MEDIENSPIEGEL
26. DEZEMBER 2011 - 01.01-2012
BZ 31.12.11
Ein letztes Konzert im Sous Soul
Nachtleben · Das Sous Soul ist Geschichte. Nach fünf Jahren
und vier Monaten schliesst das Lokal in der unteren Altstadt
endgültig seine Tore. Ein letzter Besuch beim letzten Auftritt der
Berner Combo Tequila Boys.
Tequila Boy Baze steht auf der Bühne im proppenvollen
Gewölbekeller und schreit in die Menge: "Mein Herz brennt!" Die
Tequila Boys spielen ein letztes Mal im Sous Soul - sie sind
Stammgäste hier, wie auch viele der Konzertbesucher. Die
Coverversion des Rammstein-Songs hallt durch den Raum, die Stimmung ist
ausgelassen. Trinken, tanzen, singen und Party machen, darum gehts an
den Konzerten der Berner Combo, die im Sous Soul Monat für Monat
Livemusik bieten. Doch einige Herzen brennen tatsächlich hier
drinnen, denn alle wissen: Das Sous Soul steht unmittelbar vor seinem
Ende. Wie stark in diesem Zusammenhang das Vokabular des Todes
bemüht wird, macht deutlich, wie emotional die Schliessung
für viele Beteiligte ist. Von "Clubsterben" ist die Rede, "Tour de
la Muerte 2011" nannten die Tequila Boys ihre letzten Auftritte im
geliebten Keller. Die Verantwortlichen des Sous Soul haben in den
letzten Tagen gar eine Todesanzeige veröffentlicht, in der "in
tiefer Trauer, aber mit vielen schönen Erinnerungen" Abschied
genommen wird vom lieben Sous Soul. Geboren am 1. September 2006 und
gestorben am 30. Dezember 2011 - "nach langem Kampf gegen engstirnige
Mitmenschen". Die Schliessung ist die Folge eines jahrelangen Zwists
mit einzelnen Anwohnern um zulässige Lärmgrenzwerte.
Komplett ausverkauft
Raphael Torokoff, einer von zwei Barchefs und Vorstandsmitglied des
Vereins Sous Soul, sitzt an diesem Abend an der Kasse. Es ist kurz nach
halb zehn, ohne Ticket oder Gästeliste gibts an ihm kein
Vorbeikommen mehr. Das Sous Soul ist auch an diesem Abend komplett
ausverkauft, wie praktisch immer, wenn die Tequila Boys auftreten. Vier
junge Leute versuchens mit Diplomatie, doch Torokoff, der bereits seit
vier Jahren im Verein dabei ist, bleibt hart. "Nein. Das ist mein
letztes Wort." Man merkt: Er ist ein wenig gereizt, doch dazu steht er
auch. In den letzten Tagen sei sein Gemütszustand hin und her
geschwankt zwischen Aggressivität und Trauer - aber auch
Dankbarkeit für alles, was er hier erleben und mitgestalten durfte.
Finissage am Freitag
Das offizielle Ende fand einen Tag später statt - mit der
gestrigen Finissage, an der die Betreiber ein letztes Mal die laute
Kultur zelebrierten, wie sie auf ihrer Website schreiben. "Danach ist
Ende - dann kann sich Bern seiner Lethargie genüsslich hingeben
und ungestört das Leben verschlafen." Zum heutigen Silvesterabend
trifft sich der Verein im privaten Kreis ein letztes Mal im Sous Soul.
"Da werden sicher auch Tränen fliessen", sagt Raphael Torokoff.
Eine Alternativlocation sei zurzeit nicht in Aussicht. Man halte zwar
die Augen offen, "aber etwas Vergleichbares wird nicht zu finden sein".
Am 3. Januar um 21 Uhr, heisst es in der erwähnten Todesanzeige,
findet die Abdankung am offenen Grabe an der Junkergasse 1 statt.
Angemessene Kleidung ist erwünscht. Pierre Hagmann Abdankung: Am
Dienstag, 3. Januar, ab 21 Uhr findet im Sous Soul eine
öffentliche Abdankungsfeier statt. Blumen und Kränze sind
erwünscht.
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Tagesanzeiger 28.12.11
Die Bühnenkritiker gehen ins Netz
Käuflich und radikal subjektiv: Im Internet gibt es neue Formate
der Theaterkritik. Heikel ist die Finanzierung.
Von Andreas Tobler
Der Anspruch ist legitim: Auch in Zukunft soll es ungeachtet des
Medienwandels eine "öffentliche, qualifizierte Auseinandersetzung"
mit Theater geben. Die Aufregung war aber gross, als ein Internetportal
mit ebendiesem Anspruch ins Netz ging - initiiert vom Berufsverband der
freien Theaterschaffenden (ACT) und dem Schweizerischen Verband
für Kinder- und Jugendtheater (Astej).
Das Besondere an www.theaterkritik.ch: Die Plattform bietet den
Spielstätten und den freien Gruppen die Möglichkeit, zwei
Kritiken für 600 Franken zu bestellen. Je 200 Franken gehen an die
Redaktionskosten sowie an die beiden Kritiker. Ihre Besprechungen
werden am Tag nach der Premiere auf der Seite aufgeschaltet, die sich
selbst "die unabhängige Plattform für Theater-, Tanz- und
Performancekritiken" nennt. Die Printmedien, von Boulevardblättern
bis hin zur renommierten Wochenzeitung "Die Zeit", reagierten mit
Häme. Die Aufregung ist gross, weil das Portal die
Glaubwürdigkeit der Kritik untergräbt, indem es diese
finanziell vom Theater abhängig macht. Den Verdacht des
"Auftragsjournalismus" versucht theaterkritik.ch mit dem Versprechen
auszuräumen, die Unabhängigkeit der Kritiker werde
garantiert. Das genügt Michael Röhrenbach vom Berner Tojo
Theater nicht, auch wenn er es - wie die meisten Exponenten der freien
Szene - grundsätzlich begrüsst, dass es in der Schweiz ein
Portal für Theaterkritik gibt. Das Finanzierungsmodell halten aber
viele für "heikel", so auch Gunda Zeeb und Catja Loepfe von der
Gessnerallee Zürich. Silvie von Kaenel vom Fabriktheater findet
das Angebot ausserdem zu teuer - und unfair, weil nur jene den Service
nutzen können, die über genügend Mittel verfügen.
Damit perpetuiert sich die Ungerechtigkeit, denn Kritiken geben den
Theaterschaffenden die Möglichkeit, ihre Leistungen gegenüber
den Subventionsgebern zu dokumentieren.
Subventionierung möglich?
Mehrere Spielstätten wären indessen bereit, jährlich
einen fixen Beitrag an ein ähnliches Portal zu zahlen. Dabei, so
Röhrenbach, müsste es sich um einen "Solidarpakt" von
Theaterschaffenden und nicht um einen "Selbstbedienungsladen" handeln,
der Kritiken auf Bestellung liefert. Andere Stimmen befürchten,
dass die Internetkritiken lediglich von Spezialisten gelesen werden.
"Die Theaterkritik gehört in den Diskurs, der im Feuilleton breit
geführt wird", fordert von Kaenel. Dieser Meinung ist auch Carena
Schlewitt von der Kaserne Basel. Sie wäre bereit, eine
Kulturzeitschrift zu unterstützen, "in der nicht nur
Theaterkritiken, sondern auch andere Texte zur Kunst, Kultur und
Gesellschaft erscheinen".
Zu den wenigen Spielstätten, die das Angebot von theaterkritik.ch
bereits mehrfach genutzt haben, gehört das Miller’s Studio in
Zürich. Es sieht die Kritiken als weiteres Element im
"Kommunikationsmix", um auf das internationale Kabarettfestival in der
Mühle Tiefenbrunnen aufmerksam zu machen. Insgesamt
überwiegen aber Stimmen wie jene von Max-Philip Aschenbrenner vom
Luzerner Südpol, der die unabhängige Theaterkritik "als
Anliegen der Öffentlichkeit" verteidigt.
Könnte man die Probleme von theaterkritik.ch lösen, indem man
die Kritiken mit Subventionsgeldern bezahlt? Das Bundesamt für
Kultur, das theaterkritik.ch eine Starthilfe von 70 000 Franken
gewährt hat, kann den Betrieb nicht dauerhaft finanzieren. Und
auch Plinio Bachmann, Leiter der Theaterförderung der Stadt
Zürich, winkt ab: Aufgabe der Theaterförderung sei die
Unterstützung von Produktionen, nicht aber die Vermittlung von
Theater. Freie Gruppen dürften aber einen Teil ihres Werbebudgets,
für das es in den Antragsformularen der Theaterförderung eine
Rubrik gibt, für Kritiken verwenden. Dies ist möglich, weil
theaterkritik.ch laut Bachmann "zwischen Kritik und Marketing"
angesiedelt ist. Auch Martha Monstein von der Pro Helvetia hätte
nichts dagegen, wenn eine Gruppe eine Kritik aus ihrem
Produktionsbudget finanzieren würde. Sie findet es allerdings
nicht sinnvoll, die Seite direkt mit Fördermitteln zu
unterstützen. Die Theaterkritik müsse unabhängig sein,
"insbesondere unabhängig von jenen, die Produktionen
mitfinanzieren". Wenn das nicht gewährleistet sei, werde "die
Glaubwürdigkeit der Kritik unterlaufen".
Auch das deutsche Modell hinkt
Lösen könnte man die Probleme des neuen Portals mit einer
Schweizer Kopie von nachtkritik.de. Wie der Name sagt, findet man hier
Rezensionen, die professionelle Kritiker über Nacht schreiben;
jeweils am Morgen nach der Premiere sind sie online. Seit 2007 werden
so monatlich rund 50 Inszenierungen aus dem gesamten deutschsprachigen
Raum besprochen, in der Schweiz kommen bisher vornehmlich die grossen
Häuser wie das Zürcher Schauspielhaus zum Zug. Ein Ersatz
für eine Tageszeitung, die möglichst umfassend über eine
Region berichtet, ist nachtkritik.de also nicht. Und auch hier besteht
die Gefahr, dass die Kritiken vornehmlich von Spezialisten gelesen
werden. Für sie ist nachtkritik.de die ideale Ergänzung zur
Tageszeitung, denn neben den Rezensionen bietet die Seite
Debattenbeiträge, eine Kritikenrundschau, aktuelle Meldungen,
Theaterbriefe aus dem fremdsprachigen Ausland, Buchbesprechungen sowie
Leserkritiken und -kommentare.
Die Website ist gut besucht: Allein im November wurde nachtkritik.de
103 000-mal aufgerufen; rund 40 Prozent des Gesamtaufwands kann das
Portal inzwischen mit Anzeigen erwirtschaften, wobei es eine strikte
Trennung zwischen Werbung und Redaktion gibt: Wenn ein Theaterhaus ein
Inserat schaltet, erhält es kein Anrecht auf eine Kritik. Obwohl
einzelne Schwerpunkte von einer Stiftung finanziert werden und obwohl
für Schweizer Verhältnisse sehr tiefe Honorare gezahlt werden
mit 60 Euro pro Kritik, ist die finanzielle Situation von
nachtkritik.de aber prekär: Wiederholt musste die Seite
Spendenaufrufe schalten; damit konnte 2011 wenigstens ein Drittel der
Kosten aufgefangen werden. Der restliche Aufwand wird von einem
privaten Darlehen gedeckt.
Der Blog macht Lust auf mehr
Wer hoffte, im Internet würden auch neue Formen der Theaterkritik
entstehen, wurde zunächst enttäuscht. Seit zwei Monaten gibt
es nun aber ein Experimentierformat von Künstlern aus dem Umfeld
des 400asa-Regisseurs Samuel Schwarz: blitzkritik.posterous.com. Da
werden Audiobeiträge aufgeschaltet, die kurz nach Verlassen des
Theaters auf ein Smartphone gesprochen wurden. Einer denkt beim
Hundespaziergang über eine Inszenierung nach; ein Beitrag fordert
"Schluss mit marinierten [sic!] Bühnenbildnern!", und es gibt
Interviews mit Zuschauern, die in der Pause nach Hause gehen, weil sie
eine "fokusfreie" Inszenierung nicht mehr ertragen.
blitzkritik.com ist radikal subjektiv, ungerecht und oft polemisch -
aber gerade deshalb ein so interessanter Versuch, weil der Blog von
einer Leidenschaft geprägt ist, die Lust auf eine
Auseinandersetzung mit Theater macht.