht zu Todesfall in Ausschaffungshaft
fsi. · Viktor Györffy, der Anwalt der Familie des
29-jährigen Nigerianers, der am 17. März 2010 kurz vor seiner
Zwangsausschaffung nach Lagos auf dem Flughafen Zürich starb,
fordert von der Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland ein neues
Obduktionsgutachten. Das Institut für Rechtsmedizin (IRM) der
Universität Zürich hatte ein zuvor nicht erkanntes schweres
Herzleiden als Hauptursache angeführt. Aber auch ein der
Ausschaffung vorangegangener Hungerstreik habe zum Tod beigetragen,
ebenso wie der akute Erregungszustand, in welchem sich der Mann
befunden habe. Der Todesfall gab den Anstoss für die neuen Regeln
für Zwangsausschaffungen mit Sonderflügen, die unter anderem
den Beizug unabhängiger Beobachter vorsehen.
Györffy liess einen Kardiologen das Gutachten des IRM
überprüfen. Dieser kam zum Schluss, dass Diagnose und
postulierte Todesursache ein Konstrukt seien. Der Anwalt beantragte
darauf im August bei der Staatsanwaltschaft ein weiteres
Obduktionsgutachten; am Montag lieferte er die ausführliche
Begründung nach. An einer gemeinsamen Medienkonferenz mit
Vertretern der Menschenrechtsgruppe Augenauf vom Dienstag im
Zürcher Volkshaus nannte Györffy als Grund für sein
Vorgehen juristische und medizinische Mängel des
Obduktionsgutachtens. Ausserdem warf er dem an der Universität
Zürich angesiedelten IRM wegen Behördennähe
Parteilichkeit vor. Die Rechtsprechung des Europäischen
Menschenrechtsgerichtshofs verlange, dass solche Todesfälle von
unabhängigen Instanzen untersucht würden.
Der Nigerianer habe bei seinem sechswöchigen Hungerstreik
einen Drittel seines Gewichts verloren und er habe während vier
Wochen mit niemandem mehr ein Wort gewechselt, erklärte der
Anwalt. Nicht ein Herzfehler, sondern die Folgen des Hungerstreiks und
der emotionale Stress während der Fesselung des Mannes seien daher
als Todesursache anzunehmen. Nur mit einem zweiten Gutachten lasse sich
feststellen, ob das Strafverfahren weitergeführt oder eingestellt
werden solle.
Der zuständige Staatsanwalt Christian Philipp von der
Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland bestätigte auf Anfrage den
Erhalt von Györffys Ergänzung zur Eingabe vom August 2010. Es
sei allerdings noch zu früh, um zu einzelnen Kritikpunkten
Stellung zu nehmen. Philipp betonte aber, dass an der
Unabhängigkeit des Obduktionsgutachtens des IRM keine Zweifel
bestünden.
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Landbote 23.2.11
Toter Nigerianer: Zweitgutachten gefordert
Anna Wepfer
Zürich. Ein angeborener Herzfehler sei es gewesen, der einen
nigerianischen Ausschaffungshäftling im März 2010 das Leben
kostete. Das geht aus einem Gutachten des Rechtsmedizinischen Instituts
der Universität Zürich hervor. Der Anwalt der Hinterbliebenen
glaubt aber nicht an diesen Befund. Er hat die Ergebnisse der Obduktion
von einem Herzspezialisten überprüfen lassen. Dieser kommt
zum Schluss, dass ein Herzfehler nicht belegbar sei. Vielmehr habe ein
sechswöchiger Hungerstreik den 29-Jährigen so
geschwächt, dass er den Stress und die bei Zwangsausschaffungen
übliche Fesselung nicht überlebt habe.
Nun verlangt der Anwalt der Familie vom zuständigen
Staatsanwalt, er solle ein zweites Gutachten in Auftrag geben. Dieses
würde in Bezug auf die Todesursache Klarheit schaffen. Fakt ist,
dass die Polizisten, die die Ausschaffung durchführen sollten,
nicht wussten, wie schlecht der körperliche Zustand des
Häftlings war. Dass er sich kaum rührte und Fragen nicht
beantwortete, interpretierten sie als passiven Widerstand. Die gerufene
Ärztin konnte bei ihrem Eintreffen nur noch den Tod des Mannes
feststellen. (awe) Seite 27
--
Anwalt glaubt nicht an Herzfehler
Anna Wepfer
Zürich. Im Falle des Nigerianers, der im März 2010 vor
seiner Ausschaffung am Flughafen verstarb, will der Anwalt der Familie
ein neues medizinisches Gutachten. Entgegen bisherigen Annahmen sei ein
schwerer Herzfehler als Todesursache nicht erwiesen, sagt er.
"Gravierende Mängel" will Rechtsanwalt Viktor Györffy
im Obduktionsgutachten zum Todesfall vom vergangenen März gefunden
haben, als ein 29-jähriger Ausschaffungshäftling während
einer Fesselung am Flughafen Zürich verstarb. Die Mängel
seien juristischer und vor allem auch medizinischer Art, sagte
Györffy, Anwalt der Familie des Verstorbenen, gestern an einer
Medienkonferenz. Insbesondere die im Gutachten genannte Todesursache
sei wissenschaftlich nicht abgestützt, sagt er. Dass der
Nigerianer tatsächlich an einem Herzfehler gestorben sein soll,
glaubt Györffy nicht. Von der zuständigen Staatsanwaltschaft
Winterthur/Unterland fordert er darum ein zweites Gutachten.
Das erste Gutachten hat das Rechtsmedizinische Institut der
Universität Zürich (IRM) im Auftrag von Staatsanwalt
Christian Philipp erstellt. Der Gutachter kommt zum Schluss, die
Ursache für den Tod des Häftlings sei ein angeborener
schwerer Herzfehler. Vermutlich habe der Stress des
Ausschaffungsprozederes das Herzversagen zusätzlich
begünstigt. Zudem hatte sich der 29-Jährige bis zum Zeitpunkt
der Ausschaffung mindestens sechs Wochen im Hungerstreik befunden und
über 30 Kilo abgenommen, was ihn zusätzlich schwächte.
Das Gutachten entkräftet damit den Verdacht, die
involvierten Polizeibeamten hätten den Häftling zu brutal
behandelt oder gravierende gesundheitliche Probleme missachtet.
Wesentliche Merkmale fehlen
Györffy hat das Gutachten sowie die Befunde und Fotografien
der Obduktion einem Herzspezialisten vorgelegt. Der Kardiologe - ein
ausgewiesener Praktiker, wie Györffy betont - kommt zu einem
anderen Schluss als das IRM: Die vorliegenden Veränderungen am
Herzmuskel taugten nicht, um einen vererbten Herzfehler zu belegen. Im
Gegenteil: Wesentliche Merkmale eines so geschädigten Herzes
lägen nicht vor.
Der Kardiologe nennt eine andere Todesursache: Der massive
Gewichtsverlust der vorangegangenen 40 Tage Hungerstreik könne
zusammen mit dem Stress einer Ausschaffung zum Tod führen - "und
zwar auch bei einer Person, die kein vorgeschädigtes Herz hat".
Das wirft die Frage auf, weshalb der abgemagerte Häftling trotz
seines schlechten körperlichen Zustandes als transportfähig
eingestuft wurde.
Bei einer Zwangsausschaffung wie im vorliegenden Fall wird der
Häftling nach einer Leibesvisitation mehrfach an einen Rollstuhl
gefesselt (siehe Kasten). Der Nigerianer trug einen Helm und ein Netz
über dem Kopf. Das sei ein "brutaler Vorgang", sagte Christoph
Hugenschmidt von der Menschenrechtsorganisation "augenauf". "Das
würde auch einen gesunden Mann zutiefst erschüttern."
Nun soll ein zweites Gutachten zeigen, ob der Gesundheit des
Nigerianers genügend Rechnung getragen wurde. Diesen Antrag hat
Györffy der Staatsanwaltschaft bereits im August gestellt und
gestern mit einer ausführlichen Begründung nachgedoppelt. Er
verlangt, dass nicht nur ein Pathologe wie am IRM das Gutachten
verfasst, sondern auch Spezialisten für Kardiologie und
Psychologie beigezogen werden, welche sich zum Beispiel mit Folgen von
Essstörungen auskennen.
Allerdings soll das Gutachten nicht mehr vom IRM erstellt werden,
findet Györffy. "Das IRM ist nicht unabhängig, da es
überwiegend für die Justiz des Kantons Zürich tätig
ist", sagt er. Dass nun dasselbe Institut beurteilen müsse, ob
Vertreter der Zürcher Justiz Fehler begangen hätten,
führe zu einem Interessenkonflikt, moniert er.
Karin Keller-Sutters Mann
Pikant: Der Verfasser des IRM-Gutachtens - Morten Keller-Sutter -
ist der Mann der ehemaligen Bundesratskandidatin Karin Keller-Sutter
(FDP). Die St. Galler Regierungsrätin ist Präsidentin der
Schweizer Polizeidirektorenkonferenz (KKJPD) und dort zusätzlich
zuständig für die Schulung von Polizisten. Damit trägt
sie Mitverantwortung für das Know-how der Polizisten im Dienst.
Dass nun ihr Mann klären soll, woran der Häftling
gestorben ist, findet Staatsanwalt Philipp unproblematisch. Er sieht
keine Anhaltspunkte, dass Morten Keller-Sutter "aufgrund seiner
Partnerschaft die Neutralität nicht wahren kann". Ob Philipp ein
Zweitgutachten in Auftrag geben wird, sagt er noch nicht. Erst
müsse er die gestern eingereichte Eingabe studieren. Nach der
Klärung der zentralen medizinischen Fragen werde er auch
entscheiden, ob gegen einzelne Beteiligte ein Strafverfahren
einzuleiten sei.
--
"Ich dachte, er spielt etwas vor"
Anna Wepfer
Die Menschenrechtsorganisation "augenauf" hat anhand der Akten
den Ablauf der geplanten Ausschaffung rekonstruiert. "Den Polizisten
war nicht klar, wie schlecht es dem Häftling ging", sagt Christoph
Hugenschmidt. Sie wussten nichts vom Hungerstreik, nur dass der
29-Jährige "mehrere Tage" nichts gegessen hatte. Als sie den
Häftling an den Stuhl fesselten, stellten die Beamten fest, dass
er "passiv wirkt", und "der Kopf nach vorne hängt", wie sie zu
Protokoll gaben. Dass er keine Antwort gab, werteten sie als passiven
Widerstand. Die Polizisten befürchteten, er simuliere, und
fesselten auch weiter, nachdem sie den Arzt gerufen hatten.
Hugenschmidt hat dafür ein gewisses Verständnis. "Der Druck
auf die Polizei ist gross", sagt er. Denn die politische Vorgabe laute:
Ausschaffen um jeden Preis. "Mit der Möglichkeit, dass eine
Ausschaffung scheitern könnte, wird gar nicht gerechnet." (awe)
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AUCH WIEDER FLÜGE NACH NIGERIA
Anna Wepfer
Nach dem Tod eines nigerianischen Ausschaffungshäftlings im
März 2010 stoppte der Bund vorläufig sämtliche
Ausschaffungsflüge. Erst nachdem das medizinische Gutachten
vorlag, wurden die Flüge im Juni wieder aufgenommen. Flüge
nach Nigeria sind erst seit Anfang 2011 wieder möglich. Zuvor
hatte die dortige Regierung die nötige Bewilligung verweigert. Wie
viele Ausschaffungsflüge es seit dem Todesfall gab, war gestern
beim Bund nicht zu erfahren. (awe)
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Zürichsee-Zeitung 23.2.11
Familie fordert Zweitgutachten
Zürich. Der Anwalt der Angehörigen des nigerianischen
Ausschaffungshäftlings, der im März 2010 starb, zweifelt
daran, dass ein Herzfehler schuld an dessen Tod war.
Anna Wepfer
Ein angeborener Herzfehler sei es gewesen, der einen
nigerianischen Ausschaffungshäftling im März 2010 das Leben
kostete. Das geht aus einem Gutachten des Rechtsmedizinischen Instituts
der Universität Zürich hervor.
Der Anwalt der Hinterbliebenen glaubt aber nicht an diesen
Befund. Er hat die Ergebnisse der Obduktion von einem Herzspezialisten
überprüfen lassen. Dieser kommt zum Schluss, dass ein
Herzfehler nicht belegbar sei. Vielmehr habe ein sechswöchiger
Hungerstreik den 29-Jährigen so geschwächt, dass er den
Stress und die bei Zwangsausschaffungen übliche Fesselung nicht
überlebt habe.
Nun verlangt der Anwalt der Familie vom zuständigen
Staatsanwalt, er solle ein zweites Gutachten in Auftrag geben. Dieses
würde in Bezug auf die Todesursache Klarheit schaffen. Fakt ist,
dass die Polizisten, die die Ausschaffung durchführen sollten,
nicht wussten, wie schlecht der körperliche Zustand des
Häftlings war.
Dass er sich kaum rührte und Fragen nicht beantwortete,
interpretierten sie als passiven Widerstand. Die gerufene Ärztin
konnte bei ihrem Eintreffen nur noch den Tod des Mannes feststellen.
Seite 15
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Limmatthaler Tagblatt 23.2.11
Der Anwalt glaubt nicht an einen Herzfehler
Anna Wepfer
Ausschaffung Im Falle des Nigerianers, der im März 2010 vor
seiner Ausschaffung am Flughafen verstarb, will der Anwalt der Familie
ein neues medizinisches Gutachten. Entgegen bisheriger Annahmen sei ein
schwerer Herzfehler als Todesursache nicht erwiesen, sagt er.
"Gravierende Mängel" will Rechtsanwalt Viktor Györffy
im Obduktionsgutachten zum Todesfall vom vergangenen März gefunden
haben, als ein 29-jähriger Ausschaffungshäftling während
einer Fesselung am Flughafen Zürich verstarb. Die Mängel
seien juristischer und vor allem auch medizinischer Art, sagte
Györffy, Anwalt der Familie des Verstorbenen, gestern an einer
Medienkonferenz. Insbesondere die im Gutachten genannte Todesursache
sei wissenschaftlich nicht abgestützt, sagt er. Dass der
Nigerianer tatsächlich an einem Herzfehler gestorben sein soll,
glaubt Györffy nicht. Von der zuständigen Staatsanwaltschaft
Winterthur/Unterland fordert er darum ein zweites Gutachten.
Das erste Gutachten hat das Rechtsmedizinische Institut der
Universität Zürich (IRM) im Auftrag von Staatsanwalt
Christian Philipp erstellt. Der Gutachter kommt zum Schluss, die
Ursache für den Tod sei ein angeborener schwerer Herzfehler.
Vermutlich habe der Stress des Ausschaffungsprozederes das Herzversagen
begünstigt. Zudem hatte sich der 29-Jährige bis zum Zeitpunkt
der Ausschaffung mindestens sechs Wochen im Hungerstreik befunden und
über 30 Kilo abgenommen, was ihn schwächte. Das Gutachten
entkräftet damit den Verdacht, die involvierten Polizeibeamten
hätten den Häftling zu brutal behandelt oder gesundheitliche
Probleme missachtet.
Wesentliche Merkmale fehlen
Györffy hat das Gutachten sowie die Befunde und Fotografien
der Obduktion einem Herzspezialisten vorgelegt. Der Kardiologe - ein
ausgewiesener Praktiker, wie Györffy betont - kommt zu einem
anderen Schluss als das IRM: Die vorliegenden Veränderungen am
Herzmuskel taugten nicht, um einen vererbten Herzfehler zu belegen. Im
Gegenteil: Wesentliche Merkmale eines so geschädigten Herzes
lägen nicht vor. Der Kardiologe nennt eine andere Todesursache:
Der massive Gewichtsverlust der vorangegangenen 40 Tage Hungerstreik
könne zusammen mit dem Stress einer Ausschaffung zum Tod
führen - "und zwar auch bei einer Person, die kein
vorgeschädigtes Herz hat". Das wirft die Frage auf, weshalb der
abgemagerte Häftling trotz seines schlechten körperlichen
Zustandes als transportfähig eingestuft wurde. Bei einer
Zwangsausschaffung wie im vorliegenden Fall wird der Häftling nach
einer Leibesvisitation mehrfach an einen Rollstuhl gefesselt. Der
Nigerianer trug einen Helm und ein Netz über dem Kopf. Das sei ein
"brutaler Vorgang", sagte Christoph Hugenschmidt von der
Menschenrechtsorganisation "augenauf". "Das würde auch einen
gesunden Mann zutiefst erschüttern."
Nun soll ein zweites Gutachten zeigen, ob der Gesundheit des
Nigerianers genügend Rechnung getragen wurde. Diesen Antrag hat
Györffy der Staatsanwaltschaft bereits im August gestellt und mit
einer ausführlichen Begründung nachgedoppelt. Er verlangt,
dass nicht nur ein Pathologe wie am IRM das Gutachten verfasst, sondern
auch Spezialisten für Kardiologie und Psychologie beigezogen
werden. Allerdings soll das Gutachten nicht mehr vom IRM erstellt
werden, findet Györffy. "Das IRM ist nicht unabhängig, da es
überwiegend für die Justiz des Kantons Zürich tätig
ist", sagt er.
Pikant: Der Verfasser des IRM-Gutachtens, Morten Keller-Sutter,
ist der Mann der ehemaligen Bundesratskandidatin Karin Keller-Sutter
(FDP). Die St. Galler Regierungsrätin ist Präsidentin der
Schweizer Polizeidirektorenkonferenz (KKJPD) und dort zusätzlich
zuständig für die Schulung von Polizisten.
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Langenthaler Tagblatt 23.2.11
"Müssen wir nach Syrien, werden wir umgebracht"
Bollodingen Der Asylantrag von Faruq und Horiya wurde abgelehnt.
Am Donnerstag erfahren sie den Ausschaffungstermin
Andrea Marthaler
Im Jahr 2008 kamen Faruq und Horiya Hassu-Abdulkader in die
Schweiz. Sie waren aus ihrem Heimaltland Syrien geflohen. Denn Faruq
und Horiya gehören der Minderheit der Kurden an, die in Syrien
unterdrückt werden. In gebrochenem Deutsch, immer wieder nach
Worten suchend, erzählen die beiden ihre Geschichte: Faruq war
wegen Verdachts auf Diebstahl in Syrien ungerechtfertigt verhaftet und
anschliessend im Gefängnis gefoltert worden. Horiya, die in Syrien
Pharmazie und Kunst studiert hatte, nahm an Demonstrationen für
die kurdische Minderheit teil. Als 2004 bei einer solchen Demo ihre
Cousine getötet wurde, fühlte sie sich in Syrien nicht mehr
sicher. Sie flüchtete gemeinsam mit ihrem Cousin. Kurz bevor die
beiden das Land verliessen, heirateten sie.
Mittlerweile hat sich ihre Situation noch verschärft. Zum
einen haben sie heute eine 18 Monate alte Tochter - Tireej. Zum anderen
waren sie in der Schweiz weiterhin politisch aktiv. Im Herbst 2008 und
ein Jahr später gab Horiya im kurdischen Widerstandskanal "Roj TV"
ein Interview. Darin sprach sie über die Unterdrückung der
Frau und die Benachteiligung der Kurden in Syrien. Seither wird sie in
ihrem Heimatland von den Behörden gesucht. Mehrmals tauchte die
Sicherheitspolizei in ihrem früheren Zuhause auf. "Kehren wir nach
Syrien zurück, werden wir verhaftet", sagt Horiya fast
flüsternd.
Verwandte drohen mit dem Tod
Nicht nur vom Staat droht Horiya und Faruq aber Gefahr. Auch mit
ihren Familien haben die beiden gebrochen. Denn in der Schweiz sind sie
zum Christentum konvertiert. Nun haben sie Angst vor der Reaktion ihrer
Verwandten. In aufgezeichneten Telefongesprächen wünscht der
Vater von Faruq ihnen den Tod: "Wir können unsere Köpfe nicht
mehr erheben und unsere Ehre nicht wieder erlangen, ausser durch euren
Tod." Auch Horiyas Onkel drohte, sie umzubringen. Denn die
Konvertierung und Abwendung vom Islam empfindet die Familie als Verrat
und Verlust ihrer Ehre. Faruq nimmt die Drohung ernst: "Müssen wir
nach Syrien zurück, werden wir von unserer Familie umgebracht."
Ganz anders sehen dies die zuständigen Behörden.
Dreimal haben Faruq und Horiya ein Asylgesuch gestellt. Dreimal wurde
dies vom Bundesamt für Migration (BFM) abgelehnt. "Das BFM geht
grundsätzlich davon aus, dass Christen in Syrien nicht verfolgt
werden - auch im Falle einer Konvertierung", schreibt der
Pressesprecher des BFM, Michael Glauser, auf Anfrage. Das
Bundesverwaltungsgericht bestätigte am 7. Februar den Entscheid
des BFM. Die Geschichte der syrischen Familie sei "ausgesprochen
realitätsfremd"; die aufgezeichneten Telefongespräche
erfunden. Auch durch Horiyas Fernsehinterviews hätte sie nichts zu
befürchten. "Diese haben zu wenig öffentlichen Charakter",
steht im Gerichtsurteil.
Christentum wird missbilligt
Dennoch haben Horiya und Faruq noch nicht aufgegeben.
Unterstützung erhalten sie vom Aktionskomitee "gegen die
strategische Islamisierung der Schweiz". Deren Pressesprecher Daniel
Zingg, hat sie kurzerhand zu sich nach Hause nach Bollodingen geholt.
Im mit schweren Holzmöbeln ausgestatteten Wohnzimmer des
Riegelhauses wirken die Syrer seltsam fremd. Nur das verstreute
Kinderspielzeug zeigt, dass sie seit zehn Tagen dort wohnen. "Für
die Wahrheit ihrer Geschichte lege ich meine Hand ins Feuer", so Zingg,
der Faruq und Horiya seit gut drei Monaten kennt. Mit dem Gang an die
Öffentlichkeit will er bewirken, dass die Behörden ihre
Meinung ändern und die Familie doch in der Schweiz bleiben kann.
Es eilt. Am Donnerstag wollen die Zürcher Behörden
informieren, wann die Ausschaffung stattfinden soll.
Mittlerweilen sind auch Flüchtlingsorganisationen auf den
Fall der syrischen Familie aufmerksam geworden. Unter anderem "Open
Doors", die sich für verfolgte Christen einsetzen. Syrien liege
auf Rang 38 ihres Weltverfolgungsindex. "Christen sind in Syrien zwar
anerkannt", sagt Sprecher Daniel Gerber, "doch die Konvertierung vom
Islam zum Christentum wird missbilligt." Gerber bestätigt, dass es
deswegen immer wieder Ehrenmorde gebe.
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Tagesschau sf.tv 22.2.11
Tod des Ausschaffungshäftlings untersucht
Vergangenen März ist ein junger Ausschaffungshäftling am
Flughafen verstorben. Der Nigerianer starb er an einem Herzfehler. Die
Menschenrechtsgruppe "Augenauf" hat den Fall nun eingehend untersucht.
http://videoportal.sf.tv/video?id=b78edd03-f4e7-4ea6-b67d-768e3a8c686f
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sf.tv 22.2.11
Tod eines Ausschaffungshäflings: Fesselung war mit Schuld
sf
Die Kontroverse um den Tod eines nigerianischen
Ausschaffungshäftlings geht weiter: Eine Menschenrechtsgruppe
widerspricht dem rechtsmedizinischen Obuktionsbefund, der die
Behörden entlastet. Der junge Mann sei im März 2010 nicht an
einem Herzfehler gestorben.
Die Menschenrechtsgruppe "Augenauf" hat den Fall eingehend
untersucht. Sie präsentierte heute in Zürich ein neues
medizinisches Gutachten - das der Diagnose Herzfehler dezidiert
widerspricht.
Laut dem Anwalt der Hinterbliebenen liegt die wahrscheinliche
Todesursache wohl in diesem lange dauernden Hungerstreik. "Der
Betroffene hat mehr als ein Drittel seines Körpergewichts
verloren. Es gab auch gewisse Folgen einer mangelnden
Flüssigkeitszufuhr. Die Folgen dieses Hungers, verbunden mit dem
grossen Stress einer Level-4-Ausschaffung, mit der ganzen Fesselung,
das ist die wahrscheinliche Todesursache."
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Thuner Tagblatt 21.2.11
Nigerianer muss die Schweiz verlassen
Region ThunEin in Steffisburg lebender Nigerianer muss die
Schweiz verlassen. Die Rückkehr in sein Land sei ihm zuzumuten,
entschied das Verwaltungsgericht.
Der in Steffisburg lebende Nigerianer darf nicht in der Schweiz
bleiben, obwohl er bereits seit zehn Jahren hier lebt und drei Jahre
mit einer Schweizerin verheiratet war. Dies hat das Verwaltungsgericht
entschieden. Vor gut zehn Jahren reiste der Mann "aus Angst um sein
Leben", wie er selber angab, aus Nigeria in die Schweiz ein und stellte
erfolglos ein Asylgesuch. Die Wegweisung konnte jedoch mangels
Ausweispapieren nie vollzogen werden.
Im Oktober 2005 heiratete er dann eine Schweizerin, woraufhin ihm
der Aufenthalt in der Schweiz bewilligt wurde. Während seines
Aufenthaltes in der Schweiz nahm der Nigerianer an einem
Beschäftigungsprogramm, einem Sprachkurs und einem
Bewerbungstraining teil. Ab 2006 arbeitete er an verschiedenen Orten
temporär, vor drei Jahren fand er schliesslich eine
Festanstellung. Weil seine Ehe mit der Schweizerin aber bereits Anfang
2008 scheiterte, verweigerte ihm das Amt für Migration 2009 die
erneute Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung.
Mindestens drei Jahre Ehe
Dagegen erhob der Nigerianer Beschwerde bei der Polizei- und
Militärdirektion und nun auch beim Verwaltungsgericht in Bern.
Vergangenen Dienstag publizierte das Gericht seinen Entscheid. Darin
erklärten die Richter zuerst die Rechtslage: "Ausländische
Ehegatten haben Anspruch auf Verlängerung der
Aufenthaltsbewilligung." Dieser Anspruch bleibt auch nach
Auflösung der Ehe bestehen, sofern die Ehe mindestens drei Jahre
gedauert hat und zudem eine erfolgreiche Integration vorliegt.
Zu wenig lange verheiratet
Die erste Voraussetzung - eine mindestens drei Jahre andauernde
Ehe - sei in diesem Fall nicht erfüllt, es fehlen zehn Monate. Der
Hinweis des Beschwerdeführers, er habe schon ein Jahr vor der
Hochzeit mit seiner Ehefrau zusammengelebt, half ihm nicht weiter: "Die
Berechnung der dreijährigen Dauer beginnt erst mit dem Eheschluss
und endet mit der Aufgabe der Haushaltsgemeinschaft", erläuterte
das Gericht.
Rückkehr ist zumutbar
Der Nigerianer machte geltend, dass eine Rückkehr nach
Nigeria für ihn unzumutbar wäre. Das Gericht war anderer
Meinung: "Er hat 30 Jahre dort gelebt und ist mit der Kultur und der
Sprache seines Landes vertraut", heisst es im Urteil. Der Mann habe
dort die Schule besucht und während zehn Jahren in einem gut
bezahlten Job gearbeitet. "Es wird ihm ohne weiteres möglich sein,
sich gesellschaftlich und wirtschaftlich in Nigeria wieder zu
integrieren", befanden die Richter.
Die vom Nigerianer behauptete Gefährdung der
Wiedereingliederung ins Herkunftsland sei damit nicht gegeben. Mit
Blick auf die familiären und freundschaftlichen Kontakte des
Mannes könne man ausserdem nicht sagen, es bestehe eine solch enge
Beziehung zur Schweiz, dass eine Rückkehr nach Nigeria unzumutbar
wäre.
Beschwerde abgewiesen
Auch sämtliche weiteren Vorbringen des Mannes konnten die
Richter nicht überzeugen: "Die Vorinstanz hat korrekt
entschieden." Es liege auch kein Härtefall im Sinne einer
persönlichen Notlage vor.
Das Interesse an einer restriktiven Einwanderungspolitik erlaube
es den Ausländerbehörden, die Voraussetzungen für einen
Härtefall streng zu handhaben, so die Richter. Sie wiesen deshalb
die Beschwerde des Nigerianers ab und setzten ihm eine neue
Ausreisefrist an. Ihm bleibt nun als letzte Möglichkeit der Gang
ans Bundesgericht in Lausanne.
Nora Scheidegger
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Blick am Abend 21.2.11
Nigerianischer Dealer stirbt in Zürcher Zelle
TOT
Der 30-jährige Afrikaner hat zuvor mit Drogen gefüllte
Fingerlinge geschluckt.
In einer Zelle der Zürcher Polizeikaserne ist heute Morgen
ein Häftling tot aufgefunden worden. Der 30-jährige
Nigerianer war gestern Sonntag wegen Verdachts auf Drogendelikte
verhaftet worden, wie die Kantonspolizei heute Mittag mitteilte.
Erste Abklärungen hätten den dringenden Verdacht
nahegelegt, dass der Mann sogenannte Fingerlinge gefüllt mit
Drogen geschluckt hatte. Ob solch ein Fingerling geplatzt ist, will nun
das Institut für Rechtsmedizin abklären.
Bereits am 17. März 2010 starb ein nigerianischer
Häftling im Ausschaffungsgefängnis am Zürcher Flughafen.
Die Schweiz sistierte darauf die Rückschaffungen. SDA/bö
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Basler Zeitung 21.2.11
Überfüllte Gefängnisse
Behörden bauen lange Häftlings-Wartelisten ab
Mischa Hauswirth
Im Ausschaffungsgefängnis Bässlergut schafft
Basel-Stadt weitere Plätze für den Strafvollzug. Auch im
Baselbiet suchen die Behörden Lösungen für einen raschen
Massnahmenvollzug.
Im vergangenen Jahr verschärfte sich die Situation: Die
Gefängnisse waren schweizweit bereits ausgebucht, und die Liste
mit Häftlingen, die auf den Antritt ihres Strafvollzugs warteten,
wurde länger und länger. Ende 2010 fehlten in den Nordwest-
und Innerschweizer Kantonen rund hundert Massnahmevollzugsplätze
(die BaZ berichtete).
Statt in eine der Deutschschweizer Haftanstalten, Thorberg,
Pöschwies oder Lenzburg, überführt zu werden,
müssen Häftlinge in den Untersuchungs- und
Bezirksgefängnissen bleiben. Klaus Mannhart, Sprecher des Justiz-
und Sicherheitsdepartements Basel-Stadt, sagt: "Die Insassen bleiben
länger als geplant in Untersuchungshaft und blockieren die Zellen."
Rückstau
Die Gefängnisse in der Region sind aber nicht für den
Strafvollzug eingerichtet. Dies hat zur Folge, dass die Häftlinge
nicht arbeiten können, wie dies in Strafanstalten üblich ist.
Verschärfend kommt hinzu, dass die 120 Gefängnisplätze,
über die Basel-Stadt in Bostadel (ZG) verfügt, ausgebucht
sind und der Bedarf in den vergangenen Monaten um bis zu dreissig
Plätze höher lag. Die Folge: Im Basler Gefängnis Waaghof
komme es zu einem Rückstau, so Klaus Mannhart.
Eine ähnlich angespannte Situation zeigt sich im Baselbiet.
Dominik Fricker von der Sicherheitsdirektion Basel-Landschaft spricht
ebenfalls von einem "Rückstau an Klienten". Im 2010 seien die
Bezirksgefängnisse sehr stark belegt gewesen, so Fricker. Und die
Wartefristen für geschlossene Anstalten seien nach wie vor lang.
Fricker sagt: "Dies kann sich erfahrungsgemäss aber rasch nach
unten oder oben verändern."
Der Kanton Basel-Stadt reagiert nun auf den Engpass. Im März
werden zwölf Gefängnisplätze im
Ausschaffungsgefängnis Bässlergut für den
Massnahmenvollzug zur Verfügung stehen. Bisher waren die
Plätze an andere Kantone vergeben gewesen. Der Kanton
Basel-Landschaft wendet zur Entlastung wenn möglich besondere
Haftmassnahmen wie elektronische Fussfesseln oder gemeinnützige
Arbeit an.
---
Sonntagszeitung 20.2.11
"Vorsicht vor Fehlanreizen"
Polizeidirektoren-Präsidentin Karin Keller-Sutter warnt vor
Rückkehrhilfe an renitente Asylsuchende
Zürich Die St. Galler Polizeidirektorin Karin Keller-Sutter
reagiert skeptisch auf die Absicht des Bundesamtes für Migration
(BFM), Rückkehrhilfen an renitente Asylsuchende und
Kleinkriminelle ohne Aufenthaltsstatus zu zahlen: "Wir müssen
aufpassen, dass wir nicht auf Fehlanreize setzen." Immerhin würde
so regelwidriges Verhalten belohnt.
Als Präsidentin der Konferenz der kantonalen Polizei- und
Justizdirektoren ist Keller-Sutter eine zentrale Figur in der
Migrationspolitik. Sie plädiert dafür, dass ein solches
Projekt erst als Versuch durchgeführt und genau evaluiert wird:
"Wenn das BFM zeigen kann, dass Fehlanreize verhindert werden
können, kann man die Sache genauer anschauen." Letztlich sei die
Gewährung von Rückkehrhilfen immer eine Gratwanderung.
Gemäss "Tages-Anzeiger" lässt BFM-Direktor Alard Du
Bois-Reymond zurzeit prüfen, ob der Bund auch Leuten bei der
Rückkehr in ihr Heimatland helfen soll, die in Ausschaffungs- oder
Durchsetzungshaft sitzen.
Dazu müsste die zugrunde liegende Verordnung umgeschrieben
werden. Rückkehrhilfen an straffällig gewordene Asylsuchende
schliesst die Regelung nicht aus.
Matthias Halbeis
---
Sonntagsblick 20.2.11
Schweiz will Dauer der Asylverfahren um zwei Drittel verkürzen
Nach einem Jahr bleiben oder raus!
VON MARCEL ODERMATT
Eine neue Studie zeigt: Es dauert im Schnitt 1000 Tage, bis ein
abgewiesener Asylbewerber das Land verlässt.
Die Unzufriedenheit in der Schweizer Asylpolitik ist seit Jahren
gross. Vor allem darüber, dass die Verfahren zu lange dauern. Zu
diesem Befund kommt nun auch SP-Justizministerin Simonetta Sommaruga -
ebenso wie ihre bürgerlichen Vorgänger Eveline
Widmer-Schlumpf (BDP), Christoph Blocher (SVP), Ruth Metzler (CVP) und
Arnold Koller (CVP).
Und wieder setzt das Parlament den Bundesrat unter Druck.
Bis Ende März soll Bundesrätin Sommaruga im Auftrag der
staatspolitischen Kommission des Ständerats prüfen, wie
Asylverfahren wesentlich verkürzt werden können.
Inzwischen hat das zuständige Bundesamt für Migration
(BFM) erstmals mit einer Studie untersucht, wie lange Asylbewerber in
der Schweiz bleiben, bis ein rechtskräftiger Entscheid
gefällt ist. Die Ergebnisse werden in den nächsten Wochen
präsentiert. Und sie lassen aufhorchen:
Wenn ein Asylbewerber Rechtsmittel gegen einen ablehnenden
Bescheid einlegt, bleibt er durchschnittlich 750 Tage in der Schweiz.
Von der Antragstellung bis zur Ausreise vergehen in diesen
Fällen rund 1000 Tage.
Ein unhaltbarer Zustand, wie BFM-Direktor Alard du Bois-Reymond
im Gespräch mit SonntagsBlick darlegt:
Herr du Bois-Reymond, drei Jahre sind eine lange Zeit.
Alard du Bois-Reymond: Das macht die Glaubwürdigkeit des
Asylsystems kaputt. In dieser langen Zeit fangen die Leute an, Kontakte
zu knüpfen, Deutsch zu lernen oder einen Job zu finden. Ihr Umfeld
lernt diese Personen kennen und schätzen. Wenn wir dann die
Ausweisung vollziehen wollen, das heisst diese Personen aus dem Land
schicken, dann versteht das niemand mehr. Deshalb müssen wir viel
schneller werden.
Wie schnell?
Unser Ziel ist: Ein Verfahren muss von der Einreichung des
Gesuchs bis zum Vollzug unter einem Jahr abgewickelt werden können.
Wie wollen Sie das erreichen?
Wir wollen nicht, dass Personen, die keine Flüchtlinge sind,
in die Schweiz kommen und lange bleiben. Es muss aber Raum geschaffen
werden für tatsächliche Flüchtlinge. Die vielen Probleme
im Asylbereich erschweren es, den wirklich Schutzbedürftigen zu
helfen.
Aber auch, dass viele rechtskräftig Abgewiesene einfach in
der Schweiz bleiben, macht das Asylwesen unglaubwürdig.
Ich bin mit Ihnen einverstanden. Unsere Erfahrung ist, dass diese
Leute viel besser kooperieren, wenn der Entscheid schnell gefällt
wird. Aber das ist einfacher gesagt als getan. Wenn Länder wie
jetzt zum Beispiel Algerien diese Personen nicht zurücknehmen,
dann haben wir ein Problem.
Haben Sie hier beim BFM einen möglichen Lösungsansatz?
Eine Möglichkeit sind Migrationspartnerschaften, wie wir sie
gerade mit Nigeria abgeschlossen haben. Dies kann helfen.
Nach Nigeria wurden ja wieder Leute zurückgeschafft. Finden
weitere Flüge statt?
Ja, es wird weitere geben.
Nigerianer bekommen maximal 6000 Franken Rückkehrhilfe.
Viele meinen, das sei zu viel.
Was ist die Alternative? Wir wollen Anreize setzen, damit die
Personen freiwillig zurückkehren. Zahlen wir Geld, sind die
Chancen gut, dass sie ausreisen. Bleiben sie hier, besteht die Gefahr,
dass sie straffällig werden. Das kostet uns viel mehr. Wie soll
ein Nigerianer, der illegal hier ist, seinen Lebensunterhalt legal
verdienen? Ein Tag im Gefängnis kostet den Staat 400 Franken. Dann
zahlen wir lieber 6000 Franken.
Es gibt Organisationen, die abgewiesene Asylbewerber dabei
unterstützen, im Land zu bleiben.
Es ist wichtig, dass uns Organisationen wie Amnesty International
auf die Finger schauen. Manchmal übertreiben sie aber. Ich habe
kein Verständnis dafür, dass die Flüchtlingshilfe jetzt
gegen die Nothilfe protestiert. Wir geben diesen Leuten sogar noch Geld
und unterstützen sie vor Ort mit Ausbildungen, wenn sie das Land
verlassen. Ich verstehe nicht, dass sich gewisse Organisationen
für Flüchtlinge einsetzen, die gar keine sind.
Warum muss die Schweiz eigentlich im Verhältnis fünfmal
mehr Asylbewerber aufnehmen als Deutschland oder England?
Das Dublin-Abkommen hilft, die Lasten zu verteilen. Heute
können wir Leute, die in einem anderen Land ein Gesuch stellten,
wieder dorthin zurückschicken, im letzten Jahr waren es 5000
Asylbewerber; übernommen haben wir rund 800. Aber schauen Sie die
zwei Länder Griechenland und Italien an. Diese Länder haben
viel grössere Probleme als wir. Ein weitergehender Lastenausgleich
als Dublin ist deshalb nicht realistisch.
Sollte sich du Bois-Reymond durchsetzen, steht die Schweizer
Asylpolitik vor einer Trendwende. Ihr Augenmerk soll von
Wirtschaftsflüchtlingen auf wirklich Verfolgte gerichtet werden.
Dazu passt auch der jüngste Vorstoss seiner Chefin Simonetta
Sommaruga, die 35 Kontingentsflüchtlinge aus dem Irak und Pakistan
aufnehmen will - zum Teil verfolgte Christen.
Bei diesem Ansatz werden Flüchtlinge - insbesondere Frauen
und Kinder - direkt in ihren Heimatländern ausgewählt, dann
bringt man sie in die Schweiz. BFM-Direktor du Bois-Reymond: "Es
stimmt, dass jene, die unsere Hilfe am meisten benötigen
würden, oftmals gar nicht in die Schweiz kommen."
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Bund 19.2.11
Rückkehrhilfe auch für Häftlinge?
Der Bund lässt prüfen, ob auch Asylsuchende in
Ausschaffungs- und Durchsetzungshaft finanzielle Unterstützung
für die Heimkehr bekommen sollen. Bislang wurde Rückkehrhilfe
bei "missbräuchlichem Verhalten" nicht gewährt.
Fabian Renz
Der Bund setzt heute auf eine
Zuckerbrot-und-Peitsche-Kombination, um Asylsuchende, deren Gesuch
abgelehnt wurde, zur Rückkehr in ihre Heimatländer zu
bewegen. Als Peitsche stehen etwa verschiedene Formen der Inhaftierung
zur Verfügung. Das Zuckerbrot hingegen, die sogenannte
Rückkehrhilfe (je nach Nationalität bis zu 6000 Franken pro
Ausreisendem), gibt es nur unter bestimmten Bedingungen. Keinerlei
Anspruch darauf haben "Personen, die straffällig geworden sind
oder die sich während oder nach dem Verfahren offensichtlich
missbräuchlich verhalten", wie es auf der Website des Bundesamts
für Migration (BFM) heisst.
Nun erwägt das BFM, von diesen strikten Grundsätzen
abzurücken, wie BFM-Direktor Alard du Bois-Reymond bestätigt.
Er lässt im Rahmen eines Prüfungsauftrags abklären, ob
man individuelle Rückkehrhilfe künftig auch Asylsuchenden
gewähren soll, die in Ausschaffungs- oder gar Durchsetzungshaft
sitzen. Solche Zwangsmassnahmen werden gegenüber
Ausreisepflichtigen angewandt, die ihre Wegweisung durch renitentes
Verhalten verhindern. Um ihnen künftig finanzielle Hilfe
gewähren zu können, müsste die zugrunde liegende
Verordnung umgeschrieben werden.
Weniger Haftkosten
"Wir haben Häftlinge, bei denen wir wissen: Erhielten sie
finanzielle Unterstützung, dann würden sie in ihre
Heimatländer zurückkehren", erläutert du Bois-Reymond.
Die Schweiz könnte sich dadurch die durch die Haft entstehenden
Kosten und Umstände sparen.
Grundsätzlich wolle man "kooperatives Verhalten" belohnen,
betont der BFM-Direktor. Häftlinge könnten also nicht mit dem
Maximalbeitrag von 6000 Franken rechnen, der für die
Rückkehrhilfe einer einzelnen Person vorgesehen sei. Gleichzeitig
müsste der Zustupf doch hoch genug sein, damit ein monetärer
Ansporn zur Rückkehr entstehe.
Vorschlag löst Kontroversen aus
Du Bois-Reymonds Vorschlag polarisiert. Unterstützung findet
er bei der SP und bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. "Die
Idee klingt sinnvoll", sagt SP-Nationalrat Andy Tschümperlin (SZ).
"Es nützt allen, wenn man die Haftzeit verkürzen kann." Laut
Beat Meiner, Generalsekretär der Flüchtlingshilfe,
entsprechen die BFM-Pläne einer alten Forderung seiner
Organisation. "Viele Asylsuchende haben sich hoch verschuldet, um in
die Schweiz zu kommen. Ein Geldbeitrag kann einen Anreiz für die
Heimkehr schaffen."
Vehementer Widerstand kommt dafür vom Ausländerexperten
der FDP, Nationalrat Philipp Müller (AG). "Die Idee des BFM liefe
darauf hinaus, dass man jene Asylsuchenden belohnt, die sich
unkooperativ verhalten. Das ist völlig daneben, da fehlt mir
wirklich jedes Verständnis." Für Müller ist vielmehr
angezeigt, das System der Rückkehrhilfe grundsätzlich auf
seine Effektivität hin zu überprüfen und gegebenenfalls
zurückzufahren. Er werde in der kommenden Frühjahrssession
einen entsprechenden Vorstoss einreichen.
Programm für Kleinkriminelle
Das BFM denkt noch über ein weitergehendes Projekt nach -
eines, bei dem sogar straffällig gewordene Asylsuchende von
Rückkehrhilfe profitieren könnten. Laut du Bois-Reymond
prüft man derzeit zusammen mit dem Kanton Genf ein
Rückkehrhilfeprogramm, das dazu dienen soll, notorische
Kleinkriminelle aus Nordafrika loszuwerden. In Genf und Waadt bestehe
ein akutes Problem mit Asylsuchenden aus dem Maghreb, die
straffällig geworden seien - und die ihre Ausschaffung durch
Verneblung ihrer Identität und Staatszugehörigkeit
blockierten.
Das angedachte Programm sähe vor, dass diese Personen bei
einer Rückkehr in ihre Herkunftsländer von spezifischen
Integrationsprojekten profitieren könnten, welche von Bund und
Kantonen finanziert würden. Für ein solches Programm
wäre keine Verordnungsänderung notwendig.
--
Ausreise gegen Geld
Wie die Rückkehrhilfe funktioniert
Bares für einen Neuanfang zu Hause: Die Rückkehrhilfe
wurde in den 90er-Jahren nach dem Bosnien-Krieg lanciert, um den
Zehntausenden von Bosniern die Rückkehr in ihre Heimat schmackhaft
zu machen. 10 000 Menschen meldeten sich damals für den
finanziellen Zustupf. Vom Programm für Kosovo profitierten gar 40
000 Personen.
Grundsätzlich existieren heute zwei Formen von
Rückkehrhilfe: zum einen die individuelle, die auf 3000 Franken
pro Person limitiert ist und die unabhängig von der
Nationalität gewährt werden kann. Zum andern gibt es für
bestimmte Staaten spezielle Länderprogramme, beispielsweise
für Nigeria, dessen Emigranten kaum je einen anerkannten Asylgrund
präsentieren können. Sie bekommen bis zu 6000 Franken vom
Bund, sofern sie nachweisen, dass sie in ihrer Heimat ein Geschäft
aufbauen wollen oder eine Ausbildung antreten. Nigeria ist derzeit das
wichtigste Herkunftsland von Asylsuchenden in der Schweiz. Weitere
Länderprogramme laufen derzeit etwa für Georgien und den Irak.
Hilfe für Schulen und Betriebe
Rückkehrhilfe kann beantragen, wer einen abschlägigen
Asylbescheid bekommen hat. Daneben dürfen aber auch anerkannte
Flüchtlinge, Opfer von Menschenhandel oder ausgebeutete
Tänzerinnen um Geld nachsuchen.
Zusätzlich zu den individuellen Rückkehrhilfeleistungen
bietet die Schweiz in machen Ländern sogenannte Strukturhilfe an:
Sie fliesst in Projekte für Schulen und Kleinbetriebe und in
Programme zur Bekämpfung von Menschenhandel.
Politisch geraten die Rückkehrhilfe und die Höhe der
entsprechenden Leistungen immer wieder unter Druck. Grund dafür
sind in erster Linie Missbrauchsfälle. (vv)
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gr.be.ch 16.2.11
Fragwürdige Bedingungen bei der Ausschaffungspraxis
Geschäfts-Nr.: 2010-9504
Geschäftstyp: Interpellation 155-2010
Eingereicht durch: Schärer Corinne Debora,
Grüne, Bern
Federführung: POM Polizei- und
Militärdirektion
Dringlichkeit beantragt: Nein
Vorstoss eingereicht am: 08.09.2010
http://www.gr.be.ch/etc/designs/gr/media.cdwsbinary.DOKUMENTE.acq/a1d5ecefec5147a9b44aaccd67ff3ba3-332/2/PDF/2010-9504-Vorstossantwort-D-35186.pdf
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MIGRATION CONTROL
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telezueri.ch 28.2.11
Flüchtlingswelle: Hans Hollenstein über die Konsequenzen
für den Kanton Zürich
http://www.telezueri.ch/index.php?id=6820&show_uid=9385&yyyymm=2011.03&cHash=3063340d46
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sf.tv 28.2.11
Schweizer Grenzwächter kontrollieren in Süd-Italien
sda/sf/rufi
Heute werden zwei Schweizer Grenzwächter nach Italien
entsandt, um die erwartete Flüchtlingswelle aus Nordafrika zu
kontrollieren. Die Schweiz kommt einer Anfrage der europäischen
Grenzagentur Frontex nach. Es handelt sich um den ersten Einsatz von
Schweizer Grenzwächtern an der Schengener Aussengrenze.
Die Experten sind entsandt worden, um im süditalienischen
Festland Flüchtlinge zu kontrollieren. Dies bestätigt Walter
Pavel, Sprecher der eidgenössischen Zollverwaltung gegenüber
"tagesschau.sf.tv".
Die beiden Grenzwächter aus dem Wallis und dem Jura
würden eingesetzt, um zu prüfen, ob die mitgeführten
amtlichen Dokumente echt seien. Zudem sollen bei diesen Kontrollen
Herkunft und Reiseroute der Migranten abgeklärt und Erkenntnisse
über Schleuser gewonnen werden.
Ein dritter Experte stehe auf Abruf bereit, wie Pavel sagt.
Dieser dritte Mann aus dem Tessin ist zur Überwachung aus der Luft
und der Auswertung der Bilder von technischen Hilfsgeräten, etwa
Wärmebildkameras, vorgesehen.
Die Einsatzführung vor Ort liegt bei den italienischen
Behörden. Der Einsatz ist in einer ersten Phase auf vier Wochen
befristet.
Erster Einsatz der Schweiz
Die Schweiz kann seit Ende Januar operativ bei Frontex mitwirken,
da das Grenzwachtkorps und die EU-Agentur zu diesem Zeitpunkt die
letzte dafür nötige Vereinbarung unterzeichnet haben.
Für Einsätze im Ausland sind 30 Schweizer
Grenzwächterinnen und Grenzwächter ausgebildet. Maximal
kommen jeweils fünf bis sechs Mitarbeitende zum Einsatz.
---
BZ 28.2.11
Justizdirektoren fordern: Flüchtlinge gleich zurückweisen
KantoneKarin Keller-Sutter, Präsidentin der kantonalen
Justizdirektoren will, dass der Bund Wirtschaftsflüchtlinge aus
Tunesien gar nicht erst auf die Kantone verteilt, sondern in einem
Bundeszentrum unterbringt oder gleich zurückweist.
Die oberste Verantwortliche für das Schweizer
Flüchtlingswesen warnt vor Panik. Was auf die Schweiz zukommt, ist
laut Bundesrätin Simonetta Sommaruga noch unklar. Die Kantone
nehmen aber den Bund in die Pflicht: Wirtschaftsflüchtlinge soll
er sofort zurückweisen. In mehreren Interviews in der
Sonntagspresse sagte Karin Keller-Sutter, Präsidentin der
kantonalen Justizdirektoren, der Bund dürfe
Wirtschaftsflüchtlinge namentlich aus Tunesien gar nicht erst auf
die Kantone verteilen, sondern müsse sie umgehend
zurückweisen. Gefragt sei vor allem auch die EU, hielt die St.
Galler Regierungsrätin fest: Sie müsse dafür sorgen,
"dass Personen, die kein Recht auf Asyl haben, nicht in einen anderen
europäischen Staat gelangen können".
Notsituation möglich
Die Kapazität beim Bund selbst ist knapp: Derzeit
stünden Plätze für 1200 bis maximal 1800 Asylbewerber
zur Verfügung, um die ersten Verfahrensschritte möglichst
rasch abzuschliessen, sagte Eveline Gugger Bruckdorfer, Vizedirektorin
des Bundesamts für Migration (BFM), in einem Interview mit der
Zeitung "Sonntag". "Sollten sehr viele Flüchtlinge kommen, sind
wir in einer absoluten Notsituation", fügte sie an. In diesem Fall
müssten Zivilschutzanlagen umgenutzt werden. Der Bund suche zwar
nach Möglichkeiten, "letztlich müssten aber die Kantone ihre
Strukturen ausbauen".
Justizministerin Simonetta Sommaruga versuchte in der
"Samstagrundschau" auf Schweizer Radio DRS, die Kantone zu beruhigen:
"Wir werden alles dafür tun, dass wir die Leute nicht in die
Kantone verteilen müssen." Sie räumte jedoch ein, dass
wahrscheinlich "eine schwierige Situation" auf die Schweiz zukomme. Das
Treffen der betroffenen Bundesstellen, den Kantonen und der Armee sei
ein erster wichtiger Schritt im Hinblick auf ankommende
Flüchtlinge gewesen, sagte sie. Niemand wisse aber, wie sich die
Lage entwickelt. Justizministerin Sommaruga und auch Keller-Sutter
machten aber auch klar, dass es sehr wohl Menschen gebe, etwa aus
Libyen, die Asylgründe vorlegen könnten. Diese könnten
auf die Kantone verteilt werden.
Hilfe über IKRK
Vorerst sei aber Hilfe vor Ort nötig, sagte Sommaruga.
Tunesien und Ägypten bräuchten direkte Unterstützung,
damit sie mit den vielen Menschen umgehen könnten, die aus Libyen
flüchten. Nur wenn beim Aufbau der dortigen Strukturen geholfen
werde, könnten die geflüchteten Menschen dereinst wieder in
ihre Heimat zurückkehren. Nicht vergessen gehen dürfe, was
auf den Strassen in Libyen derzeit passiere, sagte Sommaruga weiter.
Das sei "grauenhaft". Auch die Schweiz müsse ihre Verantwortung
wahrnehmen: "Zusammen mit anderen Ländern müssen wir schauen,
wie wir helfen können."
Einen ersten Schritt dazu kündigte am Samstag das
Eidgenössische Departement für auswärtige
Angelegenheiten (EDA) an. Je ein Team der humanitären Hilfe wird
an die ägyptische und die tunesische Grenze zu Libyen geschickt.
Sie sollen die Lage abklären und erste Sofortmassnahmen einleiten.
Schweizer Geschäftsträger zurück
Den umgekehrten Weg hat der Schweizer Geschäftsträger
ad interim in Libyen eingeschlagen; er hat Tripolis
verlassen. Der Diplomat befinde sich auf dem Weg in die Schweiz, teilte
das EDA gestern mit. Sobald es die Situation erlaube, werde wieder ein
Vertreter nach Tripolis entsandt, hiess es weiter. Die meisten in
Libyen wohnhaften Schweizer entschieden sich unterdessen in dem
nordafrikanischen Land zu bleiben. Gegenwärtig befinden sich nach
Kenntnissen des EDA noch 42 Schweizer - davon 40 Doppelbürger - in
Libyen.
sda
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Bund 28.2.11
Wer nur Arbeit sucht, soll rasch abgewiesen werden
Karin Keller-Sutter will verhindern, dass viele
Wirtschaftsflüchtlinge in die Schweiz kommen.
Verena Vonarburg
Das Flüchtlingscamp im italienischen Lampedusa ist voller
junger Männer aus Tunesien, die die Umwälzungen in ihrer
Heimat zum Anlass nehmen, um nach Europa aufzubrechen - in der Hoffnung
auf einen Job. Höchstwahrscheinlich hätten die wenigsten von
ihnen Aussicht auf Asyl in der Schweiz, sagt Karin Keller-Sutter,
Präsidentin der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren, in der
"SonntagsZeitung".
Michael Glauser, Sprecher des Bundesamts für Migration,
verweist auf Informationen aus Lampedusa, wonach es sich bei den
Flüchtlingen vorwiegend um arbeitslose Tunesier handle:
"Gemäss ihren eigenen Angaben sind es zum grössten Teil
Wirtschaftsflüchtlinge". Es bestehe ein Interesse, dass man die
Gesuche jener Personen, "bei denen der Fall klar ist, prioritär
behandelt und die Betreffenden möglichst rasch zurückschickt".
Keller-Sutter will wenn immer möglich verhindern, dass diese
Menschen in die Schweiz einreisen. Die Flüchtlinge sollten
"beispielsweise schon auf Lampedusa geprüft werden", so die St.
Galler Justizdirektorin. Der Fachausschuss "Asylverfahren und
Unterbringung", dem verschiedene Bundesstellen angehören, wird
innert zweier Wochen abklären, ob mit der EU und Italien eine
solche Lösung getroffen werden kann.
Die Kantone wehren sich schon vorsorglich dagegen, dass ihnen
allenfalls Wirtschaftsflüchtlinge aus Nordafrika zugeteilt werden.
Alle Asylbewerber werden zunächst einer Unterkunft des Bundes
zugeteilt. "Der Idealfall ist, dass man dort so rasch es geht
Entscheide fällen kann", sagt Glauser vom Migrationsamt.
Gleichzeitig sei aber nicht auszuschliessen, dass sich unter den
Tunesiern auch Männer befänden, die einen Asylgrund vorweisen
könnten.
"Eine humanitäre Tragödie"
Hier setzt auch Adrian Hauser, Sprecher der
Flüchtlingshilfe, an. Er verlangt eine "sorgfältige und faire
Einzelfallprüfung" und warnt vor einer Stigmatisierung der
Flüchtlinge aus der Krisenregion. Eine Asylprüfung bereits in
Lampedusa beurteilt Hauser skeptisch. Italien sei jetzt schon
überfordert von der Flüchtlingswelle, und niemand dürfe
"durch die Maschen fallen".
Justizministerin Simonetta Sommaruga sprach in der
"Samstagsrundschau" von Radio DRS von schwierigen Situationen, die
wahrscheinlich auch auf die Schweiz zukämen. Sie sagt aber ebenso,
man müsse "aufpassen, nicht Panik zu machen". Man wisse nicht, wie
sich die Situation entwickeln werde. Die Bundesrätin ruft dazu
auf, keinesfalls zu vergessen, was in den Ländern selbst, etwa in
Libyen, geschehe. Sommaruga spricht von einer "humanitären
Tragödie". Auch die Schweiz sei gefordert, zu helfen.
Laut ihren Informationen aus Brüssel anlässlich eines
Treffens mit den Justiz- und Innenministern der Schengen-Staaten leben
in Libyen ungefähr 2,5 Millionen Flüchtlinge aus
Schwarzafrika. Da die libyschen Grenzen nach Tunesien und Ägypten
offen sind, flüchten sehr viele von ihnen nun dorthin weiter.
In Bezug auf die Schweiz verspricht Sommaruga, man werde alles
daransetzen, die Asylverfahren rasch abzuschliessen. In erster Linie
sei Hilfe in Tunesien selbst wichtig. Was Flüchtlinge aus Libyen
betreffe, werde man eventuell Ausnahmelösungen treffen, wie man
sie während der Kosovo-Krise fand, als Zehntausende
vorübergehend in der Schweiz bleiben durften.
Immer wieder wird diskutiert, ob in der Schweiz die Armee
unterstützend eingesetzt werden könnte. FDP-Nationalrat
Philipp Müller sagt im "Sonntag", die Armee wäre seiner
Einschätzung nach in der Lage, Unterkünfte für 7000
Flüchtlinge anzubieten. Das Verteidigungsdepartement gibt dazu
keinen Kommentar ab und verweist auf die Arbeit der Asylgruppe des
Bundes. Jürg Noth, Chef des Grenzwachtkorps, spricht sich in der
"SonntagsZeitung" gegen Armeeangehörige an der Grenze aus.
Dafür sei speziell ausgebildetes Personal erforderlich.
Der interimistische Geschäftsträger der Schweizer
Botschaft in Tripolis ist laut Aussendepartement am Sonntagabend aus
Libyen ausgereist. Die meisten in Libyen wohnhaften Schweizer
entschieden sich, im nordafrikanischen Land zu bleiben. Bis Samstag
unterstützte die Schweizer Botschaft neun Schweizer bei der
Ausreise.
Weitere Berichte Seiten 2 und 3
---
NZZ 28.2.11
Migrations-Aussenpolitik gewinnt an Gewicht
Die interdepartementale und internationale Zusammenarbeit wird
auch bei den Libyen-Flüchtlingen relevant sein
Der Umgang mit regulärer und irregulärer Migration und
die Hilfe im Ausland sind näher zusammengerückt. Botschafter
Eduard Gnesa fördert die Nutzung von Synergien und den Dialog auf
internationaler Ebene.
C. W. · Als sich Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf
im Mai 2009 vom damaligen Direktor des Bundesamts für Migration,
Eduard Gnesa, trennte und ihn zum Sonderbotschafter für
internationale Migrations-Zusammenarbeit ernennen liess, erschien der
neue Posten als Konstrukt, dessen Rolle noch zu finden war. Inhaltlich
entspricht die Aufwertung des externen Aspekts der Asyl- und
Ausländerpolitik aber einer längerfristigen und sinnvollen
Tendenz.
Umfassende Sicht
Dass in Migrationsfragen Kooperation der Staaten gefragt ist,
ergibt sich schon aus der Natur der Sache. So bringt es letztlich
wenig, wenn sich die europäischen Staaten Asylbewerber gegenseitig
zuzuschieben versuchen. Oder es kann die Rückführung von
Abgewiesenen bei den Herkunftsstaaten auch deshalb auf Widerstand
stossen, weil deren Einwohnerbehörden technische
Unterstützung benötigen. Wenn von Armutsflüchtlingen die
Rede ist, stellt sich die Frage nach der Rolle der Entwicklungshilfe.
Und bei der regulären Arbeitsmigration wäre darauf zu achten,
dass sie nicht nur dem Einwanderungsland dient, sondern auch dem
Herkunftsland einen Nutzen in Form von Geld (Rimessen) oder beruflicher
Erfahrung bringt.
Allmählich sind auf der Grundlage solcher Zusammenhänge
verschiedene Instrumente entwickelt worden. Im europäischen Rahmen
ist der Einbezug in das Dublin-System zur Verhinderung von
Zweitgesuchen das wichtigste Element. Es wird gegenwärtig durch
die Überforderung Griechenlands und die erwarteten
Flüchtlinge aus dem Maghreb auf eine Probe gestellt. Nach dem Ende
des Bosnien- und des Kosovokrieges wurde in grossem Stil und mit Erfolg
Rückkehr- und darauf abgestimmte Wiederaufbauhilfe geleistet.
Gestützt auf das neue Ausländergesetz ist die Schweiz bisher
vier Migrationspartnerschaften eingegangen: mit Bosnien, Serbien,
Kosovo und kürzlich mit Nigeria. Es handelt sich um
Absichtserklärungen über eine breite und ausgewogene
Kooperation. Am letzten Mittwoch hat der Bundesrat einen Bericht zur
Kenntnis genommen, der den Stand der Migrations-Zusammenarbeit darlegt.
Globaler Dialog
Massnahmen im Ausland sind Sache mehrerer Stellen, vor allem des
Bundesamts für Migration (BfM), der Direktion für Entwicklung
und Zusammenarbeit (Deza) und der Abteilung für menschliche
Sicherheit im Aussendepartement. Eduard Gnesa wirkt an der Koordination
mit und nimmt Mandate nach aussen wahr. Er vertritt die Schweiz beim
Uno-Hochkommissariat für Flüchtlinge, bei der Internationalen
Organisation für Migration und im Globalen Forum für
Migration und Entwicklung. Das Letztgenannte besteht seit 2006 als
unverbindliche Plattform und wird inzwischen von 160 Staaten
benützt. Wie Gnesa erläutert, ist in dem Forum eine
sachbezogene Diskussion möglich - zumal heute viele Staaten (etwa
die Türkei, Mexiko oder Mali) zugleich Auswanderungs-,
Einwanderungs- und Durchgangsländer sind. Die jährlichen
Konferenzen dienen der Sensibilisierung für Probleme und dem
Austausch konkreter Erfahrungen. Letztes Jahr ging es auch um Fragen
wie Statistiken, die Information von Auswanderungswilligen zur
Vermeidung von Enttäuschungen oder die Aufsicht über
Rekrutierungsfirmen. Gegenwärtig hat die Schweiz den Vorsitz des
Forums inne. Sie führt statt eines grossen Treffens mehrere
regionale Tagungen durch, um den Praxisbezug noch zu verstärken.
Ausserdem wird im Mai in der Uno eine informelle Debatte stattfinden.
Viele Aktivitäten, kein Budget
Die Schweiz selber lässt gemäss ihrem
Ausländergesetz aus Nicht-EU-Ländern nur besonders
qualifizierte Arbeitskräfte zu, bietet aber die Möglichkeit
von Aus- und Weiterbildungsaufenthalten. Sie könnte zum Beispiel
an 18-monatigen Stages von philippinischem Pflegepersonal interessiert
sein, sagt Gnesa; ein geltendes Abkommen wurde noch wenig benützt.
Für Nigerianer prüft man Möglichkeiten
landwirtschaftlicher Praktika. Ausgewählte Kosovaren erhalten
einen Studienplatz. Im Weiteren kann man den "Migrationspartnern"
Expertisen bieten. Kosovo wünschte beispielsweise Beratung bei der
Bekämpfung des Menschenhandels.
Während solche Aktionen und die Programme der
Rückkehrhilfe einen engen Bezug zur Migration in die Schweiz
haben, ist die seit langem geleistete Hilfe an Flüchtlinge in der
Nähe ihre Herkunftsstaats allgemeiner ausgerichtet. Neuere
Beispiele sind Projekte für Somalier in Jemen und der Schulbau
für Iraker in Syrien. Als etwas aussergewöhnlichen Fall
erwähnt Gnesa den freiwilligen Rücktransport von
Äthiopiern, die an der Grenze zwischen Jemen und Saudiarabien
blockiert waren. Seit einigen Jahren wird in Marokko gestrandeten
Migranten Hilfe geboten. Solche Aufgaben könnten sich nun auch in
Libyen stellen, wo eine enorme Zahl nach Europa strebender
afrikanischer Migranten in Lagern lebt.
Für die Steuerung und Koordination der Massnahmen bestehen
die "interdepartementale Arbeitsgruppe Migration" und weitere Gremien.
Deren Struktur soll nun etwas vereinfacht werden. Offen ist teilweise
die Frage der Finanzierung. Die Deza wehrte sich zumindest in der
Vergangenheit dagegen, ihre langfristigen Prioritäten und ihre
für die Armutsbekämpfung bestimmten Mittel mit Blick auf
spezifische Interessen der Schweiz zu verlagern, baut heute allerdings
selber ein "Globalprogramm Migration" auf. Für den Westbalkan
hatte der Bundesrat 1999 dem BfM einen mehrjährigen Rahmenkredit
von rund 200 Millionen Franken bewilligt. In Zukunft müssten
migrationspolitische Projekte entweder aus einem neuen Kredit mit
weiter gefasster Zweckbestimmung oder vermehrt aus den Budgets der
beteiligten Ämter finanziert werden. Ohne Ressourcen lässt
sich der vielversprechende Weg jedenfalls nicht beschreiten.
Meinung & Debatte, Seite 17
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Limmattaler Tagblatt 28.2.11
Warten auf die Flüchtlings-Zahlen
Matthias Scharrer
Flüchtlinge Die Anzahl der Asylgesuche aus Nordafrika
dürfte steigen. "Der Kanton Zürich ist gewappnet", heisst es
dazu beim Kanton Zürich.
Der Bund erwartet angesichts der Situation in Libyen und
Nordafrika insgesamt eine Zunahme der Asylgesuche. Noch ist unklar, wie
schnell dies eintritt - und wie stark der Kanton Zürich davon
betroffen sein wird. "Wir haben noch keine Zahlen aus Bern erhalten",
sagt Jolanda van de Graaf, Sprecherin der kantonalen Direktion für
Sicherheit und Soziales. Fachleute gingen davon aus, dass etwa in
fünf Wochen die ersten Flüchtlinge einträfen. Vorher
seien genauere Angaben nicht zu erwarten.
Van de Graaf beruhigt: "Es besteht noch kein Grund zur Sorge. Der
Kanton Zürich ist gewappnet." Zwar seien die sechs
Asyl-Durchgangszentren und sieben Notunterkünfte des Kantons mit
ihren gesamthaft rund 1400 Plätzen schon heute belegt. Doch der
Kanton habe noch Kapazitäten, die er notfalls innert
nützlicher Frist aktivieren könne. Infrage kämen dazu
beispielsweise Zivilschutzanlagen.
Auch die Gemeinden könnten verstärkt einbezogen werden,
um eine allfällige Flüchtlingswelle aufzufangen.
Normalerweise sind sie verpflichtet, eine Anzahl Flüchtlinge
aufzunehmen, die 0,5Prozent ihrer Bevölkerung entspricht. Dieser
Ansatz könnte laut van de Graaf erhöht werden.
In erster Linie Bundessache
Allerdings sei die Flüchtlingsaufnahme in erster Linie
Bundessache. Erst wenn die Kapazitäten des Bundes nicht mehr
ausreichten, kämen die Kantone an die Reihe. Und erst danach die
Gemeinden.
Die Strukturen des Bundes sind derzeit auf 1300Asylgesuche pro
Monat ausgerichtet. Mithilfe der Kantone könnte diese
Kapazität auf 1800 Fälle erhöht werden, hiess es an
einer Medienorientierung des Bundesamts für Migration vom
vergangenen Donnerstag. Falls sich die Zahl der Asylgesuche um
monatlich mehr als 600 erhöhen würde, müssten die
Kantone einspringen.
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Migros-Magazin 28.2.11
Auf ein Wort
Schweizer Grenzwächter erstmals an der EU-Grenze
"Wir schützen künftig die EU-Aussengrenzen mit"
Erstmals kommen mehrere der insgesamt 1927 Schweizer
Grenzwächter im Ausland zum Einsatz. Jürg Noth (52), Chef des
Schweizer Grenzwachtkorps (GWK), sagt, wie die Operation in
Süditalien funktioniert und welche Auswirkungen Schengen hat.
Jürg Noth, wann kommen die ersten Schweizer
Grenzwächter in Italien zum Einsatz?
Zwei Experten fliegen am 28. Februar nach Italien. Sie werden auf
Sizilien und in Apulien arbeiten. Das hat die
EU-Grenzschutzbehörde Frontex entschieden.
Wie funktioniert der Einsatz?
Die beiden unbewaffneten Dokumentspezialisten werden in der
zweiten Kontrolllinie, hinter der eigentlichen Landesgrenze,
eingesetzt, um zu prüfen, ob die mitgeführten Dokumente echt
sind. Zudem sollen diese Kontrollen die Herkunft und die Reiseroute der
Migranten abklären. Ein dritter Experte ist als
Helikopterspezialist für die Luftüberwachung und die
Bilderauswertung von Hilfsgeräten, etwa Wärmebildkameras,
vorgesehen. Er steht auf Abruf bereit.
Und wie arbeitet die Schweiz mit Italien zusammen?
Die Frontex koordiniert die Einsätze. Vor Ort sind die
italienischen Behörden verantwortlich.
Was hat Schengen für Konsequenzen?
An den Schweizer Grenzen finden nach wie vor Zollkontrollen
statt. Unser Hauptauftrag besteht auch mit Schengen aus den
Zollaufgaben. Dazu gehören fiskalische und sicherheitspolizei-
liche Kontrollen sowie solche im Migrationsbereich. Da sind dem GWK mit
Schengen neue Aufgaben übertragen worden. Unter anderem wird die
Schweiz künftig die EU-Aussengrenzen mitschützen, wie das
Beispiel Süditalien zeigt. Ein Einsatz erfolgt nur auf Gesuch von
Frontex, etwa an internationalen Flughäfen im Schengen-Raum und an
Landesgrenzen in Südosteuropa.
Wie gross sind die Ressourcen des GWK?
Wir haben einen Pool von 30 Mitarbeitenden, die für
Einsätze im Ausland speziell ausgebildet sind. Zeitgleich werden
aber jeweils höchstens fünf bis sechs Leute delegiert.
Kommt es beim GWK zu einem personellen Engpass?
Unsere Bestände sind knapp. Wir haben zusätzlich
insgesamt 35 Stellen beantragt. Davon wurden bisher elf bewilligt.
Bereits jetzt können wir aber schnell auf Veränderungen
reagieren.
Beispielsweise in Chiasso.
Wir sind bereit, die Südgrenze bei Chiasso zu
verstärken. Mehr kann ich dazu nicht sagen.
Was bringt der Einsatz unbemannter Drohnen?
Drohnen sind ein nützliches Hilfsmittel, um die
grenzüberschreitende Kriminalität, den gewerbsmässig
organisierten Schmuggel und die illegale Mig- ration zu bekämpfen.
Aktuell sind keine Drohnen im Einsatz.
Gibt es zusätzlich ein nationales Krisenmanagement?
Wir stimmen die Massnahmen bundesweit ab. Das Bundesamt für
Migration (BFM) hat in einer Sondersitzung mit den Departe- menten und
Kantonsvertretern erklärt, dass es bei einem grösseren
Flüchtlingsanstieg auf die zusätzliche Unterstützung der
Kantone angewiesen ist.
Machen sich die Unruhen in Nordafrika in gestiegenen
Asylanträgen bemerkbar?
Das ist laut dem BFM noch nicht der Fall. Nur ändert sich
die Lage von Tag zu Tag. Bisher war die Schweiz kein Zielland für
Asylsuchende aus nordafrikanischen Ländern.
Justizministerin Sommaruga rechnet mit bis zu 300 000
Flüchtlingen in Europa. Wie kann die Schweiz dem standhalten?
Der Migrationsdruck an der Südgrenze besteht seit Langem.
Über weitere Massnahmen muss der Bundesrat entscheiden.
Interview Reto E. Wild
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20min.ch 27.2.11
Schweizer Notfallplan: Flüchtlinge sollen in Armee-Unterkünfte
Die Polizeidirektoren wollen die Verteilung von Flüchtlingen
auf die Kantone verhindern. Sie fordern schnelle
Rückführungen. Italien verschärft allerdings die
Rücknahme.
Die Kantone fürchten sich vor der drohenden
Flüchtlingswelle aus Nordafrika und fordern vom Bund ein
strikteres Vorgehen: Er soll Wirtschaftsflüchtlinge in
Bundeszentren unterbringen, anstatt sie auf die Kantone zu verteilen.
Mit der Zuweisung in die Kantone werde der Prozess "unnötig
verlängert", sagt Karin Keller-Sutter, Präsidentin der
kantonalen Justizdirektorenkonferenz, der "SonntagsZeitung". Sie
fordert deshalb eine möglichst frühe Prüfung des Asyls.
Die Flüchtlinge könnten bereits auf der Insel Lampedusa auf
Asyl geprüft werden. Im Moment handle es sich vorwiegend um
Tunesier, die ihr Land aus wirtschaftlichen Gründen verlassen
hätten und deshalb sowieso kein Anspruch auf Asyl haben.
Der Bund soll zudem dafür sorgen, dass in Italien bereits
registrierte und in die Schweiz eingereiste Flüchtlinge wieder
zurückgenommen werden, wie es die so genannten Dublin-Regeln
vorsehen. Laut der Kantone kann die Schweiz seit neustem nur noch
wenige Flüchtlinge zurück nach Italien schicken. Wie viele
Dublin-Fälle aber Italien tatsächlich ablehnt, blieb unklar.
Das Bundesamt für Migration bestätigte nur, dass Italien am
Flughafen Rom Einschränkungen mache. Auf keinen Fall dürften
deshalb die Dublin-Fälle auf die Kantone verteilt werden, sagt
Keller-Sutter im Interview mit der "NZZ am Sonntag". Es wecke
einerseits falsche Hoffnungen bei den Flüchtlingen, dass sie doch
noch bleiben dürften, andererseits sei die Gefahr höher, dass
sie verschwinden.
FDP: "Armee-Unterkünfte sind ideal für die
Flüchtlinge"
Die Regierungsrätin warnte allerdings vor Panik: "Es ist
nämlich nicht sicher, dass es tatsächlich zu grösseren
Flüchtlingsströmen in die Schweiz kommt", so Keller-Sutter in
der "NZZaS" weiter. Sollte es aber tatsächlich soweit kommen, wird
gemäss dem Bundesamt für Migration ein Notszenario
benötigt: Kämen plötzlich 5000 Flüchtlinge pro
Monat, sei es schwierig, die Strukturen auszudehnen, sagt Eveline
Gugger Bruckdorfer, Vizedirektorin des Bundesamts für Migration,
in einem Interview mit der Zeitung "Der Sonntag". "Wir würden
Gebäude benötigen, die wir zurzeit nicht haben."
Eine mögliche Lösung hat FDP-Nationalrat Philipp
Müller erarbeitet. Er hat über 30 Armee-Unterkünfte
ausgemacht, die insgesamt rund 7000 Flüchtlinge aufnehmen
könnten, wie "Der Sonntag" schreibt. "All diese
Truppenunterkünfte, welche die Armee auch für Schullager
anbietet, fassen zwischen 100 und 500 Personen", sagt Müller, "Sie
sind ideal." Er hat deshalb ein Papier erarbeitet und fordert wie
Keller-Sutter, dass "die Zentren für Asylsuchende in Bundeshoheit
bleiben". Die Flüchtlinge dürften auf keinen Fall auf Kantone
und Gemeinden verteilt werden.
Notszenario von Blocher und Schmid ist mangelhaft
Eine Lösung könnten auch Zivilschutzanlagen sein: 20
000 bis 25 000 Betten sind gemäss Christoph Flury, Chef Konzeption
des Bundesamts für Bevölkerungsschutz, sofort verfügbar.
"Wenn alle Stricke reissen, kann man auf sie zurückgreifen." Sie
verfügen über Betten, sanitäre Einrichtungen und zum
Teil über Duschen. Mit entsprechendem Vorlauf für
feuerpolizeiliche Verbesserungen könnte die Zahl gar auf
mindestens 40 000 erhöht werden. Das Bundesamt für Migration
wird es mit Freude zur Kenntnis nehmen: Gemäss Vizedirektorin
Gugger Bruckdorfer ist das BfM auf der Suche nach solchen
Möglichkeiten. Das Nothilfekonzept der Justiz- und
Verteidigungsminister Christoph Blocher und Samuel Schmid von 2007 sah
90 Armee-Unterkünfte vor. Die Detailabklärungen hätten
aber gezeigt, "dass viele Objekte bereits verkauft waren und die Armee
die restlichen selbst benötigte", so Gugger in der
"SonntagsZeitung". "Für Asylsuchende blieben keine übrig."
(fum/amc)
---
Sonntagszeitung 27.2.11
Flüchtlingsdrama: Kantone machen Druck
Sie wollen Verteilung auf eigene Lager verhindern - Italien
schränkt Rücknahme aus der Schweiz ein - WEF geht auf Distanz
zu Ghadhafi-Sohn
Von Pascal Tischhauser Und Martin Spieler
BERN Die Kantone fürchten sich vor der drohenden
Flüchtlingswelle aus Nordafrika und fordern vom Bund ein
strikteres Vorgehen. Das haben die Kantone dem Bund vergangene Woche
klargemacht.
"Flüchtlinge können bereits auf der Insel Lampedusa auf
Asyl geprüft werden", sagt Karin Keller-Sutter, Präsidentin
der kantonalen Justizdirektorenkonferenz. Der Bund soll mutmassliche
Wirtschaftsflüchtlinge in Bundeszentren unterbringen, anstatt sie
auf die Kantone zu verteilen. So hätte man Kapazitäten
für echte Flüchtlinge, sollten diese aus Libyen in die
Schweiz gelangen.
Zudem soll der Bund dafür sorgen, dass in Italien bereits
regis-trierte und in die Schweiz eingereiste Flüchtlinge wieder
zurückgenommen werden, wie es die sogenannten Dublin-Regeln
vorsehen. Laut den Kantonen kann die Schweiz seit Neustem nur noch
wenige Flüchtlinge zurück nach Italien schicken.
Der UNO-Sicherheitsrat kündigte an, in der Nacht auf Sonntag
Sanktionen gegen das libysche Regime in Kraft zu setzen. Zuvor hatte
das Gremium die Zustimmung der libyschen Delegation in New York
eingeholt.
In der Schweiz geht WEF-Gründer Klaus Schwab auf Distanz zu
Saif al-Islam Ghadhafi. Der Sohn des libyschen Diktators gehörte
dem Netzwerk der Young Global Leaders des WEF an. "Wir haben jetzt
entschieden, seine Mitgliedschaft mit sofortiger Wirkung zu
suspendieren", bestätigt WEF-Sprecher Yann Zopf.
Inzwischen hat das Schweizer Aussenministerium je ein Team
für humanitäre Hilfe in ägyptischen und tunesischen
Grenzregionen zu Libyen geschickt. Sie sollen erste Hilfsmassnahmen
einleiten.Seite 2,3 und 13
--
"Die Schweizer Kollegen sind mehr als willkommen"
Frontex-Direktor Ilkka Laitinen über arabische
Flüchtlinge und Schweizer Experten
Von Elsbeth Gugger, Brüssel
General Laitinen, Sie sind als Direktor von Frontex oberster
Grenzschützer aller EU- und Schengen-Staaten, also auch der
Schweiz. Wegen der drohenden Flüchtlingswelle aus den arabischen
Unruheregionen arbeiten ab morgen auch zwei Schweizer für Frontex.
Was bedeutet das für Sie?
Die Schweizer Kollegen sind mehr als willkommen. Sie haben schon
vor dem Schengen-Beitritt der Schweiz beim Austausch von Informationen
und bei Trainings mitgemacht. Sie sind bekannt für ihre hohe
Motivation und ihre guten Kenntnisse.
Wo werden sie eingesetzt?
Sie helfen mit, Beweise zu sammeln über die Motive von
irregulären Einwanderern in Süditalien. Und sie helfen bei
den Vorbereitungen für eine Rückkehr aller Flüchtlinge
ohne Aufenthaltsrecht in der EU oder im Schengen-Raum und der Schweiz.
Wünschen Sie sich mehr Schweizer Beteiligung an Frontex?
Es werden noch mehr Schweizer Spezialisten kommen. Sie sollen
eingesetzt werden bei Operationen an der Grenze zwischen Griechenland
und der Türkei, zwischen Polen und der Ukraine sowie zwischen der
Slowakei und der Ukraine. Wir machen bei der Zusammenarbeit mit der
Schweiz gerade die ersten Schritte. Es gibt noch viele
Möglichkeiten, die Zusammenarbeit zu vertiefen.
Die Internationale Organisation für Migration spricht von
bis eineinhalb Millionen Flüchtlingen, die in Europa eintreffen
könnten. Sind Sie dafür bereit?
Frontex steht zur Stelle, wenn es darum geht, Pläne zu
machen. Aber die Verantwortung trägt immer der betroffene
EU-Staat. Und dort stossen wir auf unterschiedliche Kapazitäten,
nicht nur beim Personal, sondern auch bei der Ausrüstung. Diese
Aufgabenteilung ist eher kompliziert. Frontex selber hat keine eigenen
Flugzeuge oder Boote. Alles ist im Besitz der Staaten und wird auch von
ihnen eingesetzt.
Was fordern Sie?
Frontex braucht ein operationelles Reserveteam mit eigenem
Material, mit Helikoptern, Flugzeugen und Booten. Dieses Team sollte
unter dem Kommando und der Kontrolle von Frontex stehen. Dass dies
nötig ist, zeigt das Beispiel Lampedusa: Die Situation erfordert
rasches Handeln. Aber die Planung und der Verhandlungsmechanismus, den
wir mit der EU und den Schengen-Ländern haben, sind sehr langsam.
Wo liegt das Problem?
Wir haben nicht genügend operationelle Beweglichkeit.
Dasselbe gilt für die Experten. Wir möchten sie sofort und
unbürokratisch aufgrund ihrer Kompetenzen einsetzen. Zudem
möchten wir, dass Frontex bei den Operationen mitreden darf und
nicht dem Kommandanten des jeweiligen EU-Staates untersteht.
Wie stellen Sie sich das vor?
Wir möchten wenigstens eine Art Vetorecht, um eine
Kursänderung durchzubringen oder eine Aktion zu stoppen. Denn
letztlich machen wir die Pläne, wir stellen die Informationen zur
Verfügung, und wir bezahlen die Rechnung. Unter dem Strich sind
wir deshalb auch verantwortlich.
Fängt Frontex die Flüchtlinge schon auf hoher See ab?
Im Fall von Lampedusa werden die irregulären Immigranten,
die mit kleinen und überfüllten Booten kommen, von den
italienischen Kollegen bis in den Hafen von Lampedusa eskortiert, um
Unfälle zu vermeiden. Dann muss festgestellt werden, ob die
Flüchtlinge unter internationalen Schutz fallen. Bisher haben wir
aber gesehen, dass das nur für ein paar wenige gilt. Die
italienischen Behörden untersuchen, ob jemand in Italien bleiben
darf oder nicht. Für diejenigen, die nicht bleiben dürfen,
wird die Rückkehr eingeleitet.
Rechte Politiker sagen, 90 Prozent seien
Wirtschaftsflüchtlinge.
Im Fall von Lampedusa geht es um etwa 5500 Personen, die seit
Anfang des Jahres auf der Insel ankamen - wobei der Grossteil in den
letzten Tagen eintraf. Wir müssen verhindern, Vorurteile zu
kreieren. Aber es ist interessant, zu beobachten, dass diese grosse
Gruppe, die die Grenze illegal überquert hat, homogen zu sein
scheint in Bezug auf Alter und Geschlecht. Weniger als zehn Prozent
kommen für ein Asylgesuch infrage.
Die Grünen werfen Ihnen vor, Frontex sei die hässliche
Antwort auf Migrationsprobleme.
Es ist nicht das erste Mal, dass wir kritisiert werden. Man sieht
uns hier eher als Symbol aller Aspekte von Grenzmanagement. Wir
versuchen, so transparent und fair wie nur möglich zu sein. Aber
was ich sicher weiss, ist, dass Grenzkontrollen nicht die Lösung
sind für irreguläre Migration.
--
Bundeszentren für Migranten
Kantone wollen Flüchtlinge aus Nordafrika nicht unterbringen
- und fordern mehr Geld für Asylsuchende
Von Pascal Tischhauser und Titus Plattner
Bern Die Kantone sind wegen der drohenden Flüchtlingswelle
aus Nordafrika im Streit mit dem Bund. Sie wollen nicht, dass vor allem
sie unter der Flüchtlingswelle aus Nordafrika zu leiden haben, und
fordern deshalb ein anders Asylmanagement. Das zeigen Recherchen der
SonntagsZeitung.
Konkret soll der Bund vermutete Wirtschaftsflüchtlinge in
Bundeszentren unterbringen, anstatt sie auf die Kantone zu verteilen.
Das hat der Generalsekretär der Konferenz der kantonalen Justiz-
und Polizeidirektoren (KKJPD), Roger Schneeberger, nach dem
Gipfeltreffen mit Vertretern des Bundesamts für Migration (BFM),
des Aussen- sowie des Militärdepartements und des Grenzwachtkorps
klargemacht. Er findet, man müsse "die richtigen Signale
aussenden" und frühzeitig klären, welche Flüchtlinge
keine Chance auf Asyl hätten. Die KKJPD-Präsidentin Karin
Keller-Sutter doppelt im Interview (siehe rechts) nach,
Wirtschaftsflüchtlinge müssten bereits auf Lampedusa
ausgemustert werden, weil mit einer Zuweisung in die Kantone der
Prozess "unnötig verlängert" werde.
Zudem wollen die Kantone für ihre Kosten im Asylwesen besser
entschädigt werden. Ein Kantonsvertreter machte am Treffen klar,
dass es mit den ordentlichen Tagespauschalen für Asylbewerber
nicht getan sei. Die Kantone müssten kostspielige Vorkehrungen
für eine allfällige Flüchtlingswelle treffen. So
würden etwa zusätzlich angemietete Unterbringungsplätze
nicht abgegolten. Solche wollen die Kantone entschädigt haben.
In der gestrigen "Samstagsrundschau" auf Radio DRS 1 mochte
Justizministerin Simonetta Sommaruga nicht auf Geldforderungen eingehen.
Schliesslich erwarten die Kantone, dass die Justizministerin mehr
Druck auf Italien ausübt. Der Nachbarstaat habe sich an die
Dublin-Regeln zu halten. Wie verschiedene Seiten bestätigen, nimmt
Italien zurzeit nur noch eine begrenzte Zahl an Dublin-Fällen
zurück. Als solche gelten Flüchtlinge, die vor der Einreise
in die Schweiz bereits in einem anderen Schengen-Land registriert
worden sind. In diese Länder kann die Schweiz Asylbewerber
zurückschicken.
Das Grenzwachtkorps will die Armee nicht an der Grenze
Italien kommt seinen Verpflichtungen aber nicht mehr voll nach.
Die Aussagen dazu sind widersprüchlich. Die Rede ist von zwei bis
fünf Personen, die Italien pro Tag nur noch akzeptiert. Die St.
Galler Regierungsrätin Keller-Sutter spricht von vier respektive
fünf Flüchtlingen - je nachdem, ob diese aus Genf oder
Zürich nach Italien gebracht werden.
Das BFM bestätigt nur, dass Italien auf dem Römer
Flughafen Einschränkungen mache. Die Kantone befürchten
jetzt, dass die italienische Praxis die Flüchtlingssituation in
der Schweiz zusätzlich verschärfen wird.
Noch ist die Zahl der Flüchtlinge verkraftbar, zumal ein
Grossteil von ihnen wieder nach Nordafrika zurückkehren muss.
Anders könnte das aufgrund der Entwicklung in Libyen aussehen.
Dort leben je nach Quelle 1,5 bis 3 Millionen Migranten aus der
Subsahara. Sommaruga spricht von 2,5 Millionen. Diese drängen in
die Nachbarländer. Dass diese dereinst nach Europa gelangen, davor
fürchten sich viele, allen voran die SVP. Sie verlangt einen
Armeeeinsatz an der Grenze mit systematischer Grenzkontrolle.
Der Chef des Grenzwachtkorps, Jürg Noth, winkt ab: Selbst
wenn Schengen ausser Kraft gesetzt würde und systematische
Grenzkontrollen vorübergehend wieder eingeführt würden,
brauche es im Migrationsbereich "speziell ausgebildetes Personal,
sprich Grenzwächterinnen und Grenzwächter".
--
Islamisten auf der Flucht
Der Schweizer Nachrichtendienst fürchtet, dass mit der
Flüchtlingswelle aus Nordafrika radikale Islamisten in die Schweiz
gelangen. Diese Befürchtung hat ein Vertreter am Asylgipfel vom
Donnerstag geäussert. Er verlangte, dass frühzeitig
darüber informiert werden müsse, wer in die Schweiz einreisen
wolle, damit der Nachrichtendienst rechtzeitig die Personalien
überprüfen und die Einreise von Islamisten verhindern
könne. Der Nachrichtendienst befürchtet, ob der grossen Zahl
an Flüchtlingen selbst an Grenzen zu stossen. Während der
Aufstände in Tunesien, Ägypten und Libyen konnten zahlreiche
Islamistenführer aus der Gefangenschaft entweichen. Der
Nachrichtendienst kommentiert eine allfällige Gefährdung
durch islamistische Flüchtlinge jedoch nicht.
--
"Flüchtlinge auf Lampedusa prüfen"
Karin Keller-Sutter über die Haltung der Kantone zu
Asylsuchenden
Italien warnt vor einer riesigen Flüchtlingswelle aus
Nordafrika. Sind die Kantone darauf vorbereitet?
Ob es eine Flüchtlingswelle gibt und wie gross diese sein
wird, weiss derzeit niemand. In den Kantonen bestehen noch Reserven an
Unterbringungsplätzen. Diese Reserven sind aber unterschiedlich
gross. Wichtig ist mir jedoch: Bei den Menschen, die bislang auf
Lampedusa eingetroffen sind, handelt es sich vorwiegend um Tunesier.
Dabei dürften dies mehrheitlich Personen sein, die ihr Land aus
wirtschaftlichen Gründen verlassen haben.
Sie meinen, diese Leute würden sowieso kein Asyl in der
Schweiz erhalten?
Höchstwahrscheinlich die wenigsten von ihnen. Deshalb ist es
den Kantonen so wichtig, dass Menschen ohne asylrelevante Gründe,
sollten sie denn dereinst in die Schweiz kommen, gar nicht erst auf die
Kantone verteilt werden.
Wieso nicht?
Weil die Verteilung auf die Kantone den Asylprozess bei
denjenigen Leuten, bei denen schon von vornherein klar ist, dass sie
die Flüchtlingseigenschaft nicht erfüllen, unnötig
verlängert. Die Prüfung muss deshalb schon vorher erfolgen,
sodass nur noch diejenigen Asylsuchenden den Kantonen zugewiesen
werden, die auch eine reelle Chance auf Asyl haben.
Und die andern sollen in Bundeszentren untergebracht werden?
Ja, oder noch besser schon vor Ort behandelt werden.
In Tunesien?
Nein, aber die Flüchtlinge könnten beispielsweise schon
auf Lampedusa geprüft werden.
Asylbewerber aus Lampedusa, die den Weg in die Schweiz dennoch
finden, könnte die Schweiz ja als sogenannte Dublin-Fälle
nach Italien zurückschicken.
Das funktioniert schon heute nicht mehr richtig. Italien
akzeptiert nur noch einmal täglich einen ordentlichen Flug mit
einer begrenzten Zahl an Dublin-Fällen: mit fünf Personen,
wenn der Flug aus Zürich stammt, und mit vier, falls er aus Genf
kommt. Sonderflüge akzeptiert Italien nicht mehr. Damit haben wir
heute schon Wartezeiten von mehr als einem Monat. Wenn die
Flüchtlingszahlen tatsächlich steigen, wird das zur
Belastungsprobe für das Dublin-System. Ich gehe davon aus, dass
der Bund mit Italien das Gespräch sucht.
Interview: P. Tischhauser
---
Sonntag 27.2.11
Flüchtlinge in Armee-Zentren
FDP schlägt vor, 30 Militärunterkünfte
bereitzustellen
Wegen der Krise in Arabien droht eine Flüchtlingswelle.
Für diesen Fall soll die Schweiz mit Bundes-Armee-Zentren
reagieren. Das fordert Nationalrat Philipp Müller in einem Papier
zuhanden der FDP. Er hat über 30 Armee-Unterkünfte
ausgemacht, die insgesamt rund 7000 Flüchtlinge aufnehmen
könnten. "All diese Truppenunterkünfte, welche die Armee auch
für Schullager anbietet, fassen zwischen 100 und 500 Personen",
sagt Müller. "Sie sind ideal."
Auch Zivilschutzanlagen könnten eine Lösung sein. 20000
bis 25000 Betten sind gemäss Christoph Flury, Chef Konzeption des
Bundesamts für Bevölkerungsschutz, sofort verfügbar.
"Wenn alle Stricke reissen, kann man auf sie zurückgreifen." Sie
verfügen über Betten und sanitäre Einrichtungen. Mit
entsprechendem Vorlauf für feuerpolizeiliche Verbesserungen
könnte die Zahl gar auf mindestens 40 000 erhöht werden.
Gemäss dem Aussendepartement befinden sich noch 42 Schweizer
in Libyen, 40 davon sind Doppelbürger. Bundespräsidentin
Micheline Calmy-Rey verurteilt die Gewalt gegen die Demonstrierenden
aufs Schärfste.
Arabien-Krise: Seiten 2/3, 16/17
Von Othmar von Matt
--
Armee-Unterkünfte könnten 7000 Flüchtlinge aufnehmen
Die Schweiz ist schlecht vorbereitet auf einen möglichen
Asylbewerberstrom aus arabischen Krisenländern
von Othmar von Matt
Der Bund hat keine Notunterkünfte für eine
Flüchtlingswelle. FDP-Nationalrat Philipp Müller fordert nun
Bundeszentren in leer stehenden Armeelagern. Auch 25000
Zivilschutzbetten stünden zur Verfügung.
Für Philipp Müller ist klar, was als Erstes geschehen
muss, sollte die Flüchtlingswelle aus Nordafrika tatsächlich
die Schweiz erreichen: "Wir müssen auf Dublin beharren." Was das
heisst, zeigt er in seinem Papier zur Libyen-Krise auf, das der
FDP-Parteivorstand am Montag verabschieden soll. "Bei fast allen
Migranten aus Tunesien und Ägypten handelt es sich um
Wirtschaftsflüchtlinge, die sofort zurückgeschickt werden
müssen." Die Schweiz müsse Druck auf die EU machen, "damit
die Migranten rasch aus Italien nach Nordafrika zurückgeführt
werden können".
Doch auch dem FDP-POlitiker ist klar, dass dies kaum genügt.
Umso mehr, als er betont, dass es sich bei libyschen Flüchtlingen
schon eher um Gewaltflüchtlinge handeln könnte. Dort herrsche
Bürgerkrieg. Deshalb fordert er neu Bundeszentren für den
Flüchtlingsstrom, sollte er die Schweiz wirklich erreichen.
Müller hat über 30 Armee-Unterkünfte ausgemacht,
die insgesamt rund 7000 Flüchtlinge aufnehmen könnten.
Truppenunterkünfte wie jene in Schwarzsee FR (627 Betten), Lenk BE
(450), Grandvillard FR (311) und Gluringen VS (290). "All diese
Truppenunterkünfte, welche die Armee auch für Schullager
anbietet, fassen zwischen 100 und 500 Personen", sagt Müller. "Sie
sind ideal." Die Angaben zu den Anlagen hat er einer Liste des VBS von
Februar 2009 entnommen.
Das überrascht, denn im Bundesamt für Migration (BFM)
geht man davon aus, dass die Armee keine Unterkünfte zur
Verfügung stellen kann. Und das VBS muss erst prüfen, ob es
Anlagen zur Verfügung stellen kann. Noch Ende 2007 hatten die
damaligen Justiz- und Verteidigungsminister Christoph Blocher und
Samuel Schmid ein Nothilfekonzept verabschiedet. Es sah 90
Armee-Unterkünfte vor im Fall einer Flüchtlingswelle. "Das
war das Ziel", sagt Vizedirektorin Eveline Gugger Bruckdorfer (siehe
Interview Seite 4). "Die Detail-Abklärungen zeigten jedoch, dass
viele Objekte bereits verkauft waren und die Armee die restlichen
selbst benötigte. Für Asylsuchende blieben keine übrig."
Diese Aussagen zeigen: Die Schweiz ist schlecht vorbereitet auf
eine Flüchtlingswelle. Die Arbeitsgruppe Notkonzept blieb bis 2011
praktisch untätig. Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf
forderte die Kantone auf, selbst Reserven anzulegen und sprach ihnen
dafür 25 Millionen zu. Obwohl klar war: Der Bund muss im Falle
einer Flüchtlingswelle die Betreuung des ersten Monats
sicherstellen. Dafür stehen heute 1200 Plätze zur
Verfügung, die auf maximal 1800 ausgeweitet werden können.
Bund und Kantone wollen in den nächsten zwei Wochen ein Konzept
ausarbeiten.
Das Versäumnis stösst auf Kritik. "Wenn man realisiert,
dass man das Nothilfekonzept nicht einhalten kann, dann besteht
generell Handlungsbedarf", betont Heinz Brand, Präsident der
Vereinigung der kantonalen Migrationsämter. "Dass man nicht
handelte, ist als Befund nicht unproblematisch. Es braucht generell
eine Lösung für ausserordentliche Situationen, unbesehen von
der aktuellen Problemstellung."
Zivilschutzanlagen könnten die Lösung sein. 20000 bis
25000 Betten sind gemäss Christoph Flury, Chef Konzeption des
Bundesamts für Bevölkerungsschutz, sofort verfügbar.
"Wenn alle Stricke reissen, kann man auf sie zurückgreifen." Es
geht nicht um öffentliche Schutzräume, die oft bei
Schulhäusern liegen und meist belegt sind. Sondern um
Schutzanlagen für Organisationen wie Planungsstäbe und um
geschützte Sanitätshilfsstellen. Sie verfügen über
Betten, sanitäre Einrichtungen und zum Teil Duschen. Mit
feuerpolizeilichen Verbesserungen könnte die Zahl gar auf
mindestens 40000 erhöht werden.
Für Philipp Müller ist klar: "Die Zentren für
Asylsuchende müssen in Bundeshoheit bleiben." Die Flüchtlinge
dürften auf keinen Fall auf Kantone und Gemeinden verteilt werden.
"Sonst beginnen sie, sich zu assimilieren: über den
Kriminalbereich, den Arbeitsmarkt und über Kinder in den Schulen."
Das senke die Chancen massiv, abgewiesene Asylbewerber auszuschaffen:
auf 20 Prozent.
Seite 4: Interview mit derBFM-Vizedirektorin
--
Was, wenn 5000 Flüchtlinge kommen?
Die Vizedirektorin des Bundesamts für Migration über
die Vorbereitungen auf mögliche Asylbewerber-Ströme aus Nahost
Von Othmar von Matt
Frau Gugger Bruckdorfer, Ende 2007 hatten Christoph Blocher und
Samuel Schmid ein Nothilfekonzept verabschiedet. Es sah 90
Armee-Unterkünfte vor. Was ist mit ihnen?
Eveline Gugger Bruckdorfer: Das war damals das Ziel. Man ging
davon aus, dass die Armee viele Unterkünfte zur Verfügung
stellen könnte. Die Detailabklärungen zeigten jedoch, dass
viele Objekte bereits verkauft waren und die Armee die restlichen
selbst benötigte. Für Asylsuchende blieben keine übrig.
Das Konzept war untauglich?
Es war eine Sackgasse.
Bis heute tat man nichts mehr, um Alternativen zu finden?
Wir kehrten zurück zum alten System. Die Kantone sollten
selbst Reserven aufbauen. Dafür erhielten sie vom Bund 25
Millionen.
Heute kann der Bund maximal 1800 Asylbewerber pro Monat
bewältigen?
Diese Aussage ist verkürzt. Dem Bund stehen heute total 1200
Plätze zur Verfügung, um die ersten Verfahrensschritte
schnellstmöglich abzuschliessen. Dann werden die Asylbewerber auf
die Kantone verteilt. Zurzeit können wir die Bundesstruktur auf
maximal 1800 Plätze steigern.
Und wenn plötzlich 5000 Flüchtlinge pro Monat kommen?
Die Strukturen sind schwierig auszudehnen. Wir würden
Gebäude benötigen, die wir zurzeit nicht haben. Wir suchen
aber nach Möglichkeiten. Letztlich müssten aber die Kantone
ihre Strukturen ausbauen.
Im Zivilschutzbereich sind bis zu 25000 Betten sofort greifbar,
im Notfall gar fast 50000.
Diese Zahlen freuen mich. Wir planen nun in den nächsten
zwei Wochen im Detail und werden auch mit dem Bundesamt für
Bevölkerungsschutz sprechen. Sollten sehr viele Flüchtlinge
kommen, sind wir in einer absoluten Notsituation. Dann müssen wir
Strukturen wie etwa Zivilschutzanlagen temporär umnutzen. Niemand
will aber seine Reserven zu früh öffentlich "verkaufen". Und
Zivilschutzanlagen haben ein grosses Problem: Familien etwa kann man
nicht monatelang darin unterbringen.
Sie geben sich drei Wochen Zeit für die Planung. Ist das
nicht zu blauäugig?
Es dauert vier bis fünf Wochen, bis Flüchtlinge bei uns
eintreffen würden. Das entspricht unseren Erfahrungswerten.
Bei der Kosovo-Flüchtlingswelle musste Jean-Daniel Gerber
händeringend um Unterkünfte betteln.
Das war eine Extremsituation. Wir hatten 40000 Gesuche, es
suchten sehr viele Leute gleichzeitig Schutz. Damals war aber allen
klar, wie gross die Not war. Die Türen gingen auf. Man schaffte in
unglaublich kurzer Zeit unglaublich viel.
Welches Klima stellen Sie heute fest?
Die involvierten Behörden sind sich sehr bewusst, dass etwas
auf uns zukommen kann. Und sie wollen ihre Verantwortung
übernehmen.
Tat man insgesamt zu wenig für einen solchen Krisenfall?
Bis 2007 war man intensiv mit dem Thema beschäftigt. Herr
Blocher konnte danach keinen Beitrag mehr leisten.
Armeeunterkünfte zu suchen war richtig.
Hat sich das Bundesamt für Migration zwischen 2008 und 2010
zu sehr mit Reorganisationen statt mit tauglichen Krisenkonzepten
beschäftigt?
Nein. Die Frage ist, wie viele Reserven man sich leisten will. Es
wäre Alarmismus und Aktivismus gewesen, Reserven für 25000
Gesuche zu schaffen. Das wäre viel zu teuer gewesen.
Holland mit seinen zentralen Strukturen gilt als Musterbeispiel.
Auch für die Schweiz?
Wir schauten uns das Modell an. Es ist sehr interessant, weil es
ein Gesamtsystem ist. Alles ist in den Zentren integriert,
Unterbringung, Verfahren, Rechtsmittelsystem. Bundesstrukturen. Das
bringt Tempo in die Verfahren. Der Vorteil unseres
föderalistischen Systems ist die breite Abstützung. Wir
kommen via Kantone schnell und über die ganze Schweiz verteilt zu
Betten. Das spricht für die Krisentauglichkeit unseres Systems.
Das holländische Gesamtsystem wäre für uns ein
gewaltiger Systemwechsel. Die Umstellung würde 10 Jahre dauern.
Für heute ist es keine Lösung.
--
Solidarisch wie 1956 und 1968
Grüne, SP und FDP wollen libysche Flüchtlinge aufnehmen
Die Schweiz müsse echte Flüchtlinge im Sinne ihrer
Gesetzgebung und der Flüchtlingskonvention aufnehmen, sagt
René Rhinow, Präsident des Schweizerischen Roten Kreuzes
und früherer FDP-Ständerat. "Wie die Situation jetzt
aussieht, sind die meisten aus Libyen flüchtenden Menschen wohl
echte Flüchtlinge." Gleicher Meinung sind auch Parlamentarier wie
der grüne Nationalrat Josef Lang: "Die Schweiz soll an ihre
humanitäre Tradition wie 1956 im Fall von Ungarn und 1968 der
Tschechoslowakei anknüpfen." Zudem stünden die westlichen
Staaten - nicht nur die Schweiz - in einer besonderen Schuld: "Erstens
liessen wir uns mit Öl beliefern. Zweitens wurden Waffensysteme
geliefert. Und drittens liessen wir uns von dieser Region vor
Flüchtlingen schützen", sagt Lang. "Und es geht auch um die
Honorierung einer demokratischen Revolution." Auch SP-Nationalrat
Hans-Jürg Fehr will libysche Flüchtlinge aufnehmen: "Wir
müssen uns vorbereiten auf eine Situation wie damals beim
Kosovo-Krieg." Es würden Tausende von Flüchtlingen kommen.
"Die Schweiz mit ihrer humanitären Tradition sollte ein Signal
setzen und nicht nur mauern."
Sogar FDP-Nationalrat Philipp Müller, der sonst in
Migrationsfragen einen harten Kurs fährt, betont: In Libyen
"herrscht Bürgerkrieg. Wenn wirklich libysche Flüchtlinge den
Weg in ie Schweiz finden, können sie nicht sofort
zurückgeführt werden. Das würde gegen das
Non-Refoulement-Prinzip verstossen". Zudem habe die Schweiz selbst
unter dem GaddafiRegime gelitten. (fv/att)
---
Zentralschweiz am Sonntag 27.2.11
"Die Lage ist unvorstellbar schrecklich"
Interview von Jürg Auf der Maur
Europa müsse mit riesigen Flüchtlingsströmen
rechnen, heisst es immer wieder. Das sei übertrieben, sagt die
Flüchtlingsexpertin. Sorgen bereiten ihr aber die vielen
Flüchtlingslager in Libyen.
juerg.aufdermaur@zentralschweizamsonntag.ch
Denise Graf, Europa und der Schweiz drohe eine
Flüchtlingswelle "biblischen Ausmasses", betonte die italienische
Regierung in den vergangenen Tagen mehrmals. Rechnen Sie mit 200 000
oder gar mit 1 Million Flüchtlingen aus Libyen?
Denise Graf*: Amnesty International stellt keine Zahlen in den
Raum. Wie viele Flüchtlinge am Schluss tatsächlich kommen,
hängt von verschiedenen Faktoren ab. Die Rede vom "biblischen
Ausmass" halte ich aber für grob übertrieben. Laut der
Internationalen Migrationsorganisation sind sie masslos
übertrieben und sogar unverantwortlich.
Schrauben Sie die Befürchtungen in Europa bewusst herunter?
Graf: Ich will nicht in Abrede stellen, dass durch die
Umwälzungen im arabischen Raum und durch einen allfälligen
Sturz von Ghadhafi Menschen aus Afrika nach Europa kommen werden. Aber
was die europäische Politik derzeit macht, ist übertrieben.
Da wird auf Stimmung gemacht.
Müssen wir damit rechnen, dass Kriminelle aus Ghadhafis
Umfeld nach Europa kommen wollen?
Graf: Das nächste Umfeld Ghadhafis wird nicht kommen. Es
würde auch nicht aufgenommen, wie das Beispiel der Gattin von
Hannibal zeigt. Sie ist Libanesin, und trotzdem hat sich der Libanon
geweigert, sie aufzunehmen. Auch die Tochter von Ghadhafi durfte nicht
auf Malta landen. Möglich ist, dass die mittleren Ränge
versuchen werden, sich nach Europa abzusetzen, weil sie Angst vor den
Konsequenzen des Umsturzes haben. Das wären dann aber sehr
anspruchsvolle Dossiers, die es genau zu prüfen gälte.
Was passiert mit den Gefangenenlagern in der libyschen Wüste?
Graf: Das ist eine offene Frage. Man weiss, dass in Libyen
insgesamt 16 Lager existieren, in denen die Menschen unter absolut
desolaten Umständen inhaftiert sind. Insgesamt leben in Libyen
rund 1,7 Millionen Migrantinnen und Migranten. Wie viele von ihnen in
diesen Camps leben müssen, ist unklar. Im vergangenen Sommer
sollen 4000 entlassen worden sein. Ich gehe davon aus, dass mehrere
tausend Menschen in solchen Migrations-Camps leben müssen.
Weshalb hat Ghadhafi solche Camps gebaut?
Graf: Das hat man schon bei Hamdani und Göldi gesehen:
Gemäss libyschem Gesetz braucht es ein Visum, damit man einreisen
darf. Dieses enthält einen Zweckartikel. Das Visum darf
später nicht zweckentfremdet verwendet werden. Die meisten
Migranten kamen über die "grüne" Grenze ins Land, also ohne
Visum. Sie wurden festgenommen, in Camps gesteckt und im besten Fall
als billige Arbeitskräfte toleriert.
Und was passierte mit ihnen im schlechtesten Fall?
Graf: Im schlechtesten Fall wurden die nicht inhaftierten
Migranten ausgenutzt und für ihre Arbeit nicht bezahlt. In den
Camps herrschen absolut schlimme Zustände. Systematische, schwere
Menschenrechtsverletzungen waren an der Tagesordnung. Die Leute wurden
geschlagen, es gab schwere Übergriffe. Sie wurden in den
völlig überbelegten Lagern eingepfercht. Die hygienische
Situation ist unvorstellbar schrecklich und nur schon, wer den Wunsch
nach medizinischer Betreuung oder Versorgung äusserte, wurde
brutal zusammengeschlagen. Am schlimmsten aber war, dass in diesen
Camps sogar Kinder festgehalten wurden. Das habe ich erst am Donnerstag
auf Fotos gesehen.
Weshalb hat die Öffentlichkeit das nicht gewusst?
Graf: In Europa wusste man das. Die EU hatte Kenntnis von diesen
Lagern. Es gibt auch Berichte über Libyen, in denen sie
erwähnt werden. Ghadhafi selbst hat immer damit gedroht, entweder
den Ölhahn zuzudrehen oder den Migrationshahn zu öffnen.
Dadurch wurde die Kritik stark eingedämmt.
Auch jetzt tut sich der Westen schwer. Die UNO konnte sich erst
nach mehreren Tagen durchringen, Massnahmen gegen Ghadhafi zu
ergreifen. Was ist zu tun?
Graf: Es braucht dringend Sanktionen gegen Libyen. Wir fordern
ganz klar, dass die Schweiz und die EU jetzt die libysche Opposition
und damit den Freiheitskampf der Bevölkerung unterstützen. Es
braucht anschliessend auch Hilfe beim Aufbau der Zivilgesellschaft. Die
Schlinge um Ghadhafi wird immer enger. Es ist wichtig, dass nun alle
Staaten ihm den Geldhahn zudrehen und keine Waffen mehr geliefert
werden. Solange er Geld hat, kann er seine Söldner finanzieren.
Sonst kann es plötzlich schnell gehen. Wir rufen die Regierungen
dazu auf, klare Positionen zu beziehen und Ghadhafi öffentlich zu
verurteilen. Die internationale Gemeinschaft hat bis jetzt zu stark
gezögert und muss nun ihre Pflicht wahrnehmen. Europa ist von
Italien stark gebremst worden. Dabei waren hier viele Eigeninteressen
im Spiel. Italien bezieht 34 Prozent seines Erdöls aus Libyen und
unterhält wichtige wirtschaftliche Beziehungen mit diesem Land und
ist damit also direkt abhängig.
Sollen, wie im Balkankrieg, kriegerische Mittel ergriffen werden?
Graf: Wahrscheinlich wird es nicht notwendig sein, so weit zu
gehen, weil sich die Situation vorher zu Ungunsten Ghadhafis
entscheidet.
Was soll die Schweiz tun?
Graf: Wir begrüssen den Entscheid des Bundesrates, das
Vermögen von Ghadhafi eingefroren zu haben. Das Asylrecht gilt es
einzuhalten. Das heisst, all jene, die per Boot in Italien ankommen,
müssen an Land gelassen werden, und sie müssen das Recht
erhalten, ein Asylgesuch zu stellen. Die Schweiz muss sich dafür
einsetzen. In einer weiteren Phase müssen sich die Schweiz und
ganz Europa dafür einsetzen, dass es zu einer weitgehenden
Demokratisierung kommt und eine Verfassung verabschiedet wird, die
Parteien zulässt und Grundrechte garantiert. Nur so kann sich eine
gesunde Zivilgesellschaft entwickeln und sich ohne Risiken an diesem
Prozess beteiligen. Gesundheits- und Erziehungssystem müssen
massgeblich verbessert werden, und der Reichtum muss gerechter verteilt
werden. Er darf nicht einfach von Ghadhafi an die Stammesherren
übergehen.
Das können weit mehr sein, als Sie selber vermuten.
Graf: In der Kosovo-Krise kamen in einem Jahr 47 000 Menschen in
die Schweiz. Das war nicht einfach, aber wir wurden mit der Situation
fertig. Ich gehe aber davon aus, dass es dieses Mal nicht so viele sind.
Ist die Schweiz überhaupt in der Lage, eine
Flüchtlingswelle zu bewältigen?
Graf: Die notwendige Infrastruktur wäre heute nicht sofort
vorhanden. Das ist die direkte Folge der Politik von Ex-Bundesrat
Christoph Blocher. Vorher hatte man für solche Krisen, wie sie nun
diskutiert werden, Reserven. Blocher wollte sparen, strich den Kantonen
das Geld und hielt sie an, keine zusätzlichen Aufnahmeplätze
in Reserve zu halten, wie dies früher der Fall war. In der Folge
wurden viele Objekte geschlossen, die Strukturen abgebaut, Mitarbeiter
entlassen und Mietverträge gekündigt.
Dann müsste man diese halt wieder einrichten.
Graf: Das ist nicht so einfach. Heute ist es extrem schwierig,
ein neues Asylzentrum zu eröffnen. Selbst jene Immobilien, die man
damals besass, stünden heute nicht mehr bereit. Solche Vorhaben
würden am Widerstand der Bevölkerung scheitern. Nicht zuletzt
deshalb muss Bundesrat Ueli Maurer nun prüfen, ob man Kasernen,
andere Armeeeinrichtungen oder Zivilschutzanlagen öffnen
könnte. Wenn die Asylzahlen gleich hoch wie in der Balkankrise
wären, wären wir heute nicht in der Lage, die Situation so
gut zu lösen wie damals. Es müssten massiv mehr
Zivilschutzanlagen geöffnet werden.
Das ist doch weiter nicht schlimm. Auch Schweizer Soldaten leben
in diesen Bunkern.
Graf: Es gibt eben massive Unterschiede, ob ein solcher
Aufenthalt drei Wochen oder mehrere Monate dauert, ob es ganze Familien
sind, die während Tagen und Wochen in diesen engen Räumen
ohne Tageslicht und Frischluft untergebracht sind und nicht einmal im
gleichen Raum schlafen können. Kämen wirklich Libyer in die
Schweiz, wären viele von ihnen zudem stark traumatisiert. Eine
Zivilschutzanlage ist kein Ort für Traumatisierte.
* Denise Graf ist Flüchtlingskoordinatorin bei Amnesty
International.
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Libyen-Ticker
sda. Eine Übersicht über die jüngsten Ereignisse
rund um die Revolution in Libyen:
Schweiz leistet Hilfe: Das Schweizer Aussenministerium hat je ein
Team der humanitären Hilfe an die ägyptische und an die
tunesische Grenze zu Libyen geschickt. Sie sollen die Bedürfnisse
im von einem grossflächigen Aufstand gegen Diktator Muammar el
Ghadhafi ergriffenen Land vor Ort abklären und erste
Sofortmassnahmen einleiten.
Beziehung abgebrochen:Frankreich hat gestern Abend seine
Beziehungen zum Regime von Ghadhafi abgebrochen. Das teilte das
Aussenministerium mit. Auf Distanz ging gestern auch Italiens
Präsident Silvio Berlusconi."Es scheint, dass Ghadhafi die
Situation in Libyen nicht mehr kontrolliert", sagte der Cavaliere
gestern in Rom und erklärte, der Freundschaftsvertrag zwischen
Italien und Libyen sei auf Eis gelegt.
Sanktionen verhängt: Noch vor der UNO und der
Europäischen Union haben die USA Sanktionen gegen die libysche
Führung verhängt. Auf Anordnung von US-Präsident Barack
Obama sollen die Vermögen der Führungsriege um Ghadhafi
eingefroren werden, auch die der Kinder des Staatschefs und aller
Personen, die an Menschenrechtsverstössen gegen Regierungsgegner
beteiligt waren. Die UNO wollte noch in der Nacht auf Sonntag
Strafmassnahmen beschliessen. Die EU verständigte sich prinzipiell
auf ein Sanktionspaket.
Kontrolle verloren: Immer mehr Ghadhafi-Anhänger wechseln
die Seite. Wie der Nachrichtensender El Dschasira berichtete, zeigen
Amateur-Video-Aufnahmen aus der Stadt Az Zawiyah, rund 50 Kilometer von
Tripolis entfernt, wie libysche Soldaten zu den Demonstranten
überlaufen.
Ausland sei schuld: Für Saif al- Islam, ein Sohn Ghadhafis,
ist "das Ausland" schuld an den Unruhen in Libyen. Die Demonstranten
seien "vom Ausland manipuliert" worden, sagte er gestern dem arabischen
Fernsehsender El Arabija.
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Südostschweiz 27.2.11
Nordafrika-Flüchtlinge sollen Graubünden nicht
erreichen
Der Bund soll dafür sorgen, dass die
Flüchtlingsströme früh kanalisiert werden. Das fordert
die Bündner Justizdirektorin Barbara Janom
Steiner.
Von Olivier Berger und Gil Bieler
Chur/Bern/Tripolis. - Die Flüchtlinge aus Nordafrika und dem
Nahen Osten sollen die Asylverfahren bereits an der EU-Aussengrenze
durchlaufen: Die Bündner Justizdirektorin Barbara
Janom Steiner fordert den Bund auf, bei der EU auf eine
entsprechende Lösung hinzuwirken. Im Gegenzug solle
die Schweiz der EU bei der Bewältigung des Ansturms helfen.
Sollte es nicht gelingen, die Flüchtlingsströme schon
vor dem Eintritt in den Schengen-Raum zu
stoppen, müssten die Asylverfahren in den Aufnahmezentren des
Bundes durch geführt werden, so Janom
Steiner. "Wenn sie erst einmal in den Kantonen sind, können selbst
Personen ohne triftigen Fluchtgrund nur noch schwer in ihre Heimat
zurück geschickt werden."
Graubünden sei auf den erwarteten Anstieg der Asylgesuche
aber gut vorbereitet, so Janom Steiner. Die Platzreserve in
den Unterkünften reiche vorläufig sicher aus.
Die Lage in Libyen beruhigte sich auch gestern nicht. In der
Hauptstadt Tripolis, wo sich Diktator Muammar el Gaddafi verschanzt
hält, lieferten sich Oppositionelle und Gaddafi-
getreue Streitkräfte heftige Gefechte. Der Orientalist Arnold
Hottinger sieht keine möglichen
Gaddafi-Nachfolger. Berichte Seiten 3, 17 und 22
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Wenn die Flüchtlinge kommen, ist Graubünden
vorbereitet
Der Kanton Graubünden ist auf einen möglichen
Flüchtlings strom aus Nordafrika und dem Nahen Osten
vorbereitet. In den Asylunterkünften ist genug Platz vorhanden.
Trotzdem verfolgt der Kanton die Entwicklung
mit Sorge.
Von Olivier Berger
Chur. - Kurzfristig dürften in der Schweiz rund die
Hälfte mehr Personen um Asyl nachsuchen als
gewöhnlich: Dieses Szenario erachtet das Bundesamt
für Migration als möglich, wie es in einem Rundschreiben an
die Kantone festhält. Der Grund für den
erwarteten Anstieg sind die aktuellen politischen
Entwicklungen in Nordafrika sowie im Nahen und Mittleren
Osten. Sollte sich die Situation in den arabischen Staaten
längerfristig nicht beruhigen, rechnet der Bund mit einem Anstieg
der Asylgesuche in der Schweiz um ein Mehrfaches (Ausgabe vom Freitag).
Graubünden ist vorbereitet
Die Bündner Regierung verfolgt die Entwicklung in den
nordafrikanischen Staaten "mit Sorge", wie die kantonale
Justizdirektorin Barbara Janom Steiner erklärt. Bisher sei
allerdings kein massgeblicher Anstieg der Asylgesuche verzeichnet
worden. Und selbst wenn sich das mittel fristige Szenario
des Bundes mit einer Zunahme um 25 Prozent bewahrheiten
würde, wäre Graubünden vorbereitet. "Derzeit haben wir
eine ausreichende Reserve an Plätzen in den Unterkünften",
betont Janom Steiner.
Strategie zahlt sich aus
Tatsächlich würden selbst die kurzfristigen
25-Prozent-Prognosen des Bundes bedeuten, dass Graubünden -
gemäss dem geltenden Verteilschlüssel nach
Bevölkerungsgrösse - binnen Jahresfrist rund 100
zusätzliche Asylsuchende betreuen müsste. Rund 180 freie
Plätze sind laut Janom Steiner bereits in den bestehenden
Unterkünften frei. "Unsere langfristige Immobilienstrategie, die
solche möglichen Schwankungen berücksichtigt,
zahlt sich jetzt aus." Dies gelte beispielsweise für die
Unterkunft in Davos-Laret, die man von Anfang an als "Teil der
strategischen Reserve eingeplant" habe.
Personal lässt sich einfacher finden
Auch Heinz Brand, Vorsteher des kantonalen Amts für Polizei
und Zivilrecht, rechnet nicht damit, dass Graubünden durch eine
verstärkte Zuwanderung aus Nordafrika und dem Nahen
Osten kurz- und mittelfristig vor Probleme gestellt würde. Ausser
den erwähnten Reserveplätzen bestehe auch die
Möglichkeit, "Unterkünfte in Notsituationen kurzfristig
verdichteter zu belegen", so Brand.
Kein Problem sei es ausserdem, bei einer Zunahme der Asylbewerber
geeignetes Personal zu finden. "Im Vergleich zur Suche nach geeigneten
Standorten für Unterkünfte ist die Personalrekrutierung
einfacher - die Suche nach Unterkünften geht meist mit viel
politischer Begleitmusik einher." Es habe sich in der
Vergangenheit bewährt, "unsere bereits im Asylbereich tätigen
Mitarbeiter durch kurzfristig angestelltes Personal zu
ergänzen" und so den Mehransturm aufzufangen.
Weniger als im Kosovo-Krieg
Ein Vorteil für Graubünden sei, dass der
Personalbestand bei starker Zuwanderung nicht übermässig
aufgestockt werde und danach wieder heruntergefahren werden müsse,
so Brand. "Das führt dazu, dass bei uns viele Personen arbeiten,
die bereits über langjährige Erfahrungen auch mit solchen
starken Zuwanderungsströmen haben." Brand verweist in diesem
Zusammenhang auf die Zeit des Kosovo-Kriegs. Rechnet der Bund jetzt mit
bis zu 450 Asylsuchenden in Graubünden pro Jahr, wurden in den
Kosovo-Kriegsjahren 1998 und 1999 über 1000 Personen
aufgenommen.
Trotzdem sieht man die längerfristige Entwicklung in
Nordafrika bei den Bündner Behörden mit einem
mulmigen Gefühl. Brand verweist auf die bisherige
"Dammfunktion" der Region gegenüber Flüchtlingen von
südlich der Sahara, welche jetzt wegfalle, was zum Problem werden
könne. Und Janom Steiner meint: "Wenn man
bedenkt, dass in diesem Raum das weltweit grösste
Bevölkerungswachstum besteht und dass dort bis in zehn Jahren 50
Millionen Menschen arbeitslos sein werden, dann können wir uns
vorstellen, was auf uns zukommen kann."
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Le Matin dimanche 27.2.11
Les réfugiés sont encore en Afrique, mais les cantons et
la Confédération se chamaillent déjà
Les cantons ne veulent pas payer pour les réfugiés
Titus Plattner
PLANIFICATION Ces prochaines semaines, la Suisse s'attend
à un afflux massif de réfugiés, en particulier en
provenance de Libye, où 2,5 millions de Noirs
africains étaient jusque-là retenus dans des camps.
Réunis jeudi pour élaborer des scénarios de crise,
cantons et Confédération débattent
déjà âprement de qui va devoir payer quoi.
Les quelques milliers de Tunisiens qui sont arrivés en
Italie ne sont qu'un début. Car, ces prochaines semaines et
prochains mois, des centaines de milliers de réfugiés
suivront. Des Noirs africains principalement, jusque-là
maintenus dans seize camps par le régime libyen. Selon le
Haut-Commissariat des Nations Unies pour les réfugiés,
ils seraient 1,5 million; 3 millions, selon
Muammar Kadhafi. Interrogée hier sur les ondes de la Radio
alémanique, la ministre de Justice et Police, Simonetta
Sommaruga, avançait pour sa part le chiffre de 2,5
millions de personnes. "Maintenant que les frontières avec la
Tunisie et l'Egypte ont été ouvertes, expliquait-elle,
beaucoup tenteront de fuir la guerre civile. " Selon Frontex, l'agence
européenne pour la gestion des frontières
extérieures, entre 500 000 et 1 million de personnes
pourraient finalement poser le pied sur sol européen.
Face à cette urgence humanitaire, les responsables des
cantons ne perdent toutefois pas le nord. Réunis jeudi à
Berne pour élaborer des scénarios de crise, ils ont
tenté de s'assurer qu'ils ne paieraient pas un centime de plus
que ce qu'ils devraient. Il faut savoir que c'est la
Confédération qui est responsable financièrement
des demandeurs d'asile, mais les cantons s'occupent de leur
hébergement. Berne leur verse donc une indemnité de
quelque 55 francs par personne et par jour.
Seulement voilà, maintenant qu'on demande aux cantons
d'anticiper, en prévoyant des capacités d'accueil pour
l'avenir, ceux-ci veulent aussi se faire dédommager. "Louer un
hôtel vide, pour peut-être s'en servir dans deux ou trois
mois, cela coûte cher", explique un représentant cantonal.
Voilà pourquoi le comité d'experts chargé
d'élaborer une planification concrète "tiendra
également compte des aspects financiers", comme le laissait
laconiquement entrevoir le communiqué de presse diffusé
jeudi par l'Office fédéral des migrations. Outre ces
considérations pécuniaires, les experts réunis
jeudi ont dessiné trois scénarios.
Scénario 1: statu quo
Cela peut sembler incroyable, mais le premier scénario
part sur la base d'un statu quo, c'est-à-dire environ 1300
demandes d'asile par mois. Car les autorités suisses, les
cantons en premier, espèrent encore que les règles de
Dublin s'appliqueront pleinement. En clair: que le premier pays
européen sur lequel ces migrants auront posé le pied se
chargera de la procédure d'asile. Mais l'Italie a
déjà commencé à faire obstruction, à
limiter le nombre de "cas Dublin" qu'elle accepte en retour.
Voilà pourquoi, en Suisse, beaucoup espèrent que ces
réfugiés n'arrivent même pas jusqu'ici. "Si
possible, les arrivants doivent déjà être
triés sur place, par exemple à Lampedusa", indique ainsi
Karin Keller-Sutter, présidente de la Conférence des
directeurs cantonaux de justice et police.
Procédures accélérées
Les deux autres scénarios misent sur une augmentation,
l'un à "1800 demandes par mois" et l'autre à "plus de
1800 demandes par mois", sans limite vers le haut. C'est bien ce
dernier qui risque de se réaliser.
Afin de pouvoir y faire face, tout le monde semble s'accorder
pour accélérer au maximum la procédure d'asile.
"Personne ne sait combien il y aura de réfugiés, mais ce
qui est certain, a indiqué la conseillère
fédérale Simonetta Sommaruga, c'est que les
procédures devront être les plus rapides possibles, afin
de refouler tout de suite les réfugiés
économiques. " Elle-même privilégie une aide sur
place, d'abord en Egypte et en Tunisie, où la situation est plus
stable: "Il faudra une aide financière de ces pays. Nous pouvons
aussi aider dans le processus de démocratisation, dans
l'organisation d'élections par exemple. "
La cheffe du Département de justice et police s'attend
toutefois à devoir prendre des mesures exceptionnelles, surtout
pour les réfugiés libyens ou actuellement
réfugiés en Libye, mais venant d'Afrique subsaharienne.
"En cas de situation exceptionnelle comme pendant la crise du Kosovo,
a-t-elle déclaré, la Suisse a déjà su faire
preuve de solidarité. " Le pays avait accueilli 47 000
réfugiés.
--
BERNE CRAINT L'ARRIVÉE D'ISLAMISTES RADICAUX
SERVICE DE RENSEIGNEMENT Parmi les milliers de demandeurs d'asile
qui pourraient arriver ces prochains mois, le Service de renseignement
de la Confédération (SRC) craint l'arrivée
d'islamistes radicaux. Jeudi à Berne, lors de la séance
spéciale du comité d'experts "Procédure d'asile et
hébergement", un cadre du SRC, spécialisé dans la
lutte contre le terrorisme international, s'en est
inquiété auprès de ses collègues, indiquent
plusieurs personnes présentes à la réunion.
L'agent C. D. , vingt ans d'expérience avec les groupes
islamistes, voulait s'assurer que ses services disposeraient
suffisamment tôt des informations d'identité concernant
les nouveaux arrivants en provenance d'Afrique du Nord. Le SRC a peur
d'être débordé par un trop grand nombre de
contrôles à effectuer. Contacté, le porte-parole du
SRC n'a pas souhaité commenter nos informations. Sous couvert de
l'anonymat, un haut responsable du SRC indique toutefois que "ces
vérifications font partie de la procédure standard". Il
faut savoir que, jusqu'au bout, les régimes de Moubarak, de Ben
Ali ou de Kadhafi ont fermement réprimé les islamistes.
Ces dernières semaines, nombre de leurs leaders radicaux sont
sortis de prison à la faveur des mouvements de
libération. "La question n'est pas de savoir si des islamistes
viendront en Suisse, mais comment on fera pour les identifier",
s'inquiète le conseiller national UDC et inspecteur de police
Yvan Perrin. x
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SIX QUESTIONS À JÜRG NOTH Chef du Corps des
gardes-frontière
L'UDC veut que l'armée vienne soutenir le Corps des
gardes-frontière. Serait-ce utile?
Un recours à l'armée n'est pas prévu.
Même si on réintroduisait des contrôles
systématiques à la frontière - comme le
permettraient en ultime recours les Accords de Schengen - il faut du
personnel spécialement formé. Pour contrôler les
migrants ou lutter contre la criminalité
transfrontalière, les gardes-frontière sont
nécessaires.
Mais, en cas d'afflux massif de réfugiés, il vous
faudra de l'aide…
A ce stade, nous n'avons constaté aucun changement en
raison des événements en Afrique du Nord. En cas de
besoin, le Corps des gardes-frontière peut déjà
transférer du personnel d'autres régions vers les zones
concernées. Si une vague de migration importante a effectivement
lieu, je peux tout au plus m'imaginer une aide de l'armée pour
la surveillance aérienne(hélicoptères, drones)ou
éventuellement une aide logistique.
Pourrait-il aussi s'agir de miliciens?
Il est hors de question de recourir à des soldats de
milice pour la surveillance des frontières. Pour cette
tâche, il faut des professionnels formés et
expérimentés.
Mais vous êtes déjà aujourd'hui en manque de
personnel…
Nos effectifs sont serrés. Sur les 35 postes que nous
avons demandés au Conseil fédéral, onze ont
été accordés…
Alors que ferez-vous en cas de situation de crise?
Je peux très bien m'imaginer un soutien à travers
les organisations partenaires des pays voisins, sur la base des accords
policiers et douaniers bilatéraux.
Vous voulez dire que des gardes-frontière étrangers
viendraient surveiller les frontières suisses?
L'accord avec l'Allemagne le permettrait, mais ce n'est pas
l'idée. Il s'agit d'abord d'intensifier encore la collaboration,
en échangeant par exemple des analyses de la situation ou en
faisant des patrouilles communes là où c'est
possible(avec les Français et les Allemands,ndlr). Cela
permettrait de dégager des moyens pour les régions
où nous manquerions de personnel, par exemple au Tessin.
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Tagesanzeiger 26.2.11
Zürich hat zu wenig Betten für Flüchtlinge aus Nordafrika
Die Durchgangszentren für Asylsuchende sind voll, die
Notunterkünfte ebenso. Für eine Flüchtlingswelle aus
Libyen ist der Kanton Zürich noch nicht gerüstet.
Von Stefan Häne
Zürich - Eilends hat Sicherheitsdirektor Hans Hollenstein
(CVP) gestern seinen Stab zusammengetrommelt. Thema der Sitzung: die
Hunderttausenden von Menschen, die in den nächsten Wochen aus
Nordafrika nach Europa flüchten könnten. Fachleute des
Bundesamts für Flüchtlinge rechnen landesweit mit bis zu 1800
Asylgesuchen pro Monat, zusätzlich zu den 1000 bis 1300 Gesuchen,
die normalerweise monatlich eingehen. Davon betroffen wäre auch
der Kanton Zürich: Vom Schweizer Kontingent muss er 17
Prozent der Flüchtlinge aufnehmen.
Die Schweizer Asylstrukturen sind derzeit auf rund 17 000 Gesuche
pro Jahr ausgelegt. Der Kanton Zürich unterhält sechs
Durchgangszentren mit total 728 Plätzen für Asylbewerber, die
vorläufig aufgenommen wurden. Dazu kommen sieben
Notunterkünfte mit 692 Plätzen. Benutzt werden sie von
Asylbewerbern, die einen abschlägigen Bescheid erhalten haben. Sie
beziehen zur Existenzsicherung Nothilfe und müssten das Land
verlassen. Dass sie es nicht tun, hat einen Grund: Sie warten auf die
Reisepapiere aus ihrem Heimatland, wie Jolanda van de Graaf, Sprecherin
der Sicherheitsdirektion, sagt.
Städte reagieren verzögert
Das bleibt nicht folgenlos. "Die Plätze in den
Durchgangszentren und Notunterkünften sind alle besetzt", sagt van
de Graaf. Sicherheitsdirektor Hollenstein hat deshalb eine schwierige
Aufgabe zu meistern: Er muss neuen Platz schaffen. Doch wo? Das
Verteidigungsdepartement prüft zwar, ob die Armee Unterkünfte
zur Verfügung stellen kann. Eine Lösung ist für den
Kanton Zürich aber noch nicht gefunden. Das kantonale Sozialamt
sucht deshalb auch bei den Gemeinden nach freien Betten. Dass dies
schwierig ist, zeigt sich exemplarisch an der Gemeinde Eglisau, die
sich seit Jahren gegen den Bau eines Asylzentrums wehrt.
Hinzu kommt, dass der Liegenschaftenmarkt ausgetrocknet ist, was
die Suche erschwert. "Wir können Wohnraum für Asylsuchende
nicht auf Vorrat schaffen", sagt Thomas Kunz, Direktor der
Asyl-Organisation der Stadt Zürich. Deshalb bleibt den
Städten und Gemeinden nichts anderes übrig, als
verzögert auf die Aktualität zu reagieren.
Bereits am Donnerstag hat das Bundesamt für Migration
gemeinsam mit Kantonsvertretern die Lage analysiert. Für die
Massnahmenplanung sei der Kanton Zürich auf die
Einschätzungen des Bundes angewiesen, sagt van de Graaf. In die
Planung einfliessen werden die Erfahrungen, die der Kanton Zürich
mit den Flüchtlingen während des Kosovokriegs Ende der
90er-Jahre gemacht hat. Damals stiegen die Asylzahlen sprunghaft auf 47
000 pro Jahr an. Der Kanton Zürich nahm damals jährlich 7000
Asylsuchende auf. Weil die Unterkünfte überfüllt waren,
mussten Flüchtlinge teilweise in Unterführungen,
Bahnhöfen oder im Wald übernachten.
"Man muss nur wollen"
Entschärfen liesse sich die Lage, wenn die Behörden
stärker mit Kirchen oder zivilgesellschaftlichen Netzen
zusammenspannen würden. Dies sagt Moreno Casasola,
Generalsekretär der Menschenrechtsorganisation Solidarité
sans Frontières. Der Bund soll seiner Ansicht nach sein Geld
besser "in solch eher unübliche Ansätze" stecken, statt etwa
die Grenzwache auszubauen. "Es gibt immer Möglichkeiten,
Flüchtlinge unterzubringen. Man muss nur wollen."
---
Aargauer Zeitung 26.2.11
Wie gross wird die Flüchtlingswelle?
Libyen-Krise Kanton lotet die Kapazitäten für die
Aufnahme von Flüchtlingen aus Nordafrika aus
Urs Moser
Die Aargauer Behörden üben sich in Zurückhaltung
bei der Beurteilung der Signale aus Bern, das Dubliner Asylabkommen sei
im Hinblick auf zu erwartende Flüchtlingsströme aus
Nordafrika vielleicht nicht ganz buchstabengetreu umzusetzen, da
Italien nicht unbedingt Tausende Flüchtlinge aufnehmen könne.
"Dafür sind wir nicht zuständig, daher ist es auch nicht an
uns, dazu eine Haltung einzunehmen", sagt Markus Rudin, Leiter des
Aargauer Migrationsamtes.
Enger zusammenrücken
Niemand weiss zurzeit, wann eine Flüchtlingswelle die
Schweiz erreicht und wie gross sie genau sein wird. Fest steht aber:
Mit einer starken Zunahme der Asylgesuche ist zu rechnen. "Der
kantonale Sozialdienst prüft intensiv, wie eine steigende Zahl von
Zuweisungen von Asylsuchenden an den Kanton Aargau bewältigt
werden kann", bestätigt Balz Bruder, Kommunikationschef des
Departements Gesundheit und Soziales. Konkreteres gibt es zum jetzigen
Zeitpunkt aber kaum zu sagen. Ausser vielleicht dies:
Zusammenrücken heisst zunächst einmal die Devise. Es
läuft eine Bestandesaufnahme in allen der rund 50
Asylunterkünfte des Kantons, um abzuklären, wie stark sich
die Belegung "verdichten" lässt. "Wir sind daran, das Potenzial zu
quantifizieren", so Bruder. In einzelnen Unterkünften liege schon
noch eine grössere Belegung drin, ohne dass man von nicht mehr
zumutbaren Lebensverhältnissen sprechen müsste. Aber man
macht sich beim Kanton keine Illusionen: Man wird mit Sicherheit einen
grösseren Platzbedarf einplanen müssen.
Unter Umständen einen erheblich grösseren. Die Belegung
der 50 Asylunterkünfte des Kantons lag im letzten Jahr bei 86
Prozent. In den vom kantonalen Sozialdienst zur Verfügung
gestellten Strukturen leben derzeit rund 2000 Personen, deren Asyl-
oder Beschwerdeverfahren hängig ist oder die über eine
vorläufige Aufnahme verfügen. Beim ersten
Koordinationstreffen mit den Kantonen am Donnerstag war seitens des
Bundesamtes für Flüchtlinge von Szenarien mit bis zu 1800
zusätzlichen Asylgesuchen die Rede - pro Monat. Bleibt es bei der
jetzigen Praxis, dass dem Kanton Aargau 7,7 Prozent der Asylsuchenden
zugewiesen werden, würde das auf einen Bedarf von über 130
zusätzlichen Plätzen monatlich hinauslaufen. Die Zahl der
jährlichen Zuweisungen würde sich gegenüber den in den
letzten Jahren ohnehin schon wieder deutlich angestiegenen Zahlen weit
mehr als verdoppeln.
Aber eben: Zum heutigen Zeitpunkt ist nicht erkennbar, mit wie
vielen Flüchtlingen die Schweiz tatsächlich konfrontiert sein
wird. Und es ist auch nicht entschieden, wie der Bund bei einem
sprunghaften Anstieg der Asylzahlen die Verteilung auf die Kantone zu
organisieren gedenkt. Deshalb "können im jetzigen Zeitpunkt
konkrete Massnahmen nicht umgesetzt werden", heisst es aus dem
Departement Gesundheit und Soziales.
Wieder in Zivilschutzanlagen
Absehbar ist, dass man wie in den Jahren 2008 und 2009 wieder auf
die Unterbringung von Asylsuchenden in Zivilschutzanlagen wird
zurückgreifen müssen. Allerdings ist das nur eine Lösung
auf eine mehr oder weniger eng beschränkte Zeit. Bei einer
Verfahrensdauer von zwei bis drei Jahren im Asylwesen wird man also
kaum darum herumkommen, auch zusätzliche Unterkünfte für
eine dauerhaftere Unterbringung einzurichten. Einerseits baue man dabei
auf das Verständnis der Bevölkerung für die
Notsituation, so Balz Bruder. Anderseits ist man natürlich
bemüht, das Problem so spannungsfrei wie möglich zu
lösen. Für die in Prüfung befindliche "Verdichtung" der
Belegung bestehender Unterkünfte fallen zum Beispiel die
problembehafteten Standorte Holderbank und Oftringen ausser Betracht.
Dort sind ohnehin die Asylbewerber untergebracht, die bereits einen
negativen Entscheid haben und das Land verlassen müssen.
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Südostschweiz 26.2.11
Italien will die Flüchtlinge in Eigenregie verteilen
Enttäuscht über ausbleibende Unterstützung der
EU- Partner erwägt Rom, ankommende Flüchtlinge
einfach weiterreisen zu lassen - nach Frankreich, nach Deutschland,
nach Österreich, in die Schweiz.
Von Dominik Straub
Rom. - In Rom ist die Verbitterung über die schroffe
Ablehnung einer Verteilung der zu erwartenden Libyen-Flüchtlinge
auf die EU-Partnerländer gross. "Die mittel- und
nordeuropäischen Ländern können sich nicht in ihrem
Egoismus abschotten", betonte gestern Verteidigungsminister Ignazio
La Russa. Einfach so zu tun, als ginge sie das Ganze nichts
an, befinde sich "an der Grenze zum Zynismus", schrieb der "Corriere
della Sera" an die Adresse Deutschlands und Schwedens, die sich am
Treffen der EU-Innenminister vom Donnerstag besonders kühl gezeigt
hatten.
Rom soll schon Pläne schmieden
Die Italiener werden die Verweigerungshaltung in Brüssel
nicht einfach so hinnehmen. Der "Corriere della Sera" meldete mit
Verweis auf Quellen aus dem italienischen Innenministerium, dass Roms
Antwort bereits vorgespurt sei: Auffang lager ohne
Überwachung, aus denen sich die Flüchtlinge jederzeit
entfernen können. "Es ist vorhersehbar, dass diejenigen
Immigranten, die in Lampedusa oder in Sizilien landen, aber in andere
EU-Länder weiterreisen wollen, nicht zurückgehalten werden",
schreibt das Mailänder Blatt. Und genau das - weiterreisen nach
Frankreich, Deutschland, Österreich und die Schweiz - werden die
meisten der Flüchtlinge wollen.
Vieles davon, was nördlich der Alpen gegen eine Verteilung
der Flüchtlinge vorgebracht wird, tönt in italienischen Ohren
fadenscheinig und verlogen. Wer Italien beispielsweise vorrechnet, dass
es in den letzten Jahren weniger Asylbewerber aufgenommen habe als
andere EU-Länder, vergisst die Tatsache, dass es ausser dem
Asylverfahren noch andere Möglichkeiten gibt, Einwanderern aus
Nicht-EU-Ländern den Aufenthalt zu ermöglichen: die
humanitäre Aufnahme oder - in Italien besonders beliebt - die
"Sanierung" von oft mehr auf Hunderttausend "Clandestini" auf einen
Schlag. Fakt ist, dass Italiens ausländische Bevölkerung seit
2008 jedes Jahr um rund 400 000 Personen gewachsen ist -
und jene Schwedens, das sich mit seiner grosszügigen
Asyl politik brüstet, um wenige Tausend.
Wie umgehen mit Flüchtlingen?
Das Asyl-Argument ist ohnehin Augenwischerei: Bei den meisten der
Afrikaner, die möglicherweise in den nächsten Monaten an
Europas Tür klopfen werden, handelt es sich um
Armutsflüchtlinge, nicht um politisch Verfolgte. Europa - und
nicht die Mittelmeer-Anrainer, die zufällig Afrikas Nachbarn sind
- muss sich endlich Gedanken darüber machen, wie mit diesen
Menschen umzugehen ist. Selbst wenn man die Auffassung vertritt, dass
politisch nicht verfolgten Flüchtlinge wieder in ihre Heimat
abzuschieben seien, ist nicht einzusehen, warum nur den
südeuropäischen Ländern die vorläufige Aufnahme und
Betreuung, Gesuchbehandlung und Zwangsabschiebung der Flüchtlinge
aufgebürdet werden soll.
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Schweizer Politiker "pochen auf Dublin"
Von Sermîn Faki
Bern. - Wenn Italien seine Drohung wahrmacht und nordafrikanische
Flüchtlinge einfach durchlässt, könnte es für die
Schweiz eng werden. Über 730 Kilometer gemeinsame
Grenze machen es wahrscheinlich, dass ein Teil der Flüchtlinge in
die Schweiz kommt. Für den Zürcher SVP-Nationalrat Hans Fehr
steht fest: "Das ist ganz klar eine Drohung an die EU." Diese
müsse endlich das Dublin-Regime durchsetzen - dieses besagt, dass
jenes Mitgliedsland, in das ein Asylbewerber zuerst eingereist ist, das
Asylverfahren durchführen muss - und Italien dabei
unterstützen, seinen Verpflichtungen nachzukommen. Da Brüssel
das offensichtlich nicht schaffe, müssten die Schweizer
Südgrenzen dicht gemacht werden. "Es braucht einen
dringenden Bundesbeschluss, um die Grenzwächter allenfalls durch
die Armee zu verstärken."
Auch der Aargauer FDP-Nationalrat Philipp Müller hat kein
Verständnis für die Position Italiens: "Wir pochen auf
Dublin." Die Haltung Roms erstaunt ihn aber nicht. Italien würde
die Dublin-Verordnung schon seit Jahren unterlaufen. Dass dort
jährlich nur rund 6500 Asylgesuche registriert
würden, zeigt für ihn: "Dublin funktioniert nicht." Auch
Müller plädiert dafür, das Grenzwachtkorps im Tessin zu
verstärken.
Die Schweizer Grenze dichtzumachen, hält Geri Müller
für puren Aktionismus. Der grüne Aargauer Nationalrat ist
sich sicher, dass Italien die Drohung so gar nicht wahrmachen wird.
Ferner weist er darauf hin, dass man nicht einerseits die
"Revolutionen" in Nordafrika unterstützen und andererseits bei den
dadurch ver ursachten Flüchtlingswellen wegschauen
kann: "Wir dürfen jetzt nicht sagen: ‘Das geht uns nichts an.'"
Daher begrüsst Müller auch, dass das Bundesamt für
Migration bereits am Donnerstag signalisiert hat, sich auf eine
Flüchtlingswelle vorzubereiten und gleichzeitig die Schweizer
Aufnahmekapazitäten genannt hat. Für Hans Fehr hingegen ist
das ein weiteres Zeichen einer verfehlten Migrationspolitik: "Das ist
ja quasi eine Einladung gewesen."
---
Landbote 26.2.11
Arbeitskräfte aus Afrika
BERN. Seit geraumer Zeit fordert das Eidgenössische
Departement für auswärtige Angelegenheiten ein Umdenken in
der Migrations- und Flüchtlingspolitik. So liess Botschafter
Thomas Greminger, Chef der Schweizer Delegation bei der Organisation
für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, im letzten Jahr
verlauten, dass man wegkommen solle von einer Migrationspolitik, die
stark auf Rückübernahmeabkommen mit Drittweltstaaten
ausgerichtet ist. Es gehe vielmehr darum, künftig auch
Arbeitskräfte aus Afrika zu rekrutieren - um beispielsweise so den
Notstand im Gesundheitswesen zu beheben.
Zumindest teilweise in diese Richtung zielt jene
Migrationspartnerschaft, die die Schweiz vor wenigen Tagen mit Nigeria
eingegangen ist. Das Land soll für seine Kooperation bei der
Rücknahme von Asylbewerbern einen Gegenwert erhalten. Geplant ist
etwa, dass jungen Nigerianern in der Schweiz Ausbildungsplätze und
Stages angeboten werden. (tm)
--
Ausbildungsplätze für Afrikaner
Thomas Münzel
BERN. Die zu erwartenden Migrations- und
Flüchtlingsströme machen vielen Angst. Andere wiederum sehen
darin auch Chancen. Denn mittels Migrationspartnerschaften mit
Drittstaaten könnte für alle Beteiligten eine
"Win-win-win"-Situation entstehen.
Jugendliche aus Nicht-EU-Staaten sollen in der Schweiz unbesetzte
Lehrstellen annehmen - und danach in ihre Heimat zurückkehren.
Diesen Vorschlag präsentierte Aussenministerin Micheline Calmy-Rey
vor vier Jahren an einer EDA-Tagung und erntete damals mehr Spott und
Kritik, als Applaus. Doch die Idee, dass man Drittstaaten im Rahmen
einer Migrationspartnerschaft einen kontrollierten, temporären
Zugang zum Schweizer Lehrstellen- und Weiterbildungsmarkt gewährt,
ist nicht vom Tisch. Im Gegenteil: Angesichts der anschwellenden
Migrations- und Flüchtlingströme scheint sie gar aktueller
denn je.
Konkret könnten so beispielsweise unbesetzte Lehrstellen in
Handwerksberufen durch jugendliche Immigranten besetzt werden, die
anschliessend mit Hilfe von Stütz- und Reintegrationsmassnahmen in
ihre Heimat zurückgeschickt würden. "Ein solches Modell
könnte zu einer Win-win-win-Situation für die Schweiz, das
Partnerland und die Migranten werden", argumentierte Calmy-Rey schon
damals.
Umfassende Partnerschaft
In der Zwischenzeit wurde die Idee der Aussenministerin
weiterentwickelt und nimmt immer mehr Gestalt an. Aus- und
Weiterbildungsprojekte finden sich heute gleich in mehreren
Absichtserklärungen (Memorandum of Understanding), die die Schweiz
in den letzten zwei Jahren zusammen mit mehreren Balkanländern -
und vor wenigen Tagen nun auch mit Nigeria - unterzeichnet hat.
Insbesondere die angestrebte Migrationspartnerschaft mit Nigeria ist
ausserordentlich umfassend und kommt einem eigentlichen
Entwicklungshilfeprojekt gleich.
Zwar geht es der Schweiz bei der Partnerschaft mit Nigeria
primär darum, abgewiesene Asylbewerber von einer freiwilligen
Rückkehr zu überzeugen. Doch diese Absicht ist gekoppelt mit
einem ganzen Bündel von Projekten und Programmen, die einen
konkreten Bezug zu Einwanderungs- und Auswanderungsfragen haben. So
will die Schweiz freiwilligen Rückkehrern nicht nur finanziell
unter die Arme greifen und ihnen bei der Wiedereingliederung in ihrer
Heimat mit Mikrokrediten helfen, sondern ihr Herkunftsland Nigeria auch
• bei der Bekämpfung des Menschenhandels- und schmuggels
unterstützen,
• mittels Informationskampagnen präventiv gegen
irreguläre Migration vorgehen,
• im Bereich der staatlichen Strukturen Hilfe anbieten
(Einwanderungsbehörden),
• bei Menschenrechtsfragen in die Pflicht nehmen (Menschenrechts-
dialog).
Nigeria eine Perspektive geben
Zudem sind in Sachen Aus- und Weiterbildung laut dem Bundesamt
für Migration derzeit die nachfolgenden Projekte für Nigeria
in Planung:
• akademische Austauschprogramme,
• ein Ausbildungsprojekt im Bereich Landwirtschaft für junge
Nigerianer,
• Ausbildungs- und Weiterbildungsmodule, in Zusammenarbeit mit
Schweizer Firmen (wie etwa Nestlé).
"Mit der Etablierung einer Migrationspartnerschaft mit einem so
wichtigen afrikanischen Land wie Nigeria nimmt die Schweiz eine
Vorreiterrolle innerhalb der europäischen Staaten ein", sagt
Michael Glauser, Sprecher des Bundesamtes für Migration. Er betont
dabei insbesondere den hohen Stellenwert der Aus- und
Weiterbildungsangebote für Nigerianer. Junge Menschen könnten
so ihre beruflichen Kenntnisse vertiefen, um diese dann in der Heimat
einsetzen zu können. "Auf diese Weise wird ein Wissenstransfer
stattfinden, welcher der Entwicklung des Partnerstaates zugutekommt und
die Perspektiven der Menschen vor Ort verbessert", erklärt Glauser.
Langfristige Projekte
Doch noch sind diese langfristigen Projekte nur Gegenstand von
Gesprächen zwischen den Experten beider Seiten. Ein erster
fachlicher Migrationsdialog soll Ende März in Nigerias Hauptstand
Abuja stattfinden. Allfällige Aufenthalte zur Aus- und
Weiterbildung in der Schweiz sollen im Rahmen des
Ausländergesetzes abgewickelt werden und sich zahlenmässig
eher im kleinen Rahmen bewegen, meint Glauser. "Es werden also nicht
Hunderte Personen sein."
--
Migrationspartnerschaften mit Tunesien und Libyen?
Nach Einschätzung der Politikwissenschaftlerin und
Migrationsfachfrau Sandra Lavenex sind Migrationspartnerschaften ein
"wichtiges Instrument des Dialogs zwischen Herkunfts- und
Destinationsländern und eine Hinwendung zu mehr Kooperation im
Bereich internationaler Migration". Lavenex verweist in diesem
Zusammenhang auf bereits bestehende Migrationspartnerschaften, wie zum
Beispiel jene von Frankreich und Spanien mit verschiedenen
afrikanischen Ländern. "In deren Rahmen sind auch Kontingente
für Arbeitsmigranten und Ausbildungsmassnahmen vereinbart worden."
Da stellt sich die Frage, inwieweit es nicht sinnvoll wäre,
wenn die Schweiz - gerade angesichts des zunehmenden Flüchtlings-
und Migrationsdrucks - in naher Zukunft mit Ländern wie Tunesien,
Libyen, Algerien, Marokko und Ägypten umfassende
Migrationspartnerschaften eingehen würde. Das Bundesamt für
Migration äussert sich zu dieser Frage zurückhaltend.
"Über eine allfällige Aufnahme von Verhandlungen mit weiteren
Staaten wird erst zu einem späteren Zeitpunkt entschieden", heisst
es dazu lediglich.
Klarer Stellung bezieht hingegen Sandra Lavenex: "Aussenpolitisch
wären Migrationspartnerschaften mit diesen Ländern sehr
sinnvoll. Auch ökonomisch liesse sich eine gesteuerte
Migrationspolitik durchaus zum Vorteil der Schweiz gestalten", so
Lavenex. Innenpolitisch stünden dem aber Ressentiments entgegen.
"Ein Wandel des politischen Diskurses wäre vonnöten, der die
breitere gesellschafts- und weltpolitische Bedeutung von Migration und
Mobilität betont, auch aus friedenspolitischer Sicht",
erklärt Lavenex. Zudem warnt sie aber vor einem Wunderglauben.
"Es darf nicht zu viel von solchen Instrumenten erwartet werden.
Es wäre falsch, sich zu erhoffen, dass damit die ungewollte
Einwanderung völlig unterbunden würde", hält Lavenex
fest. "Aussen- und entwicklungspolitisch haben solche Instrumente aber
einen grossen Nutzen und sie tragen zum Ansehen der westlichen Welt und
zum Abbau von Spannungen bei, wenn sie gut und im partnerschaftlichen
Dialog ausgestaltet sind." (tm)
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Bund 25.2.11
Schweizer Grenzwächter nach Süditalien
Erstmals beteiligt sich die Schweiz an einer Operation zum Schutz
der EU-Grenze: Zwei Grenzwächter werden in Süditalien zur
Befragung von Flüchtlingen eingesetzt.
Daniel Foppa
Seit Tagen sind drei Schweizer Grenzwächter auf Abruf
bereitgestanden. Gestern ist das Ersuchen der EU-Grenzschutzagentur
Frontex eingetroffen: Zwei Spezialisten für Dokumentenprüfung
werden nun nach Süditalien entsandt. Der dritte Mann, ein
Luftüberwachungsspezialist, wartet weiterhin auf sein Aufgebot.
Laut Walter Pavel von der Eidgenössischen Zollverwaltung
reisen die beiden Grenzwächter am Montag ab. Sie werden an der
Frontex-Operation Hermes teilnehmen, die seit Sonntag läuft. Damit
versucht die EU, den Flüchtlingsstrom aus Nordafrika
einzudämmen. Gestartet wurde die Operation mit etwa 50
Spezialisten aus 12 Ländern. Ihre Zahl soll kontinuierlich
erhöht werden. Die Frontex-Spezialisten sind der italienischen
Grenzschutzbehörde unterstellt.
Einsatz in Sizilien und Apulien
Ein Schweizer wird im Auffangzentrum von Caltanissetta (Sizilien)
eingesetzt, der andere in einem Camp in Bari (Apulien). Ihre Aufgabe
ist es, Flüchtlinge zu befragen und deren Papiere zu prüfen.
"Man will herausfinden, woher die Flüchtlinge kommen, ob sie
gefälschte Papiere vorweisen und was ihr Ziel war", sagt Pavel.
Auch gehe es darum, Erkenntnisse über Schleuser zu gewinnen. Der
Einsatz der beiden Schweizer dauert vorläufig vier Wochen.
Als Schengen-Mitglied ist die Schweiz seit 2008 auch Mitglied von
Frontex. Damit kann der Bund verpflichtet werden, Grenzwächter
für Einsätze an der EU-Aussengrenze zur Verfügung zu
stellen. Laut Pavel könnte die Schweiz theoretisch einen Einsatz
ablehnen - wenn etwa nicht genügend Kapazitäten zur
Verfügung stünden. Die Schweiz zahlt pro Jahr zwischen 2,3
und 2,7 Millionen Franken an Frontex.
Weitere Operationen geplant
Für Frontex-Einsätze steht ein Pool von 30 speziell
geschulten Grenzwächtern bereit. Laut Pavel wird die Schweiz
dieses Jahr an mindestens zwei und maximal neun weiteren Operationen
teilnehmen. Geplant ist, dass künftig fünf bis sechs
Grenzwächter permanent im Frontex-Einsatz stehen.
Die Grenzschutz-Operationen werden auch kritisiert. "Frontex
prüft nicht, ob sich unter den Flüchtlingen
schutzbedürftige Personen mit Anrecht auf Asyl befinden", sagt
Magdalena Urrejola von Amnesty International. Spüre Frontex auf
See Flüchtlinge aus Ländern auf, mit denen
EU-Rückübernahmeabkommen bestehen, lasse man diese Menschen
gar nicht erst an Land. Vielmehr werde das Herkunftsland avisiert,
damit es die Flüchtlinge zurückhole. "So wird ihnen
verunmöglicht, ein Asylgesuch zu stellen. Das widerspricht der
Flüchtlingskonvention", sagt Urrejola. Frontex hält dem
entgegen, man zwinge keine Flüchtlinge zur Umkehr - sondern rette
sie vielmehr und bringe sie in Auffanglager.
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NZZ 25.2.11
Vorbereitung auf allfällige Flüchtlinge aus Nordafrika
Sondersitzung von Vertretern von Bund und Kantonen
Die Schweiz rechnet mit einem Anstieg der Asylgesuche wegen der
Umstürze in Nordafrika. Nun wird geprüft, wie die
Kapazitäten erhöht werden könnten. Elementar sind
für die Schweiz auch die Beschlüsse auf der EU-Ebene.
Niklaus Nuspliger, Bern
Die Freude über die demokratischen Revolutionen in
Ägypten, Tunesien und Libyen ist bei Schweizer Behörden und
Medien rasch Ängsten gewichen, die Schweiz könnte von einem
Ansturm von Flüchtlingen erschüttert werden. Zwar ist noch
kaum absehbar, wie sich die Lage in Libyen weiterentwickeln wird und
wie viele Menschen tatsächlich nach Europa und in die Schweiz zu
gelangen versuchen werden. "Doch ist davon auszugehen, dass die Zahl
der Asylsuchenden aus Nordafrika und den Maghreb-Staaten steigt",
erklärte der Direktor des Bundesamts für Migration (BfM),
Alard du Bois-Reymond, am Donnerstag an einem Point de Presse in Bern.
Zudem besteht die Möglichkeit, dass ein Auseinanderbrechen der
staatlichen Strukturen in Libyen auch einen Strom von Migranten aus
südlicheren Regionen Afrikas zur Folge hätte.
Ausmass des Anstiegs unklar
Unter Federführung des BfM traf sich am Donnerstag der
"Fachausschuss Asylverfahren und Unterbringung" zu einer
ausserordentlichen Sitzung. Beteiligt waren Vertreter der Kantone, des
Aussen- und des Verteidigungsdepartementes sowie des Grenzwachtkorps.
Da über das Ausmass eines allfälligen Anstiegs der
Asylgesuchszahl nur gemutmasst werden könne, seien diverse
Szenarien diskutiert worden, sagte du Bois-Reymond. In den
nächsten zwei Wochen soll nun eine Planung entwickelt werden.
Aufgrund von Erfahrungen wird damit gerechnet, dass eine
allfällige Flüchtlingswelle in einigen Wochen in der Schweiz
eintreffen würde.
Die Strukturen des Asylwesens sind auf rund 15 000 Gesuche pro
Jahr ausgerichtet. In den fünf Empfangszentren des Bundes
können bis zu 1300 Asylgesuche pro Monat bearbeitet werden. Diese
Kapazität könnte mit Hilfe der Standortkantone auf 1800
Gesuche pro Monat erhöht werden, so du Bois-Reymond. Sollten aber
monatlich deutlich mehr als zusätzliche 600 Asylsuchende in der
Schweiz eintreffen, müssten auch die Kantone Asylsuchende
unterbringen. Dazu sind die Kantone bereit, auch wenn die
Generalsekretärin der Konferenz der kantonalen Sozialdirektoren
(SODK) über Pläne zur Unterbringung noch keine Angaben machen
konnte. Das Verteidigungsdepartement prüft seinerseits, ob
vorübergehend Armeeunterkünfte genutzt werden könnten.
Die Kantone drängen aber darauf, dass der Bund seine
Kapazitäten bündelt und über möglichst viele
Gesuche in den Empfangszentren befindet. Roger Schneeberger,
Generalsekretär der kantonalen Polizei- und
Justizdirektorenkonferenz (KKJPD), betonte, Asylgesuche aus der
Maghreb-Region seien prioritär zu behandeln. Menschen, die ihr
Land aus wirtschaftlichen Gründen verlassen hätten,
müssten die Schweiz so rasch wie möglich wieder verlassen. Du
Bois-Reymond erklärte, Asylgesuche von Tunesiern könnten
vermutlich rasch behandelt werden, im Falle Libyens sehe die Situation
angesichts der herrschenden Gewalt aber anders aus.
Entscheidend für die Schweiz ist vor allem auch, wie die EU
mit einer Flüchtlingswelle umgehen würde (siehe Artikel
unten). Das Dublin-Abkommen erlaubt es der Schweiz, Asylsuchende, die
zuvor etwa in Italien ein Asylgesuch gestellt haben, dorthin
zurückzuschicken. Du Bois-Reymond meinte indes, in einer
ausserordentlichen Situation könne man das Abkommen womöglich
"nicht formalistisch" auslegen.
2 Grenzwächter nach Italien
Wie bei der Presseorientierung weiter bekannt wurde,
verstärkt das Grenzwachtkorps die Kontrollen an der Grenze im
Tessin sowie in Genf. Zudem teilte es mit, aufgrund der Anfrage der
europäischen Grenzschutzagentur Frontex würden am Montag nun
zwei Experten nach Süditalien entsandt. Sie kommen bei der
Prüfung von Reisedokumenten zum Einsatz und sollen auch
Erkenntnisse über Schlepper-Routen gewinnen. Ein dritter Experte
zur Luftraumüberwachung steht auf Abruf bereit.
--
Die Schweiz setzt auf Vernetzung mit der EU
Bundesrätin Sommaruga bei den Innenministern in Brüssel
Peter Winkler, Brüssel · Die Vorsteherin des
Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements, Bundesrätin
Sommaruga, hat am Donnerstag in Brüssel am Gemischten
Schengen-Ausschuss teilgenommen und wurde danach auch an den
Arbeitslunch der EU-Innenminister eingeladen, bei dem es um die Krise
in Nordafrika ging. Es sei allen Beteiligten klar gewesen, fasste
Sommaruga die Diskussion vor den Medien zusammen, dass sich die
europäischen Länder dieser Situation nur gemeinsam stellen
könnten. Sie habe sowohl mit ihrer Teilnahme als auch mit ihren
Äusserungen unterstreichen wollen, dass die Schweiz Teil dieser
europäischen Länder sei. Es sei wichtig, dass die Schweiz
dabei sei und sich äussere.
Umfangreiche Vorkehrungen
Man dürfe angesichts der Vorgänge in Nordafrika
allerdings nicht nur von Sorgen sprechen, sondern sich auch
darüber freuen, dass "mutige Menschen auf die Strasse gegangen
sind, um für Demokratie zu kämpfen". Viele hätten
dafür ihr Leben riskiert oder sogar gegeben. Angesichts dessen,
dass vor allem die Lage in Libyen grössere
Flüchtlingsströme auslösen könnte, sei man sich
einig gewesen, dass man jenen, die Schutz brauchten, diesen auch
gewähren werde. Wirtschaftsflüchtlinge würden
natürlich zurückgeschickt, doch müsse man helfen, dass
diese in ihrer Heimat eine Perspektive erhielten. Zugleich gelte es,
die eigene Bevölkerung zu schützen, da ein allfälliger
Zustrom von Kriminellen die Sicherheit der Bevölkerung
gefährden würde.
Enger Kontakt mit Italien
Im bilateralen Gespräch mit dem italienischen Innenminister
Maroni habe sie vereinbart, dass die beiden Nachbarländer in engem
Kontakt bleiben. Konkrete Unterstützungswünsche habe Maroni
keine geäussert, doch sei man übereingekommen, einander
über alle Ereignisse rasch zu informieren. Die europäischen
Mittelmeerländer seien in einer exponierten Lage, und die Schweiz
würde als direkter Nachbar Italiens von allfälligen
Migrationsströmen mit Sicherheit mitbetroffen. Die Schweiz
müsse sich bewusst sein, dass sie in diesem Fall nicht nur vor der
Herausforderung stehe, Solidarität spielen zu lassen. Sie
könnte auch in die Lage geraten, Solidarität in Anspruch
nehmen zu müssen. Die EU verfüge - etwa mit Frontex und
Europol - über Instrumente, die auch der Schweiz nützen
könnten.
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Basler Zeitung 25.2.11
Gaddhafi macht die Schweiz nervös
Vorbereitungen auf Flüchtlinge aus Nordafrika
Philipp Loser, ALAN CASSIDY, Bern
Bund und Kantone bereiten sich auf einen Anstieg von Asylgesuchen
aus Nordafrika vor. Offen ist das Ausmass des Anstiegs. Sicher ist: Die
Revolte in Libyen wird zur ersten Belastungsprobe für das
Dublin-Abkommen.
Egal, wen man in der Verwaltung anrief. Egal, welche News-Seite
im Internet man besuchte. Egal, welche Mitteilung einer politischen
Partei man durchlas - es war überall dasselbe. Die Euphorie
für die Taten des libyschen Volks, das sich endlich gegen seinen
Diktator Muammar al-Gaddhafi auflehnt, ist Nervosität gewichen.
Der Westen befürchtet, von flüchtenden Libyern wahlweise
überflutet, überrannt oder überschwemmt zu werden.
Der italienische Aussenminister Franco Frattini rechnet mit
mindestens 300 000 Asylsuchenden alleine aus Libyen, gar eine Million
Flüchtlinge sieht der italienische Innenminister Roberto Maroni
auf sein Land zukommen. In diese überbordende Stimmungslage passt
auch die Aussage von Alard du Bois-Reymond, Chef des Bundesamtes
für Migration (BFM), dass als Schweizer Sofortmassnahme gegen die
Flüchtlingsmassen die Grenzen im Tessin und in Genf per sofort
stärker bewacht würden. "Davon wissen wir nichts", sagte
Walter Pavel, Sprecher des Grenzwachtkorps, gestern Abend. Die
Grenzwächter hätten zwar Vorkehrungen getroffen, Personal sei
aber bisher nicht verschoben worden.
Keine Panik. Man werde die Situation weiter beobachten,
versicherte Pavel und sprach damit die erste Gewissheit des gestrigen
Tages aus. "Wir sollten nicht auf Panik machen", sagte auch
Justizministerin Simonetta Sommaruga vor ihrem Treffen mit den
Innenministern der EU in Brüssel (vgl. Text rechts). Niemand
könne wissen, wie viele Menschen in den nächsten Wochen oder
Monaten kommen würden.
Das war auch das Fazit des Krisengipfels des "Fachausschusses
Asylverfahren und Unterbringung", der gestern in Bern stattfand.
Vertreter des Bundes und der Kantone nahmen eine Einschätzung der
Lage vor: Noch ist kein Anstieg von Asylgesuchen aus Nordafrika und dem
Maghreb-Gebiet zu vermelden, allerdings wird damit gerechnet. In den
kommenden zwei Wochen will der Ausschuss konkret planen, wie mit den
zusätzlichen Flüchtlingen umzugehen sei. Die Strukturen des
Asylwesens sind laut Angaben des BFM auf 1300 Asylgesuche pro Monat
ausgelegt. Mit der Unterstützung der Kantone könne die
Kapazität auf 1800 Gesuche pro Monat ausgebaut werden. "Dabei
sollen Asylgesuche von Personen, die vermutlich nur aus
wirtschaftlichen Gründen nach Europa migriert sind, prioritär
behandelt werden. Diese Personen müssen die Schweiz so rasch als
möglich wieder verlassen", heisst es in der Mitteilung. Sollte es
zu einem grösseren Anstieg kommen, brauche es zusätzliche
Unterkünfte in den Kantonen. Entsprechende Abklärungen
laufen, gleichzeitig prüft das Verteidigungsdepartement, ob
vorübergehend Armeeunterkünfte verfügbar gemacht werden
können.
Scheinheilig. Flüchtlingsorganisationen reagierten verhalten
positiv auf die Ankündigung des Bundesamts für Migration:
"Bund und Kantone müssen sich jetzt auf einen Anstieg der Gesuche
vorbereiten. Das ist der richtige Schritt", sagt Adrian Hauser,
Sprecher der Schweizer Flüchtlingshilfe. Kritischer äussert
sich Moreno Casasola, Geschäftsführer von "Solidarité
sans frontières". Es sei scheinheilig, der Revolution in Libyen
aus der Distanz zu applaudieren und gleichzeitig die eigenen Grenzen
möglichst dicht zu machen.
Genau das Gegenteil ist von der SVP zu hören - ihr ist die
Grenze viel zu löchrig. Per Bundesbeschluss will die SVP die Armee
zur Unterstützung des Grenzwachtkorps heranziehen: "Wir
müssen die Überwachung unserer Südgrenze massiv
verstärken", sagt SVP-Nationalrat Hans Fehr (ZH), der die
Ankündigung des BFM für ein "falsches Signal" hält:
"Klar kommen die Leute, wenn wir öffentlich einen Ansturm
ankündigen." SVP-Politiker Fehr hofft darum für einmal auf
die EU. Deren Aussengrenze müsse "rigoros" kontrolliert werden. Er
spricht damit indirekt die zweite Gewissheit des gestrigen Tages aus:
Die Ereignisse in Libyen werden zur ersten Belastungsprobe für das
Dublin-Abkommen, wonach hauptsächlich Italien für die
über das Mittelmeer flüchtenden Menschen zuständig
wäre. "Die erste Flüchtlingswelle wird dank dem
Dublin-Abkommen sicher gebrochen", sagt FDP-Nationalrat Peter Malama
(BS), "aber erst danach sehen wir, ob das Abkommen unseren Erwartungen
entspricht."
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St. Galler Tagblatt 25.2.11
Bund wappnet sich für Flüchtlingswelle
Um eine Flüchtlingswelle aus Nordafrika bewältigen zu
können, klärt der Bund mögliche Szenarien ab. Als
Sofortmassnahme wurde bereits die Grenzwache bei Genf und im Tessin
verstärkt.
bern. Man sei sich einig, dass die Schweiz mit einem gewissen
Anstieg der Flüchtlingszahlen rechnen müsse, sagte Alard du
Bois-Reymond, Chef des Bundesamtes für Migration (BFM), gestern
vor den Medien. Unklar sei aber, womit man rechnen müsse. Um auf
alles vorbereitet zu sein, wird ein Fachausschuss mögliche
Szenarien abklären und jeweils die Verantwortlichkeiten
klären, wobei vor allem der Bund und die Kantone miteinander
absprechen müssen, wer sich der Probleme annimmt. In diesem
Fachausschuss sitzen neben dem BFM die kantonalen Polizei- und
Justizdirektoren, kantonale Asylkoordinatoren sowie Vertreter der Armee
und des Departements für auswärtige Angelegenheiten.
Für Roger Schneeberger, den Generalsekretär der
kantonalen Polizei- und Justizdirektoren, muss vor allem schnell
geklärt werden, welche Flüchtlinge keine Chance auf Asyl
haben und schnell zurückgeschickt werden sollen. "Wir müssen
die richtigen Signale aussenden", sagte Schneeberger. (sda)
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Blick 25.2.11
SVP fordert
Armee an die Grenze
Von Hubert Mooser
Europa und die Schweiz zittern vor einem Flüchtlingsansturm
aus Afrika.
Die Lampen stehen in Europa auf Rot. Hält die Südgrenze
einem Ansturm aus Afrika stand? Gestern Morgen flog Justizministerin
Simonetta Sommaruga nach Brüssel, um mit den EU-Innenministern
solche Fragen zu erörtern. Italien scheint überfordert und
hat die EU um Hilfe gerufen.
Über drei Stunden nahm die Justizministerin an der Sitzung
der 27 EU-Staaten teil, wo Italien, Malta und Spanien auf die
Solidarität anderer Staaten pochten. Italien erwartet eine Million
Flüchtlinge. Sommaruga dazu: "Niemand weiss, wie sich die
Situation entwickeln wird." Es seien aber Fluchtbewegungen zu erwarten
nach Tunesien und Ägypten, aber auch nach Europa.
Die Bundesrätin sagt, die Schweiz müsse "alles
dafür tun, dass jene Menschen, die Schutz brauchen, diesen auch
bekommen". Die Schweiz müsse auch schauen, was sie dazu beitragen
könne, um die "teils schwierige humanitäre Situation" vor Ort
zu verbessern. Das Asylrecht sei ein wichtiges Grundrecht, so die
Justizministerin. Aber mit dem Flüchtlingsstrom könnten auch
Kriminelle nach Europa kommen, und da müsse die eigene
Bevölkerung geschützt werden.
Gegen einen grossen Flüchtlingsstrom will sich das Bundesamt
für Migration (BFM) rechtzeitig wappnen. Gestern Morgen traf sich
deshalb der dafür zuständige Fachausschuss zu einem
Krisengipfel in Bern.
Als Sofortmassnahme wird der Grenzschutz an der Südgrenze im
Tessin und Genf verstärkt.
In den kommenden 14 Tagen will der Bund mit den Kantonen
mögliche Szenarien durchspielen und Massnahmepläne erstellen.
Mehrere Wochen dauert es erfahrungsgemäss, "bis die ersten
Flüchtlinge den Weg von Süden in die Schweiz gefunden haben",
so BFM-Chef Alard du Bois-Reymond vor den Medien. Wer keinen Anspruch
auf Asyl habe, soll rasch zurückgeschickt werden, betonte der
Generalsekretär der Justiz-und Polizeidirektorenkonferenz, Roger
Schneeberger, am Krisengipfel.
Die Behörden in Brüssel und Bern sind mit Hochdruck an
der Arbeit, doch die SVP spricht bereits von Kapitulation. Um illegale
Grenzübertritte zu verhindern, müsse die Schweiz einen
dringlichen Bundesbeschluss vorbereiten, damit die Armee im
"Bedarfsfall" das Grenzwachtkorps unterstützen kann. Laut
SVP-Nationalrat Hans Fehr verfügt das Grenzwachtkorps nicht
über genügend Personal, um die Übergänge zu
sichern. Die Armee an die Grenze, um Flüchtlinge abzuwehren? "Das
wäre schon ein bisschen übertrieben", findet die Aargauer
Nationalrätin Esther Egger-Wyss: "Wir sollten trotz schwieriger
Situation die humanitäre Tradition der Schweiz nicht über
Bord werfen."
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Tagesschau sf.tv 24.2.11
EU befürchtet Flüchtlingsstrom
Die Innenminister der EU beschäftigen sich mit dem Szenario eines
allfälligen Flüchtlingsstroms aus Libyen. Über die Zahl
der Flüchtlinge kann aber nur spekuliert werden. Auch
Bundesrätin Simonetta Sommaruga ist nach Brüssel gefahren.
Video Bundesrat sperrt Gaddafi-Konten
http://videoportal.sf.tv/video?id=ee79949e-1d5d-4505-83f7-f98862d265eb
Schweiz bereitet sich auf Flüchtlinge vor
Noch ist nicht abzuschätzen, wie viele Flüchtlinge aus Libyen
an die Schweizer Grenze klopfen werden. Das Bundesamt für
Migration hat heute über den Umgang mit einem eventuellen
Flüchtlingsansturm diskutiert.
http://videoportal.sf.tv/video?id=696b6d53-b27a-4c72-aa9c-198ebdea6c18
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sf.tv 24.2.11
Schweiz bereitet sich auf Flüchtlingswelle aus Nordafrika vor
sda/tscj
Um eine allfällige Flüchtlingswelle aus Nordafrika
bewältigen zu können, will der Bund alle möglichen
Szenarien durchspielen und entsprechende Massnahmen aufgleisen. Als
erste Sofortmassnahme wurden die Grenzwachen bei Genf und im Tessin
verstärkt. Zuvor schon hatte die EU-Agentur Frontex zwei Experten
der Eidgenössischen Zollverwaltung nach Sizilien beordert.
Man sei sich einig, dass die Schweiz mit einem Anstieg der
Flüchtlingszahlen rechnen müsse, sagte der Chef des
Bundesamtes für Migration (BFM). Es sei aber nicht klar, welches
Ausmass der Flüchtlingsstrom schliesslich haben werde.
Um auf alles vorbereitet zu sein, wird ein Fachausschuss in den
nächsten zwei Wochen mögliche Szenarien durchspielen und die
Verantwortlichkeiten zwischen Bund und Kantonen klären.
Im Fachausschuss sitzen neben dem BFM die kantonalen Polizei- und
Justizdirektoren, kantonale Asylkoordinatoren sowie Vertreter der Armee
und des Eidgenössischen Departements für auswärtige
Angelegenheiten.
Für Roger Schneeberger, Generalsekretär der kantonalen
Polizei- und Justizdirektoren, muss vor allem schnell geklärt
werden, welche Flüchtlinge keine Chance auf Asyl haben und schnell
zurück geschickt werden sollen. "Wir müssen die richtigen
Signale aussenden", sagte er.
Schweizer Experten nach Sizilien beordert
Bereits zuvor war bekannt geworden, dass die Europäische
Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Aussengrenzen
(Frontex) zwei Experten der Eidgenössischen Zollverwaltung nach
Sizilien beordert hat, um bei der Sicherung der italienischen Grenze
mitzuarbeiten. Ein verbleibender dritter Schweizer Experte soll nach
Bedarf ebenfalls aufgeboten werden.
Die Operation "Hermes", welche die italienische Grenze gegen die
Flüchtlingsströme aus Nordafrika sichern soll, dauert
gemäss Frontex voraussichtlich bis Ende März - allenfalls
auch länger.
Schengen-Land Schweiz macht bei Frontex mit
Neben den beiden Schweizern werden auch Grenzfachleute aus
Italien, Frankreich, Spanien, Portugal, Belgien, Deutschland, den
Niederlanden, Österreich, Ungarn und Rumänien aufgeboten.
Die Frontex hatte die EU-Mitgliedstaaten letzte Woche um
Unterstützung angefragt. Die Schweiz, die sich als
Schengen-Mitglied an Frontex beteiligt, stellte daraufhin die Mitarbeit
von zwei Dokumentationsspezialisten und eines Experten für
Luftüberwachung in Aussicht.
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admin.ch 24.2.11
Bundesrätin Sommaruga am gemischten Schengen-Ausschuss
Bern, 24.02.2011 - Die Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und
Polizeidepartements, Bundesrätin Simonetta Sommaruga, hat heute am
gemischten Schengen-Ausschuss des Justiz- und Innenministerrats der EU
in Brüssel teilgenommen. Die Justiz- und Innenminister der
EU-Mitgliedstaaten sowie der an Schengen assoziierten Staaten
diskutierten unter anderem über das Thema Migration aus Nordafrika.
Der gemischte Schengen-Ausschuss beschäftigte sich mit dem Stand
der Arbeiten am Visa-Informationssystem (CS-VIS) und am Schengener
Informationssystem der zweiten Generation (SIS II). Weiter
präsentierte die EU-Grenzagentur Frontex ihre Tätigkeiten
für das Jahr 2011.
Traktandiert war auch der Stand der Beitrittsvorbereitungen von
Bulgarien und Rumänien zu Schengen. Dabei wurden unter anderem die
Fortschritte beider Länder gewürdigt. Die Kommission
präsentierte ausserdem die Grundzüge eines
Überwachungsmechanismus für Drittstaaten, die von der
Visumspflicht für den Schengen-Raum ausgenommen wurden.
Darüber hinaus besprachen die Minister und die EU-Kommission die
schwierige Lage in Nordafrika, einschliesslich der humanitären
Situation, sowie allfällige Massnahmen der Mitgliedstaaten und der
EU für die Bewältigung von möglichen grösseren
Flüchtlingsbewegungen nach Europa und innerhalb von Nordafrika.
Dazu gehören insbesondere Frontex-Einsatze, wozu auch die Schweiz
beiträgt. In der aktuellen Phase kommt der Risiko- und der
Lageanalyse eine grosse Bedeutung zu.
Adresse für Rückfragen:
Sabrina Dallafior, Schweizerische Mission bei der EU, Tel. +32 2 286 13
04
Herausgeber:
Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement
Internet: http://www.ejpd.admin.ch
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admin.ch 24.2.11
Frontex: Grenzwachtkorps entsendet zwei Experten nach Italien
Bern, 24.02.2011 - Nachdem das Grenzwachtkorps (GWK) eine Anfrage der
Europäischen Grenzschutzagentur Frontex für einen Einsatz
positiv beantwortet hat, werden nun zwei Experten nach Italien
entsandt. Ein weiterer Experte steht auf Abruf bereit. Es handelt sich
um den ersten Einsatz von Schweizer Grenzwächtern an der
Schengener Aussengrenze.
Am Donnerstag, 17. Februar 2011, hat das Grenzwachtkorps eine Anfrage
der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex positiv beantwortet.
Für den durch Frontex koordinierten Einsatz in Italien stellt das
GWK drei Experten aus dem Frontex-Pool zu Verfügung. Zwei Experten
aus dem Wallis und Jura werden eingesetzt, um zu prüfen, ob die
mitgeführten amtlichen Dokumente echt und zustehend sind. Zudem
sollen bei diesen Kontrollen Herkunft und Reiseroute der Migranten
abgeklärt und Erkenntnisse über Schleuser gewonnen werden.
Der dritte Experte aus dem Tessin ist zur Überwachung aus der Luft
und der Auswertung der Bilder von technischen Hilfsgeräten, etwa
Wärmebildkameras, vorgesehen. Dieser steht auf Abruf bereit.
Die beiden Experten werden am Montag, 28. Februar 2011, nach Italien
entsandt. Sie werden in der zweiten Kontrolllinie auf dem
süditalienischen Festland in Caltanissetta und Bari eingesetzt.
Die Einsatzführung vor Ort liegt bei den italienischen
Behörden. Der Einsatz ist in einer ersten Phase auf vier Wochen
befristet.
Die Schweiz kann seit Ende Januar operativ bei Frontex mitwirken, da
das Grenzwachtkorps und die EU-Agentur zu diesem Zeitpunkt die letzte
dafür nötige Vereinbarung unterzeichnet haben.
Für Einsätze im Ausland sind 30 Schweizer
Grenzwächterinnen und Grenzwächter ausgebildet. Maximal
kommen jeweils 5-6 Mitarbeitende zum Einsatz.
Hinweis: Es besteht keine Möglichkeit, Reportagen oder Interviews
mit den Experten im Vorfeld ihres Einsatzes zu tätigen.
Anfragen für Reportagen vor Ort in Italien sind direkt an Frontex
zu richten unter pr@frontex.europa.eu.
Gesuche für Reportagen oder Interviews der Experten nach deren
Einsatz sind schriftlich an die Kommunikation/Medienstelle der
Eidgenössischen Zollverwaltung EZV zur richten.
Adresse für Rückfragen:
Walter Pavel, Leiter Kommunikation/Medien EZV
Tel: +41 31 322 65 13
kommunikation@ezv.admin.ch
Attila Lardori, Kommunikation/Medien EZV
Tel: +41 31 322 68 19
Herausgeber:
Eidgenössische Zollverwaltung
Internet: http://www.ezv.admin.ch
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admin.ch 24.2.11
Sondersitzung des "Fachausschusses Asylverfahren und Unterbringung"
Bern-Wabern, 24.02.2011 - Heute hat in Bern die erste Sondersitzung des
"Fachausschusses Asylverfahren und Unterbringung" zu einem
möglichen Ansteigen der Asylgesuche aus Nordafrika und den
Maghreb-Staaten stattgefunden. An der Sitzung nahmen Vertreter der
Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren
(SODK), der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen
und -direktoren (KKJPD) sowie der zuständigen Bundesbehörden
teil, also des Bundesamts für Migration (BFM), Eidg. Departements
für auswärtige Angelegenheiten (EDA), Eidg. Departements
für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) sowie
des Grenzwachtkorps (GWK).
Die Mitglieder des Fachausschusses nahmen an der Sitzung gemeinsam
eine Einschätzung der Situation in Nordafrika und in den
Maghreb-Staaten vor: Es wird als wahrscheinlich erachtet, dass die Zahl
der Asylsuchenden aus Nordafrika und den Maghreb-Staaten ansteigen
wird. Wie gross dieser Anstieg sein wird, kann aufgrund der unsicheren
Entwicklungen im Maghreb und der noch fehlenden Entscheide der
internationalen Gremien noch nicht verlässlich beurteilt werden.
Angesichts dieser Ausgangslage haben die zuständigen
Bundesbehörden und die Vertreter der Kantone verschiedene
Szenarien und Handlungsoptionen diskutiert.
Die Strukturen des Asylwesens sind gegenwärtig auf rund 15'000
Gesuche jährlich ausgerichtet. Momentan können in den
fünf Empfangs- und Verfahrenszentren (EVZ) des Bundes insgesamt
bis zu 1'300 Asylgesuche pro Monat bearbeitet werden. Diese
Kapazität könnte insbesondere mit Hilfe der Kantone, in denen
sich die EVZ befinden, auf bis zu 1'800 Asylgesuche pro Monat
erhöht werden. Dabei sollen Asylgesuche von Personen, die
vermutlich nur aus wirtschaftlichen Gründen nach Europa migriert
sind, prioritär behandelt und möglichst noch im EVZ
entschieden werden. Diese Personen müssen die Schweiz so rasch als
möglich wieder verlassen.
Sollte es allerdings zu einem grösseren Anstieg der Gesuche
kommen, ist das BFM für die Unterbringung der Asylsuchenden auf
die zusätzliche Unterstützung der Kantone angewiesen. Die
Vertreter der Kantone haben sich an der heutigen Sitzung bereit
erklärt, erste Abklärungen betreffend zusätzlicher
Unterbringungs- und Vollzugsmöglichkeiten zu treffen. Das VBS
erklärte sich seinerseits bereit zu prüfen, inwiefern
vorübergehend Armeeunterkünfte verfügbar gemacht werden
könnten.
Bereits letzte Woche hat die Schweiz sich bereit erklärt, an der
"Operation Hermes 2011" teilzunehmen, die von der "Europäischen
Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Aussengrenzen"
(Frontex) koordiniert wird. Das Grenzwachtkorps (GWK) bot Frontex an,
drei Spezialisten zu Verfügung zu stellen. Davon handelt es sich
um zwei Dokumentenspezialisten sowie um einen Spezialisten für die
Überwachung aus der Luft.
In den nächsten zwei Wochen wird nun durch Vertreter des
Fachausschusses eine konkrete Planung entwickelt, die sicherstellt,
dass Verfahrens-, Unterbringungs- und Vollzugsfragen aufeinander
abgestimmt sind. Dabei sind auch finanzielle Aspekte, Fragen des
Grenzschutzes und der internationalen Koordination miteinzubeziehen.
Die Erkenntnisse werden anschliessend im "Fachausschuss Asylverfahren
und Unterbringung" validiert und den politischen Entscheidträgern
des Bundes, der KKJPD und der SODK vorgelegt.
Adresse für Rückfragen:
Informationsdienst, Bundesamt für Migration, Tel. +41 31 325 93 50
Herausgeber:
Bundesamt für Migration
Internet: http://www.bfm.admin.ch/bfm/de/home.html
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WoZ 24.2.11
Frontex
Der Sturz der südlichen Grenzwächter
Von Kaspar Surber
Ende letzter Woche, nach der Ankunft von 6000 tunesischen
Flüchtlingen auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa, gab
die in Warschau ansässige EU-Grenzschutzagentur Frontex bekannt,
dass die Operation "Hermes" starte. Der mythische Name ist nur Glitzer
- Frontex hat vielmehr Modellcharakter für die
Konfliktbewältigung der Zukunft: Sie ist eine von Dutzenden
Agenturen der EU, die "neue Aufgaben technischer und/oder
wissenschaftlicher Art" bewältigen sollen. Frontex wurde 2005
gegründet, die ihr zugeschriebene Bedeutung zeigt sich im Anstieg
des Budgets: von 6,2 Millionen Euro auf aktuell 88 Millionen.
Die Logik des Schengenraums ist der Abbau der Binnengrenzen
für den Personenverkehr unter gleichzeitiger Abschottung der
Aussengrenze. Die Aufgabe von Frontex - kurz für
"frontières extérieures" - ist der Schutz ebendie ser
Aussengrenze: Die Agentur erstellt Risikoanalysen und betreibt
technologische Grenzschutzforschung. Sie unterstützt die
Mitgliedsstaaten bei Einreisekontrollen sowie bei
Ausschaffungsaktionen. Frontex ist eine Vernetzungsmaschine: Die
nationalen Grenzwachen erproben in gemeinsamen Operationen sogenannte
"best practices", Einsatzstandards. Ein Mitglied wie zum Beispiel
Spanien sucht über Frontex um Unterstützung nach, die anderen
können, müssen aber nicht helfen. Die technischen Mittel
aller Grenzwachen werden von Frontex in einem Register
zusammengeführt: Schiffe, Flugzeuge, Helikopter, Thermo- und
Infrarotkameras, CO2- und Herzschlag-Detektoren.
Das vordringlichste Ziel ist, die Migration über das
Mittelmeer zu stoppen. Die grössten Operationen an den
Schengen-Aussengrenzen heissen "Hera" (vor den Kanarischen Inseln),
"Nautilus" (zwischen Libyen und Tunesien) und "Poseidon"
(östliches Mittelmeer). Aufschlussreich für den Ablauf ist
"Hera": Schickte Frontex in einer ersten Phase Expertenteams auf die
Kanaren, die die MigrantInnen nach den Fluchtrouten befragten,
entsandten die vereinig ten Grenzwachen später Patrouillenboote,
die 2008 auf See oder vor den Küsten Afrikas rund 6000 Menschen
zurückdrängten.
Dass auf dem Meer die Macht und das Recht ineinanderfallen und
also keine Asylverfahren mehr garantiert werden, dass die
Flüchtlinge in Länder zurückgeschafft werden, die sich
nicht an die Menschenrechte halten, und also das
"Non-Refoulment-Prinzip" ausgehebelt wird - das ist die dringende
Kritik von Menschenrechtsgruppen an Frontex.
Auf der Flucht über das Meer nach Süd europa haben nach
dem Blog "Fortress Europe" des jungen italienischen Journalisten
Gabriele Del Grande seit 1988 an die 15 000 Menschen ihr Leben
verloren. 2008 waren es 1502.
Seit November letzten Jahres hilft Frontex auch, die
griechisch-türkische Grenze abzudichten. Zum ersten Mal kamen
dabei gemischte "Soforteinsatzteams" der Mitgliedsländer,
sogenannte "Rabits", zum Einsatz. Ihr Kennzeichen: eine blaue Armbinde.
Die Operation zeigt, dass sich Frontex in Richtung einer
europäischen Grenzwache entwickelt. Ein neu er Vorschlag der
EU-Kommission sieht für die Agentur denn auch mehr Personal,
eigenes Material und Informationssysteme vor - sowie mehr
Selbstständigkeit. Starke Unterstützung für diese
Entwicklung gibt es aus der Sicherheitsindustrie: Überwachung und
Kontrolle von Grenzen machen ständig technische Innovationen
möglich, von der Biometrie bis zur Überwachung aus dem All.
Dass auch die Schweiz bei Frontex mitmacht, hat das Parlament
2008 entschieden:
Das Grenzwachtkorps beteiligte sich bisher an Frontex-Operationen
zur Fussball-EM und gegen die Immigration per Bahn aus Osteuropa. Das
Bundesamt für Migration nahm zudem Ausschaffungsflüge in
Anspruch. Der Frontex-Pool beim Grenzwachtkorps umfasst dreissig
MitarbeiterInnen, die sowohl in "ordentliche" als auch in
"Rabit-Einsätze" entsandt werden können. Für "Hermes"
stehen, falls sie abgerufen werden, drei Experten bereit: zwei für
die Dokumentenprüfung, einer für die Luftüberwachung.
Wie auf den Kanaren will Frontex auf Lampedusa vorerst nur in der
"zweiten Linie" wirken.
In einem Café in Safx an der tunesischen Küste sagen
Jugendliche: "Wir müssen unsere Chance nutzen." Die neugewonnene
Freiheit bringt ihnen die Möglichkeit abzuhauen (vgl. Seite 13).
Statt kolonialistische Ratschläge zu erteilen, wonach der junge
Araber jetzt doch bitte sein Land neu aufbauen soll, sollte man in
Europa besser zur Kenntnis nehmen: Die wichtigsten Frontex-Mitarbeiter
der letzten Jahre waren Zine al-Abidine Ben Ali, Hosni Mubarak und
speziell Muammar al-Gaddafi. Sie haben die Grenzen im "Vorfeld"
kontrolliert. "Mehr Gas, mehr Benzin - und weniger illegale
Einwanderung", so fasste Premier Silvio Berlusconi einen
"Freundschaftsvertrag" über fünf Milliarden Dollar zusammen,
den Italien 2008 mit Libyen schloss. Auch die EU bemühte sich um
einen Rahmenvertrag mit dem Diktator, trotz Grausamkeiten wie der
Aussetzung von Flüchtlingen in der Wüste. Dass die Gaddafis
mit einer "Flüchtlingswelle" drohten, falls die EU die
Aufständischen in Libyen unterstütze, verärgerte am
Montag die AussenministerInnen. Der Vertreter Deutschlands sprach
unverhohlen von einer "Erpressung". Der maltesische Aussenminister
meinte: "Es ist mehr als eine Drohung, es ist eine Realität."
"Brot und Würde", so lautet einer der Slogans der arabischen
Revolte, die auch von der Rohstoffspekulation nach der Finanzkrise und
in der Folge steigenden Lebensmittelpreisen befeuert wurde. Die
Grenzziehung durch Frontex macht erst recht deutlich: Es handelt sich
nicht nur um einen demokratischen Aufbruch, sondern um einen
Verteilkampf zwischen Nord und Süd, zwischen drinnen und draussen.
---
NLZ 24.2.11
Zug bereitet sich auf Ansturm vor
Flüchtlinge
ft.
ft. Zug rüstet sich für einen Ansturm von Asylsuchenden
aus Nordafrika. Regierungsrätin Manuela Weichelt wartet vorerst
noch weitere Informationen des Bundes ab. Der Kanton ist verpflichtet,
1,4 Prozent der Asylsuchenden aufzunehmen. Ungeklärt ist, wo diese
untergebracht werden können. Denn: Risch-Rotkreuz müsste 40
Plätze anbieten, hat aber keinen einzigen. Zug ist mit 38 im
Verzug. Weichelt würde deshalb auf eine Zivilschutzanlage
zurückgreifen.
17
--
Die Schweiz bereitet sich auf Massenflucht vor
Flüchtlinge
Italien stellt sich auf den Ansturm von Hunderttausenden
Flüchtlingen aus Libyen ein. Diese könnten auch versuchen, in
die Schweiz zu gelangen. Der Bund will jetzt Massnahmen ergreifen.
Dominik Straub, Rom
nachrichten@luzernerzeitung.ch
Der Damm ist gebrochen: Wie das italienische Aussenministerium
mitteilte, sind die im Jahr 2009 eingeführten
italienisch-libyschen Patrouillen vor der libyschen Küste und in
den libyschen Häfen wegen der blutigen Unruhen in Ghadhafis
Wüstenreich am Dienstag definitiv eingestellt worden. Laut
inoffiziellen Berichten sind bereits Dutzende, wenn nicht Hunderte von
Flüchtlingsbooten bereit, von der libyschen Küste in Richtung
Lampedusa und Sizilien in See zu stechen. Die professionellen Schlepper
warteten nur noch auf besseres Wetter und weniger Seegang.
Bis zu 300 000 Migranten
Nach dem Wegfall der Kontrollen erwartet Italien einen nie da
gewesenen Flüchtlingsstrom. Gegenüber dem "Corriere della
Sera" nannte der italienische Aussenminister Franco Frattini die Zahl
von 200 000 bis 300 000 Migranten, die Libyen in Richtung Italien
verlassen wollten. Die Prognose könnte sich noch als deutlich zu
niedrig herausstellen, wie Frattini in dem Interview einräumte.
Denn bei rund einem Drittel der gut sieben Millionen Einwohner Libyens
handle es sich um Immigranten aus den armen Ländern südlich
der Sahara, deren Ziel ebenfalls das reiche Europa sei. "Wir sprechen
von zweieinhalb Millionen Menschen", betonte der Aussenminister. "Die
Wahrheit ist, dass wir keine Ahnung haben, was nach einem Sturz
Ghadhafis passieren könnte."
Krisengipfel in der Schweiz
Das alarmiert auch die Schweiz. Das Bundesamt für Migration
reagiert nun, wie es gestern gegenüber "tagesanzeiger.ch"
bestätigte. Das Bundesamt will noch heute einen Gipfel abhalten,
an dem auch Vertreter des Aussendepartementes und des Grenzwachtkorps
teilnehmen sollen. Eine Prognose über die Anzahl der
Flüchtlinge sei schwierig, eine grosse Zahl Asylsuchender sei
nicht auszuschliessen, wie Michael Glauser vom Bundesamt für
Migration erklärte. Sein Amt schaue auch sorgenvoll nach
Lampedusa; es stelle sich die Frage, wie Italien mit der Krise umgehe.
Humanitärer Notstand
Dort hat der italienische Aussenminister Frattini die Aussicht
auf bis zu 300 000 Flüchtlinge als "apokalyptisch" bezeichnet. In
der Tat scheint es ausgeschlossen, dass Italien einen derartigen
Ansturm aus eigener Kraft bewältigen könnte - Rom musste
schon den humanitären Notstand ausrufen, nachdem bis zum 15.
Februar innerhalb von wenigen Tagen über 5000 Flüchtlinge aus
Tunesien in Lampedusa gelandet waren. Der italienische Innenminister
Roberto Maroni stellte sich damals auf den Standpunkt, dass dieser
"Exodus biblischen Ausmasses" kein rein italienisches Problem
darstelle, sondern ein gesamteuropäisches.
Mit dieser Meinung steht Maroni nicht allein. Angesichts der nun
erwarteten noch viel dramatischeren Flüchtlingswelle aus Libyen
haben sich in Rom gestern Mittwoch die Innenminister der anderen
EU-Mittelmeer-Anrainerstaaten Frankreich, Spanien, Griechenland, Malta
und Zypern getroffen. Dies, um ihre Haltung und ihre Forderungen im
Hinblick auf das heute in Brüssel stattfindende Treffen der
EU-Innen- und -Justizminister abzustimmen. Dort soll ebenfalls
über die Flüchtlingsproblematik diskutiert werden.
Forderungen an die EU-Länder
Die Position Italiens ist klar: Die bereits in Aussicht
gestellten Finanzhilfen und ein Frontex-Einsatz im Mittelmeer sind
schön und gut - aber nicht das Kernanliegen. Italien fordert
vielmehr eine Verteilung der ankommenden Menschen auf alle
EU-Partnerländer. In Rom sieht man nicht ein, warum man sich
alleine um die Flüchtlingsmassen kümmern soll, nur weil
Lampedusa zufälligerweise näher an der nordafrikanischen
Küste liegt als zum Beispiel Sylt.
Nur Durchgangsstation
Das Argument, andere EU-Staaten hätten in den letzten Jahren
weit mehr Asylbewerber aufgenommen als Italien, lässt Rom nicht
gelten: Bei den Flüchtlingen handle es sich gar nicht um Menschen,
die in Italien Asyl beantragen wollten. Tatsächlich hat kaum einer
der tunesischen Flüchtlinge einen Asylantrag gestellt, der ihn
gemäss Dublin II verpflichtet hätte, in Italien zu bleiben.
Die jungen Tunesier wollen weiter nach Frankreich, nach Deutschland, in
den Norden, wo die Jugendarbeitslosigkeit nicht wie in Italien beinahe
30 Prozent beträgt und wo sie kaum Chancen auf Arbeit haben.
Die bisherige Weigerung Deutschlands und anderer EU-Länder,
eine Verteilung der Flüchtlinge auch nur in Betracht zu ziehen,
belegt die ambivalente Haltung dieser Staaten in der
Flüchtlingsfrage: Zwar fand man Berlusconis und Ghadhafis zur
Schau gestellte Männerfreundschaft befremdlich und die Anbiederung
des italienischen Regierungschefs an den libyschen Despoten
beschämend. Aber man war heilfroh über das bilaterale
Abkommen der beiden Länder, welches den Flüchtlingsstrom aus
Libyen nach Europa praktisch zum Versiegen gebracht hatte - und man
schloss auch beide Augen vor den krassen Menschenrechtsverletzungen,
die Ghadhafi bei der Anwendung des Abkommens anwendete.
--
Der Ölmarkt spielt verrückt - und die USA werden
nervös
Thomas Spang, Washington
Ölpreis Wegen der Unruhen in Libyen haben die Ölpreise
gestern weiter angezogen. Ein Fass (159 Liter) US- Leichtöl der
Sorte WTI verteuerte sich um 2,7 Prozent auf 97.97 Dollar. Die
Nordseesorte Brent kostete mit 110.35 Dollar 4,3 Prozent mehr als am
Vortag. Beide Sorten sind damit so teuer wie seit Herbst 2008 nicht
mehr, als die Pleite der US-Investmentbank Lehman die Finanzbranche und
damit auch die Weltkonjunktur in die tiefste Krise seit dem Zweiten
Weltkrieg stürzte.
Das wiederum sorgt für Besorgnis in den USA. Man bekommt
dafür die Quittung, dass es Amerika war, das den libyschen
Diktator Muammar el Ghadhafi international wieder salonfähig
machen wollte. Die damalige US-Regierung entdeckte ihre Sympathien
für den verschrobenen Diktator nach dem Desaster über die
nicht vorhandenen Massenvernichtungswaffen des Iraks. 2003 trumpfte
Washington mit einem Abkommen auf, in dem sich Ghadhafi verpflichtete,
seine nuklearen Ambitionen aufzugeben. Im Gegenzug versprachen die USA,
die seit dem Terroranschlag auf eine Passagiermaschine über dem
schottischen Lockerbie (1988) verhängten Sanktionen aufzuheben.
Schachzug der Regierung Bush
Experten sprachen von einem geostrategischen Schachzug, der es
dem damaligen Präsidenten Bush erlaubte, zwei Fliegen mit einer
Klappe zu schlagen. Einerseits konnte er einen Erfolg seiner im Irak
ansonsten gescheiterten Doktrin vorzeigen. Anderseits verschaffte er
amerikanischen Ölkonzernen Zugang zu den grössten bekannten
Erdölreserven auf dem afrikanischen Kontinent.
USA sind zweitgrösster Förderer
Als 2004 die Sanktionen gegen Libyen fielen, standen vier grosse
amerikanische Produzenten in den Startlöchern, um sich ihr
Stück vom libyschen Erdölkuchen zu sichern. Conoco Phillips,
Occidental, Marathon und Hess investierten Millionen in Beteiligungen,
die ihnen erlaubten, jeden Tag zusammen rund 126 000 Barrel Öl aus
der libyschen Wüste zu pumpen. Das ist fast drei Mal so viel wie
die gesamte Tagesproduktion von Bahrain.
Damit stehen die Amerikaner hinter dem italienischen ENI-Konzern,
der mit 244 000 Barrel das meiste Öl in Libyen fördert. Ein
Privileg, das die Italiener ihrem Regierungschef Silvio Berlusconi zu
verdanken haben, der beste Kontakte zu Ghadhafi pflegte. Auch der
damalige britische Premierminister Tony Blair pilgerte zu dem
Wüstenführer, um dem britischen BP-Konzern 2007 einen
900-Millionen-Dollar-Vertrag zu sichern. Ungeklärt bleibt bis
heute, ob das Geschäft zur Freilassung des
Lockerbie-Attentäters Abdel Baset al-Megrahi führte.
Unbestritten ist unter Experten die Tatsache, dass die westlichen
Erdölkonzerne dem libyschen Diktator halfen, seinen Reichtum zu
erschliessen. Libyen produzierte vor Beginn der Unruhen rund 1,8
Millionen Barrel am Tag. Mehr als 85 Prozent davon fliessen nach Europa.
Preise könnten weiter steigen
Während Experten auf volle Reservetanks und
Überschusskapazitäten in Saudi-Arabien hinweisen, sorgen sich
die Märkte um den kombinierten Effekt der Krisen im Nahen Osten.
"Es geht nicht nur um Libyen", erklärt der Chefvolkswirt von
Standard&Poors, David Wyss, die Unruhe an den Handelsplätzen.
"Die ganze Region ist betroffen." Die heutigen Ölpreise
würden einmal als Sonderangebot betrachtet, wenn die Ungewissheit
anhielte.
Thomas Spang, Washington
nachrichten@luzernerzeitung.ch
---
20 Minuten 24.2.11
Riesenchaos schon vor der Flüchtlingswelle aus Libyen
BERN. Der erwartete Massenexodus aus Libyen stellt die Schweiz
vor eine grosse Herausforderung. Wie darauf reagiert werden soll, ist
Teil einer hitzigen Polit-Debatte.
Italien erwartet eine Masseninvasion aus Nordafrika: 300 000
Menschen werden beim Sturz des Diktators Muammar Gaddafi allein aus
Libyen erwartet. Menschenmassen, für die Italien nicht vorbereitet
ist. Entsprechend hektisch rüstet sich die Schweiz. Die
Forderungen der Politiker reichen vom Dichtmachen der Grenzen bis zur
Schaffung möglichst vieler Empfangslager. Das Bundesamt für
Migration (BfM) hat für heute eine Sitzung einberufen, an der die
Zuständigkeiten geklärt werden sollen.
Dass Migranten kommen, ist für FDP-Nationalrat Philipp
Müller klar: "Das Dublin-Abkommen wird kaum funktionieren."
Müllers Vorschlag: Die Schaffung zusätzlicher Empfangszentren
etwa in leer stehenden Armeeunterkünften, damit ein erster
Entscheid über den Verbleib der Flüchtlinge rasch und unter
Bundesaufsicht gefällt werden könne.
Anderer Meinung ist SVP-Nationalrat Hans Fehr: "Was jetzt zu tun
ist, liegt auf der Hand: Das Grenzwachtkorps muss aufgestockt werden,
um die Schweizer Südgrenze möglichst dichtzumachen." Notfalls
sollen dafür auch Soldaten eingesetzt werden. Es handle sich
nämlich nicht um wirkliche Flüchtlinge, sondern um junge
Männer auf der Suche nach einem besseren Leben.
Dem widerspricht wiederum Jakob Büchler, Präsident der
nationalrätlichen Sicherheitskommission: "Selbst die ganze Armee
an die Grenze zu stellen brächte nichts, man kann diese Leute
nicht aufhalten. Ausserdem ist die Schweiz im Rahmen der Menschenrechte
verpflichtet, Lösungen zu finden - das Gefährdungspotenzial
ist bei den Libyern nämlich massiv höher als im Falle von
Ägypten."
Moreno Casasola von Solidarité sans frontières geht
gar noch weiter: "Statt die Proteste nur aus der Ferne zu bejubeln,
muss die Schweiz ihre Grenzen für diese Leute öffnen, Punkt."
Deborah Sutter
--
Dubliner Übereinkommen
BERN. Das Übereinkommen Dublin II, dem die Schweiz seit 2004
angehört, regelt die Verantwortlichkeit für die Abwicklung
der Asylverfahren. Das erste Auffangland ist zuständig. Diese
Migrationsverträge sollten theoretisch verhindern, dass
Asylsuchende von Land zu Land reisen. Dank der elektronischen
Fingerabdruck-Datenbank Eurodac können Personen, die mehrere
Asylgesuche stellen, identifiziert und an das zuständige Land
weitergeleitet werden.
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Tribune de Genève 24.2.11
Doit-on accueillir tous les réfugiés arabes?
Fabian Muhieddine
Les migrants arabes affluent en Italie. Séance de crise
à l'Office fédéral des migrations
Les réunions de crise se multiplient. Les ministres
européens se sont rencontrés hier pour discuter d'une
stratégie commune face à l'afflux massif de migrants
arabes. Le dispositif aux frontières a été
renforcé. A Lampedusa, au sud de la Sicile, plus de 5500
Tunisiens sont parqués. Et tout le monde craint que la situation
empire une fois que le régime Kadhafi tombera. Ces
dernières années, la Libye "régulait" le flux
migratoire de l'Afrique vers l'Europe.
En Suisse, l'Office fédéral des migrations (ODM)
organise aussi une réunion avec les cantons et différents
partenaires. Il s'agit de discuter des capacités d'accueil mais
également de débattre de la responsabilité de la
Suisse. A quelques mois des élections fédérales,
le sujet est brûlant. Hans Fehr (UDC/ZH) a déjà
dénoncé le mauvais signal envoyé par la Suisse aux
migrants: "Il faut appliquer l'accord Schengen-Dublin de manière
stricte et renvoyer les migrants dans le premier pays où ils ont
fait leur demande. " Fin de l'histoire?
Pas pour Denise Graf, juriste à Amnesty International. "Si
l'afflux continue, la Suisse pourrait être confrontée
à un accord de répartition proportionnelle entre les pays
européens", explique cette spécialiste de l'asile. Dans
ce cas, la Suisse s'engagerait à examiner un certain nombre de
demandes au cas par cas. "Seuls ceux qui peuvent faire valoir une
persécution dans leur pays, ajoute Denise Graf, peuvent
prétendre à un refuge en Suisse. "
-
"Il faut les accueillir"
Le point de vue de Géraldine Savary, conseillère
aux Etats (PS/VD)
La Suisse devrait-elle jouer un rôle dans l'afflux massif
de réfugiés arabes vers l'Europe?
Evidemment. Elle doit faire entendre sa voix pour rappeler que
ces révolutions sont salutaires. Et que l'argutie diplomatique,
voire la lâcheté, ne peut pas être la seule
réponse de l'Europe à ces peuples qui se
soulèvent. Ce qui se passe dans les pays arabes est la
deuxième phase de la décolonisation. C'est le
résultat d'une première tentative d'émancipation
qui a été confisquée par les élites.
Aujourd'hui, c'est la volonté populaire qui s'exprime enfin. La
responsabilité de l'Europe et de la Suisse est engagée.
L'Europe s'est assez débarrassée par le passé du
problème des migrants en les confiant à la Libye.
Donc la Suisse devrait elle-même accueillir des
réfugiés.
Oui. Ce qui se passe dans le monde arabe est un acte politique.
Les migrants qui arrivent sont des personnes perdues, inquiètes,
désemparées par les événements. Ce n'est
pas une immigration économique. La réponse de la Suisse
doit être politique. Dans un premier temps, il faut accueillir
ces réfugiés. Il n'y a pas de risque d'un exode massif,
il n'existe aucune immigration historique des pays arabes vers la
Suisse. Si dans un ou deux ans, l'afflux continue, il sera grand temps
de penser à prendre des mesures. Pour l'instant, il s'agit de
faire un geste envers ces peuples.
Selon la loi sur l'asile, la Suisse n'acceptera pas les
réfugiés économiques. Les anciens dignitaires du
régime seront les seuls à pouvoir faire valoir un statut
de réfugiés politiques. Ne risque-t-on pas d'accueillir
les "méchants"?
Avec le geste clair de la Suisse, qui a confisqué
rapidement les avoirs des dictateurs, je ne pense pas que les
dignitaires viendront en Suisse. Ils iront dans des pays plus
arrangeants. Et puis j'aimerais rappeler que beaucoup de Libyens
répondent actuellement aux critères d'asile. Tant que
Kadhafi n'est pas tombé, beaucoup risquent la persécution.
-
"Renforcer les frontières"
Le point de vue d'Yves Nidegger, conseiller national (UDC/GE)
Faut-il appliquer l'accord de Dublin de manière stricte et
renvoyer tous les réfugiés arabes en Italie?
Oui, il faudrait. Mais ce n'est pas possible. L'Italie n'a pas
enregistré un seul des migrants. Selon l'accord, le premier pays
qui accueille un migrant doit s'occuper de tout. Cela évite les
demandes multiples au sein de l'espace Schengen. La
réalité, c'est que l'Italie en laisse passer beaucoup.
Elle leur distribue seulement un document pour leur signifier qu'ils
ont trois mois pour quitter l'espace ou décider de s'y
établir. Ces gens finiront par remonter vers le nord. Cette
crise ne fait que démontrer une fois de plus que cet accord
n'est qu'un mirage. Dans ces conditions, il n'y a qu'une solution:
renforcer les frontières suisses en y envoyant les
gardes-frontière, plutôt que de leur demander de
contrôler les touristes anglais aux aéroports.
La Suisse ne devrait-elle pas faire preuve de solidarité
envers les pays européens en accueillant son lot de
réfugiés?
Il faut préciser qu'il ne s'agit pas de
réfugiés politiques mais de migrants économiques
clandestins. Pour preuve, ce sont de jeunes hommes sans famille.
Certains sont certainement des prisonniers de droit commun
relâchés depuis la chute de Ben Ali et qui ont largement
participé aux pillages. Ne basculons pas dans le pathos.
L'Europe n'a aucune responsabilité morale envers eux. Et s'il en
existait une, ce serait bel et bien de rendre ces jeunes hommes dans la
vigueur de l'âge à la Tunisie, pour qu'ils aident leur
pays à se reconstruire, plutôt que de les laisser chercher
ici un job qu'ils ne sont pas sûrs de trouver.
Sans Kadhafi pour les retenir, ces réfugiés
refoulés risquent de revenir rapidement. Avez-vous une solution?
Il faut que l'Europe mette en place une véritable
structure qui empêche réellement les migrants de passer.
Il faut rétablir une vraie frontière européenne
à laquelle la Suisse pourrait participer. Sinon notre pays devra
agir seul.
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Bund 23.2.11
Der Bund ruft zum Flüchtlings-Krisengipfel - und erntet Kritik von
der SVP
Der Bund lässt an einer Konferenz beraten, wie ein
Flüchtlingszustrom aus Afrika zu bewältigen wäre.
SVP-Politiker Hans Fehr hält dies für ein "falsches Signal".
Fabian Renz
Noch ist kein Grossandrang zu verzeichnen: In der ersten
Februarhälfte traf aus Libyen ein einziges Asylgesuch ein, heisst
es beim Bundesamt für Migration (BFM). Aus Ägypten und
Tunesien, den zwei anderen politischen Brandherden der Region, waren es
nur wenig mehr (9 und 18). Doch wäre eine Entwarnung voreilig: Bei
früheren Gelegenheiten, als Menschenmassen von Süden in die
EU drängten, wurde verstärkter Einwanderungsdruck an der
Schweizer Grenze jeweils mit drei bis vier Wochen Nachlaufzeit
spürbar. Besondere Furcht bereitet den Verantwortlichen im
aktuellen Fall die Aussicht, dass viele der erwarteten maghrebinischen
Einwanderer sich als Algerier ausgeben könnten: Ausschaffungen
nach Algerien sind derzeit blockiert.
Um sich auf alle Eventualitäten vorzubereiten, lädt das
Bundesamt für Migration (BFM) morgen Donnerstag Vertreter der
Kantone, der zuständigen Departemente und des Grenzwachtkorps zu
einem Krisengipfel. Er soll erste Erkenntnisse zu den logistischen
Kapazitäten bei einer grösseren Flüchtlingswelle bringen
- und Klärung darüber, wer bei zugespitzter Lage wofür
zuständig wäre.
SVP-Nationalrat Hans Fehr findet indes die Konferenz schon per se
ein "falsches Signal", wie er sagt: "Die Schweiz soll sich nicht auf
grosse Flüchtlingsströme vorbereiten. Sie soll vielmehr auf
ihr Recht gemäss den Dublin-Verträgen pochen: Wenn diese
Nordafrikaner über Italien in den Dublin-Raum einreisen, dann
müssen die Italiener sie übernehmen." Weiter, so Fehr, seien
eine Verstärkung des Grenzwachtkorps im Tessin sowie intensivierte
Kontrollen in den grenzüberquerenden Zügen in die Wege zu
leiten. Seinen Forderungen will der SVP-Nationalrat mit
parlamentarischen Vorstössen Nachdruck verleihen. Für ihn
steht fest, dass die Emigranten aus dem Maghreb keine politischen
Flüchtlinge sind: "Es handelt sich hier um junge Männer, die
zum ersten Mal weitgehend uneingeschränkt reisen können und
die in Europa ein besseres Leben suchen."
Adrian Hauser, Sprecher der Schweizer Flüchtlingshilfe,
widerspricht: "Es ist pauschalisierend und an der Grenze zur
Stigmatisierung, wenn man einfach behauptet: Wer aus Ägypten oder
Tunesien kommt, kann kein echter Flüchtling sein." Jedes
Asylgesuch müsse unabhängig von der Nationalität
"einzeln und mit Fairness" überprüft werden. In diesem Sinne
findet es Hauser auch richtig, dass die Behörden nun logistische
Überlegungen für Flüchtlingsaufnahmen in erhöhter
Zahl anstellen. Derselben Ansicht ist SP-Nationalrat Andy
Tschümperlin. Wie Fehr glaubt indes auch Tschümperlin, dass
man vor einer "schwierigen Situation" stehe. Gerade die Unterscheidung
von politischen und wirtschaftlichen Flüchtlingen sei bei
grösserem Immigrantenzustrom eine äusserst anspruchsvolle
Aufgabe.
Libyen: Schweizer bleiben
Wenig Emigrationswille zeigen laut dem Aussendepartement (EDA)
die 46 Schweizer, die sich derzeit in Libyen aufhalten - trotz der
Ausreiseempfehlungen des EDA. Wer das Land doch verlassen wolle,
könne Linienflüge benutzen, schreibt das EDA: Der Flugbetrieb
funktioniere normal.
Zum Einsatz bereit stehen die drei Grenzwächter, welche die
Schweiz für den aktuellen Einsatz der EU-Grenzschutz-Truppe
Frontex zur Verfügung stellt. Die Eidgenössische
Zollverwaltung stuft ein Aufgebot schon für heute Mittwoch als
möglich ein.
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BZ 23.2.11
Aufstand in Nordafrika ● Die Angst vor dem
Flüchtlingsstrom
"Ghadhafi nutzt die Flüchtlingsströme, um Europa unter
Druck zu setzen"
Europa fürchtet sich vor einer Flüchtlingswelle aus
Nordafrika. Die Migrationsexpertin Denise Efionayi-Mäder spricht
über mögliche Auswirkungen auf die Schweiz und zeigt auf, wie
viel es braucht, damit ein Mensch sein Land verlässt.
Frau Efionayi, muss die Schweiz mit einer Flüchtlingswelle
aus Nordafrika rechnen?
Denise Efionayi-Mäder: Ehrlich gesagt haben mich die
heftigen Reaktionen erstaunt. Ich denke nicht, dass eine Welle auf uns
zukommt.
Auf der Insel Lampedusa sind mehrere Tausend Migranten gestrandet…
Natürlich wirkt diese Menge auf der kleinen Insel
bedrohlich. Aber die Ströme sind nicht neu. Gibraltar, die
Kanarischen Inseln, Malta, Griechenland und jetzt wieder Lampedusa -
die Routen verändern sich ständig.
Doch nun könnte die Zahl laut dem italienischen
Innenminister Roberto Maroni bald auf 80 000 steigen.
Ich weiss nicht, wie Maroni auf solche Zahlen kommt. Man muss das
differenziert sehen: Menschen steigen nicht von heute auf morgen in ein
Boot und fahren nach Europa. Dem gehen Planungen voraus,
Abwägungen… Man kann nicht einfach die Ankömmlinge der
letzten Tage hochrechnen und dann eine Zahl kommunizieren. Zuerst muss
man sich fragen, woher diese Leute kommen und wohin sie wollen. Da gibt
es noch zu wenige Informationen.
Es gibt aber Vermutungen.
Ja. Momentan sieht es so aus, als käme der Grossteil der
Migranten aus Tunesien. Deren Hintergründe sind aber unbekannt. Es
könnten Wirtschaftsmigranten sein, aber auch politische
Flüchtlinge - zum Beispiel Anhänger des gestürzten
Diktators Ben Ali oder Flüchtlinge aus Libyen. Je nachdem haben
sie also ein Recht auf Asyl.
Und wohin wollen sie?
Studien zeigen, dass es Migranten dorthin zieht, wo sie bereits
Kontakte haben. Im Fall von Tunesien dürften folglich viele nach
Frankreich weiterreisen. Da kommen natürlich die koloniale
Vergangenheit und die Landessprache hinzu.
Französisch spricht man auch in der Schweiz…
Klar, ich behaupte nicht, dass die Migranten einen Bogen um die
Schweiz machen. Aber man muss realistisch bleiben: Hierzulande gibt es
einige Tausend Tunesier und noch weniger Ägypter und Libyer. Noch
einmal: Uns erwartet in naher Zukunft keine Flüchtlingswelle. Die
Sache wird zu sehr hochgespielt.
Das Problem hat sich also nicht verschärft.
Es hat einen Anstieg gegeben, das ist klar. Aber aufgrund der
momentanen Situation glaube ich nicht, dass der Ansturm auf Lampedusa
anhalten wird. Krisensituationen und zunehmende Möglichkeiten
können kurzfristig zu einem Anstieg der Migration führen. Wir
haben es mit einer konjunkturellen Schwankung zu tun. Denken Sie nur an
den Mauerfall: So viele Menschen wollten Ostberlin noch in der ersten
Nacht verlassen - danach jedoch ist die Mobilität weit unter den
Erwartungen geblieben.
Nordafrika ist schwer mit Ostdeutschland zu vergleichen.
Natürlich. Aber auch die Personenfreizügigkeit
innerhalb der EU hat weniger Mobilität gebracht als erhofft. Es
braucht viel, damit Menschen ihr Land verlassen.
Was kann konkret zu einem solchen Entscheid beitragen?
Perspektivlosigkeit ist die wichtigste Voraussetzung. Man hat
festgestellt, dass die Leute ihr Land nicht dann verlassen, wenn es
ihnen am schlechtesten geht. Sie gehen, wenn sie befürchten, dass
sich die Lage verschlechtert. Hier liegen meine Hoffnungen: Falls durch
die Revolutionen neue Perspektiven geschaffen werden, könnten sich
die Migrationsströme gar umkehren. Aber das braucht Zeit.
Gibt es weitere Faktoren, welche die Migration fördern?
Im Vergleich zwischen Tunesien und Ägypten spielt sicher
auch die Grösse des Landes eine Rolle. In kleineren Ländern
bieten sich weniger Möglichkeiten, dadurch haben sie eine
höhere Migrationsrate. Hinzu kommt ein weiterer wichtiger Faktor:
die Gelegenheit zur Migration. Das tunesische Regime beispielsweise
schaute sehr streng darauf, dass nur wenige Leute das Land verlassen
konnten. Ohne entsprechende Papiere lief man Gefahr, ins Gefängnis
zu kommen. Und das betraf nicht nur Durchreisende, sondern auch die
eigenen Staatsbürger. Da ist es nicht verwunderlich, dass sich ein
Bedürfnis zur Migration angestaut hat.
Existieren solche Gesetze auch in den Nachbarländern?
Ja, auch Marokko und Libyen gehen sehr restriktiv mit
potenziellen Migranten um. Daran ist die EU nicht unschuldig.
Inwiefern?
Die Zusammenarbeit mit den nordafrikanischen Regierungen ist
entscheidend für den Schutz der europäischen Grenze: Ohne
Ausreisevisum ist nicht einmal ein Besuch in Italien möglich.
Viele Personen aus Nordafrika möchten aber nicht migrieren,
sondern lediglich reisen. Hätte Europa anstelle der Diktatoren die
demokratischen Bestrebungen unterstützt, sähe heute vieles
anders aus. Denn eines ist klar: Mit der Schaffung von Perspektiven in
Nordafrika schützen wir auch unsere eigenen Grenzen.
Entsteht jetzt nicht ein gewaltiger europäischer
Interessenkonflikt? Speziell die Zusammenarbeit zwischen Italien und
Libyen war in der Vergangenheit durchaus erfolgreich.
Richtig. Ghadhafi hat die Anzahl der Bootsflüchtlinge, die
nach Italien wollten, drastisch reduziert. Das gibt ihm eine gewisse
Macht: Er spielte mit den Flüchtlingsströmen, um Europa unter
Druck zu setzen.
Könnte es also zum Kollaps kommen, falls das libysche Volk
Ghadhafi vertreibt?
Man weiss, dass Libyen viele irreguläre Migranten an der
Durchreise hindert. Ich glaube aber nicht, dass neue Regierungen in
Nordafrika alle Vereinbarungen mit Europa künden würden -
speziell in finanzieller Sicht steht da zu viel auf dem Spiel. Es ist
jedoch nicht auszuschliessen, dass ein menschlicherer Umgang mit den
Migranten wieder zu einer Zunahme der Flüchtlingsströme
führt. Was ich hier aber unbedingt noch betonen möchte: Der
Grossteil der afrikanischen Migranten kommt per Flugzeug nach Europa;
die Reise über das Meer machen höchstens zehn Prozent.
Die Schweiz soll also keine besonderen Massnahmen treffen.
Natürlich muss man bereit sein, das Aufstocken des Personals
im Asylbereich ist sicher sinnvoll. Es ist aber absolut
kontraproduktiv, wenn das Thema Migration kurz vor den Wahlen
übermässig politisiert wird. Wir müssen dringend aus dem
Links-rechts-Schema hinausfinden. Denn erst in einem sachlichen Umfeld
lassen sich die besten Lösungen finden. Ich sage nicht, dass man
alles den Experten überlassen soll, aber in Sachen Migration
täte es der Politik gut, vermehrt auf Forschung und Fakten zu
hören.
Interview: Christian Zeier
--
Zur person
Denise Efionayi-Mäder ist Soziologin und Vizedirektorin des
Schweizerischen Forums für Migrations- und
Bevölkerungsstudien an der Uni Neuchâtel. Die gebürtige
Bernerin hat unter anderem in den Bereichen Flüchtlingsstudien
sowie Asyl- und Migrationspolitik publiziert.cze
--
Vorkehrungen
Ungewissheit und Krisensitzung
Es ist eine schwierige Situation für das Bundesamt für
Migration (BFM). Man will die Angst vor einem Flüchtlingsstrom
nicht schüren, kann aber eine erhöhte Zuwanderung aus
Nordafrika dennoch nicht ausschliessen. "Wir wissen es schlicht und
einfach nicht", sagt BFM-Sprecher Michael Glauser. "Die Situation ist
auch für unsere Experten sehr schwer einzuschätzen." Daher
müsse man sich sicherheitshalber auch auf den schlimmsten Fall
vorbereiten.
Am kommenden Donnerstag hat das Bundesamt zu einer Krisensitzung
nach Bern geladen. Sowohl Vertreter der Kantone als auch das
Aussenministerium und der Grenzschutz werden an den Gesprächen
teilnehmen. Bislang habe man laut BFM-Sprecher Glauser keine konkreten
Massnahmen getroffen. Komme es aber zu einem Anstieg der Gesuche,
müssten diese "prioritär" behandelt werden. Eine schnelle
Behandlung ist dann möglich, wenn ein Nichteintretensentscheid
gefällt wird. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn den
Antragstellern nachgewiesen wird, dass sie nicht aus Gründen des
Schutzes in die Schweiz gekommen sind, oder wenn sie bereits einen
negativen Asylentscheid in einem anderen EU- oder EWR-Staat erhalten
haben.
Trotz Alarmbereitschaft will das BFM die Situation nicht
dramatisieren. Laut Michael Glauser habe die Asylstatistik bislang
keinen Anstieg verzeichnet: Im Januar hätten sich 44 Tunesier um
Asyl beworben, in der ersten Hälfte des laufenden Monats waren es
18. Die Zahlen weichen kaum vom Durchschnitt ab. Laut Glauser seien bei
der Botschaft in Bern sogar vermehrt Visum-Gesuche von Tunesiern
eingegangen, die zurückkehren möchten. "Wenn wir die
nordafrikanische Diaspora hierzulande anschauen, dürfte die
Schweiz kein grosses Ziel sein", so Glauser. Tatsächlich: Ende
2009 verzeichnete das Bundesamt für Statistik insgesamt 21 376
Einwohner aus Nordafrika. Mit 7376 stellt Marokko die grösste
Bevölkerungsgruppe vor Tunesien (6356 ) und Algerien (4054). Die
libysche Staatsbürgerschaft besassen zu diesem Zeitpunkt lediglich
785 Personen.cze
---
Tagesschau st.tv 21.2.11
EU befürchtet Flüchtlingsströme
Auch die EU-Aussenminister verurteilen das Vorgehen der libyschen
Regierung. Vor allem die südeuropäischen Staaten
befürchten nun Flüchtlingsströme. Einschätzungen
von Christoph Nufer, SF-Korrespondent in Brüssel.
http://videoportal.sf.tv/video?id=8a90adeb-904d-4657-8c85-f24f1430335e
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Bund 21.2.11
Schweiz beteiligt sich an Einsatz gegen Flüchtlingsstrom
Gestern ist die Operation "Hermes" der EU-Grenzschutzagentur
Frontex angelaufen. Auch die Schweiz beteiligt sich an der Sicherung
der süditalienischen Grenze gegen den Flüchtlingsstrom aus
Nordafrika.Ob die drei Schweizer Experten tatsächlich in
Süditalien eingesetzt werden, ist offen. Noch habe sie Frontex
nicht angefordert, soWalter Pavel, Sprecher der Eidgenössischen
Zollverwaltung.Wenn die Anfrage komme, könnten die
Grenzwächter innerhalb von zwei bis drei Tagen entsandt werden.Aus
Sicht von Migrations-Sonderbotschafter Eduard Gnesa hat Europa
"berechtigte Befürchtungen" vor einer Flüchtlingswelle wegen
der Proteste in arabischen Ländern. Nehme Europa Zehntausende von
tunesischen Flüchtlingen auf, habe dies eine Sogwirkung auf
Ägypten.(sda)
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BZ 21.2.11
In Lampedusa landen vor allem Wirtschaftsflüchtlinge
FlüchtlingeDie Schweiz beteiligt sich an der Sicherung der
süditalienischen Grenze gegen den Flüchtlingsstrom aus
Nordafrika. Drei Experten warten auf ihren Einsatz.
Fast wäre Karin Keller-Sutter Bundesrätin geworden.
Dann hätte die Polizeidirektorin des Kantons St. Gallen vermutlich
das Justizdepartement übernommen. Nun aber sitzt die Bernerin
Simonetta Sommaruga (SP) auf diesem Posten und sucht zusätzliche
Unterbringungsmöglichkeiten für nordafrikanische
Flüchtlinge.
Dies ist gar nicht im Sinne von Karin Keller-Sutter, die die
kantonale Justiz- und Polizeidirektorenkonferenz (KKJPD)
präsidiert. "Die Strukturen der Kantone erlauben es, für eine
gewisse Zeit zusätzliche Asylbewerber unterzubringen", sagte die
FDP-Politikerin in einem Interview mit der "Neuen Luzerner Zeitung" vom
Samstag. "Doch entscheidend ist, dass der Bund allfällige
Asylbewerber aus Nordafrika gar nicht erst auf die Kantone verteilt."
Nach Auffassung von Keller-Sutter handelt es sich dabei
nämlich grösstenteils um Wirtschaftsflüchtlinge. Auf
Lampedusa landeten ihres Wissens derzeit ausschliesslich junge
Männer, die kaum asylrelevante Gründe vorzubringen
hätten.
Sogwirkung auf Ägypten
Aus Sicht von Migrations-Sonderbotschafter Eduard Gnesa hat
Europa "berechtigte Befürchtungen" vor einer Flüchtlingswelle
aus arabischen Ländern. Nehme Europa Zehntausende von tunesischen
Flüchtlingen auf, habe dies eine Sogwirkung auf Ägypten.
Man müsse ein gewisses Verständnis für die Haltung
Westeuropas haben, sagte der Sonderbotschafter der Schweiz für
internationale Migrationszusammenarbeit in einem Interview mit dem
"Sonntag". Europa habe noch andere Migranten und Flüchtlinge - sei
es auf dem legalen Weg der Asylbewerber oder auf dem illegalen Weg der
Sans- Papiers.
"Ohne diese Probleme könnte Europa die Situation
möglicherweise grosszügiger handhaben", erklärte Gnesa
weiter. Deutsche Politiker sagten nicht zu Unrecht: "Der Aufstand kam
von der Jugend. Sie will einen demokratischen Staat. Sie muss nun auch
helfen, ihn aufzubauen, statt nach Westeuropa auszuwandern."
Frontex ist angelaufen
Gestern ist nun die Operation "Hermes" der EU-Grenzschutzagentur
Frontex angelaufen. Zunächst werden rund 30 Experten aus
verschiedenen Mitgliedstaaten, ein Flugzeug und mehrere
Patrouillenboote eingesetzt. Die EU-Agentur hatte die Mitgliedstaaten
vergangene Woche um Unterstützung angefragt. "Wir haben Frontex
mitgeteilt, dass die Schweiz zwei Dokumentationsspezialisten und einen
Experten für Luftüberwachung zur Verfügung stellt",
sagte gestern Walter Pavel, Sprecher der Eidgenössischen
Zollverwaltung.
Die Schweiz beteiligt sich als Schengen-Mitglied an Frontex. Ende
Januar wurden die letzten für einen Einsatz notwendigen
Vereinbarungen unterzeichnet. Ob die drei Schweizer Experten
tatsächlich in Süditalien eingesetzt werden, ist offen. Noch
habe sie Frontex nicht angefordert, sagte Pavel. Wenn die Anfrage
komme, könnten die Grenzwächter innerhalb von zwei bis drei
Tagen entsandt werden.
Bis zu sechs Grenzwächter
Insgesamt hat die Schweiz rund 30 Personen für die
Unterstützung von Frontex-Operationen ausgebildet. Es handelt sich
um Experten für die Untersuchung von Fahrzeugen und
Luftüberwachung sowie Dokumentationsspezialisten. Laut Pavel
rechnen die Schweizer Behörden damit, dass jeweils fünf bis
sechs von ihnen gleichzeitig an der EU-Aussengrenze im Einsatz stehen
werden.
Italien sieht sich wegen der Aufstände in Nordafrika mit
einer Welle von Flüchtlingen konfrontiert. Auf der Insel Lampedusa
nahe Tunesien sind innerhalb von wenigen Tagen über 5000 Menschen,
grösstenteils junge Männer, gelandet. Das dortige
Auffanglager hat Platz für 850 Personen. Trotz der
Bemühungen, der Flüchtlingswelle bereits in Süditalien
Herr zu werden, rechnet Justizministerin Simonetta Sommaruga mit einem
verstärkten Zustrom.
sda/cch
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NLZ 21.2.11
"Wir hätten längst handeln müssen"
Flüchtlinge
Interview Jürg Auf der Maur
In Nordafrika stürzt ein Regime nach dem anderen. Trotzdem
flüchten viele nach Europa. Die Schweiz sei schlecht darauf
vorbereitet, sagt Doris Fiala.
Interview Jürg Auf der Maur
juerg.aufdermaur@luzernerzeitung.ch
An der Südgrenze Europas werden Zehntausende von
Flüchtlingen aus Nordafrika erwartet. Viele davon dürften in
die Schweiz kommen. Was ist zu tun?
Doris Fiala*: Wir hätten schon längst aktiver handeln
müssen, statt immer nur zu reagieren. Wer die Augen nicht
verschliesst, weiss, dass das Problem nicht neu ist.
Das heisst?
Fiala: An einem Nord-Süd-Kongress des Europarates hat man
uns bereits vor zwei Jahren Zahlen einer Studie vorgelegt. 60 Prozent
der über 15- bis 16-Jährigen in Afrika haben nur ein Ziel:
Sie wollen nach Europa, weil sie zu Hause keine Zukunft für sich
sehen. Wir müssen also nicht erst jetzt sensibilisiert sein wegen
den Flüchtlingsströmen aus dem Maghreb. Es fehlt jedoch eine
eigentliche Gesamtstrategie in Migrationsfragen. Erst vor einer Woche
hat der Bundesrat beschlossen, dass alle Dienststellen enger
zusammenarbeiten müssen. Ein Rückübernahme-Abkommen mit
den Maghreb-Staaten fehlt bis heute. Es gibt keine eigentlichen
Migrationspartnerschaften. Ausser mit Algerien, und diese erweist sich
als unbefriedigend. Zudem wurde bezüglich "Empfangsstellen" in der
Schweiz nicht in weiser Voraussicht gehandelt. Das Bundesamt für
Migration hat das in der Vergangenheit verschlafen.
Was sollen wir tun?
Fiala: Wir können nicht einfach sagen, der Dublin-Vertrag
sei nicht gut, man müsse quasi "die Schotten dichtmachen".
Sondern?
Fiala: Die Schweiz sollte Ländern wie Italien, Griechenland,
Malta oder den Kanarischen Inseln helfen - alles Schengen-Aussengrenzen
-, das Problem besser zu meistern. Es braucht Zusatzhilfe aus der
Schweiz. Konkret: Es braucht mehr gebundene Mittel für die
europäische Grenzschutzagentur Frontex, wir müssen auch unser
Know-how zur Verfügung stellen. In Griechenland kommen Monat
für Monat rund 2500 Flüchtlinge an. Das Land ist mit dieser
Situation doch masslos überfordert. Letztlich geht es um ein
globales Problem, um eine globale Herausforderung. Davor dürfen
wir die Augen nicht verschliessen. Das erfordert mehr, nicht weniger
Kooperation. Es spricht für die Schweiz, dass wir mit
Sonderbotschafter Eduard Gnesa neu das Präsidium für
internationale Migrationszusammenarbeit innehaben, an dem rund 150
Länder beteiligt sind. Man zollt der Schweiz Respekt.
Wo sehen Sie also langfristige Lösungen?
Fiala: Zivilgesellschaften in Krisenherden müssen
gestärkt und so Korruption vermindert werden.
Mitgrationspartnerschaften sind zwingend, sie sind allerdings nicht zum
Nulltarif zu haben. Einen ersten Schritt kann die Schweiz schon am
ersten Sessionstag in einer Woche machen, indem sie die
Entwicklungshilfe auf 0,5 Prozent unseres Bruttosozialprodukts
erhöht. Wir müssen unsere Hilfe intensivieren, wenn wir einen
Beitrag leisten wollen, dass beispielsweise in Afrika die
Stabilität gestärkt wird: Von 40 Subsahara-Staaten sind
derzeit rund 25 in bewaffnete Konflikte involviert. Dazu kommen der
tiefe Bildungsstand der Bevölkerung und ein sehr hoher
Analphabetismus-Prozentsatz. Wir können kein Interesse daran
haben, dass so viele Menschen zu uns kommen wollen, die wir schlicht
nicht in den Arbeitsprozess integrieren könnten.
Die SVP will das Grenzschutzkorps aufstocken.
Fiala: Da habe ich nichts dagegen, wenn es nötig ist, aber
das allein ist nicht die Lösung. Wir müssen auch die Hilfe
vor Ort verstärken. Im Balkan-Krieg kamen innert weniger Monate
150 000 Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien zu uns. Das hat uns
viel gekostet, nicht zuletzt durch die Familiennachzüge und die
Rückkehrzahlungen. Jetzt sind wir mit Swisscoy vor Ort und
können dazu beitragen, dass sich die Lage im Kosovo verbessert.
Hilfe vor Ort ist immer billiger, als Flüchtlingsprobleme in der
Schweiz zu meistern.
Mit Hilfe zur Selbsthilfe also Flüchtlingsströme
verhindern?
Fiala: Ich sage keinesfalls, dass man in der Schweiz nun einfach
die Türen öffnen soll, indem man beispielsweise 10 000
Personen aus dem Maghreb aufnimmt. Aber so einfach, wie sich das die
SVP macht, ist es nicht. Ausgerechnet jene Partei, die die
Flüchtlingsfrage in der Schweiz politisch ausschlachtet, ist gegen
Swisscoy-Einsätze und gegen eine Erhöhung der
Entwicklungshilfe. Das geht nicht auf. Nochmals: Globale Risiken
brauchen globale Antworten und Lösungen. Das kann man nicht
isoliert, sondern nur in internationaler Zusammenarbeit angehen.
* Doris Fiala ist Zürcher FDP-Nationalrätin,
Präsidentin der Subkommission Flüchtlingwesen des Europarates
und Mitglied der Kommission für internationale Entwicklungshilfe.
--
Libyen-Proteste versetzen Italien in Alarmstimmung
Dominik Straub, Rom
Nein, er habe noch keine Gelegenheit gehabt, mit Ghadhafi
persönlich zu sprechen, erklärte Italiens Regierungschef
Silvio Berlusconi am Samstag. Und fügte an: "Die Situation in
Libyen ist in Bewegung, und deshalb möchte ich ihn nicht
stören." Die Regierung sei aber "besorgt über alles, was in
der Region derzeit vor sich geht". Im italienischen Innenministerium
wird ein Anwachsen der Flüchtlingswelle aus dem Maghreb zu einer
"Invasion" befürchtet, wie italienische Medien gestern berichteten.
Wichtigster Flüchtlingsdamm
Der Grund für die Alarmstimmung: Stürzt Ghadhafis
Regime, dann fällt gleichzeitig der wichtigste Damm gegen die
illegale Einwanderung, den Italien in mühsamen Verhandlungen vor
knapp drei Jahren hat errichten können: Im Sommer 2008
unterzeichneten Berlusconi und Ghadhafi einen Freundschaftsvertrag, in
welchem sich Libyen verpflichtete, Immigranten an der Flucht über
das Mittelmeer zu hindern.
Das Abkommen hat den Flüchtlingsstrom von Nordafrika nach
Italien drastisch verringert: 2008 kamen an Italiens Küsten 37 000
Bootsflüchtlinge an, davon fast 30 000 in Lampedusa. Vom Sommer
2009 bis Sommer 2010 reduzierte sich der Immigrantenstrom auf 3500
Menschen, in Lampedusa landeten gerade noch 403 Personen. Die
italienisch-libysche Kooperation und Berlusconis
Männerfreundschaft mit dem "Colonello" sind die Erklärung
für das Schweigen Italiens angesichts der blutigen Repression
gegen den Volksaufstand.
Millionen von Afrikanern betroffen
Sollten die Unruhen in Libyen zu einer Aufgabe der
Küstenkontrollen führen, entspräche dies dem Öffnen
einer Schleuse. In Libyen treffen die grossen Flüchtlingsrouten
aus den bevölkerungsreichen sub-saharischen Ländern Mali,
Nigeria, Tschad und Sudan aufeinander - lauter Menschen, die ebenfalls
von Libyen aus nach Europa überschiffen wollen. Im Fall von Libyen
geht es nicht wie bei Tunesien "nur" um einige zehntausend junge
Männer, welche der Perspektivelosigkeit ihres Landes entfliehen
wollen, sondern um Hunderttausende, wenn nicht Millionen Afrikaner, die
in Europa ihr Glück versuchen wollen.
Während sich Berlusconi Sorgen um seinen Freund Ghadhafi
macht, ist der Flüchtlingsstrom aus Tunesien seit dem 16. Februar
weitgehend versiegt. Doch in Rom gibt man sich keinen Illusionen hin:
Der Hauptgrund für den Unterbruch sind nicht die teilweise wieder
aufgenommenen Kontrollen in den tunesischen Häfen, sondern der
schwere Seegang, welcher die ohnehin schon gefährliche
Überfahrt nach Lampedusa in den oft kleinen und nur bedingt
seetüchtigen Fischerbooten derzeit zu einem
selbstmörderischen Unternehmen macht. Wird das Wetter wieder
besser und das Meer ruhiger, dann werden die Flüchtlingsboote
wieder losfahren.
Lager für 7000 Flüchtlinge
Die italienische Regierung, die etwas unvorbereitet auf die
Flüchtlingswelle aus Tunesien gewirkt hatte, unternimmt
unterdessen grosse Anstrengungen, um sich für einen absehbaren und
möglicherweise noch weit dramatischeren neuen Ansturm zu wappnen.
In der sizilianischen Kleinstadt Mineo wird derzeit die Wohnsiedlung
für amerikanische Soldaten der nicht mehr benützten
US-Air-Base Sigonella in ein riesiges Flüchtlingszentrum
verwandelt. Das "Zentrum der Solidarität", wie Berlusconi das
künftige Asyllager bereits genannt hat, wird in Kürze bis zu
7000 Personen aufnehmen können.
Je nach Entwicklung der Krise werden freilich auch diese 7000
Plätze nicht länger als für einige Tage ausreichen -
zumal in Lampedusa immer noch über rund 1500 Immigranten der
letzten Flüchtlingswelle auf ihren Weitertransport nach Sizilien
oder aufs Festland warten.
Dominik Straub, Rom
nachrichten@luzernerzeitung.ch
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Unruhen erreichen Tripolis
Martin Gehlen, Kairo
Angesichts der schwersten Unruhen seit seiner Machtübernahme
vor 42 Jahren hat Muammar Ghadhafi unter den Bürgern Libyens ein
Massaker anrichten lassen. In mehreren Städten feuerten Soldaten
am Wochenende wahllos in die Menge. Teilweise setzten sie auch
Maschinengewehre und Granaten gegen die Demonstranten ein.
Bis zu 200 Tote
Nach Angaben von Human Rights Watch starben in den letzten
fünf Tagen mindestens 104 Personen, andere Quellen sprechen von
weit über 200 Toten. Fast alle Opfer sind durch Schüsse in
Kopf, Nacken oder Brust gestorben, wie Krankenhausärzte
berichteten. Sämtliche Küstenstädte im Osten des Landes
scheinen der Kontrolle des Regimes entglitten, welches inzwischen auch
Hundertschaften rasch eingeflogener Söldner aus frankophonen
afrikanischen Staaten gegen die eigene Bevölkerung einsetzt.
Informationen aus Libyen sind schwierig zu beschaffen. Seit
Samstagnacht ist das Internet abgeschaltet, die Handynetze
funktionieren nur sporadisch. Alle ausländischen Journalisten
mussten das Land verlassen, einheimische Presse darf nicht nach
Benghasi reisen. In Tripolis wurden Menschen, die ausländischen
Medien Informationen gegeben hatten, von der Staatssicherheit verhaftet
und ihre Wohnungen zertrümmert.
"Ein offener Krieg"
In Benghasi schossen Soldaten am Samstag mit schweren Waffen auf
einen Trauerzug. Laut Augenzeugen wurden Menschen zu Dutzenden von den
Salven niedergemäht. Ein Italiener berichtete der
Nachrichtenagentur Ansa, die Stadt sei "völlig ausser Kontrolle".
Alle Regierungs- und Verwaltungsgebäude sowie eine Bank seien
niedergebrannt worden. Nirgendwo sei Polizei zu sehen. Auf el Dschasira
sprach ein junger Aktivist von einem "offenen Krieg zwischen
Protestierenden und Soldaten".
Inzwischen nähern sich die Unruhen aber auch der Hauptstadt
Tripolis. In Misratah kam es zu schweren Zusammenstössen zwischen
Demonstranten und der Polizei. Misratah liegt auf halber Strecke
zwischen Tripolis und Sirte, wo der Beduinenoberst normalerweise in
seinem Zelt residiert. Gemäss einem Bericht des Fernsehsenders
Al-Dschasira kam es am Abend auch in Tripolis zu Zusammenstössen
zwischen Tausenden Demonstranten und Ghadhafi-Unterstützern.
Augenzeugen berichteten von Schüssen und brennenden Autos.
Martin Gehlen, Kairo
nachrichten@luzernerzeitung.ch
---
Blick 21.2.11
Tunesien-Flüchtlinge
Ist Asyl-Chef zu hart?
Macht Migrationschef Alard du Bois Reymond mit Flüchtlingen
aus Tunesien und Ägypten kurzen Prozess?
Das Bundesamt für Migration befürchtet eine Flut von
Asylgesuchen aus Tunesien und Ägypten. Doch die Chancen auf Asyl
in der Schweiz sind gering. Amtschef Alard du Bois Reymond hat
gegenüber dem Sonntags-Blick schon den Tarif durchgegeben. Die
meisten dieser Leute seien junge, arbeitslose Männer - sogenannte
Wirtschaftsflüchtlinge. Die Schweiz müsse alles daransetzen,
dass sie - falls sie in die Schweiz kommen - "das Land möglichst
rasch wieder verlassen", sagte er. Ob von rechts oder von links,
für die Aussage erntet du Bois Reymond vorerst keinen Applaus.
Nationalrat Philipp Müller (FDP) ist zwar für eine
härtere Gangart gegen Asylsuchende aus Tunesien und Ägypten.
Aber er misst den Aussagen des Chefs des Bundesamtes für Migration
(BFM) keine grosse Bedeutung bei. "Wir werden ihn an seinen Taten
messen", sagt Müller.
Der Aargauer ist mit den bisherigen Leistungen des BFM-chefs
unzufrieden. Im Januar seien zum Beispiel bloss drei Asylsuchende aus
Nigeria zurückgeschafft worden. "Dabei sind 2010 fast 2000 neue
Asylgesuche von Nigerianern eingegangen. Und im Januar 2011 waren es
wieder 137 neue Gesuche."
Eine Rückkehrhilfe in Höhe von bis zu 6000 Franken habe
in Nigeria zudem eine astronomische Kaufkraft, so Müller weiter.
"Das steigert die Attraktivität der Schweiz als Zielland."
"Das ist eine gefährliche Aussage des BFM-Chefs für ein
Land mit einer humanitären Tradition", meint dagegen
SP-Nationalrat Andy Tschümperlin. "Man kann sicher nicht
ausschliessen, dass einige die Gelegenheit benutzen, um aus
wirtschaftlichen Gründen nach Europa zu kommen." Aber es gebe
viele, die an Leib und Leben gefährdet seien. "Dies zeigt auch die
jüngste Entwicklung in Libyen zum Beispiel."
Hubert Mooser
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Tagesschau sf.tv 20.2.11
Mehr Flüchtlinge in Lampedusa
Aufgrund der Unruhen im arabischen Raum sind Tausende Richtung Europa
geflüchtet. Auf der italienischen Insel Lampedusa sind auch heute
wieder Flüchtlingsboote angekommen.
Video Frontex in Lampedusa
http://videoportal.sf.tv/video?id=d5bcf6b2-0c8a-43db-8f3e-db87dcbb465c
Frontex in Lampedusa
Die ersten Frontex-Spezialisten sind heute in Lampedusa eingetroffen.
Weil Italien sich mit dem Flüchtlingsstrom überfordert sieht,
hat die Regierung die Hilfe der EU angefordert.
Video Grenzwachtkorps auch in Griechenland tätig
http://videoportal.sf.tv/video?id=fd87c257-732c-4195-98e4-c0857c9b3d87
Grenzwachtkorps auch in Griechenland tätig
Die europäische Grenzschutz-Truppe Frontex ist auch im Norden von
Griechenland zum Einsatz gekommen. Dieses Gebiet ist für illegale
Immigranten das eigentliche Tor nach Europa.
http://videoportal.sf.tv/video?id=c5f063b1-ff20-4dc4-8ba0-4a954d3e4407
---
Sonntag 20.2.11
"Die Befürchtungen vor Flüchtlingswelle sind berechtigt"
Der Schweizer Migrations-Chef Eduard Gnesa gleist ein Modell zur
internationalen Kooperation auf
Der Schweizer Migrations-Chef Eduard Gnesa warnt im Interview mit
dem "Sonntag" vor den Flüchtlingswellen aus Nordafrika. "Selbst
Jugendliche mit guter Ausbildung finden keinen Job. Diese zieht es nach
Westeuropa", sagt Gnesa. Dazu seien vor allem jene Länder von der
Migration betroffen, die von korrupten Diktatoren regiert würden.
Erst wenn sich diese Länder in funktionierende Demokratien
entwickelt hätten, würden die gut ausgebildeten Leute ohne
Jobs nicht mehr weiterwandern.
Angesichts dieser Situation sind für Gnesa die
Befürchtungen Europas vor einer Flüchtlingswelle berechtigt.
Europa und die Schweiz könnten "unmöglich wenig qualifizierte
Arbeitskräfte aus aller Welt unbeschränkt aufnehmen. Die
westliche Welt könne den "weniger entwickelten Staaten in Zukunft
aber mehr Angebote im Bereich Ausbildung, Stagiaire und Bildung
machen". Im Gegenzug müssten sich diese Staaten dazu bereit
erklären, ihre eigenen Staatsangehörigen zurückzunehmen.
Gnesa setzt in Migrationsfragen auf internationale Kooperation.
"Auch im nordafrikanischen Raum werden wir den Migrationsdialog
intensivieren", so Gnesa, "darin legen beide Seiten ihre Probleme auf
den Tisch. Später folgt eine Migrationspartnerschaft, die auch ein
Rückübernahmeabkommen enthalten soll."
Derweil dauerten die Demonstrationen in mehreren Staaten der
arabischen Welt an. In Libyen gingen Tausende Regierungsgegner auf die
Strasse und riefen immer wieder: "Nieder mit Gaddafi". Die
Regierungstruppen lösten die Kundgebungen mit Waffengewalt auf.
Die Zahl der getöteten Gegner von Machthaber Gaddafi dürfte
auf rund hundert gestiegen sein. (ATT) Interview Seite 9
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"Wer keinen Job hat, zieht nach Europa"
Der Schweizer Migrationschef Eduard Gnesa befürchtet eine
Flüchtlingswelle aus Nordafrika
von Othmar von Matt
"Ein Staat alleine kann die Migrationsprobleme nicht lösen",
sagt Eduard Gnesa. Der Schweizer Migrationschef sucht deshalb eine
internationale Zusammenarbeit.
Herr Gnesa, Sie trafen UNO-General-sekretär Ban Ki Moon.
Weshalb?
Eduard Gnesa: Die Schweiz präsidiert 2011 das Globale Forum
für Migration und Entwicklung (GFME). Ich orientierte über
unser Konzept. Dieses Forum mit 160 Staaten steht ausserhalb der UNO.
Was ist das Ziel der Schweiz?
Dass wir unsere Erfahrungen im Migrationsbereich mit den anderen
Staaten teilen können. Ein Staat alleine kann die
Migrationsprobleme nicht lösen. Weltweit migrieren jährlich
240 Millionen Menschen. Themen wie Migration, Klimamigration, Diaspora
oder Remissen tangieren die ganze Menschheit.
Was planen Sie konkret?
Was die Diaspora betrifft: Wir haben eine aus dem Balkan und eine
aus Afrika. Wir möchten sie einbinden in die Gespräche,
welche die Regierungen führen. Heute haben wir 46
Rückübernahmeabkommen. Doch gerade im afrikanischen und
nordafrikanischen Raum zeigt sich immer deutlicher: Diese Staaten haben
ein Interesse an einer Zusammenarbeit in Migrationsfragen. Etwa bei
Visen, Remissen, Ausbildungsplätzen, Entwicklungsprojekten.
Migrationspartnerschaften haben wir mit Bosnien, Kosovo, Serbien und
Nigeria. Wir wollen sie auf weitere Staaten ausbauen.
Die Schweiz stellte zu einseitig ihreeigenen Interessen in den
Vordergrund?
Lange hatten wir Asylbewerber vor allem aus dem Balkan. In den
letzten drei Jahren kamen Asylbewerber grösseren Ausmasses aus
Afrika, Eritrea und Nigeria. Auch im nordafrikanischen Raum werden wir
den Migrationsdialog intensivieren. Später folgt eine
Migrationspartnerschaft, die ein Rückübernahmeabkommen
enthalten soll. Vor allem afrikanische Staaten schlagen die Türe
vor der Nase zu, wenn man einfliegt und sagt: Ich will jetzt das. Man
muss auch ihre Interessen ernst nehmen.
Die Beziehungen müssen partnerschaftlicher angepackt werden?
Genau. Ökonomische, soziale und kulturelle Aspekte sollen
ebenfalls einbezogen werden. Den Menschen soll es in ihrer Heimat so
gut gehen, dass sie auch dort bleiben können. Gleichzeitig
müssen aber auch die irreguläre Migration und der
Menschenhandel bekämpft werden. Auch Rückkehrhilfe und
Strukturhilfe vor Ort sind wichtige Themen.
Der Bundesrat will die internationale Zusammenarbeit
verstärken. Sie sind der Koordinator?
Bei meiner Wahl gab mir der Bundesrat einen klaren Auftrag: Ich
soll sowohl gegen innen wie gegen aussen die Koordination
verstärken. Beteiligt in der Arbeitsgruppe sind das Bundesamt
für Migration, die politische Abteilung IV des EDA, die Deza und
das Seco.
Die so genannt armen Staaten haben sich emanzipiert?
Das globale Migrationsforum existiert seit 2006. Heute sitzen
auch China, die USA, Russland und Indien an diesem praxisbezogenen,
informellen Forum. Vor 2006 war das nicht möglich, weil man
Migrationsprobleme nur unter dem Aspekt des Nord-Süd-Dialogs sah.
Als Problem zwischen Reich und Arm?
Das kann man so sagen. Die Situation hat sich aber geändert.
Sehr viele Staaten wie Thailand, Südafrika oder
südamerikanische Staaten sind inzwischen gleichzeitig zu Ein- und
Auswanderungsstaaten und Transitstaaten geworden. Weltweit haben immer
mehr Länder genau dieselben Migrationsprobleme. Es gibt eine
Durchmischung, verschiedene Ethnien und Kulturen wandern ein. Sie
fordern ihr Recht auf Migration ein. Über Migration lassen sich
auf dem Arbeitsmarkt auch die Bedürfnisse der Wirtschaft decken.
Deshalb müssen wir uns global austauschen.
Und wo tut die Schweiz etwas?
In Syrien etwa leben eine Million Iraki und eine halbe Million
Palästinenser. Gleichzeitig hat Syrien im Norden eine gewaltige
Dürre, welche die Menschen nach Damaskus treibt. Man könnte
sagen: Das interessiert die Schweiz nicht. Das ist aber falsch. Die
Leute werden weiterwandern. Es ist wichtig, ihnen vor Ort zu helfen. In
Syrien bauten wir Schulen für syrische und irakische Kinder mit
auf. Gleichzeitig entsandte die Deza Ingenieure wegen der Dürre.
Und mit unserer Hilfe brachte man ein Gesetz gegen Menschenhandel durch.
Reiche Staaten können nicht mehrnur nehmen, sondern
müssen auchgeben?
Das ist richtig. Dabei geht es aber nicht nur um finanzielle
Hilfe. Geld ist wichtig, macht alleine aber nicht selig. Viel wichtiger
sind Kompetenzen, um Probleme zu lösen. Aber auch wir haben
Interessen. Dass Delegationen in die Schweiz kommen, um Asylbewerber zu
identifizieren, die Papiere weggeworfen haben. Und sie auch
zurücknehmen.
Wie schätzen Sie das Risiko von Flüchtlingswellen aus
Nordafrika und dem arabischen Raum ein?
Im nordafrikanischen Raum ist die Hälfte der
Bevölkerung unter 30 Jahre alt. Die wirtschaftliche Situation ist
schlecht, selbst Jugendliche mit guter Ausbildung finden keinen Job.
Diese zieht es nach Westeuropa. Ich wage keine Prognose, ob die
Flüchtlingssituation auf andere Staaten wie Ägypten
überschwappt. Entscheidend für diese Staaten ist, dass sie
keine korrupten Diktaturen haben und dass sie mit einer
funktionierenden Demokratie die wirtschaftliche Entwicklung
ermöglichen, was zu neuen Arbeitsplätzen führt. Das
wäre die ideale Lösung. Solange sie nicht realisiert ist,
werden ausgebildete Leute ohne Job weiterwandern.
Was meinte UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon zur Situation?
Er zeigte sich besorgt.
Wie kann das Problem gelöst werden?
Im Forum wird auch über Regeln im Zusammenhang mit
irregulärer Migration gesprochen. Ist ein Staat immer
souverän darin, wen er in sein Land lässt? Oder gibt es
Bereiche, in denen er eine gewisse Durchlässigkeit haben muss?
Was meinen Sie mit Durchlässigkeit?
Dass die westliche Welt aufgrund der demografischen Entwicklung
den weniger entwickelten Staaten in Zukunft mehr Angebote im Bereich
Ausbildung, Stagiaire und Bildung macht. Im Gegenzug müssen sich
diese Staaten dazu bereit erklären, ihre eigenen
Staatsangehörigen zurückzunehmen. Was die Schweiz aber
unmöglich tun kann: Wenig qualifizierte Arbeitskräfte aus
aller Welt unbeschränkt aufzunehmen. In der Schweiz wurden in den
letzten zehn Jahren gegen 300000 Arbeitsplätze für weniger
Qualifizierte abgebaut.
Die "Zeit" kritisierte, dass sich Europa schon von ein paar
Tausend tunesischen Flüchtlingen bedroht fühle.
Europa hat berechtigte Befürchtungen. Europa hat noch andere
Migranten und Flüchtlinge. Sei es auf dem legalen Weg der
Asylbewerber oder auf dem illegalen Weg der Sans-Papiers. Ohne diese
Probleme könnte Europa die Situation möglicherweise
grosszügiger handhaben. Dazu kommt die Gefahr der Sogwirkung.
Nehmen wir Zehntausende von tunesischen Flüchtlingen auf, hat das
eine Sogwirkung auf Ägypten. Deutsche Politiker sagten nicht zu
Unrecht: Der Aufstand kam von der Jugend. Sie will einen demokratischen
Staat. Sie muss nun auch helfen, ihn aufzubauen, statt nach Westeuropa
auszuwandern. Man muss ein gewisses Verständnis für die
Haltung Westeuropas haben.
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NZZ am Sonntag 20.2.11
Schweizer sichern EU-Grenze gegen Flüchtlinge aus Nordafrika
Operation auf Lampedusa startet - weitere Auslandeinsätze
sind geplant
Schweizer Grenzwächter helfen auf Lampedusa, die Grenze der
Europäischen Union zu sichern. Allein in diesem Jahr sind neun
weitere Einsätze vorgesehen.
Lukas Häuptli
Die EU startet heute Sonntag auf Lampedusa die Hilfsoperation
Hermes, um die Italiener bei der Bewältigung des
Flüchtlingsstroms aus Nordafrika zu unterstützen. Dafür
werden auch Schweizer Grenzwächter aufgeboten. Ihr Einsatz sei
"sehr wahrscheinlich", sagt ein Sprecher der EU-Grenzschutzbehörde
Frontex gegenüber der "NZZ am Sonntag". Der Bund hatte der EU
für die Operation auf der Mittelmeerinsel drei Beamte angeboten -
zwei Dokumenten- und einen Überwachungs-Spezialisten. Ihr Einsatz
ist auf einen Monat befristet.
Weitere Schweizer Missionen an der EU-Grenze sind bereits
geplant. "Man hat vereinbart, dass Schweizer Grenzwächter 2011 an
neun weiteren Operationen teilnehmen", erklärt der
Frontex-Sprecher. Wo und wann diese durchgeführt werden, gibt er
nicht bekannt. Jürg Noth, Chef des Schweizer Grenzwachtkorps,
sagt: "Wir gehen davon aus, dass permanent fünf bis sechs
Angehörige des Grenzwachtkorps im Einsatz stehen."
In Libyen, Bahrain, Jemen und Algerien gingen derweil gestern
Samstag die Proteste gegen die Regime weiter. In Libyen kam es in
Bengasi zu blutigen Zusammenstössen zwischen Gegnern des Diktators
Muammar Ghadhafi und der Armee. Laut Angaben eines Zeugen kamen
Dutzende von Menschen ums Leben, als Schützen vom Dach der
Sicherheitszentrale in die Menge feuerten. Ein Notarzt sagte zur "NZZ
am Sonntag": "Wir nehmen viele Opfer auf. Siebzig Prozent von ihnen
sind am Kopf verletzt. Man hat auf diese Leute geschossen, um sie zu
töten." Seit dem Ausbruch der Proteste wurden mindestens 84
Regimegegner getötet. Um weitere Demonstrationen zu erschweren,
kappte Ghadhafi den Zugang zu Facebook und Twitter.
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Schweizer Grenzwächter für die EU
Operation auf Lampedusa läuft an - 2011 sind neun weitere
Einsätze an der europäischen Grenze geplant
Schweizer Grenzwächter sollen nicht nur auf Lampedusa
helfen, die europäische Grenze zu sichern. Der Bund stellt der EU
dauerhaft fünf bis sechs Grenzwächter zur Verfügung.
Lukas Häuptli
Tausende Menschen flüchten gegenwärtig aus Nordafrika
nach Europa. Viele von ihnen lassen ihr Leben auf der Überfahrt,
viele landen auf der Mittelmeerinsel Lampedusa, und viele versuchen,
ans italienische Festland zu gelangen. Zur Bewältigung des
Flüchtlingsstroms erhält Italien jetzt Unterstützung von
Europa. Die EU-Grenzschutzbehörde Frontex teilte am Samstagabend
mit, heute beginne auf Lampedusa die Operation "Hermes 2011". Es sei
"sehr wahrscheinlich", dass dabei auch Schweizer Grenzwächter zum
Einsatz kämen, sagte Frontex-Sprecher Michal Parzyszek auf Anfrage.
Es wäre der erste Einsatz von Schweizer Beamten an der
EU-Grenze. Das Schweizer Grenzwachtkorps (GWK) hatte am Donnerstag
entschieden, für den Frontex-Einsatz in Italien drei Beamte zur
Verfügung zu stellen, und zwar zwei Dokumenten- und einen
Überwachungs-Spezialisten. Deren Einsatz ist auf "etwa vier
Wochen" befristet, wie GWK-Chef Jürg Noth gegenüber der "NZZ
am Sonntag" sagte.
"Permanent im Einsatz"
Allerdings wird es nicht bei diesem Einsatz bleiben. "Man hat
vereinbart, dass Schweizer Grenzwächter 2011 an neun weiteren
Frontex-Operationen teilnehmen", sagte Frontex-Sprecher Parzyszek.
Dabei handelt es sich um sogenannt ordentliche Einsätze, welche
die Grenzschutzbehörde aufgrund der 2011 erwarteten
Flüchtlingsströme festgelegt hat. Wo und wann diese
Operationen mit Schweizer Beteiligung durchgeführt werden, gab der
Frontex-Sprecher nicht bekannt.
Zu diesen ordentlichen kommen möglicherweise
ausserordentliche Frontex-Einsätze wie derjenige jetzt in Italien.
"Wir gehen davon aus, dass permanent fünf bis sechs
Angehörige des Grenzwachtkorps im Einsatz stehen werden", sagte
GWK-Chef Noth zu den künftigen Frontex-Einsätzen der Schweiz.
Rechtliche Grundlage für die Operationen sind drei
Verträge zwischen der Schweiz und Frontex, die auf dem Grenz- und
Sicherheits-Abkommen Schengen basieren. Der letzte der Verträge
ist Ende Januar 2011 in Kraft getreten. Gemäss den Verträgen
stellt die Schweiz der Frontex Grenzwächter zur Verfügung,
wenn diese eine entsprechende Anfrage stellt. Einzig im Fall eines
"begründeten Eigenbedarfs" kann der Bund eine Anfrage ablehnen.
Eigentlich stellt sich die Frage des Eigenbedarfs durchaus. Ende
Januar hat der Bundesrat nämlich festgehalten, dass das
Grenzwachtkorps zu wenig Personal habe. Er befürwortet deshalb
eine Aufstockung der gegenwärtig rund 1900 Stellen. GWK-Chef
Jürg Noth sieht in dieser Hinsicht aber keine Probleme. "Die Frage
nach den personellen Ressourcen spielt bei Anfragen von Frontex eine
untergeordnete Rolle", sagt er. Es gehe hier nur um den Einsatz von
einzelnen Personen. Und: "Die Schweiz hat ein unmittelbares Interesse
an diesem Einsatz. Wir profitieren auch davon, wenn Frontex in Italien
vor Ort ist."
Kritik von links und rechts
Trotzdem stossen die Einsätze von Schweizer
Grenzwächtern an der EU-Grenze auf Kritik. Zwar befürworten
FDP, CVP und SP sie grundsätzlich. Die SVP aber lehnt sie
kategorisch ab. Für sie dürfen Schweizer Grenzwächter
ausschliesslich Schweizer Grenzen schützen. Und die Grünen
führen an, Frontex sei "eine hässliche Antwort auf die
Migrationsproblematik". Die Behörde verteidige einzig die "Festung
Europa" gegen Flüchtlinge.
Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch oder Amnesty
International haben in der Vergangenheit wiederholt nationale
Grenzschutzbehörden, aber auch Frontex kritisiert. Diese sollen
Flüchtlingsboote vor Italien und Griechenland ins Meer
zurückgedrängt, den Flüchtenden eine Landung
verunmöglicht und sie so in Lebensgefahr gebracht haben.
"Wir verlangen, dass alle Flüchtlinge, die Asyl beantragen
wollen, auch Asyl beantragen können", sagt dazu Denise Graf,
Flüchtlingskoordinatorin von Amnesty International Schweiz. "Das
heisst: Grenzwachen müssen Flüchtlingsboote an Land lassen,
und den Flüchtlingen muss an Land Zugang zu einem
rechtsstaatlichen Asylverfahren gewährt werden." Dabei sei
namentlich das Non-Refoulement-Prinzip einzuhalten, also das Gebot,
Asylsuchende nicht in Länder zurückzuschaffen, in denen
Menschenrechtsverletzungen drohen.
GWK-Chef Jürg Noth ist allerdings auch in dieser Hinsicht
zuversichtlich: "Die Achtung der Menschenrechte gehört zu unserer
täglichen Arbeit. Alle Mitarbeitenden werden entsprechend geschult
und sensibilisiert."
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Meinungen
Flüchtlinge
Die Schweizer Grenze liegt nicht nur bei Chiasso
Tausende Menschen flüchten gegenwärtig von Nordafrika
nach Europa. Viele lassen ihr Leben auf der Überfahrt. Viele
schaffen es bis zur italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa. Und viele
versuchen, irgendwie und irgendwann ans Festland zu gelangen. Dort sind
sie fast schon sicher auf dem verheissenen Kontinent, und von dort sind
es nur noch ein paar hundert Kilometer bis zur Schweizer Grenze. Etwa
derjenigen bei Chiasso. Auch deshalb fordern Schweizer Politiker, allen
voran die der SVP, 200 bis 300 zusätzliche Grenzwächter,
welche die Schweiz gegen illegale Einwanderer sichern. Was diese
Politiker vergessen: Im Europa des freien Personenverkehrs und der
gemeinsamen Kriminalitätsbekämpfung liegt die Schweizer
Grenze nicht mehr nur bei Chiasso. Sie liegt auch - und in diesem Fall
vor allem - auf Lampedusa. Deshalb ist es sinnvoll, dass Schweizer
Grenzwächter dort zum Einsatz kommen. Auf der Mittelmeerinsel
sollen sie mithelfen, Flüchtlingen Zugang zu einem
menschenwürdigen und rechtsstaatlichen Asylverfahren zu
gewähren. Und sie sollen mithelfen, abgewiesene Asylsuchende unter
Wahrung der Menschenrechte in die Heimat zurückzuschaffen. Was
ebenfalls vergessen geht: Eine moderne Migrationspolitik umfasst
längst nicht nur Grenzsicherung, Abklärung von Asylgesuchen
und Rückschaffung von Flüchtlingen ohne Asylberechtigung. Sie
umfasst auch Massnahmen zur Stabilisierung einer Krisenregion sowie
wirtschaftliche, rechtliche und politische Unterstützung vor Ort.
Das wäre dann eine umfassende - und eine nachhaltige
Grenzsicherung. (luh.)
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Zentralschweiz am Sonntag 20.2.11
Schweiz soll Gesuche in Italien prüfen
Jürg Auf der Maur und Eva Novak
Tausende von Tunesiern sind auf der Flucht. Nur die wenigsten
haben Chancen, in der Schweiz Asyl zu erhalten. Politiker fordern, dass
der Bund die Flüchtlinge bereits vor der Grenze abfängt.
Die Szenarien aus dem Departement von Justizministerin Simonetta
Sommaruga schrecken auf und sorgen für einen breiten
Schulterschluss von links bis rechts. Im schlimmsten Fall, so heisst es
in einer am Freitag verschickten Einschätzung an involvierte
Kreise, müsse sich die Schweiz darauf einstellen, dass mehrere
tausend Asylbewerber aus Nordafrika - derzeit vorwiegend Tunesien und
Ägypten - um Aufnahme ersuchen. Italien, das mit Sizilien und der
Insel Lampedusa das eigentliche Eingangstor für Flüchtlinge
aus Afrika ist, stellt sich derweil auf den Ansturm von rund 80 000
Nordafrikanern ein.
Nur die momentan hohe See führt dazu, dass in den
vergangenen Tagen lediglich vereinzelt Boote an der italienischen
Küste angekommen sind.
Kantone fordern klares Signal
Anders als bei anderen Flüchtlingsbewegungen ist sich das
politische Spektrum von links bis rechts für einmal einig: Bei den
Tunesiern handelt es sich um keine echten Asylsuchenden, sondern um
Wirtschaftsflüchtlinge. Primär müssten die EU und
Italien dafür besorgt sein, dass die jungen Männer gleich
wieder zurückgeschickt werden - und dies noch bevor sie die Grenze
in Chiasso überschreiten. "Am besten wäre es", sagt etwa der
im Kanton Schwyz zuständige CVP-Regierungsrat Kurt Zibung, "an den
Aussengrenzen der EU entsprechende Riegel zu schieben, um die
Flüchtlingsströme zu stoppen." Es brauche klare Signale, dass
"die Hürden hoch sind".
SP sieht keine Asylgründe
Ähnlich tönt es bei Karin Keller-Sutter,
Vizepräsidentin der Polizei- und Justizdirektoren. Die St. Galler
FDP-Regierungsrätin forderte gestern im Interview mit der "Neuen
Luzerner Zeitung" und ihren Regionalausgaben, jetzt keine falschen
Signale zu setzen. Italien und die EU müssten dafür besorgt
sein, "die Flüchtlinge auf der Insel Lampedusa möglichst
schnell zurückzuschicken". Überraschend: Karin Keller-Sutter
wird im Grundsatz gar von SP-Präsident Christian Levrat
unterstützt. Wenn er die Situation in Lampedusa betrachte, habe er
"Mühe zu erkennen, dass darunter echte Flüchtlinge sein
sollen". Man soll diese Männer "würdig und human behandeln",
doch wenn sie keine Verfolgung geltend machen können, "was in den
allermeisten Fällen zutreffen wird, müssen sie rasch wieder
zurück".
Levrat kann sich gar vorstellen, dass die Schweiz in Italien
Auffanglager einrichtet, um die Asylgesuche zu prüfen. "Es braucht
Strukturen vor Ort, denn es ist in diesem Fall besser, wenn die
Asylgesuche gleich in Italien geprüft werden." Es mache keinen
Sinn, Leute auf ganz Europa zu verteilen, die keinen Asylgrund
vorzuweisen hätten.
Kommt Armee zum Einsatz?
Für Verteidigungsminister Ueli Maurer ist auch ein
Armee-Einsatz denkbar: "Man muss sich sicher mit solchen Dingen
auseinandersetzen", sagte er diese Woche nach der Bundesratssitzung
gegenüber einzelnen Medienvertretern. Einen Grenzeinsatz sieht er
jedoch nicht, dafür gebe es derzeit keine politische Mehrheit.
Vielmehr schwebt ihm ein Armee-Einsatz im bisherigen Rahmen vor:
Flüchtlings- oder Auffanglager betreiben oder sanitarische Anlagen
oder Küchen einzurichten und zu unterhalten. Denn auch Maurer ist
überzeugt: "Es gibt keinen Grund, aus diesen Ländern zu
flüchten, weil dort niemand an Leib und Leben gefährdet ist."
Pfister will neues Asylgesetz
Gleicher Meinung ist auch CVP-Nationalrat Ruedi Lustenberger. Das
Beste wäre, "sie erst gar nicht in die Schweiz kommen zu lassen".
Wenn sie trotzdem eintreffen, brauche es an der Grenze "beschleunigte
Verfahren, welche dem Minimalstandard der internationalen Konventionen
entsprechen". Auf "weiterreichende Rechtsmittel", so der Luzerner
CVP-Nationalrat, sei zu verzichten. Für Gerhard Pfister (CVP, Zug)
wird dieser Fall zum "Stresstest für Schengen/Dublin". Wenn die
Verträge gut seien, bekomme die Schweiz die Lage in den Griff,
wenn nicht, wisse man, dass die Verträge schlecht seien.
So oder so plädiert Pfister dafür, das Asylgesetz zu
überdenken. Es sei vom Flüchtlingsbegriff des Zweiten
Weltkriegs geprägt. Man wisse aber, dass heute über 90
Prozent der Menschen aus wirtschaftlichen und nicht aus politischen
Gründen um Asyl ersuchten. Pfister: "Heute muss die Schweiz mit
einem grossen, teuren Apparat das beweisen, was allen von Beginn weg
klar ist: dass nämlich aus wirtschaftlichen Gründen
Asylanträge gestellt werden, auf die gar nicht eingetreten werden
kann." Pfister schwebt ein neues Modell vor - eine Art
"Personenfreizügigkeit für Menschen aus
aussereuropäischen Staaten, damit auch sie kommen dürfen,
wenn die Wirtschaft entsprechende Bedürfnisse hat".
300 zusätzliche Grenzwächter
Hans Fehr (SVP, Zürich) geht derweil hart mit
Bundesrätin Simonetta Sommaruga ins Gericht. Die Justizministerin
habe mit ihrer Ankündigung, dass sich unser Land auf verschiedene
Szenarien vorbereiten müsse, ein falsches Signal gesetzt. Die neue
Bundesrätin habe nichts anderes zu tun, als zu sagen, das Problem
gehe uns nichts an, Italien und die EU hätten für
geschlossene Grenzen zu sorgen. Zudem müsse die Justizministerin
dafür sorgen, dass das Grenzwachtkorps um 300 Stellen aufgestockt
werde.
"Die Schweiz hat ein Asylrecht, das gilt es anzuwenden", kontert
Christine Stähli, Sprecherin von Bundesrätin Simonetta
Sommaruga.
Kein Verständnis für die Positionen der Politiker hat
man bei der Schweizer Flüchtlingshilfe. Aber Anhänger des
alten Regimes müssten wirklich um ihr Leben bangen und seien
deshalb gezwungen, ihr Land zu verlassen, sagt Mediensprecher Adrian
Hauser. Die Flüchtlingshilfe fordert deshalb, jedes Gesuch im
Einzelnen genau zu prüfen. Hauser: "Es braucht die
Einzelfallprüfung, und sie muss seriös und fair
durchgeführt werden, sodass jeder, der Schutz von der Schweiz
nötig hat, diesen auch bekommt."
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"Ich verfolge die Entwicklung in Libyen jedenfalls mit Interesse"
Simon Fischer und Urs Zurlinden
Frau Bundespräsidentin, die Regierung ist in Ägypten
gestürzt, jetzt hat die Armee das Sagen. Wie beurteilen Sie deren
Rolle?
Micheline Calmy-Rey: Die Armee hat jetzt die Verantwortung. Wir
hoffen, dass sie sicherstellt, dass alle Kräfte und Parteien nun
friedlich und konstruktiv zusammenarbeiten können und Neuwahlen
durchgeführt werden.
Kann die Armee das riesige Land am Nil in die Demokratie
führen?
Calmy-Rey: Die Armee war Teil des Mubarak-Systems. Ob sie diesen
glaubwürdigen, transparenten Demokratisierungsprozess
weiterführen kann und will, ist noch offen.
Offenbar hat die Armee Oppositionelle gefoltert?
Calmy-Rey: Diese Informationen habe ich auch erhalten. Wir haben
seit Beginn dieser Bewegungen appelliert, keine Gewalt gegen
Demonstranten und Oppositionelle anzuwenden.
Eine halbe Stunde nach dem Rücktritt Mubaraks liess der
Bundesrat seine Vermögen sperren. War das Ihre Idee?
Calmy-Rey: Das war ein Entscheid des Bundesrates - wie gesagt:
Wir sind ein Team.
Der Entscheid sollte Ägypten motivieren, ein
Rechtshilfegesuch zu stellen. Der Schachzug ist gelungen?
Calmy-Rey: Ja, es liegen jetzt zwei Rechtshilfegesuche vor: eines
aus Tunesien und eines aus Ägypten.
Gibt es inzwischen konkrete Hinweise zum Umfang dieser
Vermögen?
Calmy-Rey: Ja. Sowohl in Tunesien wie auch in Bezug auf
Ägypten wurden Vermögenswerte im Umfang von mehreren Dutzend
Millionen Franken gesperrt.
Die Opposition sprach von 70 Milliarden Dollar. Gibt es
dafür eine Bestätigung?
Calmy-Rey: Nein, nach Angaben der Schweizer Nationalbank beliefen
sich die ägyptischen Guthaben auf Schweizer Banken 2009 auf 3 bis
4 Milliarden Franken.
Auch in anderen Ländern gibts Proteste. Erwarten Sie einen
Dominoeffekt?
Calmy-Rey: Die Menschen in Ägypten und Tunesien mussten viel
Mut aufbringen und ihre Angst überwinden, damit der Umsturz
überhaupt möglich geworden ist. Ihre Entschlossenheit hat
dazu geführt, dass auch in anderen Ländern der Region
ähnliche Bewegungen entstehen. Welchen Effekt das letztlich haben
wird, können wir heute noch nicht beurteilen.
Selbst in Libyen gibt es Unruhen. Wackelt der Stuhl von Ghadhafi?
Calmy-Rey: Wir haben in der Schweiz ja auch unsere Erfahrungen
gemacht mit dem Regime in Libyen ... Ich verfolge die dortigen
Entwicklungen jedenfalls mit Interesse.
Droht eine weitere Destabilisierung?
Calmy-Rey: Im Nahen Osten gibt es drei Krisenherde: den
israelisch-palästinensischen Konflikt, den Iran und Afghanistan.
Das religiöse Element, verbunden mit radikalen Ausrichtungen,
spielt eine gewichtige Rolle. Alle drei Krisenherde sind miteinander
verknüpft.
Nach den jüngsten Revolten rollt eine neue
Flüchtlingswelle auf Italien zu.
Calmy-Rey: Bei den mehreren tausend Flüchtlingen, die nach
Europa wollen, handelt es sich zum grossen Teil um junge Männer
auf der Suche nach Arbeit. Bislang ist die Schweiz zwar noch nicht
direkt betroffen. Aber es ist klar, dass dieses Problem nicht von einem
Land alleine gelöst werden kann. Der Bundesrat hat sich deshalb
solidarisch gezeigt und will im Rahmen eines EU-Einsatzes drei
Grenzwächter an die italienische Schengen-Aussengrenze entsenden,
um dort für Verstärkung zu sorgen.
Ist die EU genügend vorbereitet?
Calmy-Rey: Brüssel verfolgt die Entwicklungen in diesen
Gebieten sehr genau. In solchen Krisenfällen kann etwa die
Schengener Agentur Frontex Hilfe bieten, die Europäische Agentur
für die operative Zusammenarbeit an den Aussengrenzen. Italien
nimmt diese Hilfe nun in Anspruch.
Simon Fischer und Urs Zurlinden
schweiz@luzernerzeitung.ch
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Sonntagsblick 20.2.11
Flüchtlings-Drama in Italien. Jetzt Krisen-Gipfel in Bern Chef des
Bundesamts für Migration warnt
Nordafrikaner - wenig Chancen auf Asyl
VON MARCEL ODERMATT
Die Schweiz biete keine Perspektive für
Wirtschaftsflüchtlinge aus Nordafrika. Ein Ansturm droht ihr
trotzdem.
Die Bilder der Flüchtlinge, die auf der kleinen
italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa zwischen Tunesien und Sizilien
gelandet sind, gingen um die Welt. Droht Europa und auch der Schweiz
ein "Exodus biblischen Ausmasses", wie es der italienische
Innenminister Roberto Maroni formulierte?
Das Bundesamt für Migration (BFM) will gerüstet sein.
Direktor Alard du Bois-Reymond zu SonntagsBlick: "Theoretisch besteht
die Möglichkeit, dass ein Maghreb-Staat nach dem anderen
fällt und die Menschen massenhaft flüchten." Es gehe nicht um
Aktivismus oder Panikmache. "Die Schweiz muss sich sicherheitshalber
auch auf einen Ansturm vorbereiten - alles andere wäre
fahrlässig."
Aus diesem Grund hat der Flüchtlingschef am Donnerstag zu
einer Krisensitzung nach Bern geladen. Neben Kantonsvertretern sollen
auch das Aussenministerium und das Grenzschutzkorps an den
Gesprächen teilnehmen.
Für du Bois ist klar: Kommt es zur Flüchtlingswelle,
müssten diese Gesuche prioritär behandelt werden. Denn diese
Leute flüchten vor Armut, Unterbeschäftigung und Korruption.
Alles keine Gründe, um in der Schweiz Asyl zu erhalten. "Sie
werden nicht verfolgt. Die meisten sind junge, arbeitslose Männer
- sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge - die in Europa eine Chance
suchen", so der Amtschef von SP-Justizministerin Simonetta Sommaruga.
Die Schweiz müsse deshalb alles daran setzen, dass sie - falls sie
in die Schweiz kommen - das Land möglichst rasch wieder verlassen.
Europa steckt im Dilemma: Die autoritären Regimes haben
Flüchtlinge bisher von Europa ferngehalten. Diktatoren wie Libyens
Staatschef Muammar al-Gaddafi wurden dafür von den Europäern
gehätschelt und hofiert. Die Steuerung der Migration war den
Aussenpolitikern der EU wichtiger als das Bekenntnis zu
Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Jetzt drohen diese Schutzdämme zu brechen. Die
EU-Grenzschutzagentur Frontex soll nun die Flüchtlinge schon vor
ihrer Landung auf europäischem Festland auffangen - mit an Bord
sind zum ersten Mal Schweizer Spezialisten. Denn in Europa sind diese
Leute nicht willkommen: BFM-Chef du Bois-Reymond: "Wir müssen
jetzt ein klares Signal aussenden. Die Schweiz kann diese arbeitslosen
Nordafrikaner nicht als Arbeitskräfte gebrauchen."
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BZ 19.2.11
Warum die Schweiz den EU-Grenzschutz unterstützt
Grenzschutz Zum ersten Mal sollen Schweizer Grenzwächter an
einer Operation der EU-Grenzschutzagentur Frontex teilnehmen. Dieser
wird vorgeworfen, Menschenrechte zu verletzen.
Auf der italienischen Insel Lampedusa strandet ein Boot voller
Flüchtlinge. Die afrikanischen Migranten werden von Beamten
aufgegriffen, ein Grenzwächter schreitet zur Kontrolle. Doch der
Mann, der in Italien seinen Dienst verrichtet, ist mitnichten Italiener
- es ist ein Schweizer, der mithilft, die Aussengrenze Europas zu
sichern.
Das Szenario könnte bald zur Realität werden. Seit 2005
koordiniert die Grenzschutzagentur Frontex den Schutz der
europäischen Aussengrenzen. Im Schatten von Schengen verpflichtete
sich auch die Schweiz zur operativen Zusammenarbeit - der
Ständerat winkte das Geschäft ohne Gegenstimme durch, der
Nationalrat gab Ende 2008 grünes Licht.
Die Premiere
Etwas mehr als zwei Jahre später ist es nun so weit: Vor dem
Hintergrund der Flüchtlingsströme aus Nordafrika gab die
Eidgenössische Zollverwaltung am Donnerstag bekannt, dass sie
Frontex drei Fachleute zur Verfügung stellt. Zwei
Dokumentenspezialisten und ein Experte für die Überwachung
aus der Luft sollen die Agentur beim Kampf gegen die irregulären
Einwanderer in Italien unterstützen. Werden sie aufgeboten, wird
es der erste Schweizer Einsatz der Frontex-Geschichte sein. Laut
Stefanie Widmer, Sprecherin des Eidgenössische Zollverwaltung,
habe man die letzten Verträge mit Frontex Ende Januar
unterzeichnet. Wird die Schweiz angefragt, könne das
Grenzwachtkorps nun in Absprache mit dem vorgesetzten Finanzdepartement
von Fall zu Fall entscheiden, ob Spezialisten entsandt werden. Die
Schweiz habe aber ein "unmittelbares Interesse" daran, den Schutz der
europäischen Aussengrenzen zu gewährleisten.
Die wachsende Bedeutung von Frontex zeigt sich bei einem Blick
auf das Budget: Während die Agentur 2005 noch knapp 6 Millionen
Euro zur Verfügung hatte, will sie dieses Jahr mehr als 86
Millionen ausgeben. Der Haushalt setzt sich hauptsächlich aus
Beiträgen der EU- und Schengen-Staaten zusammen. Die Kosten
für die Schweiz belaufen sich auf 2,3 bis 2,7 Millionen Franken.
Dass sich die Investition lohnen kann, zeigt das Beispiel
Griechenland. Ende 2010 verkündete der stellvertretende
Frontex-Direktor Gil Arias Fernandez, dass der Zustrom von Einwanderern
nach Griechenland nach dem Einsatz der Agentur um 44 Prozent auf rund
140 Personen pro Tag zurückgegangen war. Die EU hatte mehr als 200
Grenzschutzpolizisten entsandt, nachdem sie von den griechischen
Behörden um Hilfe gebeten worden war.
Die Kritik von Amnesty
Doch wie lässt sich ein solcher Erfolg erklären?
Für Denise Graf, Flüchtlingskoordinatorin bei Amnesty
International, liegt die Antwort auf der Hand: "Frontex sorgt
dafür, dass die Migranten gar nicht erst in europäisches
Hoheitsgebiet eindringen können." Die Agentur würde
irreguläre Migranten an Land und auf hoher See abfangen und dann
zurückschicken. Dabei komme es vor, dass den Booten nicht einmal
genug Benzin für die Rückfahrt bleibe. "Für manchen
Migranten bedeutet das den Tod."
Ebenfalls als problematisch beurteilt Amnesty International den
Umgang der EU-Agentur mit internationalen Konventionen: "Werden die
Leute auf hoher See zurückgeschickt, nimmt man ihnen die Chance
auf ein faires Verfahren." Sowohl vor der griechischen als auch der
italienischen Küste würde so Frontex immer wieder
Menschenrechte verletzen.
Christian Zeier
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admin.ch 18.2.11
Migration: Sonderbotschafter Eduard Gnesa trifft
UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon
Bern-Wabern, 18.02.2011 - Eduard Gnesa, Sonderbotschafter für
internationale Migrationszusammenarbeit, hat am Donnerstag
UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon getroffen und ihm das Konzept
für den Schweizer Vorsitz des Globalen Forum für Migration
und Entwicklung (GFME) im Jahr 2011 vorgestellt.
Das Globale Forum für Migration und Entwicklung ist der erste und
einzige globale Dialogprozess im Bereich Migration und Entwicklung.
Gegründet wurde es 2006 auf Initiative des damaligen
UNO-Generalsekretärs Kofi Annan. Es ist offen für alle
Uno-Mitgliedstaaten und dient der Stärkung des informellen
Erfahrungsaustauschs und der Kooperation zwischen den von Migration
betroffenen Ursprungs- und Zielländern. Nach Belgien, den
Philippinen, Griechenland und Mexiko, hat die Schweiz im Dezember
letzten Jahres den Vorsitz des GFME übernommen. Er wird durch
Sonderbotschafter Eduard Gnesa sichergestellt.
Die Schweiz will auf den Resultaten vergangener Präsidentschaften
aufbauen und den Akzent auf einen thematisch fokussierten,
partizipativen und aktionsorientierten Austausch zwischen Staaten aller
Regionen setzen. An Stelle einer einmaligen GFME-Grosskonferenz, wie
bisher, sollen 2011 mehrere kleine Treffen stattfinden. Der Schweizer
Vorsitz beabsichtigt, den globalen Charakter des Prozesses
beizubehalten und Staaten aller Regionen, internationale Organisationen
sowie Akteure der Zivilgesellschaft und Privatwirtschaft in den Dialog
einzubeziehen. Die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit diesen
Akteuren ist eines der Hauptziele des GFME 2011.
Im Rahmen eines informellen Arbeitstreffens präsentierte
Sonderbotschafter Eduard Gnesa UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon das
Konzept des Schweizer GFME-Vorsitzes. UNO-Generalsekretär Ban
Ki-moon nahm das Konzept mit Interesse zur Kenntnis und begrüsste
den von der Schweiz verfolgten praxisorientierten Ansatz.
Sonderbotschafter Eduard Gnesa traf sich in New York zudem mit dem
Präsidenten der UNO Generalversammlung, dem ehemaligen Bundesrat
Joseph Deiss.
Adresse für Rückfragen:
Eduard Gnesa, Sonderbotschafter für Internationale
Migrationszusammenarbeit,
Mobile: +41 79 218 79 61
Herausgeber:
Bundesamt für Migration
Internet: http://www.bfm.admin.ch/bfm/de/home.html
Eidgenössisches Departement für auswärtige
Angelegenheiten
Internet: http://www.eda.admin.ch/eda/de/home/recent/media.html
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BZ 18.2.11
Schweiz für Frontex-Einsatz
FlüchtlingeEin erster Einsatz von Schweizer
Grenzwächtern im Rahmen einer Operation der EU-Grenzschutzagentur
Frontex rückt näher.
Das Grenzwachtkorps beantwortete eine Anfrage der
EU-Grenzschutzagentur Frontex wegen des Flüchtlingsansturms aus
Nordafrika in Italien positiv. Die Schweiz stellt der Frontex drei
Fachleute zur Verfügung, wie die Sprecherin der
Eidgenössischen Zollverwaltung, Stefanie Widmer, gegenüber
der Nachrichtenagentur SDA sagte. Nun muss die Frontex entscheiden, ob
sie diese auch abberufen will.
Die Schweiz stelle der Frontex zwei Dokumentenspezialisten sowie
einen Experten für die Überwachung aus der Luft zur
Verfügung, sagte Widmer. Letzterer könne unter anderem bei
der Auswertung von aus der Luft aufgenommenen Wärmebildern
eingesetzt werden. Ob und wann die EU-Agentur auf die Schweizer
zurückgreife, sei offen.
Sollte die EU-Agentur die drei Schweizer Grenzwächter zum
Einsatz abberufen, wäre dies der erste Einsatz von Schweizern
für die Frontex. Die Schweiz kann erst seit Ende Januar mitmachen,
da das Grenzwachtkorps und die EU-Agentur erst zu diesem Zeitpunkt die
letzte dafür nötige Vereinbarung unterzeichnet haben.
Für Einsätze im Ausland sind 30 Schweizer
Grenzwächterinnen und Grenzwächter ausgebildet.
Seit dem Sturz des tunesischen Präsidenten Zine al-Abidine
Ben Ali Mitte Januar flüchten immer mehr Tunesier über das
Mittelmeer nach Italien.
sda
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Basler Zeitung 18.2.11
"Kurzfristig bis 200 zusätzliche Plätze"
Asylkoordinator sagt, Baselland sei gerüstet für
möglichen Flüchtlingsstrom aus Tunesien
Interview: Katrin Roth
Über die Gesuche von Asylbewerbern entscheidet der Bund. Die
Umsetzung der Beschlüsse obliegt den Kantonen. Im Baselbiet ist es
Rolf Rossi, Asylkoordinator im Sozialamt, der sich darum kümmert.
Im Interview spricht er über den Flüchtlingsstrom aus
Tunesien und die Auswirkungen des Dublin-Verfahrens.
Seit dem politischen Umbruch in Tunesien haben Tausende von
Menschen das Land in Richtung Europa verlassen. Über 5000 von
ihnen haben in den vergangenen Tagen bereits die italienische Insel
Lampedusa erreicht (die BaZ berichtete).
Der Flüchtlingsstrom beschäftigt auch die Schweizer
Behörden: Das Bundesamt für Migration sei dabei, die Lage
"genau zu beobachten", wie Pressesprecherin Marie Avet sagt. Für
die nächsten Tage plane Bundesbern eine Kontaktaufnahme mit den
Kantonen, um das weitere Vorgehen im Fall einer Zunahme der
Asylbewerberzahl in der Schweiz zu besprechen und zu koordinieren.
Gemäss Marie Avet ist die Schweiz bisher kein Zielland
für Menschen aus Tunesien gewesen. So waren es im Januar dieses
Jahres lediglich 44 von insgesamt rund 1200 Asylgesuchen, die von
tunesischen Bürgern gestellt wurden.
Aber: "Wir können nicht ausschliessen, dass sich das
ändert und auch wir mit einer grösseren Migrationswelle aus
Tunesien konfrontiert werden." Rolf Rossi, Asylkoordinator im Sozialamt
Baselland, gibt sich aber gelassen, was die Folgen eines möglichen
Anstiegs der Flüchtlingszahlen aus dem arabischen Raum betrifft.
BaZ: Herr Rossi, muss das Baselbiet mit einem
Flüchtlingsstrom aus Tunesien rechnen?
Rolf Rossi: Noch ist nicht klar, ob es sich um den Anfang einer
Flüchtlingswelle handelt oder lediglich um eine Spitze einer
Bewegung, die wieder abflaut. Handelt es sich aber um einen länger
anhaltenden Flüchtlingsstrom, werden wir das in der ganzen Schweiz
zu spüren bekommen - natürlich auch im Baselbiet.
Mit welchen Auswirkungen?
Wir müssten mehr Menschen unterbringen.
Ist das ein Problem?
Nein, wir vom Kanton und die Gemeinden sind auf eine gewisse
Steigerung vorbereitet. Asylsuchende in der Schweiz werden jeweils vom
Bund anteilsmässig auf die Kantone verteilt werden. Für das
Baselbiet beträgt diese Quote 3,7 Prozent. Gemäss einer
Weisung des Regierungsrats muss jede Gemeinde im Verhältnis zu
ihrer Wohnbevölkerung 0,8 Prozent Asylsuchende aufnehmen. Dieser
Anteil ist derzeit nicht ausgeschöpft, wir haben noch Reserven.
Was heisst das konkret?
Wir haben im Kanton elf Gemeinden mit Kollektivunterkünften.
Für eine Übergangszeit von rund sechs bis acht Wochen kann
man den Platz in diesen Asylzentren ausreizen. Das erlaubt uns, relativ
kurzfristig bis zu 200 zusätzliche Plätze für
Asylsuchende zu schaffen.
Sind also die Zeiten vorbei, in denen Asylsuchende in
Zivilschutzanlagen untergebracht wurden? In der Vergangenheit wurde
diese Praxis stark kritisiert.
Nein, wir können auch in Zukunft nicht ausschliessen, dass
die Gemeinden bei akuter Platznot die ihnen zugeteilten Asylsuchenden
in Zivilschutzanlagen beherbergen. Ich sehe das aber klar als bloss
kurzfristige Lösung. Über längere Zeit ist das keine
sinnvolle Art der Unterbringung.
In Bern heisst es, die Schweiz sei kein Zielland für
Menschen aus Tunesien. Teilen Sie diese Einschätzung?
Die kantonale Asylstatistik erfasst derzeit 1500 Personen. Neun
von ihnen kommen aus Tunesien. Ich gehe davon aus, dass bisher relativ
wenige Menschen aus Tunesien den Weg zu uns gefunden haben. Ob das so
bleiben wird, hängt unter anderem davon ab, ob und wenn ja in
welchen Ländern Europas die tunesischen Flüchtlinge Familie
und andere Kontaktpersonen haben.
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RECHTSEXTREMISMUS
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youtube 28.2.11
Tele1-Bericht zum Wahlsong von Anian Liebrand
http://www.youtube.com/watch?v=OcefzFr3k-o
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Blick am Abend 28.2.11
SVP entdeckt den Hip-Hop
LAUT
Wahlkämpfe im Kanton Luzern werden immer mehr zu einer
Belastungsprobe für das Ohr. Nach Ida Glanzmann (CVP) im Jahr 2007
versucht sich nun der Kantonsrats-Kandidat Anian Liebrand von der
Jungen SVP als Rapper. Sein auf "Youtube" veröffentlichtes Lied
"Euses Land i Schwizer Hand" enthält House- und Hip-Hop-Elemente.
Er wolle damit unpolitische und junge Personen ansprechen, so Liebrand.
Markiert das Lied gar den Anfang einer Musikerkarriere? "Wenn die
Rückmeldungen positiv sind, gibt es vielleicht noch ein paar
Auftritte und eine CD von mir", sagt Liebrand. dhs
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Basler Zeitung 28.2.11
Prügelei zwischen Linken und Rechten
Rheinfelden (D). Am frühen Samstagmorgen kam es vor einer
Gaststätte in der Bahnhofstrasse des Rheinfelder Ortsteils Herten
zu einer brutalen Auseinandersetzung. Gemäss der Polizeidirektion
in Lörrach gingen zwei Personengruppen mit Baseballschlägern
und Schlagstöcken aufeinander los. Mehrere Menschen wurden
verletzt. Als die Polizei eintraf, waren noch kleinere Gruppen der
Kontrahenten in der Umgebung der Gaststätte unterwegs, um
gegenseitig Jagd aufeinander zu machen. Nach den derzeitigen
Erkenntnissen dürfte es sich um einen Konflikt zwischen Linken und
Rechten gehandelt haben. hws
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youtube 27.2.11
Anian Liebrand: Wahlsong "Euses Land i Schwizer Hand"
http://www.youtube.com/watch?v=dG7cKThg_HM
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bazonline.ch 26.2.11
Linke und Rechte gingen aufeinander los
PD / hws
In Rheinfelden (D) kam es am frühen Samstagmorgen zu einer
gewalttätigen Auseinandersetzung mit Baseballschlägern. Die
Polizei geht von einer politisch motivierten Konfrontation aus.
In den frühen Morgenstunden des Samstags kam es vor einer
Gaststätte in der Bahnhofsstrase des Rheinfelder Ortsteil Herten
zu einer brutalen Auseinandersetzung.
Gemäss der Polizeidirektion in Lörrach (D) gingen zwei
Personengruppen mit Baseballschlägern und Schlagstöcken
aufeinander los und fügten sich gegenseitig Verletzungen zu, die
zum Teil im Krankenhaus behandelt werden mussten. Beim Eintreffen der
Polizei waren noch kleinere Gruppen der Kontrahenten in der
näheren Umgebung der Gaststätte unterwegs, um gegenseitige
Jagd auf sich zu machen.
Nur durch eine hohe Präsenz vor Ort gelang es der Polizei
schliesslich, die Lage wieder zu beruhigen. Die Hintergründe
für die Schlägerei sind Gegenstand von Ermittlungen. Nach den
derzeitigen Erkenntnissen dürfte es sich um einen Konflikt
zwischen Linken und Rechten gehandelt haben.
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20min.ch 27.2.11
Luzern: SVPler will mit Rap Wähler gewinnen
Jungpolitiker Anian Liebrand will mit Hip-Hop das Image der SVP
entstauben. Luzerner Rapper finden die Aktion daneben.
Lena Berger
SVPler Anian Liebrand geht unter die Hip-Hopper: Mit einem
eigenen Rapsong geht er für die Kantonsratswahlen vom 11. April
auf Stimmenfang. "Droge, Ibrüch, Öberfäll -
Öberfrömdig, frömdi Täter - alli Lenke luegid
wäg - send das wörklech Volksverträter?", rappt der
Kantonsratskandidat in dem Videoclip, der ab heute auf seiner Website
zu sehen ist.
"Ich will damit insbeson dere Menschen erreichen, die sich sonst
wenig für Politik interessieren", sagt der 21-Jährige.
Ausserdem wolle er ein neues und modernes Bild der SVP vermitteln. "Die
Charts zu stürmen ist hingegen sekundär", so Liebrand
schmunzelnd.
Luzerner Rapper reagieren entsetzt bis belustigt auf den SVP-Rap.
"Ich stehe ja auf Trash, aber das hier ist einfach nur billig", sagt
Rapper Abdul Damja. Der Song enthalte weder interessante Wortspiele
noch Aussagen. "Textlich ist der Song derart oberflächlich, dass
nicht mal Entlebucher Bauernjungen ihn cool finden werden", ist Damja
überzeugt. Auch MC Mike Walker von "GeilerAsDu" bezweifelt, dass
der Song bei den Luzernern gut ankommen wird. "Er macht auf ‹richtiger
Schweizer› und stellt sich konsequent gegen fremde Einflüsse.
Warum jodelt er dann nicht?" Ähnlich hart fällt das Urteil
von Angel (Drunken Picasso) aus: "Der Song ist genauso daneben wie
Liebrands politische Meinung."
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Tagesanzeiger 25.2.11
Thilo Sarrazin kommt nach Zürich
Der umstrittene deutsche Autor tritt am 2. März vor 250
Personen auf.
Von Benno Gasser
Zürich - Mit seinem Buch "Deutschland schafft sich ab - wie
wir unser Land aufs Spiel setzen" löste Thilo Sarrazin im
vergangenen August einen Sturm der Entrüstung aus. Am
nächsten Mittwoch spricht der streitbare Autor mit
"Weltwoche"-Chefredaktor Roger Köppel über Demografie,
Einwanderung und die deutsche Zukunft. Hinter der Veranstaltung steht
der Efficiency Club Zürich. Ihm gehören 1400 Mitglieder an.
Laut einer Sprecherin stammen 90 Prozent aus der Wirtschaft, darunter
viele KMU-Chefs, aber auch Leiter grösserer Firmen. Die
Veranstaltung im Hotel Widder ist so gut wie ausverkauft. Erwartet
werden rund 250 Zuschauer. Der Eintritt kostet für Nichtmitglieder
60 Franken.
Als "Faschist" beschimpft
Bei seinen letzten Auftritten hatte Sarrazin wenig Glück.
Die deutsche evangelische Kirche strich eine Diskussionsrunde mit ihm
aus dem Programm. Er hätte mit zwei Geistlichen in der
Winterkirche des Halberstädter Doms über seine Thesen zu
Einwanderern reden sollen. Als Rechtsextremisten mit der Veranstaltung
auf ihrer Homepage warben, lud die Kirche Sarrazin wieder aus. In
London musste der Buchautor vergangene Woche seinen geplanten Auftritt
an der London School of Economics wegen protestierender Studenten in
ein Hotel verlegen. Auch dort kam es aber zu Protesten. Laut der
"Süddeutschen Zeitung" stürmte ein Student die Bühne,
beschimpfte Sarrazin als Faschisten und lieferte sich ein heftiges
Wortgefecht mit dem Autor.
Bekannt geworden war Sarrazin mit abfälligen Bemerkungen
über die Bezüger von Sozialhilfe, sogenannte
Harz-IV-Empfänger. Darum überraschte Sarrazins Sohn Richard
mit seinem Outing als Hartz-IV-Bezüger. "Es ist eigentlich ganz
gut, arbeitslos zu sein und nicht gebraucht zu werden, weil man dann
sein Lebenstempo selber bestimmen kann", sagte er in einem Interview
mit der "Bunten". Er fühle sich allerdings als Aussenseiter, und
für seinen Vater sei er der Sündenbock, das schwarze Schaf
der Familie.
Albisgüetli-Auftritt scheiterte
Sarrazin hätte bereits im vergangenen Oktober in Zürich
auftreten sollen. Der Berner SVP-Grossrat Thomas Fuchs wollte ihn ins
Schützenhaus Albisgüetli einladen. Hinter der Aktion standen
die beiden rechtskonservativen Netzwerke Pro Libertate und Pikom. Fuchs
präsidiert beide Vereine. Fuchs sagt, Sarrazin habe leider
abgesagt, weil er nicht bei Parteien auftreten und sich nicht politisch
einbinden lassen wolle. An den Finanzen habe es nicht gelegen,
Geldgeber seien bereitgestanden.
Sarrazins Buch ist das bestverkaufte deutsche Sachbuch seit 1945.
Rund 1,2 Millionen Exemplare gingen bisher über die Ladentische.
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20min.ch 23.2.11
Vertrag ausgelaufen: Philosophie-Seminar beim Ex-Neonazi
Vier Jahre lang hat ein verurteilter Rechtsextremer an der Uni
Zürich unterrichtet. Die Uni wusste nichts davon. Jetzt hat sie
sich von ihm getrennt.
2007 trat der Deutsche L.* seine Stelle als Assistent am
Philosophischen Seminar der Uni Zürich an. Seine Vergangenheit
verschwieg er dabei geflissentlich, wie die "Zürcher
Studierendenzeitung" in ihrer am Donnerstag erscheinenden Ausgabe
berichtet.
1994 sprühte L., damals 18-jährig, Hakenkreuze und
Parolen wie "Drogendealer ins Arbeitslager" an Hauswände. 1999
wurde er dafür in Dortmund verurteilt. L. war in der Neonaziszene
Dortmunds eine Nachwuchshoffnung. Er half bei der Gründung einer
Lokalsektion der Rechtsaussenpartei "Deutsche Nationalisten".
Vertrag ausgelaufen
Gegenüber der "ZS" versicherte L., noch 1994 seine Gesinnung
abgelegt zu haben. Und obwohl er an der Uni Seminare über den
nazifreundlichen Philosophen Martin Heidegger gab, scheint dabei
gemäss Aussagen von Studenten keine rechte Gesinnung
durchgedrungen zu sein.
Vergangenen Herbst kamen Mitarbeiter des Seminars hinter die
Vergangenheit ihres Kollegen. Sein Vertrag mit der Uni, der Ende Jahr
auslief, wurde nicht verlängert. L.s' Vorgesetzte, die
Philosophieprofessorin Katia Saporiti, macht dafür gegenüber
der "ZS" ein "gestörtes Vertrauensverhältnis" geltend.
Ausserdem sei L. mit seiner Doktorarbeit nicht vorangekommen.
Bernd Roeck, Geschichtsprofessor und Dekan der philosophischen
Fakultät der Uni Zürich, zeigt sich enttäuscht über
die unglückliche Anstellung. Es gebe viele interessante Menschen
ohne eine solche Vergangenheit, die man mit einer Assistenzstelle
fördern könne, sagte er der "ZS".
*Name der Redaktion bekannt. (job)
---
Solothurner Zeitung 18.2.11
(...)
Kleinparteien: Zwei sind weg - PNOS versucht ein Comeback
Definitiv nicht zu den Nationalratswahlen antreten werden im
Kanton Solothurn die Schweizer Demokraten (SD) und die Partei der
Arbeit (PdA). Während die Rechtsaussenpartei laut deren letztem
Präsident Thomas Baschung "klinisch tot" ist, wurde die
Linksaussenpartei gar nie geboren.
Ex-SD-Präsident Baschung hat bereits vor zwei Jahren den
Bettel hingeworfen. "Die rund 30 Mitglieder haben sich nicht engagiert
und von der Mutterpartei habe ich keine Unterstützung erhalten."
Baschung hatte 2008 versucht, der bereits damals serbelnden Sektion
neues Leben einzuhauchen. Jetzt ist die 2006 bereits zum dritten Mal
gegründete Partei erneut aus dem Kanton Solothurn verschwunden.
Ebenfalls weg vom Fenster ist die PdA, für die es Ende 2009
Gründungsversuche gab (wir berichteten). "Den jungen Initianten
schwebte eher eine Bewegung denn eine Partei vor", begründet
Cyrille Baumann, Parteileitungsmitglied der PdA Schweiz, das Scheitern.
"Es blieb bei ein, zwei Sitzungen." Die 2005 gegründete und 2007
aus dem Kanton verschwundene rechtsextreme Partei National Orientierter
Schweizer (PNOS) versucht zumindest für die Zeit nach den
Nationalratswahlen ein Comeback. "Wir wollen bis Ende Jahr eine
Solothurner Sektion bilden", erklärt Mediensprecher Dominic
Lüthard. "Im Kanton Solothurn verfügen wir nach wie vor
über 30 bis 40 Einzelmitglieder." (sff)
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TÜRSTEHENDE
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bernerzeitung.ch 18.2.11
Erneut Kritik an Mad-Wallstreet-Security
Christian Häderli
Am vergangenen Samstagabend soll es im Berner Club "Mad
Wallstreet" zu groben Handlungen von Sicherheitskräften
gegenüber Clubbesuchern gekommen sein. "Unsere Securitykräfte
haben korrekt gehandelt", heisst es seitens des Clubbetreibers.
"Der Türsteher kniete auf den Gast, hielt ihm die Hände
mit seinen Knien fest, würgte ihn und schrie ihn an." Eine solche
Szenerie soll sich gemäss Bericht einer Besucherin vergangenen
Samstagabend vor dem Club "Mad Wallstreet" unterhalb der grossen
Schanze abgespielt haben. So jedenfalls schildert sie den Vorfall in
einer E-Mail an die Redaktion. Die Kantonspolizei Bern bestätigte
auf Anfrage einen Vorfall am frühen Sonntagmorgen. Die Beteiligten
seien rechtlich beraten worden, die Polizei hätte keinen
Handlungsbedarf gesehen, heisst es weiter.
"Es wurde korrekt gehandelt"
Reto Bucher, Geschäftsführer des "Mad Wallstreet",
streitet einen Vorfall in Zusammenhang mit Sicherheitskräften
nicht ab, betont aber: "Unsere Security ist sehr gut ausgebildet. Es
wurde korrekt gehandelt."
Nicht der erste Fall
Im "Mad Wallstreet" in Bern kam es in der Vergangenheit
wiederholt zu Vorfällen, in denen hauseigene
Sicherheitskräfte unverhältnissmässig gegen Clubbesucher
vorgegangen waren. Zu den Hauptvorwürfen zählten damals
unverhältnismässige Gewalt und mangelnde Ausbildung der
Sicherheitskräfte sowie Kritik wegen Rassismus.
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20 Minuten 18.2.11
"Viele Junge haben keinen Respekt mehr"
ZÜRICH. Türsteher ist kein einfacher Beruf. Einer, der
seit zehn Jahren das Zürcher Nachtleben von der anderen Seite
erlebt, ist Sicherheitschef Schrödi. 20 Minuten hat mit ihm
gesprochen.
Wie bist du Türsteher geworden?
Schrödi: Ich betreibe schon seit langem Kampfsport und habe
viele Kurse und Ausbildungen in diesem Bereich gemacht. Vor zehn Jahren
bot sich mir an, an der Tür zu arbeiten. Ich hätte aber nie
gedacht, dass es einmal mein Hauptberuf sein würde.
Türsteher haben nicht unbedingt den besten Ruf. Wieso?
Wenn es irgendwo eskaliert, schiebt man die Schuld meistens den
Sicherheitskräften zu. Es gibt inzwischen viele gute, leider aber
noch immer ein paar wenige unseriöse Türsteher, die den Ruf
anderer in Mitleidenschaft ziehen.
Was hat sich in den letzten zehn Jahren verändert?
Die Gewaltbereitschaft hat deutlich zugenommen. Viele Junge haben
auch keinen Respekt mehr. Dabei ist es völlig egal, ob reich oder
arm, Schweizer oder Ausländer. Es ist ein allgemeines,
gesellschaftliches Problem. Ich kann nur jedem Politiker empfehlen,
einmal eine Schicht mit mir durchzustehen.
Und was war dein bisher negativstes Erlebnis bei der Arbeit?
Es kam schon mal vor, dass eine Gruppe von Leuten nach meiner
Arbeit auf mich gewartet hat. Aber ich weiss zum Glück, wie ich
mich verteidigen kann. Zudem sind öfter auch Morddrohungen
eingegangen. So was ist natürlich unschön.
Du bist auf Facebook zum beliebtesten Türsteher Zürichs
gewählt worden. Was war der Grund dafür?
Ich sehe meinen Beruf als ernstzunehmende Dienstleistung. Eine
kommunikative und freundliche Art ist unglaublich wichtig. Schliesslich
geben wir dem Club ein Gesicht. Ausserdem widerspiegelt sich die
konsequente Selektion direkt an der Stimmung im Club. So
ermöglichen wir allen einen sicheren und friedlichen Ausgang.
Sebastian Enrique Brunner
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SÖLDNERFIRMEN
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sf.tv 24.2.11
NR-Kommission will Hürden für Söldnerfirmen
sf
Alarmiert vom Zuzug der privaten britischen Sicherheitsfirma
Aegis nach Basel hat die Sicherheitskommission des Nationalrats gestern
ein Verbot von Söldnerfirmen gefordert. Sie will damit Firmen, die
wie Aegis bewaffnetes Personal im Ausland einsetzen, einen Riegel
schieben. Die "Rundschau" zeigt, dass "Söldnerfirmen" schon lange
vor Aegis aus der Schweiz heraus aktiv waren und von fehlenden
rechtlichen Rahmenbedingungen profitierten.
Die "Rundschau" machte in Valencia einen ehemaligen britischen
Marineoffizier ausfindig, der in den 1990er-Jahren von Zug aus die
"Marine Risk Management" führte, die bei ihren Einsätzen im
Ausland auch Waffen einsetzte.
Dalby erzählt in der "Rundschau", dass er in der Schweiz mit
offenen Armen empfangen wurde: "Ich machte ein paar Recherchen und sah,
dass es in Zug gute Kundschaft gab. Ich habe dann - und das werden sie
mir kaum glauben - einfach die Zuger Handelskammer angerufen und
gefragt, ob jemand meine Dienste benötige. So bekam ich einige
Kunden."
Dalbys Söldner arbeiteten unbehelligt unter anderem für
Marc Rich und andere in Zug domizilierte Rohstofffirmen.
20 Firmen registriert
Wie viele andere profitierte Dalbys MRG davon, dass die
Aktivitäten privater Sicherheitsfirmen bisher der Kontrolle der
Kantonen obliegt und nationale Regelungen fehlen.
Marc Schinzel vom EJPD räumt ein, dass deswegen der
Überblick über die Aktivitäten der Söldnerfirmen
fehle. "Wir müssen uns in Zukunft positionieren und schauen, was
nötig ist, damit solche Firmen im Einklang mit unseren nationalen
Interessen operieren." sagt Schinzel in der "Rundschau". Laut einer
Untersuchung des EJPD sind heute 20 einschlägige Firmen in acht
Kantonen registriert.
Erst der Zuzug des Holdingsitzes der britischen Sicherheitsfirma
Aegis letzten Sommer nach Basel hat Bundesrat und Sicherheitspolitiker
auf den Plan gerufen. Aegis ist mit 20‘000 Mann weltweit im Einsatz und
ist in Krisengebieten wie Irak regelmässig in bewaffnete
Auseinandersetzungen verwickelt.
Für die Mitglieder der nationalrätlichen
Sicherheitskommission ist die Anwesenheit solcher Söldnertruppen
für die Schweiz höchst problematisch: "Wenn die Schweiz oder
eine Firma, die in der Schweiz ist, an einem Konflikt beteiligt ist,
dann wird die Schweiz damit identifiziert", sagt SVP-Nationalrat Ulrich
Schlüer.
Firmen sollen Schweiz verlassen
Die Mehrheit der Kommission unterstützt deshalb ein Verbot:
"Das kann es überhaupt nicht sein, dass eine Firma in allen
Kriegsgebieten tätig ist und in der Schweiz ihren Sitz hat", sagt
Kommissionspräsident Jakob Büchler der "Rundschau". Für
mich ist eindeutig klar. Eine solche Firma muss die Schweiz verlassen -
und zwar so schnell wie möglich."
Noch vor zwei Jahren hatte der Bundesrat eine Reglementierung
abgelehnt. Nun fordert die SIK Nationalrat ein strenges Bewilligungs-
und Kontrollsystem für Sicherheitsfirmen.
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Rundschau sf.tv 23.2.11
Verbot für Söldnerfirmen
Der Bundesrat will verhindern, dass die Schweiz zum Schlupfloch
für Söldnerfirmen wird. Bundesrätin Sommaruga fordert
verstärkte Kontrollen und eine Meldepflicht. Mitgliedern der
Sicherheitskommission des Nationalrates aber geht das zuwenig weit.
Gegenüber der Rundschau fordern sie ein generelles Verbot für
Söldnerfirmen in der Schweiz. Die betroffenen Firmen halten sich
bedeckt. Interview mit einem Betreiber einer Söldnereinheit.
http://videoportal.sf.tv/video?id=cc9ac78c-b577-4696-9c4c-40cdf1a85a00
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Basler Zeitung 23.2.11
Strengere Regeln für Sicherheitsfirmen gefordert
Vorschlag des Bundesrats geht der Sicherheitspolitischen
Kommission des Nationalrates zu wenig weit
Christian Mensch, MARKUS PRAZELLER
In der Schweiz gibt es 21 private Sicherheitsfirmen, die in
Krisengebieten tätig sind. Die Politik will diese an die ganz
kurze Leine nehmen.
Wenn sich die Nationalräte und Sicherheitspolitiker Jo Lang
(Grüne) und Ulrich Schlüer (SVP) einig sind, dann haben sich
in der Regel die politischen Pole gegen die Mitteparteien
verbündet. Nicht aber in der Frage, ob Sicherheits- und
Militärfirmen von der Schweiz aus in Krisen- oder Kriegsgebieten
tätig sein dürfen. Hier zieht sich die Ablehnung nahtlos von
links bis rechts. Jüngstes Beispiel: Die Sicherheitspolitische
Kommission des Nationalrates nahm gestern mehrere Motionen an, die den
Bundesrat beauftragen, Sicherheits- und Militärfirmen strenger zu
kontrollieren.
Mit 19 zu einer Stimme bei einer Enthaltung sprach sich die
Kommission für die Einführung einer Bewilligungspflicht aus.
Söldnerfirmen sollen ganz verboten werden.
Damit geht die Kommission weiter als der Bundesrat, der
vergangene Woche dazu einen Bericht des Bundesamts für Justiz
veröffentlichte. Darin schlägt die Regierung vor,
Militärfirmen, die in der Schweiz domiziliert sind oder über
eine Schweizer Holding beherrscht werden, einer Informationspflicht zu
unterstellen, wenn sie im Ausland tätig werden. Das
Staatssekretariat für Wirtschaft würde die Eingaben
überprüfen und könnte Verbote verhängen, wenn es
durch die Aktivität die Interessen der Schweiz gefährdet
sieht. Noch vor der Sommerpause will der Bundesrat einen
Gesetzesentwurf in die Vernehmlassung schicken.
Rigoros. Dass die Sicherheitspolitische Kommission weiter gehen
will als der Bundesrat, kommt nicht überraschend: Die meisten
Parlamentarier, die sich bisher mit dem Bereich Sicherheitsfirmen
beschäftigt haben, sprachen sich in den vergangenen Monaten
entweder für ein generelles Verbot von Auslandeinsätzen in
Krisengebieten aus oder für eine strenge Bewilligungspflicht. "Es
sind die Themen Neutralität und humanitäre Tradition der
Schweiz angesprochen - da treffen sich alle Parteien", sagt der
Zürcher Strategieexperte Albert A. Stahel. Auch er plädiert
für eine restriktive Haltung: "Als Depositarstaat der Genfer
Konvention kann es sich die Schweiz nicht leisten, Heimatort für
private Militärfirmen zu sein."
Einzig der Verlockung des Geldes, das mit den kommerziellen
Militärdiensten zu verdienen sei, so Stahel, könnte die
Schweiz erliegen. Doch allzu viel steht nicht auf dem Spiel, wie die
Arbeit einer Interdepartementalen Arbeitsgruppe zeigt, die den Bericht
des Bundesamts für Justiz erarbeitet hat.
Spitzenreiter Zürich. Lediglich 21 Sicherheitsfirmen hat die
Arbeitsgruppe entdeckt, die von der Schweiz aus in Krisengebieten
operieren. Doch obwohl zur Fahndung verschiedene Pfade beschritten
worden sind, ist diese Zahl wohl nur ungefähr.
Teilweise sind sie nicht einmal erfasst, in den 438 Firmen mit
knapp 16 000 Mitarbeitern, die gemäss dem Bundesamt für
Statistik in der Sicherheitsbranche arbeiten. Am meisten finden sich in
Zürich (92 Firmen/3300 Mitarbeiter), gefolgt von Genf (57/2700)
und Bern (53/2300). In den beiden Basel finden sich gemäss dieser
Statistik 24 Firmen mit 900 Mitarbeitenden. Die Angaben, die auf den
kantonalen Handelsregistern beruhen, sind allerdings
unzuverlässig. So hat etwa die Basler Kantonspolizei 56
Sicherheitsfirmen in ihrer Bewilligungskartei, die ihren Sitz in Basel
haben. In keiner Form erfasst ist die Basler Holding der britischen
Aegis Defence Services. Diese Gründung war Ausgangspunkt für
die politische Neubeurteilung der aus der Schweiz operierenden
Sicherheitsfirmen.
In Baselland sind drei Sicherheitsfirmen international
tätig. Die Baselbieter Sicherheitsdirektion hatte davon keine
Kenntnis, wie sie bestätigt. Dafür aber die Genfer
Kantonspolizei, die etwa auch im Wallis Firmen als international
tätige Sicherheitsunternehmen outete, die den dortigen
Kantonsbehörden nicht unbekannt waren. Mit dem neuen Gesetz sollen
solche Sicherheitsfirmen eng kontrolliert werden - sofern der
Gesetzgeber sie mit dem politisch geforderten Bewilligungsverfahren
überhaupt wird erfassen können.
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Bund 23.2.11
Söldnervermittler sollen in der Schweiz verboten werden
Die Sicherheitspolitische Kommission des Nationalrates verlangt
ein Verbot von Sicherheitsfirmen, die Söldnerverbände
betreiben. Die vom Bundesrat angekündigten Massnahmen gehen ihr
nicht weit genug. Nach dem Willen der Kommission soll der Bund
Unternehmen, die Söldnerverbände betreiben oder die Absicht
haben, dies zu tun, jegliche Geschäftstätigkeit in der
Schweiz verbieten. Sie verabschiedete fünf Motionen zum Thema
"Sicherheitsfirmen" und sprach sich zusätzlich für eine
Motion aus dem Ständerat aus.(sda)
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20 Minuten 23.2.11
SIK fordert Verbot von Söldnerfirmen
BERN. Die Sicherheitspolitische Kommission des Nationalrates
verlangt ein Verbot von Sicherheitsfirmen, die
Söldnerverbände betreiben. Sie hat eine entsprechende Motion
verabschiedet. Die vom Bundesrat angekündigten Massnahmen gehen
ihr nicht weit genug. Der Bundesrat hatte vergangene Woche ein Gesetz
zur Regulierung der Tätigkeit von Söldnerfirmen in Aussicht
gestellt. Der Entwurf soll bis im Sommer vorliegen.
---
parlament.ch 22.2.11
Medienmitteilung SiK-N
Private Sicherheitsfirmen
Für ein Verbot von Söldnerfirmen und ein Bewilligungssystem
für andere Sicherheitsfirmen
Sekretariat der Sicherheitspolitischen Kommissionen
CH-3003 Bern
www.parlament.ch
sik.cps@parl.admin.ch
Sicherheitspolitische Kommission des Nationalrates
Die Sicherheitspolitische Kommission des Nationalrates nahm fünf
Motionen an, die den Bundesrat beauftragen, die einschlägigen
Rechtsgrundlagen entsprechend zu ändern. Ferner beantragt sie mit
19 zu 1 Stimmen bei 1 Enthaltung, eine Motion des Ständerates
(10.3639) anzunehmen, welche die Einführung eines Bewilligungs-
und Kontrollsystems für Sicherheitsfirmen verlangt.
Die Kommission unterstützt die Bestrebungen des Bundesrates zur
Regelung der von der Schweiz aus tätigen privaten
Sicherheitsfirmen. Sie möchte allerdings über die Massnahmen
hinausgehen, wie sie der Bundesrat in seinem Bericht vom 16. Februar
vorsieht. Die SiK-N will Unternehmen, die Söldnerverbände
betreiben oder die Absicht haben, dies zu tun, jegliche Tätigkeit
auf Schweizer Staatsgebiet verbieten. Zudem sprach sich die Kommission
für die Einführung eines Zulassungssystems
(Bewilligungspflicht bzw. Lizenzsystem) für private
Sicherheitsfirmen aus, die ihre Dienste von der Schweiz aus in Krisen-
und Kriegsgebieten anbieten (siehe Text der fünf eingereichten
Motionen im Anhang), wie dies auch in der Motion der SiK-S verlangt
wird. Die Kommission begrüsst den Bericht des Bundesamtes für
Justiz vom Dezember 2010, ist aber der Meinung, dass das zu diesem
Zeitpunkt vom Bundesrat gutgeheissene System zu wenig weit
geht. Dieses sieht folgende vier Regelungsinhalte vor: die
Pflicht zur Information der zuständigen Behörde; das Verbot
bestimmter Aktivitäten; die Gesetzesunterstellung der in der
Schweiz niedergelassenen Gesellschaften mit Beteiligungen an im Ausland
tätigen privaten Sicherheitsfirmen; die Schaffung administrativer
und strafrechtlicher Sanktionen für Widerhandlungen.
Die Kommission hat am 21. und 22. Februar 2011 unter dem Vorsitz von
Nationalrat Jakob Büchler (CVP, SG) und teils in Anwesenheit von
Bundesrätin Simonetta Sommaruga, Vorsteherin des EJPD, in Bern
getagt.
Bern, 22. Februar 2011 Parlamentsdienste
Auskünfte
Jakob Büchler, Kommissionspräsident, Tel: 055 615 15 24
Pierre-Yves Breuleux, Kommissionssekretär, Tel. 031 322 24 28
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POLIZEIWAFFEN
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Spiegel 21.2.11
WAFFEN
Eskalation auf der Straße
Waffen: Wie gefährlich ist der neue Super-Wasserwerfer der
deutschen Polizei?
Thadeusz, Frank
Mit dem neuen Wasserwerfer "WaWe 10 000" hat die Polizei erneut
aufgerüstet. Demonstranten müssen mit schweren Verletzungen
rechnen.
Schon ihr erster Einsatz trug der rollenden Trutzburg herzlichen
Zuspruch ein. Als Touristen aus dem Schwabenland am Rande einer
Anti-Neonazi-Demo den neuen Wasserwerfer der Hamburger
Bereitschaftspolizei erblickten, gerieten sie ins Schwärmen:"Hei,
der sieht fei subbr aus, den hätte mer in Stuttgart brauchd."
Doch zunächst steht der "WaWe 10 000" der Polizei in Hamburg
und Sachsen zur Verfügung. Gebaut wurde er von der
österreichischen Firma Rosenbauer, die ansonsten schweres
Gerät für die Feuerwehr liefert. Der Stückpreis
beläuft sich auf rund eine Million Euro.
Schon das Vorgängermodell "WaWe 9000" erhielt in
Polizeikreisen ehrfürchtige Kosenamen wie "Mammut" und "Goliath",
setzte in über 25 Dienstjahren jedoch auch reichlich Rost an. Sein
blau-grauer Nachfolger wirkt nun, als wäre im Labor ein Panzer mit
einem Roboter aus dem Spielfilm "Transformers" gekreuzt worden.
Bei der Polizei war die Euphorie über den Kraftprotz
zunächst groß. "Sein futuristisches Design verleiht dem
Einsatzmittel ein starkes Auftreten - ggf. durchaus mit dem Ergebnis,
dass Gewalttätige bereits beim Auffahren der Werfer von ihrem
Handeln Abstand nehmen", vermeldete das Fachblatt "Polizei Verkehr +
Technik".
Doch dann kamen die Proteste der Stuttgart-21-Gegner und jener
verheerende Einsatz eines Wasserwerfers, bei dem der Rentner Dietrich
Wagner sein Augenlicht einbüßte. Die Bilder von blutigen
Augäpfeln haben den Behörden offenbar den Spaß an ihrer
Neuschöpfung verdorben.
Inzwischen wird die Wirkung des potenten Gefährts herunter-
gespielt: "Es sind keine Gestaltungselemente eingebaut worden,
die eine abschreckende Wirkung erzielen sollen", wiegelt ein Sprecher
des Bundesinnenministeriums ab.
Etliche Kritiker argwöhnen indes, der einschüchternde
"WaWe 10 000" werde für eine neue Eskalationsstufe auf der
Straße sorgen - massenhaft Knochenbrüche und
Gehirnerschütterungen eingeschlossen. Bereits für ein
früheres Modell errechneten Strömungsmechaniker, dass der
Wasserstrahl aus drei Meter Entfernung mit einer Wucht von 25 Kilogramm
auf eine Fläche von zehn Zentimeter Durchmesser prallt.
Berüchtigt sind denn auch jene mit Hochdruck abgeschossenen
Wassersalven, die eine Straße leerfegen können, aber nicht
mehr zwischen Passanten und Steinewerfern unterscheiden.
Ein Geburtsfehler aller Wasserwerfer, der auch beim neuen
Kampfmobil der Polizei nicht beseitigt wurde. Beteuerungen des
Bundesinnenministeriums, dass "auf eine präzise
Strahlführungsmöglichkeit Wert gelegt wurde, damit die
Beeinträchtigung unbeteiligter Dritter möglichst vermieden
werden kann", dämpfen diese Sorge kaum.
Welchen Schaden die fahrenden Wasserkanonen an Leib und Leben
anrichten können, darüber sind wissenschaftlich fundierte
Aussagen rar. Ein Gutachten des inzwischen verstorbenen Bonner
Ballistikexperten und Rechtsmediziners Karl Sellier "über die
biomechanische Wirkung von Wasserstrahlen aus Wasserwerfern" aus dem
Jahr 1987 ist vom Polizeitechnischen Institut in Münster bis heute
mit einem Sperrvermerk belegt.
Der Stuttgarter Professor für Augenheilkunde, Egon Georg
Weidle, will ausgehend vom Schicksal seines Patienten Wagner einen
Aufsatz über die Gefährdungen durch Wasserwerfer publizieren.
Der Hamburger Landesvorsitzende der Polizeigewerkschaft GdP, Uwe
Koßel, hält den sehbehinderten Stuttgart-21-Protestler
allerdings für einen "Einzelfall".
Doch diese Position ist kaum zu halten. Allein im Stuttgarter
Katharinenhospital wurden nach der umstrittenen Wasserwerfer-Offensive
drei Patienten mit schweren Augenverletzungen stationär behandelt.
Ein weiterer Betroffener musste wegen gravierender Verletzungen am Auge
über Tage in der Stuttgarter Charlottenklinik versorgt werden.
Der Potsdamer Rettungssanitäter Steffen Berger ist auf dem
linken Auge fast blind und deshalb arbeitsunfähig, seit er
während der Proteste gegen den G-8-Gipfel in Heiligendamm 2007 von
einem Wasserwerfer verletzt wurde. Im vergangenen Dezember verwehrte
ihm das Landgericht Rostock die Zahlung eines Schmerzensgeldes.
Begründung: Das Land Mecklenburg-Vorpommern könne nicht in
Haftung genommen werden, weil ein Polizeibeamter aus
Nordrhein-Westfalen das Fahrzeug gesteuert habe.
Polizeifunktionär Koßel sieht für Demo-Besucher
indes bessere Zeiten heraufziehen: "Mit dem neuen Gerät lassen
sich die Einsätze viel besser dokumentieren - auch zur
Rechtssicherheit der Demonstranten." So besitze der "WaWe 10 000"
insgesamt drei Videokameras, um das Geschehen bei Ausschreitungen
aufzuzeichnen - zwei in der Front und eine im Heck.
Fraglich ist jedoch, ob die Polizei im Zweifel belastendes
Material überhaupt herausgeben würde. Im Fall Berger
unterließen es die Beamten, Videobänder für den Prozess
freizugeben.
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©HE GUEVARA
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Bund 19.2.11
Wem gehört Che Guevara?
Seit 1968 ist sein Che-Porträt für jedermann frei
nutzbar. Angesichts der kommerziellen Ausbeutung des Bildes will Jim
Fitzpatrick jetzt sein Copyright geltend machen.
Peter Nonnenmacher, London
Nicht mehr dem Kapital soll Che gehören. Die kommerzielle
Welt soll bluten, wenn sie sich des Revolutionärs bedient. Das hat
der Mann entschieden, der vor 44 Jahren eine der berühmtesten
Ikonen des 20. Jahrhunderts schuf. Jim Fitzpatrick will nicht
länger mit ansehen, wie sein Che-Guevara-Bild von gewissenlosen
Unternehmern für private Profite genutzt wird. Der Ire möchte
diese Einnahmen dem kubanischen Volk zur Verfügung stellen - und
der Familie Guevaras.
Anwalt eingeschaltet
Der Designer und Buchillustrator aus Dublin hat einen Anwalt
eingeschaltet, um sich Copyright und Vermarktungsrechte zu sichern. Im
September, zur Eröffnung eines "Che-Guevara-Kulturzentrums" in
Havanna durch dessen Witwe Aleida, hofft Fitzpatrick sich seinen
"Traum" erfüllt zu haben und die Kubaner mit einem kontinuierlich
sprudelnden Strom an Einnahmen zu beglücken. Dass sich Rebellen
und Studenten seiner Postervorlage bedienten, sei ihm recht gewesen,
meint der Ire. Es gehe aber nicht an, "dass sich Leute mit dem Bild
bereichern, wenn das Geld einem Kinderkrankenhaus in Havana zufliessen
könnte".
Ein Vermögen dürfte Fitzpatricks Schöpfung
wahrhaftig wert sein. Von Kunstexperten wird es zu den zehn
bekanntesten Porträts der Welt gezählt - leichter zu
identifizieren als die Mona Lisa. Seit Fitzpatrick 1967, auf der
Grundlage eines Fotos des Kubaners Alberto Korda, seine Zeichnung
anfertigte, um sie im Jahr darauf in einer Londoner Galerie
auszustellen, hat dieses Bild einen beispiellosen Siegeszug um die Welt
angetreten. Von den Pariser Studenten, die sie zum Banner ihrer
Bewegung erkoren, bis zu den Revolutionären Lateinamerikas, die
sich von ihr inspirieren liessen, wurde es mit Begeisterung aufgenommen
und auf Postern, Plakaten, T-Shirts endlos reproduziert. Das besternte
Béret, das wilde Haar, der heroische Blick erwärmten das
Herz melancholischer Teenager wie hartgesottener Freiheitskämpfer
- bevor die Industrie den Marktwert der Ikone erkannte und sie ihren
Weg auf Kaffeebecher, Cornflakes-Schachteln, Baseball-Kappen und
Unterwäsche fand.
Dabei war das schwarzrote Poster anfangs noch manchem Regime,
auch in Europa, ein Dorn im Auge. In Francos Spanien konnte, wer es
verteilte, verhaftet werden. In Osteuropa verdächtigte man seine
Besitzer umstürzlerischer Neigungen. "Ich hatte das Ganze
absichtlich so gestaltet, dass sich die Bilder wie Kaninchen vermehren
würden", erklärt Fitzpatrick seine damalige Aktion. "Sie
hatten ihn umgebracht. Es gab keine Gedenkstätte, kein Ziel
für eine Pilgerreise, nichts. Ich wollte einfach, dass sein
Porträt so stark in Umlauf kommen würde wie nur möglich.
Sein Bild, sein Name sollte niemals sterben."
An Bartheke getroffen
Fitzpatrick war Che einmal, im Jahr 1962, begegnet. "16- oder
17-jährig", hatte er im kleinen Kilkee in der Grafschaft Clare
hinter einer Hotelbar gestanden, als Guevara zusammen mit zwei
Leibwächtern durch die Tür spaziert kam. Nach Kilkee hatte es
Guevara verschlagen, weil seine Maschine auf dem Weg von Moskau nach
Havanna im Flughafen Shannon einen Zwischenstopp einlegen musste und
wegen Nebels nicht weiterfliegen konnte. Er habe den Besucher auf
Anhieb erkannt, berichtete Fitzpatrick später. Zu reden habe man
ja jede Menge gehabt: Immerhin war Guevaras Mutter eine geborene Lynch,
aus dem südirischen Cork.
Klar war, dass Jim Fitzpatrick diese Begegnung nie vergessen
würde. Nach der Erschiessung Guevaras revanchierte er sich mit
seiner Porträt-Aktion, die Che der Welt erhalten sollte. Anders
als sein Idol geriet der Ire später weitgehend in Vergessenheit.
Er entwickelte daheim keltisches Design, illustrierte Bücher und
entwarf Umschläge für Plattenalben für Thin Lizzy und
Sinead O`Connor. Nur der Zorn darüber, dass sein genialster
Streich, sein grösstes Vermächtnis in die falschen Hände
geraten sei, hat ihn nun wieder auf die Barrikaden getrieben.
Sollte es ihm gelingen, sich sein Recht zu holen, dürfte das
einige Che-Verwerter teuer zu stehen kommen.
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UNDERCOVER
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Spiegel 21.2.11
POLIZEI
Verdeckte Ermittlungen
Deutschland setzt verdeckte Ermittler der Polizei auch im Ausland
ein. Der Chef des Bundeskriminalamts, Jörg Ziercke, räumte
Ende Januar in einer vertraulichen Sitzung des
Bundestags-Innenausschusses ein, dass der umstrittene Einsatz des
britischen Undercover-Polizisten Mark Kennedy in Deutschland keine
Einbahnstraße war. Kennedy hatte unter dem Tarnnamen Stone linke
militante Gruppen infiltriert und war im Januar aufgeflogen. Ziercke
soll erklärt haben, dass auch fünf deutsche Polizisten
verdeckt beim G-8-Gipfel von Gleneagles 2005 in Schottland eingesetzt
wurden. Dort seien sie unter Führung der britischen "National
Public Order Intelligence Unit" aktiv gewesen. Dies geht auch aus dem
nun vorliegenden "nur für den Dienstgebrauch" eingestuften
Protokoll der Innenausschuss-Sitzung hervor. Man helfe sich
gegenseitig, indem man "die Szene in die jeweiligen Länder
begleite", wird Ziercke darin zitiert. Das betreffe etwa
"Euroanarchisten, militante Linksextremisten und -terroristen". Diese
Form des Austauschs gebe es darüber hinaus bei Themen wie
Hooligans, im Umfeld von Weltmeisterschaften oder bei anderen
großen Sportereignissen. Man könne der organisierten und
konspirativen Vorgehensweise internationaler Netze nur begegnen, indem
man "genauso international und konspirativ" agiere.
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WELTSOZIALFORUM
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WoZ 24.2.11
Weltsozialforum 2011 in Dakar
"Die schweizerische Weltwahrnehmung hat Schlagseite"
"Es braucht keine Verbindlichkeit der Forderungen", sind sich
drei TeilnehmerInnen des diesjährigen Weltsozialforums einig.
Vielmehr ginge es darum, wieder selbst die Verantwortung für das
eigene Handeln zu übernehmen und in der Schweiz die
bröckelnde Solidarität neu aufzubauen.
von Sonja Wenger, Roman Berger (Moderation) und Ursula Häne
(Fotos)
Seit zehn Jahren findet das Weltsozialforum (WSF) statt, das
weltweit grösste Zusammentreffen von sozialen Bewegungen,
nichtstaatlichen Organisationen und AktivistInnen. Es soll ein Raum
sein für den Ideenaustausch, die Vernetzung und das Schaffen von
Synergien. Dennoch wurde nie mit Kritik am Forum gespart. Es diene oft
nur der Selbstversicherung der AktivistInnen, es sei "ein
Jahrmarkt" der Organisationen, und ihm fehle eine klare Positionierung
in Form einer gemeinsamen Abschlusserklärung. Im Gespräch mit
der WOZ erzählen Maya Graf, Nationalrätin der Grünen,
Mauro Moretto, Sekretär der Unia-Gewerkschaft, und Peter Niggli
von der entwicklungspolitischen Organisation Alliance Sud über
ihre Erfahrungen am diesjährigen Forum im senegalesischen Dakar
und antworten auf die Frage, ob das Forum heute noch die richtige Form
für den Austausch ist und wie es um Alternativen zur
Globalisierung steht.
WOZ: Maya Graf, Mauro Moretto, Peter Niggli, Sie haben zusammen
mit einer Delegation von über fünfzig Leuten am
Weltsozialforum 2011 in Dakar in Senegal teilgenommen. Was ist dabei
herausgekommen?
Mauro Moretto: Für mich war es das erste Mal, dass ich an
einem WSF teilgenommen habe. Für mich persönlich war es eine
intensive Erfahrung - auch durch das Vorprogramm der Delegation. Wir
haben verschiedene Projekte besucht, die von Schweizer Organisationen
unterstützt werden, und konnten so vor Ort sehen, was
Solidarität im Süden bedeutet oder welche Probleme die Leute
etwa mit der Ernährungssicherheit haben. Beides waren wichtige
Themen am Forum.
Maya Graf: Auch für mich war es das erste Forum und
gleichzeitig meine erste Reise nach Afrika. Es hat sich gelohnt. Mein
Bild von Afrika hat sich völlig verändert. Auf grossen
Transparenten am Forum stand, was ich mit nach Hause genommen habe:
"Africa pense et agie pour elle-même." (Afrika denkt und handelt
eigenständig.) Es ist eine Aufbruchstimmung und ein wachsendes
Selbstbewusstsein in Afrika spürbar - ganz anders als hier bei
uns. Die Menschen in Afrika verfügen manchmal nicht einmal
über sauberes Trinkwasser, sanitäre Anlagen oder Schulen.
Doch aus dem wenigen, das sie haben, machen sie viel mehr als wir in
unserem reichen Land. Die Diskussionen am Forum über Themen wie
Landwirtschaft, Ernährung, Klimawandel, Freihandel, aber auch die
Begegnungen mit den Bauern und Bäuerinnen auf dem Land haben mir
zudem viele Impulse gegeben. Im Senegal habe ich gesehen, was es
heisst, wenn die Menschen mit den Folgen des Klimawandels leben
müssen.
Peter Niggli: Für mich war es das fünfte Forum, an dem
ich teilgenommen habe, ich gehöre ja via Alliance Sud zu den
Mitorganisatoren der Schweizer Delegation. Diese war - einmal mehr -
eine sehr erfreuliche Erfahrung.
Moretto: Bei den Projekten, die wir im Vorprogramm besucht haben,
konnte man sehen, dass in der Entwicklungszusammenarbeit inzwischen
gezielt die Zivilgesellschaft und ihre Akteure gestärkt werden.
Das ist der einzige Ansatz, der auch etwas Nachhaltiges schaffen kann.
Eine starke Zivilgesellschaft kann viel bewirken. Sie kann sogar
Potentaten herausfordern, wie wir in den letzten Wochen in Tunesien und
Ägypten beobachten konnten.
WOZ: Viele gute Initiativen aus früheren Foren haben sich
schnell im Sand verlaufen. Sind zehn Jahre nach der Gründung des
WSF nun Veränderungen oder Verschiebungen in Bezug auf die Form
oder den Ablauf des Forums zu erkennen?
Niggli: Es gibt zwei Veränderungen. Zum einen hat sich das
WSF über die Jahre hinweg thematisch aufgefächert. In den
ersten Jahren gab es wenige grosse Themen, die im Fokus standen: die
Verschuldung, bilaterale Freihandelsverträge, die Rolle des
Internationalen Währungsfonds IWF und die Proteste gegen die
Welthandelsorganisation WTO. Damals kristallisierte sich die
globalisierungskritische Bewegung um diese wenigen, klaren Themen. Doch
vieles, was damals wichtig war, ist heute kein Problem mehr: Die WTO
siecht vor sich hin. Den zweiten grossen Liberalisierungsschub konnten
die Industrieländer nicht mehr durchsetzen; viele
Freihandelspläne der USA und EU sind auf Grund gelaufen; und die
Weltbank und der IWF befinden sich ohnehin in einer Legitimationskrise.
Die zweite Veränderung sind die Konvergenzkonferenzen am Ende des
Forums, die es nun schon zum dritten Mal gab. Dort wird versucht, die
zukunftsweisenden Kampagnen aufzugreifen und ihre internationale
Koordination vorzuspuren. Dieses Jahr gab es 38 Konferenzen - viele
haben praktische Konsequenzen zur Folge. Persönlich habe ich mich
besonders für "Rio plus 20" interessiert, die grosse Uno-Konferenz
vom Mai 2012, an der Fragen der (nicht)nachhaltigen Entwicklung und der
Klimaerwärmung zur Sprache kommen werden.
WOZ: Der Elan, den Sie mit nach Hause gebracht haben, ist gut
spürbar. Welche Ideen möchten Sie nun konkret umsetzen?
Moretto: Da könnte man an die Konvergenzkonferenzen
anknüpfen. Mich hat vor allem jene interessiert, bei der es um das
Bündeln sozialer Bewegungen ging. Es war spannend mitzuerleben,
wie verschiedenste soziale Bewegungen - und die
Gewerkschaften als Teil davon - in südlichen
Ländern wie Brasilien versuchen, sich gegenseitig anzutreiben und
Synergien zu entwickeln. Das ist etwas, das wir uns auch in der Schweiz
wünschen würden. Das andere grosse Thema in Dakar war
Migration. Wir haben von der Unia aus dazu einen eigenen Workshop
angeboten und die Idee präsentiert, einen internationalen
Aktionstag zum Thema Migration zu lancieren.
Niggli: Was ist dabei herausgekommen?
Moretto: Die Idee ist auf viel Resonanz gestossen. Doch es ist
noch kein Datum festgelegt.
Graf: Ich habe mich auf die Themen Landwirtschaft und
Ernährungssicherheit konzentriert, auch im Zusammenhang mit geplan
ten Freihandelsverträgen zwischen Afrika und Euro pa. Zudem ging
es um Landraub - das sogenannte Landgrabbing - durch multinationale
Konzerne und Staaten. Es gab eine Konvergenzkonferenz, die dazu einen
Aufruf verfasste, den "Appel de Dakar contre les accaparements de
terres", in dem alle internationalen Organisationen und Staaten
aufgerufen wurden, Mittel und Wege zu finden, den Landraub und die
Raubfischerei zu stoppen, weil durch sie der Hunger im Süden
wächst. Konkret habe ich mir Folgendes vorgenommen: Erstens soll
es in der Freihandelspolitik keine Verträge mehr ohne
ökologische und soziale Kriterien geben. Zweitens müssen die
Schweizer Entwicklungsgelder aufgestockt und konsequent für die
Hilfe zur Selbsthilfe eingesetzt werden. Und drittens muss der
Schweizerische Bauernverband unbedingt auf diese Themen aufmerksam
gemacht werden. Warum war von ihnen keine Delegation am WSF? Sie
hätten in Senegal Bauern und Bäuerinnen treffen können,
so sehen, mit welchen Schwierigkeiten die Menschen dort zu kämpfen
haben und wie sie diese angehen. Interessanterweise bilden sie dort
heute Genossenschaften - so wie bei uns in der Landwirtschaft vor
hundert Jahren. Beim nächsten WSF sollten unbedingt auch Schweizer
Bauern dabei sein.
Niggli: Bisher ist keiner wie Maya auf die Idee gekommen, die
Bauernorganisationen zu informieren. Ein gutes Beispiel dafür, was
aus den Foren entstehen kann.
WOZ: Wie sieht es mit der Vernetzung innerhalb der Schweizer
Delegation aus?
Niggli: Die gibt es bereits. Vertreter von Gewerkschaften,
umwelt- und entwicklungspolitischen Organisationen arbeiten schon seit
Jahren eng zusammen und sind auch immer beim WSF dabei. Nur Vertreter
des Parlaments gibt es wenige und wenn, sind es Links-Grüne. Aber
das ändert sich vielleicht noch, wenn Maya Graf nun die Bauern
hinzuholt!
Moretto: In Dakar hat sich gezeigt, welches Potenzial in der
Zusammenarbeit der verschiedenen sozialen Akteure steckt. Besonders
anschaulich war das beim Thema Migration: Zum einen werden die Menschen
im Süden ihrer Lebensgrundlagen beraubt, oder ihnen werden die
Möglichkeiten verwehrt, sich nach ihren Bedürfnissen zu
entwickeln, um ein menschenwürdiges Leben führen zu
können. Als Folge wandern viele aus, einige sterben auf der
Überfahrt, andere klopfen als "Illegale" an unsere Tür. Auf
der anderen Seite kämpfen wir im Norden gegen grössten
Widerstand für den freien Personenverkehr und dafür, dass die
Regeln für die Einhaltung der minimalen Arbeits- und
Lohnbedingungen - Stichwort: flankierende Massnahmen - in
der Schweiz dann auch für alle gelten. Hier ist direkte
Zusammenarbeit gefordert!
Graf: Man darf nicht vergessen, dass viele das WSF als ein
Treffen der Linken verstehen. Das ist ein grosses Hindernis. Das Wort
"sozial" löst - gerade bei Bauernorganisationen - oft folgende
Reaktion aus: "Das sind nur Weltverbesserer und Globalisierungsgegner,
also, was sollen wir dort?" Doch das Forum ist so breit angelegt, da
haben Marxisten zwar ihren Platz, sie sind aber nur ein kleiner Teil.
Das Forum wird - und muss - noch breiter werden, da für eine echte
Veränderung von unten die gesamte Zivilgesellschaft mit all ihren
Themen mit einbezogen werden muss.
WOZ: Sie haben das Image und das Potenzial des WSF angesprochen.
Doch gerade in den Medien wird das oft nicht wahrgenommen. Die
Berichterstattung über Dakar beschränkte sich auf kleine
Agenturmeldungen.
Graf: Ich habe mir dazu schon überlegt, ob man das Forum
nicht einfach anders nennen sollte. Zum Beispiel das Wort "sozial"
ersetzen. Es ist tatsächlich so, dass in den Deutschschweizer
Medien das Forum höchstens im Radio behandelt wurde, aber nicht
von den grossen Printmedien. In der Romandie ist das ganz anders. Da
wurde das Forum ausführlich besprochen. Man muss hier also
unbedingt die Wahrnehmung stärken, denn die Zukunft wird nicht das
Weltwirtschaftsforum in Davos sein. Die Zukunft sind jene Bewegungen
von unten, die die Themen setzen, über die verhandelt werden muss.
Niggli: Die Berichterstattung diesmal war aber schon besser als
beim WSF in Nairobi 2007, als etwa der Korrespondent der NZZ einen
faktenfreien Verriss des Forums schrieb so wie es in seiner Vorstellung
ablief - ohne dass er einen Fuss hineingesetzt hatte. Das Problem ist,
dass die schweizerische Weltwahrnehmung Schlagseite hat. Im Vordergrund
stehen unter dem Diktat unserer rechtsradikalen Bundesratspartei Themen
wie Ausländer, Moslems oder anderes, was das Welt-, Wirtschafts-
und Gesellschaftsverständnis verzerrt. Zum WSF: Dahinter steht
tatsächlich so etwas wie die "Welt-Linke"! Die Organisatoren
wollten allerdings weg von den alten Formen des Internationalismus, die
durch ihren zentralistischen Aufbau meist jede lokale Initiative
erstickt haben.
WOZ: Ein häufiger Punkt der Kritik am WSF ist auch, dass es
aus Prinzip keine Schlusserklärung abgibt. Müsste das Forum,
das in seiner Form ja als einziges die Weltgesellschaft
repräsentiert, nicht bei einzelnen Themen wie etwa die
Weltwirtschaftskrise eine eindeutige Position beziehen?
Niggli: Ich glaube nicht, dass dies nötig ist. Zum einen
nehmen zivilgesellschaftliche Organisationen wesentlich stärker
Einfluss auf zwischenstaatliche Prozesse oder Verhandlungen, als es
noch vor zwanzig Jahren der Fall war. Der Austausch und die Bildung
gemeinsamer Stossrichtungen läuft kontinuierlich, auch via
Internet. In diesem Sinne wäre die Erklärung einer
Veranstaltung wie dem WSF, das nur alle zwei Jahre stattfindet,
unbrauchbar. Zum andern würden alle miteinander rangeln, was in
einer solchen Erklärung drin sein müsste. Deshalb haben die
Organisatoren von Anfang an entschieden: Das WSF ist ein Raum für
Ideen, in dem alles Platz hat. Es ist keine Organisation, die
Stellungnahmen produziert. Und das halte ich noch immer für
richtig.
Moretto: Dem stimme ich zu. Ich glaube, dass es auch nichts
nützen würde, wenn man das Wort "sozial" aus dem Titel
entfernte. Vielmehr sollte man die Themen in den Vordergrund stellen
und jene Organisationen mit einbeziehen, die sich nicht links
positionieren. Es erscheint mir viel zielführender, sie über
die Themen ins Boot zu holen.
Graf: Man muss es ja nicht genauso machen wie jene, die nur von
oben führen und Direktiven herausgeben. Es ist doch eine
sympathische Idee, dass Zehntausende Menschen, die sich am Forum
getroffen, ausgetauscht und vernetzt haben, heimgehen und dann dort mit
ihren gewonnenen Erfahrungen alle in die gleiche Richtung arbeiten -
wie in einem Schneeballsys tem. Daraus ergibt sich ein viel
stärkerer Effekt, als wenn man drei Forderungen hat, von denen
niemand weiss, wer sie wie und wo umsetzen soll.
WOZ: Wie viel Verbindlichkeit kann so geschaffen werden?
Niggli: Es braucht keine Verbindlichkeit. Verbindlichkeit gibt es
nur, wenn es auch Beschlüsse gibt - und eine Kontrollinstanz, die
deren Umsetzung überwacht. Aber eben, das WSF ist keine
Weltorganisation.
Moretto: Ich glaube auch nicht, dass die Suche nach einem
kleinsten gemeinsamen Nenner eine Verbindlichkeit schaffen würde.
Aber ich bin sicher, dass wenn die sozialen Bewegungen in ihrem Tun
bestärkt werden, sie sich so gegenseitig hochschaukeln
können. Darin liegt nämlich ein viel grösseres
Aufbruchspotenzial als in der verzweifelten Suche nach etwas
Verbindlichem.
Graf: Es ist wichtig, dass wir in der Schweiz wieder stärker
Verantwortung übernehmen: Es geht darum, wie wir einkaufen, wie
wir leben, wie wir die Welt hinterlassen - und welche Auswirkungen
unsere Art zu leben auf andere Länder und andere Menschen hat.
Moretto: Genau, der Druck muss von unten entstehen. Und
dafür braucht es Solidarität. Im Zuge der Individualisierung
und weil wir im Laufe der Zeit die Verantwortung an irgendwen abgegeben
haben, ist uns das Prinzip der Solidarität beinahe verloren
gegangen.
WOZ: Löst sich der Gedanke der Solidarität
tatsächlich immer mehr auf
Moretto: Solidarität gibt es in verschiedenen Formen. Es
gibt die institutionalisierte. Doch es gibt sie auch in einem Dorf oder
einem Betrieb unter den Mitarbeitenden. Und das ist die
Solidarität, die wieder neu aufgebaut und mobilisiert werden muss,
wenn man Druck von unten ausüben will.
WOZ: Wie schafft man wieder Solidarität in einem Land wie
der Schweiz, in dem es die erwähnte verzerrte Wahrnehmung gibt?
Und wie weckt man das Interesse dafür?
Graf: Eigentlich haben wir Zugang zu den nötigen
Informationen. Nur wer sie nicht lesen oder hören will, tut es
auch nicht.
Niggli: Ich glaube, dass der durchschnittliche Mediendiskurs in
der Schweiz ein Teil des Problems ist. Über das Thema
Solidarität wird gelächelt. Jeder Journalist denunziert
mindes tens einmal im Jahr den sogenannten "Gutmenschen". Der
Medienmainstream begreift Solidarität als dümmliche Haltung
rückständiger Menschen.
Moretto: Auf den ersten Blick geht es uns in der Schweiz
natürlich gut, besonders, wenn man die Situation mit jener
vergleicht, die wie bei den Menschen im Senegal gesehen haben. Aber
wenn man genauer hinsieht, dann gibt es auch in hierzulande viele
Menschen, die in Armut leben, beziehungsweise sogenannte Working Poor
sind oder die ganz plötzlich in eine prekäre Situation
rutschen können, wenn sie beispielsweise ihre Arbeit verlieren.
WOZ: Das WSF gilt als Massstab für den Stand der Dinge in
der Antiglobalisierungsbewegung. Wo steht sie?
Niggli: Das sind eigentlich zwei Fragen: Wo steht die
Globalisierung? Und wo steht die kritische Bewegung? Die
Globalisierung, wie sie sich Ende der neunziger Jahre dargestellt hat,
ist tot. Ihr ökonomisches Fundament ist 2008 untergegangen. Die
Institutionen, die sie getragen haben, befinden sich in einer
Legitimationskrise sondergleichen wie ihre Treiber, die USA und die EU.
In der Weltbank und im IWF werden im Laufe der nächsten zehn,
zwanzig Jahre mehrheitlich die Entwicklungs- und die
Schwellenländer das Sagen haben. Und die WTO ist blockiert. Keine
Seite kann noch ihre Vorhaben durchsetzen.
Graf: Diese Blockade zeigte sich auch bei der Klimakonferenz in
Kopenhagen 2009. Die Konferenz ist unter anderem wegen der Länder
des Südens gescheitert. Sie wollen nicht mehr in Resultate
einwilligen, bei denen die Verursacher der Klimakrise nicht für
ihre Taten geradestehen müssen. Insofern ist das Scheitern
verständlich. Andererseits ist es verrückt, weil man so gar
nichts mehr erreicht.
WOZ: Und doch macht die Finanzwelt weiter wie bisher und wird
nicht zur Rechenschaft gezogen. Gibt es wirklich keine Alternativen?
Niggli: Die Re-Regulierung des Finanzsys tems ist vorderhand
Stückwerk geblieben. Die nächste Finanzkrise baut sich
deshalb bereits auf. Trotzdem kann man sagen: Die Globalisierung als
permanente Liberalisierung und Deregulierung gibt es heute nicht mehr.
Die sozialen Bewegungen müssen sich nun andere Fragen stellen. Wie
soll es weitergehen? Es herrscht eine generelle Ratlosigkeit, auch bei
den Herrschenden, weniger darüber, was man wirtschaftlich oder in
Sachen Klimawandel tun müsste, als dar über, wie man es
politisch durchsetzen könnte. Kommt hinzu, dass in Europa die
linken Kräfte Schwierigkeiten haben, sich als Alternative zu
präsentieren, weil sich die sozialdemokratischen Parteien in den
vergangenen dreissig Jahren mit dem Neoliberalismus arrangiert oder ihn
sogar politisch durchgesetzt hatten, um "regierungsfähig" zu
bleiben.
Graf: Ich möchte widersprechen, wenn jemand sagt, wir
hätten keine Lösungsvorschläge. Die Grünen haben
zusammen mit ihren Partnern durchaus Lösungen, aber wir sind damit
nicht mehrheitsfähig. So sagen wir seit fünfzehn Jahren, dass
man in erneuerbare Energien inves tieren, die Green Economy ankurbeln
und Abhängigkeiten reduzieren muss. Aber wir finden dafür
keine politische Mehrheit, solange sich das andere immer noch für
einige lohnt und sich die Machtverhältnisse nicht ändern.
Moretto: Es hat doch niemand ein Copyright auf die
Antiglobalisierungsbewegung. Aber was ich vom Forum mitgenommen habe,
ist die Erkenntnis, dass die Bewegungen im Süden in ihrer
Globalisierungskritik einfach lebendiger sind. Und dass wir gut daran
täten, uns von ihnen inspirieren zu lassen und sie zu
unterstützen - um daraus hoffentlich wieder selbst mehr Kraft zu
schöpfen.
--
Das Weltsozialforum
Unter dem Motto "Eine andere Welt ist möglich" wurde 2001 im
brasilianischen Porto Alegre das Weltsozialforum (WSF) gegründet.
Es war ursprünglich als Gegenveranstaltung zum
Weltwirtschaftsforum in Davos geplant und sollte in erster Linie dem
Erfahrungsaustausch der TeilnehmerInnen sowie der Koordination
internationaler Projekte dienen. In den folgenden Jahren entwickelte
sich das WSF mit bis zu 150 000 TeilnehmerInnen zu einer
internationalen Plattform für soziale Bewegungen und
nichtstaatliche Organisationen (NGOs).
Das WSF findet in ein- bis zweijährigem Rhythmus statt:
2001, 2003 und 2005 in Porto Alegre, 2004 in Bombay, 2006 polyzentrisch
in Caracas (Venezuela), Bamako (Mali) und Karachi (Pakistan), 2007 in
Nairobi (Kenia) und 2009 in Belém (Brasilien). Die wichtigsten
Themen beim diesjährigen Treffen in Dakar (Senegal) waren
Migration, Klimawandel, Landraub und die Finanz- und
Weltwirtschaftskrise. Etwa 90 000 Menschen nahmen 2011 am Forum teil,
darunter eine Delegation aus der Schweiz, die sich aus
ParlamentarierInnen, Vertreter Innen von NGOs, Gewerkschaften sowie
Medienschaffenden zusammensetzte.
http://www.forumsocialmundial.org.br
Peter Niggli
Der 1950 geborene Peter Niggli ist Geschäftsleiter von
Alliance Sud, der entwicklungspolitischen Arbeitsgemeinschaft von Swiss
aid, Fastenopfer, Brot für alle, Helvetas, Caritas und Heks, sowie
Buchautor. 2004 erschien sein Buch: "Nach der Globalisierung.
Entwicklungspolitik im 21. Jahrhundert". Rotpunktverlag. Zürich.
135 Seiten. 18 Franken.
Maya Graf
Die 1960 geborene Maya Graf ist Sozialarbeiterin und
Biobäuerin und wurde 2001 für die Grünen Baselland in
den Nationalrat gewählt. Sie setzt sich unter anderem für
eine gentechnikfreie Landwirtschaft ein. Ihre Arbeit als
Parlamentarierin ist im Film "Mais im Bundeshuus" (2003) dokumentiert.
Seit Dezember 2010 ist Graf zweite Vizepräsidentin des
Nationalrats.
Mauro Moretto
Der 1965 geborene Mauro Moretto ist Mitglied der Sektorleitung
Dienstleistungsbetriebe der Gewerkschaft Unia und dort Verantwortlicher
für das Gastgewerbe. Nach seinem Studium arbeitete Moretto als
Journalist. Seit siebzehn Jahren ist er gewerkschaftlich tätig,
zuerst bei der Gewerkschaft Bau und Industrie, seit 2000 bei der Unia.
---
Schweizer Bauer 23.2.11
Weltsozialforum: Bäuerinnen und Bauern aus aller Welt diskutierten
über Probleme und Zukunftsvisionen
20 Mio. Hektaren Ackerland ins Ausland verkauft
"Eine andere Welt ist möglich." Unter diesem Motto fand das 8.
Weltsozialforum im Februar in Dakar (Senegal) statt.
Maya Graf*Marianne Lerch*
Aus der Schweiz reiste eine 55-köpfige Delegation nach Dakar. Da
in Westafrika die Landwirtschafts- und Ernährungsfragen ein
brennendes Thema sind, besuchte die Schweizer Delegation
landwirtschaftliche Projekte auf dem Land, die Heks und Fastenopfer
zusammen mit senegalesischen Partnern umsetzen. Erfolgreiche
Entwicklungszusammenarbeit besteht heute eindeutig in der
Förderung einer ökologischen bäuerlichen Landwirtschaft
mit der Stärkung von demokratisch funktionierenden
Bauernvereinigungen durch Ausbildung und Begleitung.
Kampf gegen Landverlust
Es war eindrücklich, zu sehen, wie hier engagierte
Bauernkooperativen zusammen mit der lokalen Bevölkerung versuchen,
ihre bäuerliche Lebensmittelproduktion zu stärken. Die
Bauernfamilien kämpfen gegen den stetigen Landverlust. Sie
verlieren ihr Land durch Erosion, durch Wüstenbildung oder wegen
Grossgrundbesitzern, die ihnen gutes Ackerland aufkaufen. Finanzielle
Unterstützung von der Regierung erhalten die Bauern bei ihrem
Kampf gegen den Hunger nicht. Die Regierung investiert lieber in den
Export und erkauft sich damit billige Lebensmittelimporte und Devisen
für den eigenen Luxus. Die Ernährungslage in Senegal ist
prekär, weil die Investitionen in den ländlichen Raum wie in
vielen afrikanischen Staaten in den letzten Jahrzehnten ausblieben. 60
Prozent der Lebensmittel werden importiert, obwohl noch 60 Prozent der
Bevölkerung Bauern sind. "Laissez-nous travailler et nous
nourrirons l'Afrique. - Lasst uns arbeiten, und wir werden Afrika
ernähren", sagte denn auch der Präsident der
westafrikanischen Bauernorganisation Roppa, der Senegalese Mamadou
Cissokho, sehr eindrücklich an einem seiner Auftritte am
Weltsozialforum.
Ernährungssouveränität
Der Ruf nach Ernährungssouveränität war laut am
Sozialforum. Es brauche Selbstbestimmung der Staaten über ihre
Landwirtschaft und ihre Ernährung. Es brauche aber vor allem auch
Investitionen in Bildung und Forschung, in den technischen Fortschritt
und in die lokale Vermarktung für die Stärkung der
bäuerlichen Familienbetriebe, um den Hunger nachhaltig zu
bekämpfen. Dabei spielen die Frauen eine zentrale Rolle, sind sie
doch für die Lebensmittelversorgung verantwortlich. Mit solchen
Investitionen könnten auch für die vielen jungen Menschen auf
dem Land Perspektiven geschaffen werden, das verhindere Landflucht und
Migration.
Die afrikanischen Staaten wurden am Weltsozialforum von vielen
engagierten Bäuerinnen und Bauern immer wieder aufgefordert, die
Verantwortung für ihre eigene Bevölkerung und deren Zukunft
zu übernehmen und sich nicht durch einseitige Handelsbeziehungen
abhängig zu machen. Eine afrikanische Bäuerin drückte
das so aus: "Warum sollen wir unsere Produkte in die USA oder nach
Europa verkaufen, wenn wir sie nicht einmal in Dakar, in Senegal, in
Westafrika verkaufen können, aber unser Bevölkerung hier
immer ärmer wird und hungert?"
Steiniger Weg
Liberalisierung habe in der Vergangenheit immer nur geheissen:
Zollschutz für den Norden, offene Grenzen und Ausverkauf der
natürlichen Ressourcen für den Süden. Die Handelsregeln
müssten grundlegend geändert werden. Die regionale
Vermarktung sei dringend nötig. Doch der Weg ist steinig. Ein
aktuelles Thema des Forums war das "Land Grabbing" oder "Accaparement
des terres", der Aufkauf von fruchtbarem Ackerland durch Multis und
Nationalstaaten. In unzähligen Ateliers erzählten
bäuerliche Zeugen eindrücklich, wie sie ihr Land verloren.
Bereits ist in einigen afrikanischen Staaten mehr als die Hälfte
der fruchtbaren Böden ans Ausland verpachtet oder verkauft worden.
Die Food and Agriculture Organization (FAO) schätzte für
2009, dass in Afrika bereits über 20 Mio. Hektaren Ackerland auf
diese Weise in fremde Hände geraten sind und somit für die
Ernährung der einheimischen Bevölkerung fehlen. China ist
z.B. in Verhandlung mit der Regierung von Mali über einen Landkauf
von 100000 Hektaren Land samt Entsendung chinesischer Arbeiter nach
Afrika. Der Landhunger der bevölkerungsreichen und
investitionsstarken Staaten wie China, Indien oder Saudi-Arabien sowie
multinationaler Unternehmen verschärfen das Hungerproblem in
Afrika massiv.
Viele Kleinbauern besitzen weder im Grundbuch eingetragene Landtitel,
noch sind sie in Landrechtsfragen bewandert. Sie wissen sich gegen
Missbräuche seitens landhungriger reicher Mitbürger nicht zu
wehren. Viele Produzenten sind in einem Teufelskreis von Mangel an
Produktionsmitteln und chronischer Verschuldung gefangen, was sie
gegenüber Spekulanten noch verletzlicher macht. So verkaufen sie
unter Druck an einheimische Grossgrundbesitzer, die das Land weiter an
ausländische Unternehmen verkaufen oder verpachten. Oft mischt die
Regierung mit und verdient Geld mit solchen Spekulationen. Es entstehen
Grossplantagen mit Gemüse und Obst für den Export in den
Norden. Diese grossen Mengen und die billigen Preise zerstören den
lokalen Markt der Kleinbauern. Die Monokulturen führen zu
langfristigen Schäden am fruchtbaren Boden, verbrauchen mehr
Wasser und vergiften Böden und Menschen mit Pestiziden.
Kein WTO-Abschluss
Ein eindringlicher Appell der Teilnehmerinnen und Teilnehmer forderte
am Schluss der Konferenz, dem Landraub in Afrika und weltweit mit allen
demokratischen und gesellschaftlichen Mitteln entgegenzutreten.
Für die Schweiz bedeutet das konkret, keine
Freihandelsverträge abzuschliessen, in denen nicht mindestens
soziale und ökologische Kriterien berücksichtigt sind. Das
bedeutet: keinen WTO-Abschluss auf Kosten der bäuerlichen
Landwirtschaft weltweit. Und es bedeutet: weitere Investitionen in eine
Entwicklungszusammenarbeit, die vor Ort die Hilfe zur Selbsthilfe
stärkt.
*Maya Graf ist Biobäuerin sowie Nationalrätin der Grünen
aus Sissach BL. Marianne Lerch ist Bäuerin aus Hölstein BL
und Mitglied Uniterre Nordwestschweiz .
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Weltsozialforum
Mehr als 70000 Menschen aus 134 Nationen nahmen während sechs
Tagen an Diskussionsrunden, Vernetzungstreffen und Veranstaltungen zu
Themen wie Klimawandel, Landwirtschaft und Handel, Migration,
Steuergerechtigkeit, Frauenrechte und Wirtschafts- und Finanzkrise
teil. Doch das Weltsozialforum war nicht nur der Ort von insgesamt
über tausend Gesprächsrunden. Das Weltsozialforum ist immer
auch ein Ort des kulturellen Austausches. Es ist ein Treffen der
Zivilgesellschaft, von Menschen wie du und ich. In Dakar wurde nichts
von oben nach unten diktiert. Es nahmen Entwicklungs- und
Umweltorganisationen, Gewerkschaften, Bauernkooperativen,
Frauenorganisationen und kirchliche Hilfswerke am Forum teil wie auch
die Bevölkerung vor Ort.
mg
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WEF
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Sonntagszeitung 27.2.11
WEF: Saif al-Islam unerwünscht
Schwab suspendiert Mitgliedschaft von Ghadhafi-Sohn bei Young
Global Leaders
GENF Er ist der Vorzeigesohn des libyschen Diktators Muammar
al-Ghadhafi und galt bis vor den gewaltsamen Unruhen als dessen
Nachfolger: Saif al-Islam. Gerne gibt er sich als gebildeter Staatsmann
mit Doktortitel der renommiertem London School of Economics und
Mitglied der jungen Wirtschaftselite Young Global Leaders (YGL) aus.
Doch damit ist jetzt Schluss: Klaus Schwab, Gründer des World
Economic Forum Davos, zu dem das einflussreiche YGL-Netzwerk
gehört, geht auf Distanz zum Ghadhafi-Sohn. "Wir haben jetzt
entschieden, seine Mitgliedschaft mit sofortiger Wirkung zu
suspendieren", bestätigt WEF-Sprecher Yann Zopf gegenüber der
SonntagsZeitung. Bereits während der libysch-schweizerischen
Geiselaffäre, deren Auslöser die Verhaftung von Hannibal
Ghadhafi in Genf war, habe das WEF eine Suspendierung der
YGL-Mitgliedschaft von Saif al-Islam geprüft. "Wir entschieden
damals dagegen, weil wir nicht weiteren Grund für eine
Verschlechterung der prekären Beziehungen zwischen der Schweiz und
Libyen geben wollten." Doch nach den Entwicklungen der letzten Tage
habe das WEF seine Einschätzung geändert, sagt Zopf.
Saif al-Islam hatte in einer Fernsehansprache von Regimekritikern
ein Ende des Aufstandes verlangt und vor einem blutigen
Bürgerkrieg gewarnt. In der Nacht auf gestern stellte er auf
internationalen Druck hin eine Aussetzung der Angriffe gegen die
Aufständischen in Aussicht. Dennoch dauerten gestern die
Kämpfe an.
MARTIN SPIELER
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ANTI-ATOM
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Sonntag 27.2.11
Staat soll nicht für AKW-Betreiber zahlen müssen
Ständerätin Anita Fetz fürchtet, dass der Bund
einspringen muss, wenn die Betreiber die Stilllegung von AKW nicht
zahlen können. Der Bundesrat hat da weniger Angst
Sicher ist sicher. Und der Bund wollte bei der Entsorgung der
Atomkraftwerke im Lande auf Nummer sicher gehen. Denn schon bald ist
über den Bau neuer AKW zu entscheiden. Denn ab 2025 muss die erste
der bestehenden Anlagen abgestellt werden. Die AKW-Betreiber
müssen deshalb das Geld für die aufwändige Stilllegung
sowie für die Entsorgung der Abfälle in zwei vom Bund
kontrollierte Fonds einzahlen. So soll verhindert werden, dass sich die
Gesellschaften nach Ende der Laufzeit ihrer AKW auflösen und die
Stilllegung der Anlagen plötzlich auf Kosten der Allgemeinheit
geht.
So weit, so gut. Doch: Anita Fetz glaubt, im Kernenergiegesetz
eine Lücke zur Nachschusspflicht des Staates zu erkennen. Per
Motion fordert die Basler SP-Ständerätin deshalb vom
Bundesrat eine Gesetzesänderung, damit die öffentliche Hand
auch sicher kein Nachschussrisiko treffen kann. Denn mit der heutigen
Gesetzesregelung bestehe für den Staat ein Finanzrisiko, "das ein
erhebliches Ausmass annehmen kann".
Die Gesamtkosten für die Stilllegung der Anlagen und die
Entsorgung der Abfälle aus dem Betrieb der fünf Schweizer AKW
wurden 2006 auf insgesamt 15,5 Milliarden Franken berechnet: 2,2
Milliarden für die Stilllegung und 13,3 Milliarden für die
Entsorgung. Gemäss dem Bundesamt für Energie (BFE) sind durch
die beiden Fonds insgesamt 8,5 Milliarden Franken sicherzustellen. Ende
2009 betrug das angesammelte Kapital rund 3,97 Milliarden. Somit waren
ab 2010 über weitere Beiträge der Betreiber und
Kapitalerträge noch 4,53 Milliarden Franken sicherzustellen.
Der Bundesrat seinerseits erkennt dabei kein Problem. Über
die beiden Fonds würden die Kosten für Stilllegung und
Entsorgung der AKW gesichert, betont er nochmals in seiner soeben
veröffentlichten Antwort auf den Vorstoss von Anita Fetz. Sollten
die Beiträge dennoch nicht reichen, decke der Betreiber den Rest
aus eigenen Mitteln. Reichen diese auch nicht, würden die
verbleibenden Kosten über die Fonds gedeckt. In diesem Fall muss
der betroffene Betreiber dem Fonds diesen Betrag zurückzahlen -
mit Zinsen. Kann er das nicht, müssen die übrigen Betreiber
für den Differenzbetrag aufkommen. Erst wenn auch das "nicht
wirtschaftlich tragbar" ist, beschliesse das Parlament, ob und in
welchem Ausmass sich der Bund an den nicht gedeckten Kosten beteiligt.
Diese Finanzierung sei im Parlament ausgiebig diskutiert worden,
bevor die Regelung ins KEG aufgenommen wurde, betont der Bundesrat.
Gleichzeitig aber muss er einräumen, dass ein finanzielles
Restrisiko der öffentlichen Hand nicht komplett auszuschliessen
sei. Die Betreiber der AKW würden aber weitergehend in die Pflicht
genommen, als dies in anderen Bereichen der Fall sei. Komme hinzu, dass
ein finanzielles Engagement des Staates beim Versagen aller
Absicherungen nicht automatisch erfolgen würde. Schliesslich habe
die Bundesversammlung darüber zu beschliessen, ob und wie stark
sich der Bund beteiligen würde. Daher erachtet der Bundesrat die
Motion von Anita Fetz auch als unnötig.
Auch die AKW-Betreiber haben sich in der Vergangenheit stets
zuversichtlich gezeigt, dass sie die nötigen Gelder in der
erforderlichen Zeit zusammenhaben werden. Keine Überraschung.
Angesichts der geplanten neuen Atomkraftwerke wollen die Betreiber
schliesslich jede negative Presse vermeiden. Kürzlich wies die
"Handelszeitung" darauf hin: "Sollte in der Öffentlichkeit auch
nur der leiseste Verdacht entstehen, es könnte das Geld fehlen, um
abgeschaltete AKW zu demontieren und den Abfall ins Endlager zu
verfrachten, kämen die Betreiber von der Politik unter Druck, Geld
nachzuschiessen."
Doch auch wenn die Betroffenen bisher stets versichert haben,
dass die Fonds für die Stilllegung der AKW sowie die Entsorgung
radioaktiver Abfälle reichen werden, äusserten sie sich im
"Sonntag" gegen den Vorstoss von Anita Fetz. Eine Änderung des
Kernenergiegesetzes drängt sich beispielsweise aus Sicht des
Stromkonzerns Axpo nicht auf. "Der beanstandete Absatz verpflichtet die
öffentliche Hand in keiner Weise", so Mediensprecherin Anahid
Rickmann.
Das beurteilt Anita Fetz etwas anders. Sie will nun verhindern,
dass zuletzt eben doch noch der Staat zur Kasse gebeten wird, sollte
der Fonds nicht ausreichen. Denn gemäss Kernenergiegesetz muss
heute der Bund nach Massgabe des Parlaments zahlen, falls die
Nachschusspflicht für die AKW-Betreiber wirtschaftlich nicht
tragbar wäre. Fetz: "Wie bei der Too-big-to-fail-Problematik hat
der Bundesrat eine Lösung vorzuschlagen, damit der Staat in keinem
Fall ein solches Risiko treffen kann." Denkbar seien etwa
Versicherungslösungen zulasten der Beitragspflichtigen. "Die
Steuerzahler sollen nicht als letzte Instanz für dieses Risiko
einstehen müssen."
Daniel Ballmer
---
Aargauer Zeitung 26.2.11
Bau will Stück vom Milliarden-Kuchen
Unteres Aaretal. Axpo und Paul-Scherrer-Institut (PSI)
präsentieren ihre vielen Grossprojekte
Hans Lüthi
"Unsere Konstante ist die Veränderung", sagt
PSI-Vizedirektor Martin Jermann bei der Präsentation neuer
Grossprojekte. Wenn das Forschungsinstitut an der Weltspitze mithalten
wolle, müsse es alle zehn Jahre ein neues Grossprojekt lancieren.
Dieses Jahr wird die Synchrotron Lichtquelle Schweiz (SLS) im
Ufo-Rundbau schon zehnjährig. Der neue Beschleuniger Swissfel
bringe einen Quantensprung, der Standort im Würenlinger Unterwald
sei wegen der nötigen Ruhe und der Nähe zum PSI zwingend. Das
278 Millionen Franken teure Projekt ist weit fortgeschritten und soll
von 2013 bis 2016 gebaut werden. Auf der Villiger Seite ist die
High-Tech-Zone mit 3,8 Hektaren im Aufbau, für den Vollausbau
rechnen die Planer mit 80 Millionen Franken Investitionen.
Beznau-Insel als Grossbaustelle
Starke Veränderungen prägen auch die Atominsel Beznau:
Der Bau beider Kraftwerke bis 1969 und 1971 hat 800 Millionen Franken
gekostet, "seither haben wir 1600 Millionen Franken in Beznau
investiert". Das erklärt Stephan W. Döhler, Leiter der Axpo
Kernenergie, und stellt weitere Grossprojekte vor: Vier riesige
Notstromdiesel in zwei grossen Neubauten und die neuen Deckel der
Reaktordruckbehälter werden bis 2015 weitere 250 Millionen Franken
verschlingen. Danach wird auch das über 100 Jahre alte
Wasserkraftwerk abgerissen und völlig neu gebaut. Sechs Milliarden
für Beznau3
"In meiner Schulzeit zählte die Erde 3,6 Milliarden
Menschen, jetzt sind es 6,8 Milliarden. Der CO-Ausstoss ist so hoch wie
nie und steigt weiter", betont Döhler. Darum wolle die Axpo auch
künftig "sicher, zuverlässig und wirtschaftlich CO-freien
Strom produzieren" und habe zusammen mit der BKW die Gesuche um
Rahmenbewilligung eingereicht und zwei schlüsselfertige
Ersatzkernkraftwerke - so die offizielle Bezeichnung - bereits
ausgeschrieben. Gerechnet wird mit Kosten von mindestens 6 Milliarden
Franken für Beznau3, die Bauzeit ist für 2017 bis 2023
vorgesehen. Beteiligt an den Partnerwerken sind die Axpo mit 59 Prozent
(inklusiv 10,4% BKW), die Alpiq mit 25,5% und BKW mit 15,5%. Die
Ausschreibungen müssen nach GATT WTO erfolgen, gültig ist das
Aargauer Submissionsdekret.
8,2 Prozent der Arbeitsplätze
Beim Info-Anlass im PSI, organisiert vom Wirtschaftsforum
Zurzibiet, stellt Präsident Markus Birchmeier klar, es gehe nicht
um politische, sondern um rein wirtschaftliche Fragen. Im Auftrag der
KKW-Planerin Resun AG hat die Ecoplan in einer Studie die
wirtschaftlichen Folgen eines neuen Atomkraftwerks abgeklärt.
Fokussiert wurde dabei auf die engere Region, konkret auf
Böttstein, Döttingen, Villigen, Würenlingen, Klingnau
und Full-Reuenthal. In diesem Gebiet wohnen 40 Prozent der 535
Beznau-Mitarbeitenden. Mit der "indirekten Wertschöpfung kommen
wir auf 591 Vollzeitstellen oder 8,2 Prozent der Arbeitsplätze",
erklärt Corinne Mühlebach von der Fachhochschule
Nordwestschweiz.
Zusätzlich 2400 Beschäftigte
Beim Szenario Stilllegung ohne Ersatz gingen die
Arbeitsplätze nach den 10 bis 15 Jahren für den Rückbau
sukzessive auf null zurück - ohne neue Produktion durch ein
nichtnukleares Kraftwerk. Einen enormen Schub brächte vor allem
die Bauzeit mit 1 Milliarde Franken Investition pro Jahr. "Im Mittel
wären sechs Jahre lang 2000 bis 2400 Personen auf der Baustelle,
in Spitzenzeiten bis zu 3000", rechnet Mühlebach. Das ergäbe
30 Prozent mehr Stellen, das neue AKW selber kommt mit nur 400 Stellen
aus, trotz doppelter Leistung im Vergleich zu heute. Für die
regionale Baubranche rechnet die Studie mit plus 30 Millionen im Jahr,
für das Gastgewerbe mit plus 15 Millionen Franken. Bei Verzicht
auf Beznau3 - nach einem Nein des Volks - wird ein düsteres Bild
gemalt: Abnahme von Wirtschaft und Arbeitsplätzen, höhere
Steuern. Ausgeklammert: Fragen wie Minderwert der Häuser, Steuern
und Abgeltungen, ebenso Alternativen zum nuklearen Szenario.
Baubranche hofft auf Aufträge
Vorerst interessiert sich die Region, primär die Baubranche,
wie sie vom riesigen Investitionskuchen ein paar Stücke
abschneiden kann. Chancen bestehen durchaus, aber der Weg ist steinig
und erfordert enorme Vorleistungen. Michael Zehnder von der
Döttinger Baufirma Birchmeier zeigte, was es brauchte, um beim
Totalunternehmer Westinghouse die Aufträge für die
Gebäude der Notstromdiesel zu bekommen. "Die Chancen sind
vorhanden, aktive Firmen werden gesucht", machte er seiner Branche
Hoffnung.
--
"An AKW führt kein Weg vorbei"
Die Schweiz braucht neue Atomkraftwerke, sagt Josef A. Dürr.
Denn mit der Stromproduktion aus erneuerbaren Energien lassen sich die
Atomkraftwerke Beznau und Mühleberg nicht ersetzen, so der
abtretende Direktor des Verbands der Schweizer
Elektrizitätsunternehmen (SEV) im Interview mit der az.
Erneuerbare Energien spielen aber daneben eine wichtige Rolle: "Wichtig
sind Energieeffizienz, erneuerbare Energien, eine kluge Aussenpolitik
und Grosskraftwerke - jede dieser Säulen ist bedeutsam." Es sei
aber zu riskant, auf Importe angewiesen zu sein. "Man ist den
Schwankungen an den Strombörsen ausgeliefert." Seite 9
--
"Die Schweiz ist keine Strominsel"
Stromversorgung Josef A. Dürr über neue AKW und die
Privatisierung der Stromwirtschaft
Sven Millischer
Warum braucht die Schweiz neue AKW?
Josef A. Dürr: Die Stromversorgung muss breit
abgestützt sein. Wichtig sind Energieeffizienz, erneuerbare
Energien, eine kluge Aussenpolitik und Grosskraftwerke. Jede dieser
Säulen ist bedeutsam. Bei den Grosskraftwerken gibt es nur drei
Technologien, die infrage kommen: Wasserkraft, Gas oder Kernenergie.
Was bevorzugen Sie?
Hier geht es nicht um Präferenzen. Gaskraftwerke machen die
Bemühungen der Schweiz um eine CO2Reduktion zunichte. Auch
rentieren Gaskraftwerke aufgrund des geltenden CO2-Kompensationsregimes
nicht. Und geeignete Standorte für neue grosse Wasserkraftwerke
gibt es kaum.
Also bleibt aus dem Trio nur noch die Kernenergie übrig.
Ich sehe nicht ein, weshalb man diese saubere Technologie in
Bausch und Bogen verdammt. Zumal die Bedarfsrechnung bei den
erneuerbaren Energien nie und nimmer aufgeht.
Inwiefern?
Zieht man die Stromproduktion aus Kehrrichtverbrennung ab, liegt
der Anteil von neuen erneuerbaren Energien am Produktionsmix heute bei
0,4 Prozent. Allein um die Kernkraftwerke Beznau und Mühleberg zu
ersetzen, die als erste vom Netz gehen, benötigt die Schweiz aber
15 Prozent. Damit müsste man den Anteil der neuen erneuerbaren
Energien um das 40-Fache steigern. Das ist schlicht nicht umsetzbar.
Das VSE-Mitglied Energie Wasser Bern zeigt aber auf, dass sich
die Stromlücke bis 2035 sehr wohl durch Energieeffizienz und
erneuerbare Energien schliessen liesse.
Jedes unserer Mitglieder hat das Recht auf freie
Meinungsäusserung. Wir sind doch keine kommunistische Partei!
(lacht) Aber Stadtwerke wie die EWB haben eben auch einen politischen
Auftrag zu erfüllen.
Weil die Berner Stadtregierung neue AKW ablehnt, müssen dies
auch die Stadtwerke tun.
Denen bleibt nichts anderes übrig. Aber ich möchte hier
betonen: Der VSE unterstützt erneuerbare Energien. Wollen wir
jedoch Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit und
Umweltverträglichkeit auch künftig gewährleisten,
führt kein Weg an neuen Kernkraftwerken vorbei.
Die Gesamtproduktion der Schweizer Stromwirtschaft im Ausland
deckt den heimischen Verbrauch bereits bei weitem. Weshalb braucht es
neue inländische Atomkraftwerke?
Um die Bevölkerung eines Landes mit Strom zu versorgen,
müssen Sie vor Ort produzieren. Auf Importe angewiesen zu sein,
ist viel zu riskant. Man ist den Schwankungen an den Strombörsen
ausgeliefert. Ausserdem lässt sich - aufgrund der heutigen
Leitungsstruktur - der im Ausland produzierte Strom physikalisch gar
nicht in die Schweiz führen.
Warum investieren die hiesigen Stromkonzerne also im Ausland?
Das ist keine Frage der Versorgungssicherheit, sondern der
Wettbewerbsfähigkeit. Um am europäischen Markt teilnehmen zu
können, sind EGL oder Alpiq heute international aufgestellte
Konzerne. Das ist für die Volkswirtschaft doch fantastisch.
Die Stromkonzerne gehören mehrheitlich der öffentlichen
Hand. Sind solche Auslandabenteuer nicht ordnungspolitisch
fragwürdig?
Das kommt auf die Eigentümerstrategie an. Der Staat kann
entweder den Strompreis möglichst tief halten oder eine
möglichst attraktive Kapitalverzinsung anstreben. Beides zusammen
geht nicht.
Ein Interessenkonflikt?
Eindeutig. Man kann sich die Frage stellen, ob der Staat der
richtige Eigentümer ist oder ob das Volksvermögen in anderen
Bereichen nicht besser angelegt wäre.
Gehören die Stromer also privatisiert?
Länder wie Grossbritannien zeigen, dass man auch in der
Schweiz die Stromversorgung auf privater Basis betreiben könnte.
Das würde weder dem Service schaden noch die Preise treiben.
Zurück zur Versorgungssicherheit. Warum hat ihre Branche in
den letzten Jahren massiv in Spitzenenergie für ausländische
Abnehmer investiert, statt die im Inland benötigte Bandenergie
bereitzustellen?
Seit dem KKW Leibstadt vor 25 Jahren wurde nicht mehr in
Grundlast-Kraftwerk investiert. Das stimmt. Aber nicht, weil die
Branche nicht wollte, sondern weil Kernkraftwerke nicht mehr als
politisch opportun galten.
Also hat die Stromwirtschaft lieber lukrative Spitzenenergie
für den Export bereitgestellt.
Die Schweiz ist keine Strominsel. Jeder hiesige Produzent, der in
zehn Jahren noch existieren will, muss sich auf dem europäischen
Strommarkt positionieren. Alles andere wäre eine
Vogel-Strauss-Politik.
Was sind die Trümpfe der Produzenten?
Die Pumpspeicherkraftwerke in den Alpen. Im europäischen
Kontext dienen diese künftig als Batterie für
intermittierende Energiequellen wie beispielsweise Windparks in der
Nordsee oder Solaranlagen in Spanien.
Alleine der neue Axpo-Pumpspeicher Linth-Limmern hat den
Strombedarf eines AKW der Grösse Gösgen. Wird hier nicht
zusätzlicher Bedarf geschaffen, statt ihn zu decken?
Wie gesagt. Wir brauchen Pumpspeicherwerke, um das gewaltige
Wachstum bei den erneuerbaren Energien in Europa überhaupt nutzbar
zu machen, denn diese sind meist nicht dann verfügbar, wenn wir
sie brauchen. Da hat die Schweiz gute Karten.
Mit Norwegen hat die Schweiz aber auch einen ernst zu nehmenden
Konkurrenten für Spitzenenergie.
Norwegen hat einen kleinen Vorteil gegenüber der Schweiz:
Fische protestieren nicht. Deshalb kann man einfacher Stromkabel in der
Nordsee verlegen, als Hochspannungsleitungen in die Schweiz zu ziehen.
Sie sprechen den Netzausbau an. Ein neuer, grosser Reaktor gilt
bei einem Ausfall als Klumpenrisiko. Gehören die geplanten AKW
redimensioniert?
Nein. Es liegt auf der Hand, dass ein grösserer Reaktorblock
zwangsläufig wirtschaftlicher ist. Vielmehr müssen die Regeln
für Systemdienstleistungen geändert werden.
Was heisst das konkret?
Es kann doch nicht sein, dass ein Land wie Frankreich, das
zehnmal mehr Leistung installiert hat als die Schweiz, gleich viel
Reserveleistung halten muss. Eine Wettbewerbsverzerrung, die uns grosse
wirtschaftliche Nachteile bringt.
Wie lassen sich diese ausräumen?
Die so genannte Regelzone muss über die Landesgrenzen hinaus
erweitert werden. Aber dazu braucht es ein Stromhandelsabkommen mit der
EU.
Weshalb lehnt denn der VSE es ab, das Stromhandelsabkommen mit
den Bilateralen III zu verknüpfen?
Dies würde den Abschluss um acht bis zehn Jahre
verzögern, was für die Schweiz ernsthafte Nachteile
hätte. Denn in den kommenden Jahren werden in der EU im Rahmen der
Marktöffnung die Weichen gestellt für ein gemeinsames
europäisches Stromübertragungsnetz. Da müssen wir
mitreden können. Ansonsten droht der Schweiz, ihre Rolle als
internationale Stromdrehscheibe zu verlieren.
Herr Dürr, Sie treten nach fünf Jahren als VSE-Direktor
zurück. In welchem Verwaltungsrat werden Sie bald Einsitz nehmen?
Ich werde kaum einen Sitz in der Stromwirtschaft übernehmen,
denn dort sind die Verwaltungsräte meist politisch besetzt.
Konkret habe ich noch keine Angebote. Zunächst einmal geniesse ich
die zusätzliche freie Zeit.
-
Zur Person
Josef A. Dürr (64) war fünf Jahre lang Direktor des
Verbands Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen. Ende Februar
hört er auf. Dürr ist diplomierter Elektroingenieur. Er
blickt auf eine über 30-jährige Berufslaufbahn im In- und
Ausland zurück. Dürr leitete verschiedene
Unternehmensbereiche im ABB-Konzern und war zuvor Mitglied der
Geschäftsleitung von ABB Schweiz. Dürr war bereits
Präsident von Electrosuisse. (AZ)
--
Das perfekte AKW und seine Probleme
Atom-Energie Die Energiekonzerne wollen in der Schweiz AKW der
neusten Generation bauen. Sie sollen sicherer und günstiger sein.
Doch beim Vorzeigebau in Finnland reissen die Pannen nicht ab.
Der Favorit für den Beznau-Ersatz? Der EPR
Rund 80Prozent der Anlagen weltweit sind Leichtwasserreaktoren
(LWR). Sie verwenden Wasser (H2O) als Moderator und Kühlmittel. Es
gibt zwei Typen (s. Grafik unten): den Druckwasserreaktor (PWR) und den
Siedewasserreaktor (BWR). Beim PWR wird das Wasser im Reaktorkern auf
330Grad erhitzt und steht unter Druck. Dampf wird in einem zweiten
Kreislauf erzeugt. Beim BWR siedet das Wasser in der Spaltzone.
BeznauI/II und Gösgen sind PWR, Mühleberg und Leibstadt BWR.
Da die Schweiz kaum auf eine unerprobte Technologie setzen wird,
besetzt der EPR (European Pressurised Water Reactor) wohl die
Favoritenrolle. Der EPR der Firma Areva ist eine Weiterentwicklung der
bereits ziemlich standardisierten Reaktoren N4 (Frankreich) und des
deutschen Konvoityps. Im Moment sind zwei Anlagen in Europa
(Olkiluoto/Fi und Flamanville/F) und zwei in China im Bau. Der hohe
Standardisierungsgrad eröffnet Preisvorteile.
Die Sicherheit des EPR wurde verbessert. Er verfügt
über ein "Core-catcher"-System. Selbst wenn der Reaktorkern
durchbrennt, sollte keine Radioaktivität in die Umgebung gelangen.
Eine Keramikwanne verhindert, dass die Kernschmelze mit dem Beton
interagiert, und kühlt die Masse gleichzeitig ab. Dadurch
verhindert man Gasbildung und hohen Druck im Containment. Der EPR ist
mit einer Leistung von rund 1600MW eine grosse Anlage. Aber: "Small is
beautiful" ist aus, sagt Horst-Michael Prasser, Professor für
Kernenergiesicherheit an der ETH. "Grössenvorteile
überwiegen." (chb)
--
Das finnische Vorbild
Benno Tuchschmid
Olkiluoto Der Bau des Atomreaktors der neusten Generation ist ein
Desaster. Die Kosten sind doppelt so hoch wie budgetiert und der Bau
hat bereits vier Jahre Verspätung. Und die Probleme in Finnland
sind kein Einzelfall.
"Ein abschreckendes Vorbild", nennt der deutsche Atomexperte und
Träger des alternativen Nobelpreises Mycle Schneider den Bau des
finnischen Reaktors in Olkiluoto. Geplant war er eigentlich als
leuchtendes Vorbild. Der Atomkonzern Areva wollte in Olkiluoto die
Renaissance der Atom-Energie einläuten. Mit einem AKW der
modernsten Generation, Typ EPR (European Pressurised Water Reactor).
2005 begann der Bau des Meilers an der finnischen Westküste -
seither läuft alles schief, was schieflaufen kann. 2009 hätte
Olkiluoto ans Netz gehen sollen, heute rechnet man mit der
Inbetriebnahme im Jahre 2013.
Baufehler reihte sich an Baufehler: fehlerhafte
Schweissnähte, poröser Beton, falsch gebohrte Löcher.
Ein Grund für die vielen Fehler sind massive
Kommunikationsprobleme auf der Baustelle. 4300 Bauarbeiter aus
über 30 Nationen arbeiten dort. Mycle Schneider spricht von
"abenteuerlichen Zuständen". Über 700 Subunternehmen sind
involviert. "Das führt dazu, dass am Schluss niemand die
Verantwortung trägt", sagt Schneider. Doch zu den Baumängeln
kommen auch noch grundsätzliche Probleme: "Es fehlt schlicht an
Erfahrung, in den letzten 15 Jahren wurden keine Atomkraftwerke mehr
gebaut."
Baubeginn ohne Baupläne
In Olkiluoto explodieren die Kosten: Auf drei Milliarden Euro war
der Bau budgetiert, mittlerweile sind daraus mindestens sechs
Milliarden geworden. Auch weil Areva bei Baubeginn die Planung noch gar
nicht abgeschlossen hatte: "Viele Baupläne entstanden erst nach
dem Baubeginn", sagt Schneider. Und noch bis heute haben die finnischen
Aufsichtsbehörden die Leittechnik der Anlage nicht abgenommen.
"Das muss man sich einmal vorstellen", sagt Schneider.
Auch der zweite AKW-Neubau in Europa, im französischen
Flamanville, ist ein Debakel. Das Projekt ist zwei Jahre im Verzug, das
Budget bereits um 50 Prozent überschritten. Mycle Schneider kommt
zum Schluss: "Es gibt kein einziges Beispiel für einen profitablen
Neubau eines Atomkraftwerkes in einer freien Marktwirtschaft."
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Oltner Tagblatt 26.2.11
Meine Meinung
Kernkraft im Niederamt als Standortvorteil
Roland Fürst*
Die von den Niederämter Gemeinden in Auftrag gegebene
sozioökonomische Studie und die Anpassung des Richtplans haben in
letzter Zeit einige Wellen geworfen. Schauen wir uns doch die Fakten
vorurteilsfrei etwas genauer an:
Wussten Sie, dass das KKG jährlich 35 Mio. Franken an
Steuern, Abgeltungen und Abgaben bezahlt? Davon gehen 5,5 Mio. an die
Gemeinden im Niederamt, 8,4 Mio. an den Kanton und der Rest an den
Bund. Das neue Kernkraftwerk Niederamt (KKN) würde je nach
Grösse der Anlage noch einiges mehr bezahlen.
Wussten Sie, dass das KKG direkt und bei Niederämter
Lieferanten insgesamt 500 Vollzeitstellen schafft? Das KKN würde
also während sechzig Jahren 500 Mitarbeitenden direkt plus rund
120 Menschen bei Zulieferbetrieben Arbeit verschaffen. Die
Wertschöpfung, die direkt und indirekt in der Region anfällt,
beträgt jährlich 100 Mio. Franken.
Beeindruckende Zahlen, die in der Diskussion rund um die
Kernenergie im Niederamt nicht vergessen werden sollten.
Interessant ist ferner, dass sich 46% der Unternehmen für
das neue Kernkraftwerk aussprechen. Weniger als ein Drittel steht dem
KKN negativ gegenüber. Dass bei der Bevölkerung 38% eher
für und 45% eher gegen das KKN votiert haben, steht mit Sicherheit
auch im Zusammenhang mit dem gleichzeitig vorgeschlagenen Standort
für ein Tiefenlager. Die Zahlen liegen nahe beieinander und eine
Abstimmung ist noch längst nicht entschieden.
Trotz des Vorhandenseins des KKGs nimmt die Niederämter
Bevölkerung ihre Region positiv wahr und die Lebensqualität
wird in den meisten Gemeinden als hoch bezeichnet. Auch die Befragten
der Nachbarregionen teilen diese Beurteilung und sprechen von einer
hohen Lebensqualität des Niederamts. Es scheint also ein grosses
Potenzial an Neuzuzügern zu bestehen. Von den Personen, die sich
nicht vorstellen können, in die Region Niederamt zu ziehen, geben
nur 4,5% das KKG als Grund an.
Dem Projekt wird häufig zur Last gelegt, dass es zu einem
Parallelbetrieb zweier Kernkraftwerke am selben Standort führe.
Dies wäre aber höchstens während einer kurzen Zeit
möglich. Denn das KKG läuft plangemäss bis 2039 und das
KKN würde voraussichtlich als Nr. 2 nach dem ersten KKW gebaut und
wäre somit erst Mitte der Dreissigerjahre fertig gebaut.
Die Schliessung des KKGs hat weitreichende volkswirtschaftliche
Folgen für das Niederamt und den Kanton und man muss sich
ernsthaft fragen, wie die Verluste an finanziellen Mitteln und
Arbeitsplätzen aufgefangen werden könnten. Das neue
Kernkraftwerk Niederamt würde diese Lücke nahtlos schliessen.
Die Gemeinden und der Kanton könnten weiterhin von den
direkten und indirekten Steuern und Abgaben profitieren, die
Unternehmen erhielten interessante Aufträge, über 600
Menschen eine sichere Arbeitsstelle.
Ein positives Signal aus der Region für das KKN ist deshalb
vonnöten, denn das Projekt steht mit Beznau und Mühleberg in
Konkurrenz. Nur zwei Projekte werden dem Bundesrat vorgeschlagen. Dies
sollte in der Diskussion um das KKN nicht vergessen werden.
*Roland Fürst ist Direktor der Solothurner Handelskammer.
Als CVP-Vertreter im Kantonsrat ist er Mitglied der Finanz- und der
Redaktionskommission.
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Bund 25.2.11
Stellungnahme zu Mühleberg II an Bund weitergeleitet
Der Regierungsrat hat die Stellungnahme des Kantons zu einem
Ersatz-AKW in Mühleberg an die Bundesbehörden weitergeleitet.
Dies teilt die Kantonsverwaltung mit. Die Stimmbevölkerung hat die
Stellungnahme des Regierungsrats in der Volksabstimmung vom 13. Februar
gutgeheissen. Die Bundesversammlung wird über die Erteilung der
Rahmenbewilligung zum Bau neuer AKW entscheiden. Gegen ihren Beschluss
kann das Referendum ergriffen werden.(pd)
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Basler Zeitung 25.2.11
Kernkraftturbine durch Defekt abgeschaltet
Leibstadt (AG). Gestern Morgen gegen sechs Uhr ist im
Kernkraftwerk Leibstadt eine automatische Abschaltung der Turbine
ausgelöst worden. Darauf wurde die Reaktorleistung auf 25 Prozent
reduziert. Ursache war eine defekte Elektronikkarte des
Turbinensicherheitssystems. Am Abend teilten die AKW-Betreiber mit, die
Karte sei ausgetauscht worden. Nach einer Überprüfung habe
die Anlage wieder hochgefahren werden können. Das
Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat sei informiert
worden. SDA
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presseportal.ch 24.2.11
BKW-Gruppe / Vorausinformation zum Jahresergebnis 2010 / Gutes
operatives Ergebnis
Bern (ots) -
Die BKW-Gruppe behauptete sich im schwierigen Markt- und
Finanzumfeld des vergangenen Geschäftsjahres und erwirtschaftete
eine konsolidierte Gesamtleistung von 3'187 Mio. CHF, 11.3% weniger als
im Vorjahr. Der Stromabsatz 2010 ging um 2.3% auf 26'684
Gigawattstunden (GWh) zurück. Die in Anbetracht des schwachen
Euros sowie gesunkener Marktpreise trotzdem gute Entwicklung des
nationalen und internationalen Energiegeschäftes führte zu
einem operativen Betriebsergebnis von 481 Mio. CHF, 4.2% weniger als im
Vorjahr. Die Entwicklung auf den internationalen Währungs- und
Finanzmärkten wirkte sich negativ auf das Finanzergebnis und
entsprechend auch auf den Reingewinn aus. Dieser darf mit 228 Mio. CHF
vor diesem schwierigen Hintergrund dennoch als gut bezeichnet werden.
Die BKW-Gruppe erwirtschaftete eine konsolidierte Gesamtleistung
von 3'187 Mio. CHF. Gegenüber dem Vorjahr entspricht dies einer
Abnahme von 406 Mio. CHF bzw. 11.3%. Ohne die in Zukunft nicht mehr
fortgeführten Aktivitäten im Vertrieb Deutschland betrug die
Gesamtleistung 2'788 Mio. CHF.
Zu dieser Geschäftsentwicklung führten insbesondere die
tieferen Strompreise und der schwache Euro. Das Vertriebsgeschäft
in der Schweiz und der Vertrieb International entwickelten sich
positiv. Der Vertrieb Schweiz erhöhte den Stromabsatz
gegenüber dem letzten Jahr um 1.0% auf 8'153 GWh (8'075 GWh). Die
Zunahme von 78 GWh ist namentlich auf den höheren Absatz bei
bestehenden Kunden und Partnern im Versorgungsgebiet
zurückzuführen. Der Vertrieb International konnte im
Geschäftsjahr 2010 konjunkturbedingt namentlich in Deutschland
eine um 4.3% grössere Menge Strom absetzen. Der Stromabsatz
erhöhte sich um 247 GWh auf 6'015 GWh (5'768 GWh). Die
Handelsabgabe reduzierte sich aufgrund der schwierigen internationalen
Marktentwicklung auf 11'839 GWh (12'638 GWh).
Die BKW-Gruppe produzierte 2010 insgesamt 10'552 GWh Strom, 26
GWh weniger als im Vorjahr (10'578 GWh). Die etwas tiefere Produktion
der Wasserkraftwerke wurde kompensiert durch die gute
Verfügbarkeit und Rekordproduktion des Kernkraftwerks
Mühleberg, die höhere Erzeugung bei den neuen erneuerbaren
Energien und die erhöhte Produktion des Gaskombikraftwerkes in
Livorno Ferraris (Italien).
Die operative Ertragskraft, das Betriebsergebnis vor
Abschreibungen und Wertminderungen (EBITDA), reduzierte sich
gegenüber dem Vorjahr um 4.2% und betrug 481 Mio. CHF. Ohne die in
Zukunft nicht mehr fortgeführten Aktivitäten im Vertrieb
Deutschland betrug der EBITDA 474 Mio. CHF.
Diese Entwicklung ist insbesondere auf das schwierige Preis- und
Währungsumfeld sowie auf die rückläufigen Margen
zurückzuführen. Die im Vergleich zum Vorjahr nicht mehr so
erfreuliche Situation auf den Aktien- und Finanzmärkten und der
tiefe Eurokurs führten zu einem wesentlich tieferen
Finanzergebnis. Der Reingewinn ging um 70 Mio. CHF bzw. 23.5% auf 228
Mio. CHF zurück.
Wie im Vorjahr wird der Generalversammlung vom 13. Mai 2011 eine
Dividende von 2.50 CHF pro Aktie beantragt.
Der Jahres- und Finanzbericht 2010 der BKW-Gruppe werden am 17.
März 2011 im Rahmen der Jahresmedienkonferenz präsentiert.
Nächste Termine -Jahresmedienkonferenz für das
Geschäftsjahr 2010: 17. März 2011 -Generalversammlung: 13.
Mai 2011 -Präsentation Halbjahresergebnis: 15. September 2011
Kontakt: Antonio Sommavilla 031 330 51 07 info@bkw-fmb.ch
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Basler Zeitung 24.2.11
Grüne kämpfen für sauberen Strom
Der Kanton Baselland soll langfristig ohne Atomkraft versorgt
werden
Stefan Gyr
Mitten im Wahlkampf starten die Grünen eine Volksinitiative.
Das Ziel: Bis zum Jahr 2030 sollen mindestens 80 Prozent der im Kanton
abgesetzten Elektrizität aus erneuerbaren Energien erzeugt werden.
Die Baselbieter Grünen wiesen gestern vor den Medien immer
wieder auf ihre Wurzeln hin. Die Partei erwuchs aus der
Anti-AKW-Bewegung, die auch im Kanton Baselland eine starke Kraft war,
wie Parteipräsident und Landrat Philipp Schoch erklärte. In
der Kantonsverfassung wurden die Behörden denn auch verpflichtet,
sich gegen den Bau von Atomkraftwerken auf dem Kantonsgebiet oder in
der Nachbarschaft einzusetzen. Die Energieversorgung des Baselbiets
stützt sich heute aber zu 82,8 Prozent auf nicht erneuerbare
Energieträger und zu einem erheblichen Anteil auf Strom aus
Atomkraftwerken.
Die Grünen wollen jetzt dieser Verfassungsbestimmung
"endlich Nachachtung verschaffen", wie sich der Liestaler Stadtrat
Lukas Ott ausdrückte. Gut einen Monat vor den Landrats- und
Regierungswahlen im Baselbiet haben sie die Volksinitiative "für
sicheren und sauberen Strom - 100 Prozent Zukunft ohne Atomkraft"
gestartet. Danach sollen im Baselbieter Energiegesetz neue
"Grundsätze der Energieerzeugung" festgeschrieben werden: Im
Kanton tätige oder tätig werdende Energieversorger sollen "im
Bereich der Elektrizität anstreben, den Absatz vollständig
aus erneuerbaren Energien zu decken". Und bis zum Jahr 2030 sollen die
Energieversorger "insbesondere durch Beteiligungen oder langfristige
Lieferverträge sicherstellen, dass mindestens 80 Prozent der an
die Endkunden veräusserten Elektrizität aus erneuerbaren
Energien erzeugt werden".
Ehrgeizig. "Man kann nicht während sechs Tagen einen grossen
Anteil Atomstrom aus der Steckdose beziehen, um am siebten Tag zu
beten, es möge kein Atomkraftwerk in der Umgebung gebaut werden",
erklärte Ott, der für den Initiativtext verantwortlich
zeichnet. Es handle sich um ein ehrgeiziges, aber erreichbares Ziel.
Immerhin wolle die Elektra Baselland (EBL) in Liestal, einer der beiden
grossen Energieanbieter im Kanton, den Anteil der erneuerbaren Energien
bis 2020 auf 30 Prozent steigern. Das Mengenziel sei durch klar
ausgewiesene Potenziale abgesichert. Notwendig sei es aber, die
entsprechenden gesetzlichen Rahmenbedingungen zu schaffen.
Arbeitsplätze. Erneuerbare Energien seien sicher und
unendlich verfügbar, sagte Nationalrätin Maya Graf. Und die
Umstellung auf erneuerbare Energien rechne sich. Eine vom Bundesamt
für Energie in Auftrag gegebene McKinsey-Studie gehe von 26 800
Arbeitsplätzen aus, die bis 2020 durch Energieeffizienzmassnahmen
und die Förderung erneuerbarer Energien neu geschaffen werden
könnten. Im Baselbiet könnten damit umgerechnet 3000 bis 4000
neue Arbeitsplätze entstehen.
Die Liga der Baselbieter Stromkunden hat laut einem
Communiqué den Vorstoss der Grünen "mit Befremden zur
Kenntnis genommen". Mit der Initiative würden völlig
unrealistische Forderungen gestellt und immense Kosten zulasten der
Stromkunden verursacht.
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Basellandschaftliche Zeitung 24.2.11
Mit voller Energie gegen Atomstrom
Volksinitiative Grüne fordern: 80 Prozent der
Elektrizität stammen bis 2030 aus "grüner" Energie
Jürg Gohl
Die Baselbieter Grünen kehren im Wahlkampf zu ihren Wurzeln,
dem Kampf gegen den Atomstrom, zurück. Sie haben sich durch die
jüngste Niederlage an der Urne bei ihrer Initiative "Weg vom
Öl" nicht entmutigen lassen und sammeln nun bei ihren
Standaktionen, die primär auf den Wahlkampf ausgerichtet sind,
gleich auch noch Unterschriften für ihre formulierte
Volksinitiative "Für sicheren und sauberen Strom - Zukunft ohne
Atomstrom". Sie wurde gestern offiziell lanciert. Die Liga der
Baselbieter Stromkunden kontert, dass die Grünen ebendiesen
Volksentscheid des vergangenen Jahres "mit Füssen getreten" werde.
Die Gesetzesinitiative der grünen fordert die aktuell zwei
Energieversorger des Kantons auf, im Bereich der Elektrizität
komplett auf erneuerbare Energien zu setzen. Bis ins Jahr 2030
müssen mindestens 80 Prozent der Elektrizität, die an die
Kunden verkauft wird, erneuerbar sein, das heisst, aus Wasser-,
Sonnen-, und Windkraft, Biomasse oder Erdwärme entstanden sein.
Heute verhält es sich umgekehrt: Über 80 Prozent des Stroms
stammt aus nicht erneuerbaren Energien.
Lukas Ott, Grüner Liestaler Stadtrat und Autor der
Gesetzesinitiative, ist sogar überzeugt, dass bis 2030 sogar die
Marge von 100 Prozent zu erreichen wäre, denn "die Technologien
verbessern sich und werden wettbewerbsfähig". Zudem
bestätigen mehrere Studien, unter anderem eine des Bundes, diese
Annahme.
Philipp Schoch, der Präsident der Kantonalpartei, fordert
zudem, neben mehr Stromalternativen auch mehr Stromsparen. Man
müsse die Konsumenten dafür sensibilisieren, mit Strom
sorgsamer umzugehen.
Vom Atomstrom unabhängig
Vor allem aber fordert Schoch, dass Baselland vom Atomstrom
unabhängig bleiben müsse. Dem berühmten Paragrafen 115
in der Kantonsverfassung, der Atomkraftwerke auf Kantonsgebiet oder in
der Nachbarschaft verhindern will, soll in Zeiten neuer Atom-Debatten
Nachdruck verschaffen werden. "Es ist doppelbödig, sechs Tage lang
Atomstrom zu konsumieren und am siebten gegen ihn zu wettern", sagte
Ott.
Maya Graf, die Baselbieter Nationalrätin der Grünen,
erklärte gestern, dass der Kampf gegen Atomkraftwerke das
Hauptthema ihrer Partei im nationalen Wahlkampf sei, ehe sie gedanklich
in ihren Kanton und den Wahlkampf dort zurückkehrte: "Baselland
galt einst bei Alternativenergien als innovativ. In den letzten Jahren
haben wir diesen Vorsprung unter einer bürgerlichen Regierung aus
der Hand gegeben."
Sie weist auch auf die acht Milliarden Franken hin, die ein neues
Atomkraftwerk kosten würde. "Würden wir dieses Geld in
Alternativenergien investieren, so bliebe es bei uns und würde
neue Arbeitsplätze schaffen. Die Wirtschaftskammer müsste
also auf unserer Seite stehen." Tut sie aber nicht. Die ihr nahe
stehende Liga der Stromkonsumenten hält den Vorstoss der
Grünen für unrealistisch und sagt voraus, dass die Vision
"immense Kosten" verursachen würde.
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Tagesanzeiger 23.2.11
Vorschneller Vonlanthen
Beat Vonlanthen, der Präsident der kantonalen
Energiedirektoren, hat zum Thema AKW in der "Arena" mehr gesagt, als es
aus Sicht der Kantone zu sagen gibt.
Von Daniel Friedli, Bern
Vorgestellt wurde er als Präsident der kantonalen
Energiedirektoren. Und auch wer Beat Vonlanthen am letzten Freitag in
der "Arena" des Schweizer Fernsehens zuhörte, musste den Eindruck
bekommen: Der Freiburger Regierungsrat und CVP-Politiker spricht hier
im Namen der Kantone. "Wir müssen", sagte er etwa zur Frage, ob
die Schweiz neue Atomkraftwerke brauche, "im Hinblick auf die
definitive Abstimmung, die 2013 stattfinden wird, noch
Überzeugungsarbeit leisten. Und ich habe als verantwortlicher
Energiedirektor eines Kantons - und meine Kollegen in den anderen
Kantonen denken gleich - die Sorge, dass wir die Stromversorgung
sicherstellen können."
Doch Vonlanthens energisches Votum täuscht. Die Konferenz
der kantonalen Energiedirektoren (EnDK) hat zur Frage der neuen
Atomkraftwerke noch gar nicht Position bezogen, wie auch Vonlanthens
Mitarbeiter bestätigen. Zwar ist durchaus denkbar, dass sich in
der laufenden Konsultation eine Mehrheit der Kantone für ein oder
zwei Ersatz-AKW aussprechen wird. Umgekehrt sind aber zum Beispiel die
Regierungen von Genf oder den beiden Basel durch ihre
Kantonsverfassungen gezwungen, sich gegen die Atomkraft einzusetzen.
Die Regierung von Neuenburg hat dies unlängst bereits getan.
Die Freiburger Energiedirektion weist den Vorwurf, der
Regierungsrat habe sich bei seinem Auftritt etwas zu weit aus dem
Fenster gelehnt, zurück. Vonlanthen habe primär als
Regierungsrat seines Kantons gesprochen und nur sekundär als
Präsident der EnDK, sagte sein Kommunikationschef Thomas Gut
gestern. Überdies stünden die Kantone hinter der
übergeordneten Energiestrategie des Bundes, in welcher der
Bundesrat auf Kernenergie setze.
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Freiburger Nachrichten 23.2.11
Grünliberale wollen aus Fehlern lernen
Freiburg Der Gesamtaushub der ehemaligen Deponie La Pila kostet
250 Millionen Franken, und der Staatsrat spricht sich für ein
neues Atomkraftwerk (AKW) in der Schweiz aus (FN vom Samstag). "Als ob
der Staatsrat aus den Fehlern nichts gelernt hätte", schreibt die
Grünliberale Partei des Kantons Freiburg in einer Mitteilung. Auf
der Deponie La Pila sei Abfall sorglos gelagert worden, nun solle mit
einem AKW "leichtfertig neuer problematischer Abfall produziert"
werden. Die Grünliberalen wollen, dass die Regierung "klar und
deutlich auf erneuerbare Energien" setzt. njb
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20 Minuten 23.2.11
Ja für alle drei AKW-Standorte
LAUSANNE. Das Waadtländer Kantonsparlament empfiehlt ein Ja
zu allen drei möglichen Standorten für neue Atomkraftwerke in
der Schweiz. Am 15. Mai stimmt Waadt in einer Konsultativabstimmung
über die drei Standorte Gösgen SO, Mühleberg BE und
Beznau AG ab. Die Empfehlungen waren im Rat heftig umstritten.
---
Aargauer Zeitung 23.2.11
Steine dämpfen Strahlung
Beznau Im Oberwasserkanal des Flusskraftwerks wird derzeit eine
radiologisch belastete Fläche von rund 100 Quadratmetern mit
Steinmatten abgedeckt. Beim Bau von Beznau II war aus einer Leitung
leicht kontaminierte Flüssigkeit ausgetreten. Der damit belastete
Kies wurde in Absprache mit der damals für die Sicherheit
zuständigen Behörde in den Oberwasserkanal des
Wasserkraftwerks eingebracht. (ZA) Seite 32
--
Mit Kalksteinen aus den Alpen gegen Strahlung
Beznau Radiologisch belasteter Kies im Oberwasserkanal des
Flusskraftwerks wird mit Matten abgedeckt
Angelo Zambelli
Am 10. Dezember 1970 trat bei den Bauarbeiten für das
Atomkraftwerk Beznau II leicht kontaminiertes Wasser aus einer
Verbindungsleitung aus. Die beim Zwischenfall freigesetzte
Radioaktivität betrug laut Werkangaben 1,4 Prozent der
zulässigen Jahreslimite. In Absprache mit der damals
zuständigen Kommission für die Sicherheit von Kernanlagen
wurde ein Teil des Kieses im Oberwasserkanal des Wasserkraftwerks
Beznau eingebracht.
Aktualität erlangte die Altlast erst wieder mit der
Konzessionserneuerung für das Wasserkraftwerk Beznau. Im Rahmen
dieser Neukonzes- sionierung und Modernisierung will die Axpo die Reste
dieser Altlast absichern. Bereits 2009 saniert wurde der rund 20
Quadratmeter grosse Bereich der Böschung, über die der Kies
in den Kanal geschüttet worden war.
Matten mit Steinen aus den Alpen
Bis heute Mittwoch soll gemäss Auskunft von Axpo-Sprecher
Roland Keller und Projektleiter Max Ritter die zweite und letzte Etappe
der Sanierung abgeschlossen sein. Die Flusssohle wird auf einer
Fläche von rund 100 Quadratmetern mit 3,4 Tonnen schweren, 4 Meter
langen und 2 Meter breiten Drahtgeflechtmatten abgedeckt, in denen sich
Steine aus Alpenkalk mit geringem natürlichem Strahlenpegel
befinden. Diese Gesteinsart wurde gewählt, um bei Nachmessungen
keine verfälschten Ergebnisse zu erhalten. Mit den
Drahtgeflechtmatten soll das heute sehr kompakte Material
zusätzlich abgesichert werden.
Messungen auf dem Grund des Oberwasserkanals haben ergeben, dass
nach wie vor eine leicht erhöhte Radioaktivität besteht. Der
grösste Anteil der Aktivität liegt rund 10 Meter oberhalb des
Einlaufbauwerks. In einer von der Axpo in Auftrag gege- benen Analyse
der Messergebnisse kam das Paul-Scherrer-Institut zum Schluss, dass vom
kontaminierten Kies keine Gefahr für Mensch und Tier ausgeht.
Dennoch schliesst Axpo-Sprecher Roland Keller nicht aus, dass der
belastete Kies bei einer allfälligen späteren Trockenlegung
des Kanals vollständig entfernt werden könnte.
Die Arbeiten werden von den Strahlenschutz-Fachleuten des KKB
überwacht. Alle an den Arbeiten beteiligten Personen sind mit
einem Dosimeter ausgerüstet, um die Strahlenbelastung unter
Kontrolle zu halten. Nach Abschluss der Altlastsanierung soll die
Abschirmwirkung der Matten mit weiteren Messungen überprüft
werden.
---
Le Matin 23.2.11
Le plongeur irradié témoigne
Accident. En août, le Vaudois Dominique Wuest était
irradié alors qu'il réalisait des travaux de maintenance
à la centrale nucléaire de Leibstadt (AG). Il n'en garde
aucune séquelle "pourl'instant".
Laurent Grabet
"Un pépin. " Voilà comment Dominique Wuest, 42 ans,
dont vingt et un de plongée professionnelle, qualifie l'accident
de travail qui, le 31 août dernier, a fortement
irradié sa main droite. Ce jour-là, le plongeur,
employé par une société spécialisée
basée à Sugiez (FR), est immergé à 10
mètres de profondeur dans un bassin de la centrale
nucléaire de Leibstadt, en Argovie. "Il s'agissait de celui dans
lequel se trouve l'ascenseur qui achemine les barres d'uranium vers le
réacteur et dans lequel nous entreprenions les travaux de
révision annuels", nous expliquait hier ce Vaudois
domicilié à La Tour-de-Peilz. L'événement,
qui a été classé niveau 2 sur 7 sur
l'échelle internationale des incidents nucléaires, a fait
l'objet d'un rapport de l'Inspection fédérale de la
sécurité nucléaire. Lequel a été
publié dans les colonnes duBeobachterla semaine passée.
"l'alarme a retenti"
Au terme de son travail, le plongeur reçoit l'ordre de ses
superviseurs restés en surface de ramasser les débris de
câbles traînant au sol. Sous l'ascenseur, il
aperçoit alors une pièce métallique longue d'une
vingtaine de centimètres. "On a appris ensuite que
c'était un bout de sonde probablement malencontreusement
oublié là en 2006, lors de précédentes
révisions. " Comme le veut la procédure, le professionnel
demande l'aval pour la remonter et l'obtient. Il sort ensuite de l'eau.
C'est seulement à ce moment-là que le panier contenant
ladite pièce est à son tour remonté.
"Arrivé à 2 mètres de la surface, le rayonnement
était tellement violent que l'alarme ad hoc a retenti. " L'eau
constituant un bouclier très efficace contre les radiations, la
corbeille est redescendue illico. "A l'air libre, la quantité
astronomique de sieverts(ndlr: unité de mesure des doses de
radiation)dégagés par l'objet m'aurait totalement
irradié! Heureusement que l'eau ainsi que mes deux paires de
gants ont protégé ma main. "
L'angoissante question
Dominique Wuest s'aperçoit alors que, lorsqu'il avait
touché la pièce sous l'eau, le dosimètre
électronique placé sous sa combinaison s'était mis
en alarme. Mais, avec le bruit ambiant, il ne l'avait pas entendu
sonner. Potentiellement gravement irradié, l'homme est
envoyé immédiatement vers l'Hôpital de Laufenburg
(AG). Là, les médecins photographient sa main sous toutes
les coutures, font des examens sur son derme, son épiderme et
ses articulations. Aucune anomalie n'est détectée. Son
sang est également prélevé et envoyé dans
un labo spécialisé en Grande-Bretagne. Le
quadragénaire attend toujours les résultats de ces
analyses! Eux seuls pourront peut-être répondre à
la question qui l'inquiète vraiment dans toute cette histoire:
"Souffrirai-je un jour d'altérations au niveau
génétique ou chromosomique? Car je n'ai apparemment pas
de séquelles. Ma main ne présente ni brûlures ni
rougeur. Je n'ai jamais de gêne, de fourmillement ou quoi que ce
soit. C'est assez étonnant, vu la dose de radiations qui l'ont
traversée! Si un cancer devait se déclencher, j'aimerais
savoir à quoi m'attendre et quel traitement je devrais
entreprendre. "
Après l'accident, le quadragénaire a même
continué de travailler à la centrale! "Mais hors zone
chaude", précise-t-il. C'est-à-dire dans des endroits peu
exposés aux radiations. C'est là qu'il sera
cantonné, deux années durant, chaque fois qu'il
retournera travailler à Leibstadt. Et après? "La
sécurité de cette centrale est l'une des meilleures du
monde. J'ai toute confiance, assène l'intéressé.
Si on me demande de remettre mon scaphandre et de replonger dans ce
même bassin, j'y retournerai avec plaisir!"
--
1 AN DE RADIATIONS EN 1 MIN
En seulement 45 à 60 secondes de surexposition
accidentelle, d'après des calculs de l'Institut de radiophysique
du CHUV que nous a transmis la rédaction duBeobachter, le corps
du plongeur Dominique Wuest a absorbé 28 millisieverts (mSv).
Soit 8 mSv de plus que la limite autorisée sur toute une
année. Sur certaines parties de sa main, des valeurs de 1750
à 6900 mSv ne sont pas exclues, d'après les experts. Or
la limite autorisée pour les mains est de 500 mSv! Dans un
rapport également rendu public par leBeobachter, l'Inspection
fédérale de la sécurité nucléaire
(IFSN) pointe du doigt deux erreurs principales ayant favorisé
l'incident. La première: les spécialistes de la
protection contre les radiations n'ont pas été
consultés lorsque la décision de remonter la pièce
finalement irradiée a été prise. La seconde: les
signaux acoustiques d'alarme émis par l'un des cinq
dosimètres que Dominique Wuest portait sur lui n'ont pas
été audibles au moment où il aurait fallu.
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Le Matin 23.2.11
"Fribourg doit aussi voter!"
Nucléaire. Le Conseil d'Etat dit oui à une nouvelle
centrale sans consulter la population. Des voix s'élèvent
en faveur d'une votation.
Comme les Bernois le week-end passé, les Fribourgeois,
directement concernés par les risques nucléaires, doivent
aussi pouvoir donner leur avis concernant la construction d'une
nouvelle centrale à Mühleberg (BE). Telle est la conviction
que partagent plusieurs partis, bien décidés à
monter aux barricades: le Conseil d'Etat ne peut décider seul si
le canton est favorable ou non à une telle construction. La
gauche prévoit d'ailleurs de faire pleuvoir des motions au Grand
Conseil pour que la population puisse se rendre aux urnes.
Invité, comme tous les autres cantons, à donner son
avis quant à la construction de nouvelles centrales
nucléaires, le Conseil d'Etat dit oui à une seule
supercentrale! Il consultera le législatif à titre
consultatif, mais aucunement la population, qui est pourtant la
première concernée. "Trente-neuf communes, soit plus de
102 000 Fribourgeois, se trouvent à proximité de cette
centrale", lance Marie-Thérèse Weber-Gobet,
conseillère nationale fribourgeoise PCS. "Et on ne leur demande
pas leur avis. Alors qu'ils sont indéniablement leur mot
à dire. C'est quand même aberrant. "
En effet, les habitants du nord du canton, Fribourg-Ville
comprise en grande partie, vivent dans la zone à risque de
niveau 2, située dans un périmètre de 20 km de la
centrale (la zone 1, située dans un périmètre de 5
km, étant la plus dangereuse). Ils ont d'ailleurs tous
reçu leurs petits cachets d'iodure de potassium, à avaler
en cas d'accident nucléaire.
"Pourquoi les autres cantons voisins de la centrale vont-ils aux
urnes et pas nous? Fribourg doit aussi voter!" s'insurge David Bonny,
président du PS Fribourg. Il note que le canton de Berne a
effectivement donné un avis positif, mais du bout des
lèvres (51,2% de oui) et que les Vaudois s'exprimeront le
15 mai prochain. L'Etat de Neuchâtel s'oppose, quant
à lui, au nucléaire, tout comme Genève et
Bâle. Et d'ajouter: "Le Conseil d'Etat de Fribourg fait ainsi
figure d'ovni en Suisse occidentale. Il pourrait au moins, dans ce
contexte, envisager un vote de la population sur lequel fonder l'avis
officiel du canton. "
Débat prévu en mars
Comme précisé dans le communiqué du Conseil
d'Etat, "contrairement à d'autres cantons, la Constitution
cantonale fribourgeoise ne prévoit pas la possibilité
d'une votation consultative". Une situation que le PCS et le PS ont
bien l'intention de rectifier. Le premier a déjà
lancé sa motion populaire qui, en deux jours, a
récolté près de 100 signatures (sur les 300
nécessaires). Le second prévoit d'aller plus vite en
déposant directement une motion au Grand Conseil pour que ce
soit discuté dès le mois de mars.
A ce moment-là, difficile de savoir ce que chacun votera.
Le PS, le PCS et les Verts libéraux seront clairement pour le
référendum, d'autant que, opposés au
nucléaire, ils espèrent que la population les rejoindra.
Le PDC et le PLR n'en ayant pas encore discuté, ils
préfèrent ne pas se prononcer pour l'instant. Quant
à l'UDC, s'il est plutôt favorable à une nouvelle
centrale, "il est aussi ouvert à ce que la population soit
consultée". Les Fribourgeois pourraient donc être
amenés à s'exprimer tout bientôt!
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Landbote 22.2.11
Endlager: Schutz für Marke "Weinland"
WEINLAND. Neu wird in "Zürich Nordost" nach einem Endlager
gesucht. Jetzt wird die lokale Mitsprache aufgegleist.
Reto Flury
Ein Tiefenlager im "Zürcher Weinland" wird es nicht geben.
Nicht weil die Gegend und der Opalinuston plötzlich nicht mehr
interessant wären, sondern weil das Bundesamt für Energie
(BFE) die mögliche Standortregion schlicht umgetauft hat. Sie
heisst im Auswahlverfahren jetzt neu "Zürich Nordost".
Der Wechsel geschah auf Wunsch der betroffenen Gemeinden, wie das
BFE kürzlich mitteilte. Sie fürchten, dass die Marke
"Weinland" beschmutzt wird, wenn sie zu häufig im Zusammenhang mit
dem Tiefenlager erwähnt wird. Mit der Umbenennung soll die Marke
geschützt werden. "Denn sie ist für Landwirtschaft und
Tourismus sehr wichtig", sagt Christof Peyer, Gemeindeschreiber von
Trüllikon. Er ist zugleich auch Geschäftsführer der
Standortregion, zu der Vertreter aus 39 Gemeinden, den Kantonen
Zürich, Thurgau und Schaffhausen sowie Deutschland gehören.
Neues Gremium
Anders als der Name änderten die Rechte der Region im
Auswahlprozedere nicht. Gemäss Kernenergiegesetz wird über
ein Tiefenlager auf Bundesebene entschieden. Die sechs
Standortregionen, die schweizweit zur Debatte stehen, können aber
mitreden (siehe Kasten). Um diese Partizipation sicherzustellen, werden
sogenannte Regionalkonferenzen gebildet. Derzeit sind die
Standortregionen daran, die Konferenzen aufzubauen.
Wer in diesen Gremien Platz finden soll, hat das BFE
kürzlich vorgegeben. Neben Befürwortern sollen auch Kritiker
berücksichtigt werden. 30 bis 50 Prozent werden Gemeindevertreter,
ebenfalls 30 bis 50 Prozent Mitglieder von Interessenorganisationen
sein. Damit sind nicht nur kritische Vereine, sondern auch Parteien
oder Branchenverbände gemeint. Ein Zehntel bis ein Drittel der
Regionalkonferenz soll aus ungebundenen, interessierten Leuten
bestehen, die aber weder Amt noch Funktion besitzen. Insgesamt verlangt
das BFE, dass Alter, Geschlechter, soziale Schichten,
Nationalitäten und Interessen ausgewogen berücksichtigt
werden.
Die Regionalkonferenz "Zürich Nordost" wird laut Peyer
ungefähr im September ihre konstituierende Sitzung abhalten. Die
Mitglieder werden von einem "Startteam" gewählt, das sich aus
Behördenvertretern zusammensetzt. Parteien und Verbände
würden innert Monatsfrist kontaktiert, so Peyer. Die ungebundenen
Personen würden wohl via Inserat zur Partizipation eingeladen.
"Theoretisch kann sich aber jetzt schon jeder Interessierte bei uns
melden."
Einiges sei noch im Fluss, so Peyer. Zum Beispiel die Anzahl
Sitze. Derzeit peile das Startteam 70 bis 80 Sitze an. Auch wie gross
die Delegation aus Deutschland sein wird, ist noch nicht definitiv
geklärt. Das BFE hatte 6 Prozent vorgeschlagen. Auf Druck der
Deutschen verdoppelte das Startteam die Vertretung auf 12 Prozent. Es
können am Schluss aber auch noch 2 Prozent mehr oder weniger sein.
Noch unklar ist, ob "Klar!Schweiz", die gewichtigste kritische
Organisation, mitmachen wird. Der Vorstand habe noch nicht beschlossen,
sagt Ko-Präsidentin Käthi Furrer. Aber die Skepsis
gegenüber der "Scheinpartizipation" sei gross. Sie könne das
Vorgehen von BFE und Nagra zwar nachvollziehen. "Aber wir müssen
relativieren: Die Konferenz ist kein griffiges politisches Instrument."
--
Bevölkerung redet mit
flu
Das Nidwaldnervolk verhinderte einst ein Endlager am Wellenberg.
Ähnliches wird beim aktuellen Auswahlprozedere nicht mehr
möglich sein. Standortregionen und -kantone können nicht
über ein Tiefenlager entscheiden. Sie dürfen aber in
"Regionalkonferenzen" Projektdetails beeinflussen und kritische Fragen
erörtern lassen. Dabei geht es zum Beispiel um Massnahmen, um die
Attraktivität der Regionen zu erhalten. Sie werden von den
AKW-Betreibern berappt. Die sechs regionalen Konferenzen werden auch
beim Standort der "Oberflächenbauten" ein Wort mitreden. Dazu
zählen etwa eine Empfangshalle für die radioaktiven
Abfälle, eine Umladestation oder eine Verpackungsanlage. Die
Anlagen dürften so gross wie ein mittelgrosser Industriebetrieb
werden. (flu)
---
Neue Nidwaldner Zeitung 22.2.11
Workshops zum Wellenberg
Nid-/Obwalden
"Plattform Wellenberg" nennt sich das Gefäss, in dem sich
die Region einbringen soll, wenn es um den Wellenberg geht. Der
Wellenberg figuriert als einer von sechs zur Auswahl stehenden
Standorten für ein Endlager für atomare Abfälle in der
Schweiz. Wie aus einer Medienmitteilung hervorgeht, hat ein Startteam
für die Plattform Wellenberg ihre Arbeit aufgenommen.
Nicht alle machen mit
Dem Startteam gehören nebst den Kantonen Nidwalden und
Obwalden die Gemeinden Wolfenschiessen, Dallenwil, Beckenried und
Ennetmoos an. Die Gemeinden Oberdorf, Stans, Buochs und Engelberg
machen jedoch nicht mit. Ennetbürgen, Emmetten, Stansstad und
Hergiswil liegen nicht im vom Bund definierten Perimeter. Ebenfalls im
Startteam sitzt ein Vertreter des Bundesamtes für Energie.
Wie Hans Kopp, Gemeindepräsident von Wolfenschiessen und
Mitglied des Ausschusses Startteam, ausführt, sei für den
Gemeinderat Wolfenschiessen klar, dass man bei der regionalen
Partizipation mitmachen wolle. "Wir wollen lieber im Bild sein und uns
einbringen können." Die Plattform Wellenberg bewerte nicht, ob der
Standort geeignet sei oder nicht. "Wir haben die Aufgabe, dafür zu
sorgen, dass die Interessengruppen gut informiert sind und ihre
Anliegen gehört werden."
Noch immer ein Manko
Ein erster Workshop findet am 26. März im Herrenhaus
Grafenort statt. Laut Hans Kopp folgen noch weitere, 2011 werden es
drei sein. Es sei möglich und auch erwünscht, die Plattform
Wellenberg zu erweitern.
Im November oder Dezember - später als ursprünglich
geplant - erwarte man aus Bern den Entscheid, ob der Wellenberg im
Sachplan geologisches Tiefenlager verbleibt. Dass man mit den Workshops
vorher beginne, begründet Kopp so: "Die Zeit würde danach
nicht reichen, um den Interessengruppen und der Bevölkerung den
heutigen Wissensstand ausreichend zu vermitteln." Es bestehe
diesbezüglich teilweise immer noch ein Manko.
---
Sonntagszeitung 20.2.11
Plädoyer für die Atomkraft bei Chabis und Rettich
Mittagessen mit Axpo-Chef Heinz Karrer, der nur bei
Süssigkeiten wirklich schwach wird
von Markus Schär (TEXT) UND MICHELE LIMINA (FOTO)
Der Chef geniesst eine Vorzugsbehandlung. In der Axpo-Kantine,
die mit ihren grauen Tischen und grauen Stühlen den Charme eines
volkseigenen Betriebs aus DDR-Zeiten ausstrahlt, wird er als Einziger
bedient. Er muss nicht in der langen Schlange anstehen, sondern kann am
Tisch in der Ecke auswählen: Menü I (Gnocchi) oder Menü
II (Schweinshalssteak). Heinz Karrer bittet einfach um einen gemischten
Salat (Fr. 8.05), dazu trinkt er ein Rivella, natürlich blau.
Denn gewöhnlich isst der Topmanager, der auch mit 51 noch
einen smarten Dressman abgäbe, am Mittag gar nichts,
höchstens "ab und zu ein Brötli". In jungen Jahren spielte er
in der Schweizer Handball-Nationalmannschaft, da verdrückte er
"zwei Mittagessen und drei Nachtessen" und verbrannte alles beim
Training. "Jetzt komme ich mit sehr wenig Essen sehr gut aus", sagt er.
Auch bei Geschäftsessen über Mittag begnüge er sich oft
mit einer Vorspeise und versündige sich dafür am
Dessertbuffet: "Meine Mitarbeiter scherzen gerne über meine Sucht
nach Süssem." Das karge Essen in der Kantine des Badener
Axpo-Hauptsitzes ist also keine Inszenierung.
Dem Bergsteiger steht ein steiniger Weg bevor
Mit der Demokratie muss Heinz Karrer leben, denn er arbeitet
tatsächlich in einem volkseigenen Betrieb. Einerseits gehört
die Axpo-Gruppe, die aus den NOK herauswuchs, den Nordostschweizer
Kantonen. Anderseits gehorcht auch der zweitgrösste Stromversorger
des Landes mit 4000 Mitarbeitenden und gut sechs Milliarden Franken
Umsatz dem Willen des Volkes: Es entscheidet in zwei bis drei Jahren
darüber, ob die Axpo mit ihren Konkurrentinnen Alpiq und BKW zwei
Atomkraftwerke ersetzen kann.
"Gott sei Dank ist es so", sagt Heinz Karrer, der mit seinem
Konzern in 23 Ländern Geschäfte macht: Der Volksentscheid in
der Schweiz verleiht der umstrittenen Atomkraft eine weit höhere
Legitimation. Dafür nimmt der Manager Zitterpartien wie am letzten
Sonntag hin. Nach einer Abstimmungsschlacht, obwohl es nur um eine
bessere Meinungsumfrage ging, sprachen sich im Kanton Bern 51 Prozent
dafür aus, wieder ein Atomkraftwerk in Mühleberg zu bauen.
"Das ist ein Signal, nicht weniger und nicht mehr", konstatiert
der Axpo-Chef. Beide Seiten sahen sich nach der Abstimmung als Sieger,
Heinz Karrer beansprucht aber die besseren Gründe dafür. "Wir
stellen eine signifikant höhere Akzeptanz für die Kernkraft
fest", sagt er. "Vergessen Sie nicht: Bisher ging es in den
Abstimmungen immer um den Ausstieg oder um ein Moratorium. In unseren
regelmässigen Befragungen gab es nie eine Mehrheit für den
Ersatz von Kernkraftwerken, diese hat sich erst in den letzten drei bis
fünf Jahren entwickelt."
Trotzdem steht dem Bergsteiger, der reihenweise Viertausender
erklimmt, bis zur Volksabstimmung noch ein steiniger Weg bevor: "Wir
gehen davon aus, dass es bei einem knappen Entscheid bleibt", sagt er.
Bei den Befürwortern und den Gegnern der Atomkraft sind die
Meinungen gemacht; dazwischen aber schätzen die AKW-Planer rund 30
Prozent Unentschiedene, die sich mit Argumenten ansprechen lassen.
Heinz Karrer versucht es schon bisher mit 70 bis 100 Auftritten im
Jahr: "Das wird noch zunehmen, der Bedarf ist da."
Sein ökologischer Fussabdruck ist nicht gerade nachhaltig
In Chabis, Rettich und Kopfsalat stochernd, hakt der Manager die
Punkte seiner Standardpräsentation ab. Erstens: Die einheimischen
Stromproduzenten müssen die Versorgung des Landes sicherstellen -
in einer "Millisekundenindustrie", in der stets der Blackout droht,
wenn das Angebot nicht der Nachfrage entspricht. Was an Leistung
wegfällt, wenn die Importverträge mit Frankreich 2016
auslaufen und die bestehenden AKW ab 2020 vom Netz gehen, lässt
sich nicht mit Ökostrom oder Importen ersetzen und auch nicht
einsparen. Zweitens: Da die Wissenschafter die Klimaerwärmung, die
sie beobachten, auf den CO2-Ausstoss der Menschheit
zurückführen, bieten sich Atomkraftwerke als
umweltfreundliche Lösung an. Und drittens: Die Katastrophe von
Tschernobyl liegt inzwischen 25 Jahre zurück. Eine ganze
Generation erlebte keine Probleme mit der Atomkraft - aber sie fordert
natürlich ebenfalls eine sichere Lösung für die
strahlenden Abfälle.
Weshalb können wir nicht einfach auf einen weniger
stromfressenden Lebensstil umstellen? Der Manager, der als
Lieblingsessen "Tomatensalat mit Mozzarella" angibt, rechnet vor: In
der Schweiz wachsen die Bevölkerung, die Wohnflächen, die
Zahl der strombetriebenen Dienste und Geräte, und sogar die
Effizienzgewinne beim Umstieg von Ölheizung auf Wärmepumpen
lassen sich nur mit mehr Strom erzielen.
Seinen ökologischen Fussabdruck kann Heinz Karrer kaum auf
ein Mass verkleinern, das als nachhaltig durchgeht. Immerhin gäbe
er sich Mühe: Am Abend zu Hause esse er bewusst mehr Fisch als
Fleisch oder koche Pasta, wenn er die drei halbwüchsigen
Söhne stellvertretend für seine Frau versorgen müsse,
nur mit abschliessender Magnum-Glace als Sünde.
Dann muss der Chef weiter zum nächsten Termin. Ein Drittel
seines Salattellers lässt er stehen. Aber einen Espresso genehmigt
er sich noch schnell, und natürlich ein Schöggeli dazu.
---
Südostschweiz 20.2.11
Gemeinde Glarus für neue Atomkraftwerke
Der Gemeinderat von Glarus äussert sich zu Handen des
Kantons zu den Schweizer Atomkraftwerksplänen.
Glarus. - In der Schweiz sind drei Gesuche für den Ersatz
der bestehenden Atomkraftwerke eingereicht worden. Gestützt auf
die Bestimmungen des Kernenergiegesetzes werden die Kantone vom Bund zu
einer entsprechenden Stellungnahme aufgefordert. Die Gemeinderäte
können sich zur Stellungnahme des Kantons äussern. Der
Gemeinderat Glarus erachtet den Ersatz der bestehenden Atomkraftwerke
aus Gründen der Versorgungssicherheit als notwendig, schreibt er
in einer Mitteilung.
Gleichzeitig hat der Gemeinderat aber Bedenken, dass das
Bewilligungsverfahren alle politischen und verwaltungstechnischen
Hürden nehmen wird. Deshalb könnte sich der Gemeinderat auch
vorstellen, den Ersatz von lediglich zwei oder gar nur einem der
bestehenden Atomkraftwerke voranzutreiben. (so)
---
Bund 19.2.11
Tschäppät: "Klarer Auftrag für die Stadt gegen neues AKW"
Die Stadt müsse sich nun zu Mühleberg II äussern,
finden der Stadtpräsident und die RGM-Parteien.
Simon Thönen
Das Stimmvolk des Kantons hat letzten Sonntag knapp Ja gesagt zu
einem neuen Atomkraftwerk in Mühleberg - die Stimmberechtigten der
Stadt Bern aber, der wichtigsten Nachbargemeinde, sagten wuchtig Nein.
Für Stadtpräsident Alexander Tschäppät (SP) ist das
Stadtresultat zunächst einmal "eine klare Bestätigung und
Bekräftigung der städtischen Politik, aus der Atomenergie
auszusteigen". Als Demokrat akzeptiere er das Ja in der kantonalen
Abstimmung. "Es ist jedoch nicht mehr als ein Etappensieg für
Mühleberg II", sagt Tschäppät: "Wie bei der Tour de
Suisse ist erst am Schluss klar, wer gewinnt."
Die städtische Zweidrittelmehrheit gegen Mühleberg II
sei deshalb, so Tschäppät, "für die Stadt auch eine
klare Legitimation und ein Auftrag der Stadtbevölkerung, diesem
Willen zum Durchbruch zu verhelfen". Wie sich die Stadt in den
kommenden politischen und rechtlichen Auseinandersetzungen über
ein neues AKW in Mühleberg einbringen kann und soll, stehe
für ihn jedoch noch nicht fest. "Diese Diskussion wird man jetzt
führen müssen."
RGM: Städtebündnisse schmieden
Vorstellungen dazu haben die AKW-kritischen Parteien von
Rot-Grün-Mitte, während die Bürgerlichen die Auffassung
vertreten, dass die Stadt sich aus diesen Auseinandersetzungen
herauszuhalten habe (siehe Text unten).
Stéphanie Penher, Co-Fraktionschefin des Grünen
Bündnisses im Stadtrat, fordert rasche Schritte. Momentan
läuft die Anhörung der Kantone zu den drei
Rahmenbewilligungsgesuchen für neue AKW. Angesichts des
Stadt-Land-Grabens, den die bernische Volksabstimmung aufgezeigt hat,
müssten sich unbedingt auch die Städte beim Bund zu Wort
melden. Penher: "Bern muss gemeinsam mit Zürich, Genf, Basel und
St. Gallen vorgehen, die alle den Atomausstieg beschlossen haben." Und
zwar über den Schweizerischen Städteverband. Penher ist
zuversichtlich, dass die grossen Städte dort eine Mehrheit gegen
AKW finden werden.
Auch beim nächsten Verfahrensschritt, der öffentlichen
Auflage der Rahmenbewilligungsgesuche, die im Sommer stattfinden wird,
müsse der Gemeinderat "klar Position beziehen und diese offensiv
vertreten", fordert Penher. Als Gemeinde in der Gefahrenzone 2 des
neuen AKW ist die Stadt sehr wahrscheinlich berechtigt zu Einsprachen.
Diese Möglichkeit müsse sie wahrnehmen, verlangt auch Manuel
C. Widmer, Präsident der Grünen Freien Liste: "Die Stadt Bern
hat einen klaren Auftrag ihrer Bürger und Bürgerinnen, nun in
jeder möglichen Form aktiv zu werden." Derselben Ansicht ist
Flavia Wasserfallen, Co-Präsidentin der städtischen SP.
Gegen eine Einsprache spricht sich hingegen Michael Köpfli
aus, Fraktionschef der Grünliberalen im Stadtrat. "Wir sollten den
kantonalen Volksentscheid respektieren." Stattdessen solle man sich
darauf konzentrieren, so Köpfli, "dass wir in der nationalen
Volksabstimmung ein AKW verhindern können". Er ist nach dem
kantonalen Urnengang zuversichtlich, dass sich die Agglomerationen
für ein Nein gewinnen lassen. "Wir müssen die Argumente gegen
AKW auf das Land hinaustragen", sagt Wasserfallen. Sie sei
optimistisch, weil es am Sonntag bis weit ins bürgerliche Lager
hinein Nein-Stimmen gegeben habe.
Nause: Atomausstieg umsetzen
Für den städtischen Energiedirektor, Reto Nause (CVP),
ist Mühleberg II zwar wirtschaftlich gesehen eine
"Hochrisiko-Investition". Er fügt jedoch an: "Für mich geht
es nicht so sehr darum, Mühleberg II zu verhindern, sondern mit
EWB den Umstieg zu den erneuerbaren Energien zu schaffen."
Ihre Hausaufgaben habe die Stadt mit dem beschlossenen
Atomausstieg für das eigene Werk EWB vorerst gemacht, findet der
Grünliberale Köpfli. Sie könne Gemeinden der
Agglomeration, die gegen Mühleberg II stimmten, dabei
unterstützen, ebenfalls auszusteigen, ergänzt
GFL-Präsident Widmer: "Je mehr Gemeinden man überzeugen kann,
auf Atomstrom zu verzichten, desto weniger braucht es ihn."
--
Bürgerliche "Die Stadt Bern hat sich nicht einzumischen"
Die Forderung der AKW-kritischen Parteien, dass die Stadt Bern in
den kommenden Auseinandersetzungen um Mühleberg II eine aktive
Rolle einnehmen müsse, stösst bei den bürgerlichen
Parteien auf wenig Verständnis.
Ein neues Kernkraftwerk in Mühleberg sei eine Frage, die den
Kanton betreffe, sagt Roland Jakob,SVP-Fraktionschef im Stadtrat. "Es
gilt, was die Stimmbürger des Kantons letzten Sonntag beschlossen
haben." Angesichts der Finanzlage der Stadt stelle sich zudem die
Frage, woher das Geld käme, falls die Stadt sich in den kommenden
Abstimmungen oder Verfahren zu Wort melden wolle.
Bernhard Eicher, Chef der FDP-Fraktion im Stadtrat, hat ebenfalls
kein Verständnis für die Debatte. "Es ist die alte Leier, die
man von links-grüner Seite immer hört, wenn sie versuchen,
eine verlorene Volksabstimmung in einen Sieg umzudeuten." Über
neue Kernkraftwerke werde 2013 in der schweizerischen Volksabstimmung
entschieden. "Es ist nicht an der Stadt, sich da einzumischen."
Martin Schneider, Co-Präsident der städtischen BDP,
verweist ebenfalls auf die kommende nationale Volksabstimmung. "Das
letzte Wort zur AKW-Debatte ist noch nicht gesprochen", sagt er, "die
Diskussion wird jetzt erst richtig beginnen." Er fügt an: "Aus
grundsätzlichen Überlegungen finden wir, dass die Stadt als
solche sich nicht politisch äussern soll. Dies ist die Aufgabe der
politischen Parteien." (st)
---
Freiburger Nachrichten 19.2.11
Freiburger Staatsrat ist für ein neues Kernkraftwerk
Nach Meinung der Kantonsregierung braucht es in der Schweiz
für eine Übergangsphase bloss ein neues Kernkraftwerk.
Freiburg Der Staatsrat hat am Freitag den Entwurf seiner
Stellungnahme im Rahmen des Bewilligungsverfahrens für neue
Kernkraftwerke in der Schweiz verabschiedet. Dieser Vorschlag wird im
März im Grossen Rat besprochen.
Die Freiburger Regierung betont, dass rationelle Nutzung der
Energie und Förderung von erneuerbaren Energiequellen im
Vordergrund stehen müssen. Angesichts der voraussehbaren
Stromlücke brauche es aber ein neues Kernkraftwerk, das durch
Gaskraftwerke ergänzt wird. Der Staatsrat fordert vom Bundesrat
verschiedene ergänzende Abklärungen, so bezüglich
Bevölkerungsschutz. wb
Bericht Seite 3
--
Staatsrat: Ja zu Kernkraftwerk mit Auflagen
Der Bau eines neuen Kernkraftwerks, allenfalls ergänzt mit
Gaskombikraftwerken, ist nach Meinung des Staatsrates nötig. Dies
schreibt er im Entwurf zur Stellungnahme an den Bund. Der Grosse Rat
wird sich noch äussern können.
Walter Buchs
Freiburg Der Staatsrat hat am Freitag den Entwurf seiner
Stellungnahme an das Bundesamt für Energie im Rahmen des
Bewilligungsverfahrens für neue Kernkraftwerke und den
entsprechenden Bericht an den Grossen Rat veröffentlicht. Der
Bericht endet mit drei Fragen an das Kantonsparlament, das sich in der
Märzsession dazu äussern wird. Da es sich beim Bau neuer
Kernkraftwerke um ein "sehr heikles Thema" handelt, hat die Regierung
dieses Vorgehen gewählt, obwohl sie gemäss Kantonsverfassung
für Stellungnahmen zu Bundesvorlagen allein zuständig und
verantwortlich ist.
"Nach Meinung des Staatsrates muss die Energiepolitik unbedingt
vorrangig auf die rationelle Nutzung der Energie beziehungsweise auf
die Reduktion des Energiebedarfs und auf die Nutzung erneuerbarer
Energiequellen ausgerichtet bleiben." Dies schreibt die Regierung im
Bericht an den Grossen Rat.
Stromlücke überbrücken
Die verfügbaren Studien zeigten aber, dass kurz- und
mittelfristig neue Stromproduktionskapazitäten geschaffen werden
müssen, so der Staatsrat. Dies sei insbesondere angesichts der
Möglichkeiten zur Umsetzung von Stromsparmassnahmen, zur Nutzung
des Potenzials von erneuerbaren Energiequellen und angesichts des
Alters der bestehenden Kernkraftwerke nötig.
"Folglich vertritt der Staatsrat die Meinung, dass der Bau neuer
Grosskraftwerke nötig ist, um die Stromversorgungssicherheit
während einer Übergangsphase gewährleisten zu
können", heisst es im Bericht an den Grossen Rat weiter. Dies
bedeute grundsätzlich den Bau eines neuen Kernkraftwerks, das
gegebenenfalls durch neue Gaskombikraftwerke ergänzt wird.
Gleichzeitig verlangt der Staatsrat im Entwurf der Stellungnahme
vom Bundesrat, dass er nach dem Vorbild der deutschen Bundesregierung
die Möglichkeit prüft, im Rahmen des Baus eines
Kernkraftwerkes eine Gebühr zu erheben, "um über
zusätzliche Mittel zur Förderung des rationellen
Energieverbrauchs und zur Nutzung erneuerbarer Energien zu
verfügen".
Neben der eingehenden Prüfung der eingereichten Dossiers
für neue Kernkraftwerke verlangt der Staatsrat vom Bund weitere
Abklärungen. Diese betreffen namentlich den
Bevölkerungsschutz im Fall eines Störfalls mit schwerem
Kernschaden oder in Bezug auf die Erdbebengefahr. Auch solle ein Bau
zwingend an die Bedingung geknüpft sein, dass "ein globales und
kontrolliertes Abfallmanagement aufgestellt" wird.
Erste Reaktion
In einer Reaktion bezeichnet die SP Freiburg die Haltung des
Staatsrates als "arrogant". Die Partei verlangt, dass wie in den
Nachbarkantonen Bern und Waadt eine konsultative Volksabstimmung
stattfindet. Im Bericht weist der Staatsrat darauf hin, dass auf
Bundesebene das Stimmvolk das letzte Wort haben werde.
---
BZ 19.2.11
Regierung ist für AKW
Freiburg. Der Staatsrat ist für den Bau eines neuen
Kernkraftwerks, allenfalls ergänzt mit Gaskombikraftwerken. Dies
schreibt er im Entwurf zur Stellungnahme an den Bund.
Eigentlich wäre der Freiburger Staatsrat für
Stellungnahmen zu Bundesvorlagen alleine zuständig. Da es sich
beim Bau neuer Kernkraftwerke um ein "sehr heikles Thema" handelt, hat
die Regierung aber ein anderes Vorgehen gewählt. Gestern
veröffentlichte sie den Entwurf ihrer Stellungnahme zum Bau neuer
Kernkraftwerke, die für das Bundesamt für Energie gedacht
ist. Dies ergänzt mit einem Bericht an den Grossen Rat. Dieser
wird sich in der Märzsession dazu äussern können.
Der Staatsrat vertritt die Ansicht, vorrangig sei Energie
möglichst rationell zu nutzen. Der Energiebedarf müsse
reduziert werden und auf die Nutzung erneuerbarer Energien ausgerichtet
bleiben. Studien zeigten aber, dass kurz- und mittelfristig neue
Kapazitäten für die Stromproduktion geschaffen werden
müssten. "Folglich vertritt der Staatsrat die Meinung, dass der
Bau neuer Grosskraftwerke nötig ist, damit die
Stromversorgungssicherheit während einer Übergangsphase
gewährleistet werden kann." Dies bedeute den Bau eines neuen
Kernkraftwerks, allenfalls ergänzt durch neue Gaskombikraftwerke.
Der Staatsrat verlangt vom Bundesrat nach deutschem Vorbild, für
den Bau eines Kernkraftwerks eine Gebühr zu erheben und damit den
rationellen Energieverbrauch sowie erneuerbare Energien zu fördern.
In einer Reaktion bezeichnet die SP Freiburg die Haltung des
Staatsrates als "arrogant". Sie verlangt, dass wie in den Kantonen Bern
und Waadt eine konsultative Volksabstimmung stattfindet. Im Bericht
weist der Staatsrat darauf hin, dass auf Bundesebene das Volk das
letzte Wort haben werde.
wb/lp
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Bund 19.2.11
Atomenergie
Freiburger Regierung will nur eines statt zwei AKW
Für den Freiburger Staatsrat braucht es lediglich ein neues
Atomkraftwerk in der Schweiz. Bei zwei oder drei AKW bestehe die
Gefahr, dass zu sorglos mit der Energie umgegangen werde, schreibt er
in seiner Stellungnahme zu neuen Kernkraftwerken an den Bund.
Energiepolitik müsse primär auf die rationale Nutzung der
Energie und erneuerbare Energien ausgerichtet sein.(sda)
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La Liberté 19.2.11
Le Conseil d'Etat pour la construction d'une seule nouvelle centrale
nucléaire
Consultation ● Dans sa réponse aux autorités
fédérales, le Conseil d'Etat fribourgeois estime qu'une
seule nouvelle installation se justifie à ce jour.
Olivier Wyser
Le Conseil d'Etat fribourgeois se prononce favorablement à
la réalisation d'une seule nouvelle centrale nucléaire.
Pour autant que celle-ci soit complétée avec des
centrales à gaz à cycles combinés. En revanche,
l'option de trois, voire de deux nouvelles centrales ne se justifie pas.
Invité comme tous les autres cantons à donner son
avis avant le 7 avril sur les demandes d'autorisation pour trois
nouvelles centrales nucléaires, le Conseil d'Etat fribourgeois a
dévoilé hier sa prise de position. Elle va être
mise en discussion au Grand Conseil lors de la session de mars, mais
uniquement à titre consultatif. Le Conseil d'Etat se
déterminera donc souverainement et entend ainsi se conformer
à la Constitution cantonale, qui ne l'oblige pas à
soumettre au peuple ses réponses à des consultations
fédérales ("La Liberté" du 12 février).
La réponse rédigée à l'intention des
autorités fédérales contient néanmoins
encore quelques passages vides. Ils seront comblés par les
principaux points mis en exergue lors de la consultation au Grand
Conseil.
Une seule centrale
Pour le Conseil d'Etat, la priorité de la politique
énergétique doit impérativement rester axée
sur l'utilisation rationnelle de l'énergie. Reste qu'à
court et moyen terme "la création de nouvelles grandes
capacités de production d'électricité s'impose".
Par conséquent, "si la sécurité
d'approvisionnement en électricité consiste à
assurer notre propre production à moyen et à long termes,
alors la construction en principe d'une seule centrale nucléaire
se justifie à ce jour, avec la complémentarité
à court et moyen termes de centrales à gaz à
cycles combinés".
Une telle démarche "conditionne néanmoins le monde
politique à prendre ses responsabilités par rapport aux
défis qu'il s'est engagé à relever en
matière de réduction de la consommation d'énergie
et de valorisation des énergies renouvelables", écrit
encore le Conseil d'Etat. Et de citer en exemple le Gouvernement
allemand qui prévoit une taxe pour l'encouragement des nouvelles
ressources énergétiques renouvelables en lien avec la
prolongation des centrales nucléaires existantes.
Pas d'excédent de courant
La construction simultanée d'une seconde centrale
nucléaire en Suisse constituerait en l'état "un oreiller
de paresse défavorable en vue d'atteindre les objectifs de la
politique énergétique". Elle créerait un probable
excédent d'électricité et agirait "immanquablement
au détriment du développement des énergies
renouvelables".
Pour rappel, les Vaudois ont pu se prononcer en novembre 2009 sur
la prolongation de l'exploitation de la centrale nucléaire de
Mühleberg. A près de deux contre un, ils ont demandé
à leur gouvernement de formuler un préavis
négatif. Les citoyens bernois ont pour leur part donné le
week-end dernier un préavis positif, à une très
courte majorité de 51,2%. I
--
Les socialistes exigent un vote
Réagissant à la prise de position du Conseil
d'Etat, le Parti socialiste fribourgeois s'est fendu hier d'un
communiqué demandant au gouvernement cantonal qu'il renvoie sa
décision et s'engage à demander l'avis du peuple. "Le
Conseil d'Etat propose de construire une super-centrale et de
créer des super-risques. Cette position est coupée de la
réalité, dès lors que tous les cantons directement
concernés ont pris une position beaucoup plus mesurée",
estiment les socialistes. En effet, les citoyens des cantons de Vaud et
de Berne ont pu donner leur avis.
Les socialistes déplorent également "la très
frileuse position en faveur des énergies renouvelables", qui
ressemble selon eux à un "cache-sexe destiné uniquement
à la communication".
"C'est fermer la porte à l'impulsion qu'on pourrait donner
maintenant sur les énergies renouvelables", a relevé hier
le député socialiste de Bulle Nicolas Rime en marge d'une
conférence de presse (lire en p. 15). Et de regretter que le
nucléaire n'apporte pas d'emploi dans le canton de Fribourg. Les
socialistes soulèvent également qu'une partie importante
du territoire fribourgeois se trouve située dans une
région qui pourraît être touchée par un
accident de la centrale de Mühleberg. "Il est donc essentiel que
l'avis du canton de Fribourg soit fondé sur celui de sa
population, seule autorité légitime pour prendre une
telle décision."
"On va se joindre aux chrétiens-sociaux pour que la
population puisse se prononcer", annonce le député
Nicolas Rime. En effet, le PCS vient de lancer une motion populaire
visant à permettre au peuple fribourgeois de s'exprimer à
l'avenir sur les questions de production d'énergie atomique,
ainsi que sur le transport et l'entreposage de matériel
radioactif. OW/PHC
---
Tribune de Genève 19.2.11
Fribourg se prononce pour une seule centrale
La consultation des cantons sur le nucléaire continue: le
Conseil d'Etat fribourgeois a donné sa réponse hier
Le Conseil d'Etat fribourgeois n'est pas contre le
nucléaire mais s'oppose à la construction de trois ou
même deux nouvelles centrales. Pour lui, une seule nouvelle
installation se justifie, pour autant qu'elle soit
complétée avec des centrales à gaz à cycles
combinés.
La construction simultanée d'une seconde centrale
nucléaireen Suisse constituerait en l'état "unoreiller de
paresse défavorable", estime le Conseil d'Etat. Elle
créerait un probable excédent
d'électricité, ce qui irait à l'encontre d'une
utilisation rationnelle de l'énergie et d'un
développement des énergies renouvelables. Invité
comme tous les autres cantons à prendre position d'ici au
7 avril sur les demandes d'autorisation pour trois
centrales nucléaires, le Conseil d'Etat fribourgeois a
dévoilé hier sa réponse. Il la présentera
en mars au Grand Conseil, mais à titre consultatif. Dimanche
dernier, 51,2% des citoyens bernois ont approuvé à titre
consultatif un remplacement de la centrale de Mühleberg. Au
lendemain de ce vote, le Conseil d'Etat neuchâtelois s'est
prononcé contre la construction de nouvelles centrales
nucléaires, préférant miser sur les centrales
à gaz pour combler une pénurie
d'électricité.
---
Aargauer Zeitung 19.2.11
Tiefenlager in Schwaderloch?
Endlager Die Gemeinde als Standort für ein Tiefenlager. Als
vehementer Befürworter eines solchen Vorhabens zeigt sich Rolf
Häusler, Gemeindeammann von Schwaderloch, im "TagesAnzeiger" vom
18. Februar. Im Gespräch mit der az Aargauer Zeitung distanziert
sich Häusler von einigen Aussagen. Fakt sei, dass Schwaderloch in
den Perimeter von "Jura ost" möchte. Der Gemeinderat erwarte
dadurch eine bessere Einbindung in den Entscheidungsprozess wie auch
einen besseren Zugang an relevanten Informationen. Die Behörde
möchte verhindern, dass bei einer allfälligen
Entschädigungspraxis, die sich am Perimeter orientiert, die
Gemeinde wieder leer ausgehen könnte. Damit geht Häusler auf
die Nähe von Schwaderloch zu den beiden Kernkraftwerken Leibstadt
und Beznau ein. Diese profitieren als Standorte finanziell. Auf die
Frage nach einem Platz für eine Aussenanlage fürs Tiefenlager
erklärt Häusler, dass es zwischen Schwaderloch und Leibstadt
ein gut erschlossenes Gebiet, teilweise Industrieland und
Landwirtschaftsland gebe. "Diese Frage stellt sich zum jetzigen
Zeitpunkt des Projektes aber absolut nicht", so der Gemeindeammann.
Auch sei in Schwaderloch der Grossteil der Bevölkerung gegen ein
derartiges Vorgehen.
Die Region stünde Kernkraftwerken mehrheitlich positiv
gegenüber, weiss Häusler. "Ich bin überzeugt, dass wir
mittelfristig nicht auf Kernenergien verzichten können. Ich
vertrete jedoch auch die Meinung, dass parallel dazu die erneuerbaren
Energien gefördert werden müssen." (SH)
---
St. Galler Tagblatt 19.2.11
Alpiq trotzt der Stromflut
Trotz Stromschwemme und Euro-Schwäche sind die Gewinne des
Stromkonzerns Alpiq weniger eingebrochen als jene der Axpo. Das ist
besser für seine Aktionäre als für seine Stromkunden.
Hanspeter Guggenbühl
Zürich. Für Schweizer Stromproduzenten sind die fetten
Jahre seit Mitte 2008 vorbei. Denn die Wirtschaftskrise liess den
Stromverbrauch in Europa und die europäischen Marktpreise sinken.
Damit wuchsen die Überkapazitäten in der Produktion.
Zusätzlich schmälerte der Kursverfall des Euro den Profit der
exportorientierten Schweizer Stromproduzenten.
Die aktuelle Lage spiegelt sich auch im jüngsten
Geschäftsergebnis der Alpiq Holding, welche die Produzentin und
Händlerin Atel sowie die versorgungsorientierte Westschweizer EOS
vereinigt: Der Umsatz der Alpiq sank um 5% auf 14,1 Mrd. Franken. Der
Betriebsgewinn nahm um 9% auf 970 Mio. Fr. ab und der Reingewinn um 5%
auf 645 Mio. Franken. Den Absatz der Energiemenge in Kilowattstunden
hingegen konnte die Alpiq um 8% ausweiten - und damit ihren Anteil am
europäischen Strommarkt gleich stark vergrössern wie ihre
Schweizer Konkurrentin Axpo.
"Alpiq behauptet sich gut"
Eine Rendite von 4,6% (Reingewinn gemessen am Umsatz) ist nicht
gerade berauschend. Trotzdem schreibt die PR-Abteilung "Alpiq behauptet
sich gut". Das stimmt sogar. Denn bei der Axpo sind Umsatz (-17%) und
Reingewinn (-28 %) viel stärker eingebrochen. Zum einen liegt das
daran, dass die Atel im jüngsten Geschäftsjahr geschickter
geschäftet hat als die Axpo-Handelstochter EGL. Zum anderen liegt
das an der unterschiedlichen Struktur der beiden Schweizer
Stromgiganten:
• Bei der Alpiq spielt der internationale Stromhandel eine
grössere Rolle als bei der stärker produktionsorientierten
Axpo. Die Alpiq konnte so die tiefen Marktpreise in höherem
Ausmass durch tiefere Bezugspreise auf dem Europa-Markt kompensieren
als die Axpo; diese produziert einen grösseren Anteil ihres Stroms
in inländischen AKW und Wasserkraftwerken und damit zu wenig
beeinflussbaren Gestehungskosten.
• Das Niveau der Stromtarife in den Versorgungsmonopolen der
Alpiq, nämlich in der Westschweiz und im Raum Olten/Baselland, ist
im Schnitt deutlich höher als in der Nordostschweiz als
wichtigstem Versorgungsmonopol der Axpo. Das heisst: Die Alpiq erzielt
bei sinkenden Marktpreisen eine höhere Monopolrente. Die Axpo
hingegen hat ihre Monopolkundschaft bis zur Tariferhöhung ab 2011
mit schrumpfenden Markterlösen quersubventioniert.
Aktionäre kontra Kunden
Was schlecht ist für die Strombezüger der Alpiq in der
West- und Nordwestschweiz ist gut für die Alpiq-Aktionäre -
vom französischen Energiekonzern EDF über die Westschweizer
Kantone, den Kanton Solothurn und die Stadt Aarau bis zu den Basler
Verteilgesellschaften. So beantragt die Alpiq-Führung der GV eine
stabile Dividende von 237 Mio. Franken. Die Dividende an die
Eigentümerkantone der Axpo in der Nordostschweiz hingegen sinkt
von 140 Mio. auf 80 Mio. Franken. Das zeigt: Von der Alpiq profitieren
primär die Aktionäre, während die Axpo primär die
Stromverbraucher in ihrem Versorgungsmonopol mit zu tiefen Tarifen
belohnt.
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Newsnetz 19.2.11
Fernsehen
TV-Kritik: Seniorin bewahrte "Arena" vor zu viel Nettigkeit
Martin Sturzenegger
Gestern gab der neue "Arena"-Moderator Urs Wiedmer seinen
Einstand. Den grössten Aufreger der Sendung lieferte aber nicht
er, sondern eine Atomphysikerin.
Die Anspannung stand Moderator Urs Wiedmer bei der Anmoderation
ins Gesicht geschrieben: Freundlich stieg er ein, auf eine klare
Wortwahl bedacht, aber auch mit versteifter Mimik. Kein Wunder: Die
"Arena"-Sendung von gestern Abend "AKW Ja - Endlager Nein" war
schliesslich seine Feuertaufe.
Der 46-jährige Berner tritt die Nachfolge von Reto Brennwald
an, der den Job nicht schlecht gemacht hatte. Aber unter der Fuchtel
des neuen SRG-Direktors Roger de Weck soll die Sendung sachlicher
werden, weniger Polemik verbreiten und vermehrt auch wieder
Mitteparteien zu Wort kommen lassen. Das Thema des Abends war geschickt
gewählt um diesem Anspruch gleich bei Wiedmers Premiere gerecht zu
werden. Energiepolitik ist schliesslich nicht eben eine Angelegenheit,
die an Schweizer Stammtischen für rote Köpfe sorgt.
Holpriger Einstieg
Was in der Arena für einmal mindestens so stark
interessierte wie das Thema, war die Performance des neuen Dompteurs.
Bei der Vorstellungsrunde musste der Zuschauer schon ein erstes Mal die
Luft anhalten: Wiedmer verhaspelte sich bei der Vorstellung des
CVP-Regierungsrates und Präsident der kantonalen
Energiedirektorenkonferenz Peter Vonlanthen. Es kamen Erinnerungen an
eine Panne aus dem Jahr 2008 hoch, als Wiedmer bei einem Bericht
über den Kollaps von Hans-Rudolf Merz vor laufender Kamera die
Stimme versagte. Er verhaspelte sich - und wurde danach in den Medien
harsch kritisiert.
Doch so weit sollte es an diesem Abend nicht kommen: Während
der gesamten Sendung blieb dies der einzige wirkliche Schnitzer, den
Wiedmer sich leistete. Für Aufreger sorgten die
Diskussionsteilnehmer. Auf dem Kampffeld der Arena standen sich der
grünliberale Nationarat Martin Bäumle, der
Greenpeace-Geschäftsführer Kaspar Schuler, auf der Gegenseite
Heinz Karrer, Chef der Axpo Holding AG und der erwähnte Beat
Vonlanthen.
Der Diskurs handelte von den Folgen der letzten
Abstimmungsonntags, an dem über zwei Vorlagen zur Energiepolitik
entschieden wurde: Die Berner Bevölkerung stimmte einem
allfälligen Ersatz des Atomkraftwerks Mühleberg knapp zu. Am
gleichen Tag sagten die Nidwaldner deutlich nein zu einem Endlager am
Wellenberg. Zwei kantonale Abstimmungen also, die aber für die
gesamtschweizerische Entwicklung der Energiepolitik wegweisenden
Charakter haben und grundlegende Fragen aufwerfen: Ist Atomstrom
erwünscht, der Abfall aber nicht? Wie viel Atomstrom braucht das
Land? Wie gefährlich ist der radioaktive Müll? Und: Ist es
legitim, neue Atomkraftwerke zu planen ohne vorher die Endlager-Frage
zu klären?
Neue AKWs als Zeichen des "Stillstands"
Die Positionen waren schnell ausgemacht: Martin Bäumle
versuchte das Bild des visionären Denkers zu vermitteln. Der
wortgewaltige Grünliberale warf den Stromkonzernen und der Politik
aus dem rechten Lager "Stillstand" vor. Die Planung von neuen
Atomkraftwerken (AKW) kämen heutzutage einer Blockade gleich, weil
diese viel Geld auffressen würden, das ebenso gut in die
Entwicklung von erneuerbaren Energien gesteckt werden könne. Die
Schweiz hinke im innereuropäischen Vergleich vielen anderen
Ländern hinterher.
Die Gegenseite rechtfertigte den Bau von weiteren AKWs mit dem
Argument des höheren Strombedarfs und mit einer drohenden
Energielücke. "Für eine sichere Stromversorgung braucht es
künftig noch mindestens ein zusätzliches Kraftwerk", lautete
eine der wenigen konkreten Aussagen, die Moderator Wiedmer dem
PR-gewandten Karrer entlocken konnte. Im Falle einer Volksabstimmung
bescheinigte aber Kaspar Schuler von Greepeace dem Bau von weiteren
Reaktoren praktisch keine Chancen: "Spätestens im Jahr 2013 wird
die Bevölkerung das Vertrauen in erneurbare Energien gefunden
haben." Während der gesamten Sendung übte sich Moderator
Wiedmer in höflicher Zurückhaltung und liess die
Diskutierenden gewähren. Dies hatte zur Folge, dass sich die
Anwesenden oft auf ihre vorbereitenden Statements stützen konnten.
Während sich Vorgänger Reto Brennwald wohl eher einmal
vorgewagt hätte, um den Gästen die eine oder andere
überraschende Aussage zu entlocken, vermied Wiedmer das Risiko und
blieb weitgehend harmlos, gleichzeitig aber auch charmant,
souverän und phasenweise humorvoll. Ein Nachhaken hätte der
Diskussion an mehreren Stellen gutgetan. Zum Beispiel dann, als Karrer
die Antwort schuldig blieb, weshalb er der Einladung von Greenpeace
nach Majak nicht nachkam. Majak ist eine kerntechnische Anlage in
Sibirien, die wegen umstrittenen Uranaufbereitungsmethoden in die
Schlagzeilen geriet. Die Gegend gilt als verseucht; zahlreiche Bewohner
sind an Krebs erkrankt, Kinder kamen entstellt zur Welt. Auch die Axpo
bezog Rohstoff von dieser Anlage.
Polarisierende Atomphysikerin
Wer die Situation schliesslich beinahe zum entgleisen brachte,
war nicht ein Politiker oder ein Umweltaktivist, sondern eine
rüstige Seniorin. Im letzten Drittel der "Arena" und kurz bevor
die Sendung drohte sich in Nettigkeiten zu verlieren, meldete sich die
Nuklearphysikerin Irene Aegerter zu Wort. Die kauzig anmutende
Wissenschaftlerin, die seit mehreren Dekaden auf dem Gebiet forscht,
liess sich zu polarisierenden Aussagen hinreissen, welche die
mögliche Gefahr eines atomaren Endlagers relativierten. Mit ihrem
Vergleich zwischen Atom-Müll und einem Fingerhut zog sie den
Ärger eines Gutteils der Arena auf sich: "Solch zynische Aussagen
sollten sie besser lassen", entgegnete Martin Bäumle. Beat Jans,
Vertreter der Bewegung "Nie wieder AKW", bekundete: "Mit solchen
Aussagen habe ich extrem Mühe." Es sollte der einzig wirkliche
Aufreger einer Arena bleiben, die wenig wagte, aber wohl auch deshalb
nichts verlor. Und für Urs Wiedmer war es eine unspektakuläre
Feuertaufe, aber noch lange nicht das Ende seiner Bewährungsprobe
- die nächsten Sendungen sollt er nutzen, sich ein eigenes Profil
anzueignen. Denn davon war gestern nicht allzu viel zu sehen.
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Arena sf.tv 18.2.11
http://www.sendungen.sf.tv/arena/Sendungen/Arena
AKW Ja - Endlager Nein
Die Berner Bevölkerung hat am Sonntag einem allfälligen
Ersatz des Atomkraftwerks Mühleberg knapp zugestimmt. Am gleichen
Tag sagten die Nidwaldner deutlich Nein zu einem Endlager am
Wellenberg. Ist also Atomstrom erwünscht, der Abfall aber nicht?
Wie viel Atomstrom braucht das Land? Wie gefährlich ist der
Abfall? Und: Ist es legitim, neue Atomkraftwerke zu planen ohne die
Endlager-Frage zu klären?
Es diskutieren unter anderen:
- Martin Bäumle, Präsident Grünliberale, Nationalrat
GLP/ZH
- Heinz Karrer, CEO Axpo Holding
- Kaspar Schuler, Geschäftsführer Greenpeace Schweiz
- Beat Vonlanthen, Präsident der kant. Energiedirektorenkonferenz,
Regierungsrat CVP/FR
Wiederholungen:
Samstag, 19. Februar 2011
SF1: 02.45 Uhr und 15.30 Uhr
SF info: zwischen 08.00 und 13.00 Uhr
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Bund 18.2.11
EWB wehrt sich gegen "Dreckschleuder"-Betitelung
Eine Woche nach der Konsultativabstimmung zum AKW Mühleberg
wehrt sich Energie Wasser Bern gegen ein Inserat des
überparteilichen Komitees "Ja zu Mühleberg". In diesem
Inserat sei das Gas- und Kombikraftwerk im Forsthaus wiederholt als
"CO2-Dreckschleuder" bezeichnet worden. Dies sei wider besseres Wissen
erfolgt - diese "verzerrende Darstellung" weist das EWB deshalb
"entschieden" zurück, wie das Unternehmen in einer Mitteilung
schreibt. Zudem suggeriere der Inseratetext, EWB habe die
Bevölkerung bewusst falsch informiert, da die Anlage gar keine
erneuerbare Energie produziere. Diese Behauptungen sind gemäss EWB
"falsch", denn der Strom aus dem Gas- und Kombikraftwerk sei nie als
erneuerbare Energie bezeichnet worden. "Richtig ist, dass es eine sehr
effiziente und daher umweltfreundliche Form der Stromproduktion
ist."(pd)
---
Bund 18.2.11
Bundesrat fordert Transparenz bei Uran
Schweizer Atomkraftwerke sollen auch künftig nicht
nachweisen müssen, dass das von ihnen verwendete Uran nach
internationalen Umwelt- und Sozialstandards abgebaut und verarbeitet
worden ist. Der Bundesrat stellt sich gegen eine Motion mit dieser
Forderung. Er verlangt aber mehr Transparenz.
Er sei sich der Problematik bewusst, schreibt der Bundesrat in
der gestern Donnerstag veröffentlichten Antwort auf eine Motion
von Nationalrat Beat Jans (SP, BS). Der Bund habe deshalb die Betreiber
der Schweizer Atomkraftwerke aufgefordert, Informationen über die
Herkunft der Kernmaterialien und die Herstellung von Brennelementen zu
liefern.
Anschliessend werde zu klären sein, ob weitere Massnahmen
möglich seien. Der Bund könne jedoch keine Kontrollen im
Ausland durchführen, hält der Bundesrat fest. Die
Durchsetzung internationaler Umweltstandards sei wohl nur über
internationale Organisationen zu erreichen.(sda)
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Blick 18.2.11
Bundesrat lässt die AKW-Betreiber strahlen
Bern - Der Bundesrat hat gestern den Schweizer AKW-Betreibern
gleich doppelte Freude gemacht. Er stellt sich gegen parlamentarische
Vorstösse, die AKW-Betreiber verstärkt in die Verantwortung
nehmen wollten. So werden diese weiterhin nicht nachweisen müssen,
dass ihre Uran-Brennstäbe nach internationalen Umwelt- und
Sozialstandards abgebaut und verarbeitet worden sind. Ebenso hält
die Regierung nichts vom Vorschlag, dass die Atomindustrie auch
für die Kosten aufkommen soll, die entstehen, wenn Atommüll
aus einem allfälligen Tiefenlager geborgen werden müsste.
---
Tagesanzeiger 18.2.11
Rolf Häusler Der Gemeindepräsident bietet sein Dorf
Schwaderloch als möglichen Standort für das Tiefenlager an.
Unser Mann für radioaktiven Müll
Von Simone Rau
Sie sagen Dinge wie: "Ein Tiefenlager in unserer Region kommt
nicht infrage" oder "Wir wollen den Atommüll nicht". Er sagt: "In
unserem Dorf haben wir ein geeignetes Gebiet für die Aussenanlagen
des Tiefenlagers." Sie protestieren, er bietet sich an. Rolf
Häusler, 49 Jahre alt und Gemeindepräsident des aargauischen
Schwaderloch, ist eine Ausnahmeerscheinung in der Diskussion um das
geplante Tiefenlager für radioaktive Abfälle.
Während die meisten zwar von Atomkraftwerken profitieren,
aber nichts mit dem anfallenden Müll zu tun haben wollen, will
Häusler Verantwortung übernehmen. Er ist überzeugt, dass
radioaktive Abfälle dort entsorgt werden sollen, wo sie entstehen.
"Man fährt den Abfallsack ja auch nicht durch die halbe Schweiz in
die Verbrennungsanlage", sagt er.
Schwaderloch biete optimale Voraussetzungen für den Eingang
zum Tiefenlager, so der Gemeindepräsident. Da sei etwa die
Nähe zu den Kernkraftwerken Leibstadt und Beznau, weshalb man von
kurzen Transportwegen profitieren könne. Oder die Tatsache, dass
das Dorf verkehrsmässig gut erschlossen sei und in einem ebenen
Gebiet liege. Zu dieser Ansicht, betont Häusler, sei übrigens
auch ein Student in einer Diplomarbeit gelangt. Das geeignete
Gelände - Schwaderlochs Industriegebiet - liege zudem ausserhalb
des Dorfes. Für Häusler ein weiterer Pluspunkt.
Der umtriebige Gemeindepräsident versteht es, Schwaderloch
geschickt zu verkaufen. Weiss er doch genau, was seiner
700-Seelen-Gemeinde der Bau des Tiefenlagers bringen würde. Er
spricht von "Arbeitsplätzen" und "Geld" und "Aufschwung". Um dann
anzufügen: "Wir haben ein geeignetes Gebiet. Dies heisst aber
nicht, dass wir für ein derartiges Projekt auch eine Mehrheit bei
den Stimmbürgern finden würden." Sowieso sei eine
mögliche Lagerung radioaktiver Abfälle unter seinem Dorf
"Zukunftsmusik".
Damit hat er recht: Noch kommen neben Jura Ost (früher:
Bözberg) fünf weitere Standortregionen für das
Tiefenlager infrage. Und vorerst gehört Schwaderloch nicht einmal
zum Planungsperimeter der Standortregion Jura Ost. Das passt dem
Gemeindepräsidenten überhaupt nicht. Er befürchtet, dass
dieser als Abgrenzung für zukünftige Entschädigungen
dienen wird. "Die Gemeinden innerhalb des Perimeters werden
entschädigt, die Gemeinden ausserhalb des Perimeters gehen leer
aus. Deshalb müssen wir zwingend in diesen Perimeter." Einen
entsprechenden Antrag habe der Gemeinderat bei der Nationalen
Genossenschaft zur Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) bereits
eingereicht.
Erneut leer auszugehen bei einer Abgeltung, wäre für
Häusler ein Gräuel. Bereits jetzt hat Schwaderloch nichts von
seiner Nähe zu Leibstadt und Beznau. Das Energiegesetz will, dass
nur die Standortgemeinden selbst finanziell entschädigt werden.
"Wir befinden uns in der Gefahrenzone 1 von zwei Kernkraftwerken,
bekommen aber keine Abgeltung dafür. Das ist eine Schweinerei."
Häusler, der sich auch von Berufes wegen mit Energie
beschäftigt - er leitet bei den Industriellen Betrieben Wohlen die
Abteilung Qualität und Sicherheit -, ist überzeugt von der
Notwendigkeit der Kernkraftwerke. Und seiner Idee. Ganz im Gegensatz zu
vielen im Dorf: Sie fühlen sich mit Leibstadt und Beznau schon
genug belastet.
--
71 Zürcher sind im Endlager-Team
Der Kanton hat die meisten Vertreter in einer Gruppe, welche die
Mitsprache bei der Standortsuche regelt.
Von Mischa Weber
Die Bevölkerung soll bei der Standortwahl für das
geplante Tiefenlager für radioaktive Abfälle mitreden
können. Zu diesem Zweck baut das Bundesamt für Energie (BFE)
sogenannte Startteams auf. 120 Personen werden jenes des Standorts
Lägern-Nord bilden, erklärt Peter Zust vom Forum
Lägern-Nord. 71 dieser "Sitze" gehen an den Kanton Zürich, 28
an den Aargau, 4 an Schaffhausen und 17 an Deutschland.
Aufgabe der Startteams ist es laut BFE, zu zeigen, wie sich die
möglichen Standortregionen in das Wahlverfahren einbringen
können. Dies, ohne "für oder gegen ein Tiefenlager zu sein".
Es gehe einfach darum, sicherzustellen, dass der Prozess sauber starte.
Die Startteams sollen laut BFE zu 30 bis 50 Prozent aus
Behördenmitgliedern der entsprechenden Gemeinden bestehen und zu
30 bis 50 Prozent aus organisierten Interessengruppen wie etwa
atomkritischen Vereinen. Mindestens 10 Prozent der Mitglieder sollen
"nicht organisierte Bevölkerungsgruppen" vertreten. "Diese
Vorgaben sind eher als Vorschlag zu verstehen", sagt Peter Zust.
Genügend Mitglieder zu finden, sei eine Herausforderung.
---
NZZ 18.2.11
Tiefenlager-Diskussion in 51 Zürcher Gemeinden
Zwei der möglichen Standortregionen liegen im Kanton
Zürich
rsr. · Bis im Jahr 2030 soll die Schweiz ein erstes
Tiefenlager für radioaktive Abfälle erhalten. Dessen Standort
soll indes bereits 2015 bestimmt werden. Zur Auswahl stehen sechs
Regionen in der Deutschschweiz, zwei davon liegen hauptsächlich im
Kanton Zürich: das Gebiet "Nördlich Lägern" zwischen dem
Rhein und der Lägern und "Zürich Nord-Ost" im Weinland. Zudem
fallen 8 Zürcher Gemeinden in den Planungsperimeter der Region
"Südranden" im Kanton Schaffhausen.
Insgesamt sind somit 51 Gemeinden im Kanton Zürich als
Standortgemeinden oder in der erweiterten Planung von den
Überlegungen des Bundesamts für Energie betroffen. Dieses hat
nun bekanntgegeben, wie lokale Interessen in den Planungsprozess
eingebunden werden sollen (NZZ 17. 2. 11). In allen sechs
möglichen Standortregionen wird demnach ein
Partizipationsverfahren gestartet, dessen Kernstück die
Regionalkonferenzen sind. Hierfür stellen die
Kernkraftwerkbetreiber jeder Region etwa 500 000 Franken pro Jahr zur
Verfügung. Nun liegt es an den einzelnen Regionen, das Verfahren
in Gang zu setzen. In "Zürich Nord-Ost" geschieht dies unter der
Leitung des Gemeindeschreibers von Trüllikon, Christof Peyer. 16
Personen gehörten dem sogenannten Start-Team an, das die
Regionalkonferenz lancieren soll, erklärt Peyer. Dazu zählten
zum Beispiel Vertreter der Zürcher, Schaffhauser, Thurgauer und
deutschen Gemeinden. Sie planen nun die Aufbauforum genannte
Informationsveranstaltung, bei der einige der 1503 Gruppen in der
Region - Parteien, Vereine und Institutionen -, aber auch
Einzelpersonen zur Teilnahme an der Regionalkonferenz motiviert werden
sollen. Bis 2015 hat diese Zeit, eine regionale Lösung zu finden,
bei der sich kein Interessenvertreter übergangen fühlt.
In der Region "Nördlich Lägern" sind die Arbeiten an
einem ähnlichen Punkt angelangt. Mediensprecher Peter Züst
erklärt, es seien fünf Aufbauforen in Vorbereitung. Die
grösste Herausforderung werde wohl darin bestehen, auch junge
Leute für eine Mitarbeit in der Regionalkonferenz zu gewinnen.
Diese müssten aber am meisten interessiert sein, handelt es sich
doch um einen Prozess, der noch Jahrzehnte dauert.
---
Aargauer Zeitung 18.2.11
Wer in der Tiefenlagerfrage mitreden darf
Bei der Suche nach Standorten für ein Tiefenlager für
radioaktive Abfälle will der Bund die Interessen und
Bedürfnisse der betroffenen Bevölkerung berücksichtigen.
Das Bundesamt für Energie (BFE) hat für die dazu nötigen
Partizipationsverfahren nun die Regeln festgelegt. Ziel ist es, dass
die Verfahren in allen möglichen Standortregionen nach
vergleichbaren Regeln ablaufen.
Durchgeführt werden sollen die Verfahren von so genannten
Regionalkonferenzen. Je nach Region sollen in diesen Gremien 50 bis
maximal 150 Entscheidungsträger aus Politik, Wirtschaft, Gewerbe
sowie Vertreter von Interessenverbänden mitarbeiten. 30 bis 50
Prozent sollen Behördenmitglieder der betroffenen Gemeinden sein.
Dabei sollen Gemeinden, die stärker betroffen sind, eine
grössere Vertretung erhalten. Bei grenznahen Standorten sollen
auch Vertreter deutscher Gemeinden mitmachen dürfen.
30 bis 50 Prozent der Mitglieder dieser Regionalkonferenzen
sollen aus organisierten Interessengruppen wie etwa atomkritischen
Vereinen, aber auch Gewerbeverbänden rekrutiert werden. Mindestens
zehn Prozent der Mitglieder sollen "nicht organisierte
Bevölkerungsgruppen" vertreten. Die Arbeit der Regionalkonferenzen
wird mehr als vier Jahre dauern. Ihr Ziel ist es unter anderem,
Vorschläge zur Anordnung und Ausgestaltung der oberirdischen
Infrastrukturen auszuarbeiten. Ausserdem sollen die Konferenzen die
sozioökonomischen und raumplanerischen Auswirkungen eines
Tiefenlagers untersuchen und Projekte für die nachhaltige
Entwicklung der Region ausarbeiten. (sda)
---
St. Galler Tagblatt 18.2.11
Atommüll gibt zu diskutieren
Der Bund will die Interessen der Bevölkerung bei den
Abklärungen für ein atomares Tiefenlager berücksichtigen
- darunter sind auch Thurgauer Gemeinden. Das Bundesamt für
Energie (BFE) hat gestern die Regeln für ein solches
"Partizipationsverfahren" festgelegt. Das Mitwirkungsverfahren soll in
allen sechs Standortregionen, die für ein atomares Tiefenlager in
Frage kommen, gleich ablaufen.
Durchgeführt wird es von sogenannten Regionalkonferenzen. In
diesen Konferenzen sollen 50 bis maximal 150 Vertreter aus Politik,
Wirtschaft, Gewerbe sowie Exponenten von Interessenverbänden
mitarbeiten. (ck)
Inland 5
--
Atommüll: Alle sollen mitreden
Regionen, die für ein atomares Tiefenlager in Frage kommen,
dürfen bei den Abklärungen mitwirken. Entsprechende
Strukturen werden aufgebaut. Auch im Kanton Thurgau, der an ein
mögliches Endlager Benken (ZH) grenzt.
Christian Kamm
Langsam, aber sicher wird es ernst. Im Prozess, der letztlich zu
einem geologischen Tiefenlager für radioaktive Abfälle
führen soll, hat der Bund gestern eine neue Etappe gestartet.
Mitwirken ist angesagt. An allen sechs möglichen Standortregionen
wird unter dem Banner "regionale Partizipation" ein Prozess
angestossen, welcher der Bevölkerung und den Interessengruppen vor
Ort eine Plattform geben will. Damit soll ein "transparentes und faires
Verfahren" sichergestellt werden.
Stark: "Vorbildliches Vorgehen"
Den Thurgauer Baudirektor hat der Bund bei seinen Bemühungen
schon einmal auf seiner Seite. Regierungsrat Jakob Stark lobt das
Vorgehen auf Anfrage als "vorbildlich". Der Thurgau muss auch alles
Interesse daran haben. Denn als einziger Ostschweizer Kanton befindet
er sich mit im Visier der Endlager-Fahnder. Die drei westlichsten
Thurgauer Gemeinden Diessenhofen, Basadingen und Schlatt gehören
zur Standortregion eines möglichen Tiefenlagers im
zürcherischen Benken. Und sind demzufolge vom Standortentscheid,
der Ende dieses Jahrzehnts fallen wird, direkt betroffen.
Drei Hauptaufgaben
Bereits in diesem Herbst soll die Mitwirkung vor Ort organisiert
sein. Die entsprechende Aufbauarbeit, die in allen Regionen nach den
gleichen Regeln abläuft, werden sogenannte "Startteams" leisten.
"Ich erwarte, dass die Bevölkerung ernst genommen wird", setzt
Regierungsrat Stark grosse Hoffnungen in das jetzt lancierte Projekt.
Die lokale Bevölkerung müsse einerseits umfassend informiert
werden und andererseits laufend Gelegenheit haben, Fragen zu stellen.
Wunder erwarten darf man von diesem neuen Instrument allerdings
keine. Im Kern geht es lediglich darum, dass ab dem kommenden Herbst in
drei Bereichen mitgeredet werden kann: Bei der Konkretisierung der
Oberflächenstruktur der Lager, bei den Untersuchungen der
sozialen, ökonomischen und raumplanerischen Auswirkungen sowie bei
Projekten für eine nachhaltige Entwicklung.
Grüne: "Unverbindlich"
Genau dieser Umstand stösst den Grünen sauer auf. "Der
heute vom Bund lancierte partizipative Prozess blendet die wahren
Probleme aus, ist unverbindlich und wird zu massiven Widerständen
führen", kritisiert die Grüne Partei in einer Mitteilung. Mit
einer parlamentarischen Initiative fordern die Grünen deshalb die
Wiedereinführung des Mitspracherechts der Kantone bei
Atommülllagern.
Für Jakob Stark ist denkbar, dass sich das Thema Endlager
nun auch im Thurgau "politisch aufladen" wird. Was er persönlich
allerdings nicht hoffe. "Denn grundsätzlich haben wir ein
Sachproblem zu lösen: die Lagerung von radioaktiven
Abfällen." Dass die Diskussion im Thurgau zurzeit noch auf
Sparflamme kocht, bestätigt auch Armin Jungi, Stadtschreiber der
grössten betroffenen Thurgauer Gemeinde Diessenhofen. "Ein heisses
Thema am Stammtisch ist es nicht."
Von einer organisierten Mitwirkung erwartet Jungi zwar eine
Belebung der Debatte, aber nicht wirklich neue Erkenntnisse. Die
Bevölkerung sei in der Frage Atommüll gespalten und werde das
wohl bleiben.
Auch für den Fall, dass die jetzt angestossene
Beteiligungsmöglichkeit vor Ort gar nicht oder nur schleppend
genutzt wird, hat das Konzept des Bundes - in typisch schweizerischer
Gründlichkeit - übrigens vorgesorgt. Dann sollen Anreize
helfen - zum Beispiel eine finanzielle Entschädigung.
--
Drei Etappen
Die Rahmenbedingungen für die Suche nach einem atomares
Endlager gibt der "Sachplan geologische Tiefenlager" vor, den der
Bundesrat 2008 verabschiedet hat. Er sieht drei Etappen vor.
Zum Abschluss der ersten (im Herbst 2011) wird der Bundesrat
entscheiden, welche der in Frage kommenden sechs Standorte im weiteren
Auswahlverfahren bleiben. Während der zweiten Etappe kann die
Bevölkerung in Teilbereichen mitwirken. Die Nagra schlägt
dann je zwei Standorte für schwach- und hochradioaktive
Abfälle vor. Diese werden in der Etappe drei vertieft untersucht.
Voraussichtlich 2019/20 fällt der Bundesrat den definitiven
Entscheid. (ck)
---
Beobachter 18.2.11
Sicherheit auf Tauchstation
Thomas Angeli
Bei der Revision im AKW Leibstadt wurde ein Taucher verstrahlt.
Der Untersuchungsbericht zum Vorfall offenbart bedenkliche
Sicherheitsmängel. Text: Thomas Angeli
Es war ein simpler Handgriff, den ein Angestellter einer welschen
Tauchfirma am 31. August 2010 tat - aber ein verhängnisvoller. Der
Berufstaucher hatte im Brennelement-Transferbecken des Kernkraftwerks
Leibstadt eben Instandhaltungsarbeiten beendet, als er am Boden des
Beckens ein 25 Zentimeter langes Rohrstück entdeckte. Er hob es
auf und legte es in einen Transportkorb. Als dieser aber an die
Oberfläche gezogen wurde, schlugen die Geigerzähler an: Das
Fundstück war verstrahlt - und der Taucher somit auch.
Die Untersuchung des ernsthaftesten Vorfalls in einem Schweizer
AKW im Jahr 2010 wurde im Dezember abgeschlossen, ohne dass die
Öffentlichkeit die Resultate erfuhr. Das Eidgenössische
Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) ergänzte einzig die
Medienmitteilung, die unmittelbar nach dem Vorfall herausgegeben worden
war. Nun liegen dem Beobachter der Ensi-Bericht und ein
Expertengutachten zur Verstrahlung des Tauchers vor. Beide Berichte
zeigen eine Serie von Unzulänglichkeiten und
Sicherheitsmängeln.
Problem 1: Das radioaktive Teil, ein Stück des Mantelrohrs
der Reaktorkerninstrumentierung, lag bereits rund vier Jahre dort.
Diese Rohre werden alle paar Jahre ausgewechselt, zerschnitten und in
einer Art Köcher durch einen Lift ins rund 20 Meter weiter unten
liegende Transferbecken geschleust. 2006 hatten sich die
Rohrstücke, die laut Leibstadt-Direktor Andreas Pfeiffer "nach
Augenmass" gesägt worden waren, beim Ausladen aus dem Lift
verklemmt, weil sie zu lang waren. Als man den Transportköcher
wieder hochzog, brach ein Rohrstück ab - ohne dass es jemand
bemerkte.
Problem 2: Bevor der Taucher ins Becken stieg, wurde dieses an
fünf Punkten auf Radioaktivität untersucht, jedoch nur im
"engeren Arbeitsbereich". Das entdeckte Rohrstück lag knapp
ausserhalb davon. Es genüge nicht, "nur den engeren Arbeitsbereich
auszumessen", bemängelt das Ensi.
Problem 3: Ein tragbarer Geigerzähler
("Unterwasser-Dosisleistungsmessgerät") hätte die Arbeit laut
Leibstadt-Direktor Pfeiffer "behindert, da der Taucher für seine
Arbeit beide Hände brauchte". Im Ensi-Bericht klingt das etwas
anders: Ein solches Gerät "stand nicht zur Verfügung".
Problem 4: Die fünf Dosimeter, die der Taucher auf sich
trug, schlugen zwar akustisch Alarm, doch hörte der Taucher wegen
der Sprechfunkverbindung zu seinem Kollegen am Beckenrand nichts davon.
Problem 5: Einzig dieser Kollege - auch er kein Angestellter des
AKWs - sah die Bilder der Helmkamera des Tauchers. Er gab auch das
Okay, das Rohrstück zu bergen. Die beiden Strahlenschutzexperten
des AKWs - ebenfalls vor Ort - sahen weder auf den Monitor, noch
griffen sie ein.
Problem 6: Das sogenannte Fingerringdosimeter an der rechten Hand
des Tauchers, das die genauesten Werte über die Strahlendosis
hätte liefern können, war während des Tauchgangs
beschädigt worden. Laut dem Bericht der externen
Strahlenschutzexperten konnten vom Gerät "alle vier Teile geborgen
werden". Danach wurden sie "minutiös unter der Lupe
zusammengefügt und mit Hilfe eines Sekundenklebers geklebt". Die
vom Dosimeter angezeigten Werte könnten deshalb auch "anders
sein", schlussfolgern die Experten.
Sie sind auch so hoch genug. Eine Dosis von 28 Millisievert auf
einmal abzubekommen sei "massiv", sagt der
Greenpeace-Strahlenschutzexperte Heinz Smital. Schliesslich sei schon
der Jahresdosisgrenzwert von 20 Millisievert sehr hoch angesetzt: "Das
ist ein sehr ernster Vorfall, der auf grobe Mängel im
Sicherheitsmanagement hinweist."
Wenig beruhigend liest sich da die Schlussbemerkung im
Ensi-Bericht: "Ein vergleichbares Vorkommnis ist auch in anderen
Kernkraftwerken denkbar." n
---
admin.ch 17.2.11
http://www.admin.ch/aktuell/00089/index.html?lang=de&msg-id=37687
Aufbau der regionalen Partizipation in den Standortregionen beginnt
Bern, 17.02.2011 - Bei der Suche nach Standorten für geologische
Tiefenlager für radioaktive Abfälle sollen die Interessen und
Bedürfnisse der betroffenen Bevölkerung angemessen
berücksichtigt werden. Zu diesem Zweck wird die so genannte
regionale Partizipation aufgebaut. Als Basis dafür
veröffentlicht das Bundesamt für Energie BFE heute zwei
wichtige Grundlagenpapiere. Die möglichen Standortregionen
arbeiten beim Aufbau der regionalen Partizipation eng mit dem BFE
zusammen, die Kantone unterstützen und koordinieren die
Zusammenarbeit mit den Gemeinden. Ziel ist es, dass bereits zu Beginn
von Etappe 2 der Standortsuche im Herbst 2011 funktionsfähige
Organisationsstrukturen für die inhaltliche Auseinandersetzung mit
konkreten Tiefenlagerprojekten bestehen.
Das Instrument der regionalen Partizipation gewährleistet den
frühen und umfassenden Einbezug der betroffenen Bevölkerung
und Interessengruppen in den Standortregionen und ermöglicht
dadurch ein transparentes und faires Verfahren. Dabei soll eine
ausgewogene Vertretung der verschiedenen Interessen sichergestellt
werden. Zu diesem Zweck werden neben den politischen Behörden auch
Organisationen und Institutionen sowie nichtorganisierte
Bevölkerungsgruppen einbezogen. Die regionale Partizipation soll
in allen Standortregionen nach vergleichbaren Regeln ablaufen.
* Im "Konzept regionale Partizipation: Grundlagen und Umsetzung" werden
Aufgaben, Regeln, Organisation, Strukturen, Finanzierung sowie konkrete
Umsetzungsschritte und Meilensteine der regionalen Partizipation
definiert. Diese ermöglicht es den Standortregionen, ihre
Interessen in das Auswahlverfahren einzubringen. Die drei Hauptaufgaben
betreffen die Konkretisierung der Oberflächeninfrastruktur
möglicher Tiefenlager, die Untersuchungen der
sozioökonomischen und raumplanerischen Auswirkungen eines
geologischen Tiefenlagers sowie Projekte für eine nachhaltige
Entwicklung der Region.
* Die Berichte zur "Bestandesaufnahme der Sozialstrukturen im
Sachplanverfahren für geologische Tiefenlager" enthalten
Bestandesaufnahmen und systematische Beschreibungen der
wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Charakteristiken
aller sechs möglichen Standortregionen. Dazu wurden verschiedene
regionale Indikatoren erhoben wie beispielsweise Bevölkerungszahl
und -dichte, Altersstruktur und -gruppen, Haushaltsstruktur,
Bildungsstand, Organisation des sozialen Lebens (Parteien, Vereine,
Clubs ...), Ausländeranteil und Sprachen, Religionen,
Arbeitslosigkeit, Beschäftigte, Branchen, Bauinvestitionen und
Steuerbelastung. Die Gemeinden der Standortregionen wurden bei der
Erarbeitung der Studie einbezogen.
Weiteres Vorgehen
Die so genannten Startteams, in denen die Gemeinden der
Standortregionen, die Standortkantone und das BFE sowie in vier
grenznahen Regionen deutsche Gemeinden vertreten sind, organisieren den
Aufbau der regionalen Partizipation. Die heute veröffentlichten
Dokumente bilden dafür die Grundlage, die den sechs
Standortregionen jedoch ein flexibles Vorgehen und Anpassungen an
regionale Gegebenheiten ermöglichen. Ziel ist, dass die Gremien
der regionalen Partizipation in den Standortregionen vor dem Start von
Etappe 2 des Sachplanverfahrens eingesetzt und operativ sind.
Neue Namen: Jura Ost und Zürich Nordost
Auf Wunsch der Standortregionen erhalten zwei Standortregionen neue
Bezeichnungen: "Bözberg" heisst neu "Jura Ost" und die
Standortregion "Zürcher Weinland" wird neu als "Zürich
Nordost" bezeichnet. Unverändert bleiben die Namen der anderen
Standortregionen "Jura-Südfuss", "Nördlich Lägeren",
"Südranden" und "Wellenberg".
Der Sachplan geologische Tiefenlager wurde vom Bundesrat im April 2008
verabschiedet. Er definiert ein transparentes Auswahlverfahren mit
klaren Regeln: In drei Etappen soll dieses in zehn bis zwölf
Jahren zu Standorten für je ein Lager für schwach- und
mittelradioaktive sowie für hochradioaktive Abfälle
führen. Denkbar ist auch ein Kombilager für beide
Abfalltypen. Oberstes Ziel ist dabei stets die Sicherheit von Mensch
und Umwelt. Zum Abschluss von Etappe 1 im Herbst 2011 und in Kenntnis
aller Ergebnisse und Stellungnahmen aus der Anhörung, wird der
Bundesrat entscheiden, welche Standortgebiete im Sachplan aufgenommen
und damit im weiteren Auswahlverfahren verbleiben
Im Zentrum von Etappe 2, die voraussichtlich von Herbst 2011 bis
2015/16 dauern wird, stehen zwei Ziele:
1. Partizipation: Die Standortregionen haben die Möglichkeit, bei
der Konkretisierung der Oberflächeninfrastruktur der Lager, bei
den Untersuchungen der sozioökonomischen und raumplanerischen
Auswirkungen sowie bei Projekten für eine nachhaltige Entwicklung
der Region mitzuwirken.
2. Sicherheitstechnische Analysen und Vergleiche der Standorte: In
Etappe 2 muss die Nagra die in Etappe 1 vorgenommene qualitative
Bewertung von Sicherheit und Geologie durch quantitative provisorische
Sicherheitsanalysen und einen sicherheitstechnischen Vergleich der
Standorte erhärten.
Am Ende von Etappe 2 muss die Nagra auf Basis der bis dahin
vorliegenden Erkenntnisse mindestens je zwei geeignete Standorte
für SMA- und HAA-Lager vorschlagen.
Diese Standorte werden von der Nagra in der letzten Etappe 3,
voraussichtlich von 2015/16 bis 2019/2020, vertieft untersucht, so dass
sie für beide Lagertypen ein Rahmenbewilligungsgesuch erarbeiten
und einreichen kann. Aufgrund dieser Gesuche wird der Bundesrat
über die Erteilung der Rahmenbewilligung für je einen
Standort für ein SMA- und ein HAA-Lager oder für einen
Standort für ein Kombilager entscheiden. Nach dem Entscheid des
Bundesrats folgt die Genehmigung durch das Parlament, die dem
fakultativen Referendum unterliegt.
Was ist regionale Partizipation?
Im Rahmen des Sachplans geologische Tiefenlager bezeichnet die
regionale Partizipation ein Instrument der möglichen
Standortregionen zur Mitwirkung - im Sinn von Einbezug und Mitsprache -
mit dem Ziel der Einflussnahme. Mit diesem Instrument entwickeln und
formulieren Bevölkerung, Institutionen sowie Interessengruppen in
oder aus der jeweiligen Standortregion ihre Forderungen, Anliegen,
Fragen, Bedürfnisse und Interessen zuhanden des Bundes und der
Gemeinden der Standortregion.
Adresse für Rückfragen:
Marianne Zünd, Leiterin Kommunikation BFE, 031 322 56 75 / 079 763
86 11
Kontakt / Rückfragen Standortregionen:
Jura Ost, Gerry Thoenen, Tel. 062 874 47 50
Jura-Südfuss, Hans Beer, Tel. 062 511 10 49
Nördlich Lägeren Medienstelle Standortregion, Peter
Züst, 043 499 50 00, info@startteam.ch
Südranden, Othmar Schwank, Tel. 044 450 60 77
Wellenberg, Kurt Margadant, Tel. 041 340 30 20
Zürich Nordost, Christof Peyer, Tel. 052 319 13 29
Herausgeber:
Bundesamt für Energie
Internet: http://www.bfe.admin.ch
Dateianhänge:
Konzept regionale Partizipation (pdf, 999kb)
http://www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/22157.pdf
Jura Ost - Bestandesaufnahme, Teil I (pdf, 5993kb)
http://www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/22151.pdf
Jura Ost - Bestandesaufnahme, Teil II (pdf, 927kb)
http://www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/22152.pdf
Jura-Südfuss - Bestandesaufnahme, Teil I (pdf, 5422kb)
http://www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/22141.pdf
Jura-Südfuss - Bestandesaufnahme, Teil II (pdf, 820kb)
http://www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/22142.pdf
Nördlich Lägeren - Bestandesaufnahme, Teil I (pdf, 6006kb)
http://www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/22153.pdf
Nördlich Lägeren - Bestandesaufnahme, Teil II (pdf, 958kb)
http://www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/22154.pdf
Südranden - Bestandesaufnahme, Teil I (pdf, 6047kb)
http://www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/22145.pdf
Südranden - Bestandesaufnahme, Teil II (pdf, 954kb)
http://www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/22146.pdf
Wellenberg - Bestandesaufnahme, Teil I (pdf, 4938kb)
http://www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/22147.pdf
Wellenberg - Bestandesaufnahme, Teil II (pdf, 787kb)
http://www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/22148.pdf
Zürich Nordost - Bestandesaufnahme, Teil I (pdf, 6003kb)
http://www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/22155.pdf
Zürich Nordost - Bestandesaufnahme, Teil II (pdf, 1017kb)
http://www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/22156.pdf
Zusätzliche Verweise:
http://www.radioaktiveabfaelle.ch