MEDIENSPIEGEL 26. MÄRZ - 01. APRIL 2012

Bund 30.3.12

Geschliffene Karfunkel

Die Tanzcompagnie Flamencos en route betörte im Tojo der Reitschule mit "El rubí", einem intimen Kammerspiel für 3 Tänzer, 2 Sänger und 4 Instrumentalisten.

Marianne Mühlemann

Tonerde, Aluminium und Sauerstoff. Diese chemische Zusammensetzung hat Brigitta Luisa Merki zu ihrem jüngsten Stück inspiriert. Wenn man den Rohstoff wörtlich nimmt. Die drei Elemente bilden zusammen den Rubin. "El rubí", der dem Abend den Titel gibt. Ein starkes Stück ohne Geschichte, das vom ersten Takt an gefangen nimmt. Und wie beim blutroten Edelstein ist auch hier das Ganze mehr als die Summe seiner Einzelteile. Atmosphärisch dicht ist das kleine Kammerspiel, in dem das Timing vom wehmütigen "Ai ai" bis zum wütigen Klackern der Absätze stimmt, von der farblich ausgeklügelten Lichtregie mit den Sandwellen an Wand und Boden bis zu den Kostümen.

Selbst die Emotionen sind auf das Maximum minimiert: Die Flamencosprache ist nie geschwätzig, sondern beredt und vielstimmig. Da gibts Leidenschaft, Lebensfreude, Liebesglut - und in der Zugabe einen Schuss Selbstironie -, aber kein übersteigertes Pathos. Die theatralischen Mittel werden sparsam gesetzt. Keine üppigen Schleppenröcke, weder Fächer noch künstliche Blüten im Haar.

Brigitta Luisa Merki formt die Kunst aus der Bewegungsenergie im Raum. Die Beteiligten selbst sind die Rubine, die hier geschliffen werden. Eine Herausforderung ist das für die Choreografin, die seit über 25 Jahren ihren künstlerischen Weg geht und den Flamenco gleichsam mit jedem Stück neu erfindet. Dass das immer wieder gelingt, ist der handverlesenen Gruppe zu verdanken, die Merki stilsicher zum Ensemble formt. Dass sie den einzelnen Persönlichkeiten Raum gibt, individuelle Stärken einzubringen, zeugt von ihrer künstlerischen Erfahrung.

Im magischen Geviert

Die Experimentierfreude des Ensembles hat mit den Jahren nicht nachgelassen. Diesmal ist es eine arabische Sängerin (Karima Nayt), die in den Bann zieht. Eine Entdeckung ist diese Frau, die ihre expressiven, mit herben Kehllauten gespickten Klanggirlanden verführerisch mit der melancholischen Nyckelharpa (Erik Rydvall) zu verbinden weiss und mit der Stimme die Tanzbewegungen geheimnisvoll ins Dunkel verlängert. Auch zwischen den Flamencogitarren (Juan Gomez, Pascual de Lorca), dem Perkussionisten (Fredrik Gille) sowie den unterschiedlichen Temperamenten der Tänzer (Carmen Iglesia, Eloy Guilar, José Moro) entspinnen sich affektgeladene Dialoge, die in Kreisen implodieren oder über die Diagonale in unsichtbare Ferne klingen.

So gelingt es dem neunköpfigen Ensemble perfekt, die Intimität des engen Theaterraums in ein magisches Geviert zu verwandeln. Und der titelgebende Rubin - verstanden als Kunst in vielen Facetten - kommt zum Leuchten. Da sind die geschliffenen Karfunkel in Form von Requisiten, die plakativ zwischen Arien, Duetten, Tanzsoli und Lichtkreisen am Boden herumgereicht werden, überflüssig. Vier Jahre ist die preisgekrönte Badener Tanztruppe nicht mehr in Bern aufgetreten. Wegen fehlender Auftrittsmöglichkeiten in der Dampfzentrale, wie die Choreografin sagt. Nun hat Brigitta Luisa Merki den Schritt ins Tojo gewagt. Das Kammertanzspiel wurde vor vollem Haus begeistert aufgenommen.

Weitere Vorstellung: heute, 20.30 Uhr.

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20 Minuten 30.3.12

Dachstock: Boys on Pills taufen 3. Platte

BERN. Die Boys on Pills brachten ihr Doppelalbum "Nacht" raus. Wir haben mit Produzent und Rapper Elwont alias Johnny Bunko darüber gesprochen.

Gratuliere zum tollen Charteinstieg von "Nacht".

Elwont alias Johnny Bunko: Danke. Wir sind sehr überrascht. Platz 14 übertrifft unsere Erwartungen. Vor allem da es ein sehr undergroundiges Album geworden ist.

Also ein gutes Zeichen für den Schweizer Musikkonsumenten.

(Lacht) Wohl eher eines für unsere Fans. Vielen anderen ist die Platte zu wenig Hip-Hop. Anderen wiederum ist sie zu wenig Techno.

Es fällt auf, das "Nacht" weniger Dancefloor-orientiert, dafür experimenteller daherkommt. Woher kommt das?

Ich finde nicht, das wir uns wahnsinnig experimentell geben. Über Techno-Beats rappen mittlerweile ja viele. Ich spürte aber beim Produzieren, dass Baze vom House-Rap wegwollte. Dem habe ich mich etwas gebeugt.

Morgen tauft ihr das Album im Dachstock. Was plant ihr da?

Wir spielen 47 Stücke in einem Medley-artigen Set. Das wird mindestens 90 Minuten dauern. Und damit die Leute dabei nicht einschlafen, werden wir uns um ein rhythmisch möglichst abwechslungsreiches Set bemühen.
Pedro Codes

Sa, 31.3., 22 Uhr, Boys on Pills - Plattentaufe, Dachstock.

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20 Minuten 30.3.12

Insomnia macht die Spitalgasse zur Partyzone

BERN. Mit dem Insomnia erblickt ein neuer Club das Licht der Welt. Allen voran kommen House-, R'n'B- und Mash-up-Fans auf ihre Kosten.

Mitten im Berner Club-Sterben bringt das hiesige Nachtleben ein neues Kind zur Welt. Insomnia heisst der Club und liegt an der Spitalgasse 35, nur hundert Meter vom Bahnhof entfernt. "Wir wollen hier einen Ort schaffen, wo es sich für elegante Menschen ab 21 lohnt, in den Ausgang zu gehen", sagt Geschäftsführer Benabid Azedine. Zusammen mit Eventmanager und Booker Omar Cantoro wird er an der Spitze des neuen Lokals stehen.

Von Donnerstag bis Samstag sollen bis zu hundert Personen im rot-grau gehaltenen Club unterkommen. Diese dürften sich vor allem aus House-, R'n'B-und Mash-up-Fans rekrutieren: "Andere Stile werden aber vereinzelt auch ihren Platz finden", sagt Cantoro. Auf Kritik, dass es mehrere ähnlich ausgerichtete Clubs in Bern gebe, reagiert der Booker gelassen: "Wir bringen viel italienisches und amerikanisches Flair nach Bern." In Rom habe er lange mit Veranstaltern gearbeitet und Kontakte zu italienischen und US-amerikanischen Künstlern knüpfen können, so der Musikverantwortliche. Diese plant er jetzt vermehrt nach Bern zu holen. Vorerst aber kommen die Berner dran. An der Eröffnungsparty von morgen legen DJ Johnson Jonell und die Cuttin' Crew auf. Pedro codes

Sa, 31.3., 22 Uhr, Insomnia Club Big Opening, Insomnia.

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kulturagenda.be 29.3.12

"NAU - Hirt auf der Greina" im Tojo

Mit ihrer Truppe "i bonanzi" inszeniert Stefanie Ammann die Geschichte des Giacumbert nau nach dem gleichnamigen Roman des Bündner Schriftstellers Leo Tuor. In einer experimentellen Collage aus Musik, Schauspiel und Text entsteht auf der Bühne eine Atmosphäre wie auf einer abgelegenen Alphütte, mitten in einer wilden Berglandschaft.
Tojo Theater in der Reitschule, Bern. Mi., 4.4., 20.30 Uhr

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Bund 29.3.12

The Coup

Rap für die Decroissance-Gemeinde

The Coup sind ein wandelndes Vexierbild: Sie machen Rap für kampfbereite Pazifisten. Und verhelfen ganz nebenbei dem guten alten Funksample wieder zu einem Platz auf dem Podest.

Er sei ein wandelnder Widerspruch, "a walking contradiction", bekennt der The-Coup-Rapper Raymond "Boots" Riley im Eröffnungssong "Bullets and Love". Und kappt damit die redlichen Bemühungen seines Zuhörers, seine inhaltliche Bandbreite fassen zu wollen: Im einen Moment stellt er "5 Million Ways to Kill a CEO" zur Verfügung, oder gibt Tipps, wie man Polizisten mit Molotow-Cocktails in die Schranken weist. Im nächsten Moment will er sich schon wieder aufs "Lieben, Liebemachen und Likörtrinken" beschränken, wenn auch mit dem Hintergedanken, damit die "verdammte Revolution" wachzukitzeln.

The Coup, das sind mittlerweile zwei Jahrzehnte Basisarbeit im Rap-Genre, ausgeführt von Boots Riley und der DJane Pam the Funkstress aus dem kalifornischen Oakland. Einen Abstecher aus den Untergrund-Gefilden auf die Titelblätter der grossen Gazetten gelang ihnen, etwas unfreiwillig, 2001: Auf dem Albumcover von "Party Music" sprengte das Duo die Twin Towers in die Luft, kurze Zeit bevor die Türme tatsächlich zusammenbrachen. Der bekennende Kommunist Riley hatte sich die Botschaft des Covers folgendermassen gedacht: "Es ist eine Metapher dafür, wie sich mit der Macht der Musik der Kapitalismus zerstören lässt." Das Cover wurde dennoch zurückgezogen. Den beiden ist es ernst, keine Frage. Umso erstaunlicher, dass die Musik absolut unverbissen daherkommt. The Coup machen feinsinnig getexteten, mit Witz gespickten, wunderbar flüssigen Rap. Und das unterlegt von Beats, die in Erinnerung rufen, wie gut potente kleine Funksamples, sauber collagiert, der Seele tun. Übrigens haben sich The Coup mit ihrem letzten, 2006 erschienen Album von der Decroissance schon wieder abgewendet, zumindest vordergründig: "Pick a Bigger Weapon" heisst das wunderbare Machwerk. Wohin die Reise diesmal geht, ist schwer abzusehen. 2012 soll das neue Album erscheinen. (hjo)

Dachstock Reitschule So, 1. April, 20.30 Uhr.

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Dachstock

Moderne wirft Nostalgie ein

Von Anna Tschumi

Vier Jahre nach dem letzten Album tauft die Berner Hip-Hop-Combo Boys on Pills ihre dritte Platte. Auf dem Doppelalbum "Nacht" vermischen Songs und Remixes einen nostalgischen Hip-Hop mit kühler Elektronik von heute.

Gedämpfte Soundkulissen, minimale Beats und synthetische Klänge: Was wie das Intro eines Elektro-Songs tönt, ist der Auftakt zum neuen Album der Hip-Hop-Band Boys on Pills. Ohne Sprechgesang wäre die Bezeichnung Hip-Hop für die Band fast schon hinfällig. Denn der Hip-Hop wird auf "Nacht" rundum erneuert.
Dass der Hip-Hop auch hierzulande vermehrt mit anderen Genres vermischt wird, ist kein neuer Trend. Ungewohnt ist aber der Mut der Berner Rapper Baze und Jonny Bunko zu schrägen Kombinationen und minimalen Tönen. Keine zahmen elektronischen Klänge, sondern eigenwillige Beats und verstörende Geräuschkulissen vermischen sich auf ihrem dritten Album "Nacht" mit nostalgischem Oldschool Hip-Hop.
In Berner Mundart wird über moderne Elemente aus Techno, House und Trance gerappt. Dazu melancholische Streichermusik und sanfte Klaviermelodien? Kein Problem. Stilbrüche erfolgen auch mal mitten im Stück. Es sind Lieder, "bei denen sich dem eingefleischten Hip-Hopper schon mal die Haare sträuben", wie es der DJ, Manuel Ryser alias DJ Kermit, ausdrückt.

Verzögerung wegen Vielbeschäftigung

Die experimentierfreudige Band Boys on Pills entstand 2006. Berner Mundart-Rapper Baze gründete die Combo zusammen mit Produzent und Rapper Jonny Bunko aka Elwont. Der gebürtige Budapester produziert die Beats und schreibt gemeinsam mit Baze an den Texten. Für den Feinschliff und die Effekte sorgt DJ Kermit.
Dass es vier Jahre gedauert hat, bis ein neues Album erschien, sei vor allem die Schuld von Baze, wie Bunko kürzlich in einem Interview sagte. Der vielbeschäftigte Baze, mit gebürtigem Namen Basil Anliker, ist auch Mitglied des Schweizer Hip-Hop-Kollektivs Chlyklass und Teil der Spass-Band Tequila Boys. Ausserdem verfolgt er eine Solokarriere. Seinen bisher grössten Erfolg überhaupt feierte er mit dem Album "D'Party isch verbi" (2010).

Dachstock in der Reitschule, Bern
Sa., 31.3., 22 Uhr
www.dachstock.ch

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Bund 29.3.12

Boys on Pills

Grandios burschikos

Boys on Pills, das ist das Dancefloor-Projekt von Baze und Elwont. Auf dem neuen Werk "Nacht" wagen sie sich in Sachen Klangdesign in bisher unerforschte Gebiete vor.

Ane Hebeisen

Bubenzeugs ist es, was die Boys on Pills seit nunmehr drei Alben in die Welt stemmen. Und dieses Mal haben die Buben richtig geackert. 112 Minuten Musik, verteilt auf zwei CDs, sind zusammengekommen. Wie beim Tun von Jünglingen so üblich ist vieles nicht zu Ende gedacht, nicht ausgearbeitet, und vielleicht macht genau das dieses üppige Tonwerk so begehrenswert.

Boys on Pills, das ist die Forschungsstation von Baze und Elwont. Ersterer: derzeit wohl Berns stilsicherster Sprechsänger. Zweiterer: ein Durchschnitts-Rapper; aber was dieser ungarischstämmige Bursche hier aus seinem Produktionscomputer schüttelt, ist schon mehr als bemerkenswert. Ja, es ist stellenweise schlicht grandios.

Abstriche in der Poesie

Elwont hat aus dem Hip-Hop sämtliche Spurenelemente von Funk und afroamerikanischer Nostalgie ausgemerzt. Sein Augenmerk liegt auf dem Sounddesign, auf Programmingfinten und -experimenten. Dafür wird auch schon mal Gevatter Groove geopfert, und das Schöne ist: Niemand trauert ihm grossartig nach. Bauten frühere Produktionen von Boys on Pills auf recht absehbare Dancefloor-Knalleffekte, leisten sich die beiden heute den Luxus, ihre Beats auch schon mal eher atmosphärisch als wirklich rhythmisch einzusetzen. Das Konzept dieser Doppel-CD hat dem Elwont denn auch in die Hände gespielt: zwanzig neue Songs, die er gleich selber für die Bonus-CD geremixt hat. Das klingt dann - wie im wunderprächtigen Remix von "Obenuus" - eher nach Nine Inch Nails als nach bernischem Dancefloor-Hip-Hop, und das Lied "Uszyt" wird in der Nachbearbeitung zum minimalistisch-obskuren Tanzboden-Stampfer. In der Bearbeitung des Songs "Dämmerig" wird der Beat dann gar zur Auslegungssache, die beiden Rapper interpretieren ihn vollkommen unterschiedlich.

Selbstredend ist nicht ganz alles epochal, was aus dieser Bastelstube kommt. Doch Boys on Pills zementieren mit diesem Album ihren Status als progressivste Elektro-Frickler der heimischen Rap-Szene. Schade nur, dass man aufseiten der Poesie weit weniger Wert aufs Experimentieren und aufs Ausloten der Genregrenzen gelegt hat. Zwar geben sich die Jungs temporär ungewohnt nachdenklich, sinnieren über ihre Herkunft ("Erfahrige blibe") oder über die Endlichkeit des Seins ("Wenn i läb, wenn i stirb"). Doch viel bleibt da nicht hängen. Tipp fürs nächste Mal: halt noch ein paar Pillen nachschmeissen.

Dachstock Reitschule Samstag, 31. März, 22 Uhr.

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BZ 29.3.12

Launische Pillenbuben

Hip-Hop · Mal manisch, mal depressiv. Mal lustig, mal bitterböse. Die Berner Hip-Hop-Combo Boys on Pills meldet sich nach vier Jahren Abstinenz mit dem neuen Album "Nacht" eindrucksvoll zurück.

Vier Jahre ist es her, als die Combo Boys on Pills ihr letztes gemeinsames Werk "Supersonisch" veröffentlichte. Doch untätig waren die beiden Hauptprotagonisten seither beileibe nicht: Dr. Broccoli, landläufig bekannt als Rapper Baze, hat zwischenzeitlich das Soloalbum "D Party isch verbi" und den Fetzer "Live im Anker" mit seinen Tequila Boys veröffentlicht. Um Elwont - bei den Boys on Pills als Jonny Bunko aktiv - war es in der breiten Öffentlichkeit eher ruhig. Dass auch er mehr als nur fleissig war, beweist das neue Album "Nacht".

Viel Musik fürs Geld

Ist das prächtig gestickte, von Dr. Broccoli gestaltete CD-Cover einmal aufgeklappt, fällt einem die lange Tracklist ins Auge, die 20 Titel umfasst. Als ob dies nicht genug wäre, findet sich eine zweite Auflistung derselben Tracks in Remixform - komplett produziert von Bunko, der auch auf dem neuen Werk die Doppelfunktion als Rapper und Beatlieferant innehat.

Eigenständiger Sound

Jenseits von jeglichen Hip-Hop-Dogmen hat Bunko eine Klangästhetik geschaffen, in der klassische Rapeinflüsse auf elektronische Klänge treffen. Tief wummernde Bässe sind immer wieder präsent und lassen dann und wann einen gewissen Dub-Step-Einfluss nicht verleugnen. Ein hektisches Schlagzeug, hinkende Trommeln, schräge Effekte aber auch sphärische Keyboardklänge, gepaart mit Vocal-Samples und von DJ Kermit eingespielten Scratches, verleihen Bunkos Soundwelt die nötige Individualität. "Ich behaupte einfach mal, dass ich einen von Elwonts scheppernden und melancholischen Beats jederzeit aus fünfzig Instrumentals von unterschiedlichen Produzenten heraushören würde", lobt Dr. Broccoli die musikalische Eigenständigkeit seines Partners.

Relaxte Zusammenarbeit

"Die Herangehensweise ist viel relaxter als bei einem Soloding", erklärt Dr. Broccoli die breite Themenwahl und den lockeren Umgang mit Rap als Kunstform: "Wir vereinbaren jeweils, innerhalb einer Woche zwei oder drei Texte zu einem bestimmten Thema zu schreiben. Zack erledigt." Dies passiert bei aller Lockerheit auf höchstem raptechnischem Niveau. Wortspielereien wie etwa Bunkos "Usländerproblem mit Lüt us Länder mit Problem" untermauern die Raffinesse der Rapper.

Dr. Broccoli alias Baze umschreibt das eindrucksvolle Album als "stürmische Nacht mit allerlei Facetten und Gefühlen". Eine solche verspricht er auch für die Plattentaufe vom Samstagabend im Berner Dachstock: "Wir haben eine Show voller schneller Wechsel und fliessender Übergänge einstudiert!" Patrick Sigrist

"Wir vereinbaren jeweils, innerhalb einer Woche zwei oder drei Texte zu einem bestimmten Thema zu schreiben. Zack erledigt."

Dr. Broccoli

CD: Boys on Pills "Nacht" (Soundservice). Plattentaufe: Sa, 31. 3., 22 Uhr, Dachstock, Bern.

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Bund 29.3.12

The Jackets

Erschlagen vom Garagenrock

Irrsinn und ein Hauch Gefahr blühen jenen, die sich in die Fänge von The Jackets begeben.

Zwar singt sie auf ihrer neuen CD "Way Out" von Aufbruchstimmung. Doch wie schon im Albumerstling "Stuck Inside" findet Jacky Brutsche, Frontfrau von The Jackets, nicht aus dem 1960er-Genre des Garage-Rock heraus, frönt dem Stil vielmehr auf derart konsequente Weise, dass man annehmen muss, sie sei in die falsche Zeit hineingeboren worden.

Die Musik der Zürcher Mittdreissigerin hat etwas Zwingendes. Die gitarristischen Power-Cords werden mit Bassläufen synchronisiert und dem Hörer zusammen mit scheppernden Drums regelrecht zugeschmettert. The Jackets erinnern an die Sixties-Band The Monks, die "Anti-Beatles", welche die Musik der erfolgreichen Briten als "Sound für Grossmütter" abkanzelten und ihrerseits eine wildere Form des Rock'n' Roll kreierten. Noch ausgelassener und akustisch aufgemöbelt geht es beim Trio um Brutsche zu und her. Durch Auslassen musikalischer Details wirkt der Sog der groovigen Riffs umso stärker, und spätestens der stechend-beschwörende Blick der Sängerin lässt das Publikum nicht mehr entrinnen aus den Klauen der Garagenrocker. Der Sound mag mit der Zeit gleichförmig klingen, nur so lange aber, wie man die Präsenz der charismatischen und freakigen Musiker ausser Acht lässt. Das exzentrische Dreiergespann haucht der Musik, mit der es seit 2007 in die Schlacht zieht, zusätzliches Leben ein, vereinnahmt und besiegt einen: The Jackets dreschen so lange mit dröhnenden Akkorden auf den Hörer ein, bis dieser benommen in die Knie geht. So zu sehen im Clip "Freak Out", in dem das unter der Performance der Band in Ekstase geratene Partyvolk zum Schluss erschöpft am Boden liegt. Trotz gefährlicher Verheissung ruft das Video vor allem eines hervor: Lust auf die Live-Jackets. (juz)

Rössli Reitschule Donnerstag, 29. März, 21 Uhr

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BZ 29.3.12

"Es gäbe viele Gründe, um positiv über die Dampfzentrale zu reden"

Dampfzentrale · Zwischen Stolz und Frust: In Kürze verlassen Tanzchef Roger Merguin und Musikleiter Christian Pauli die Berner Dampfzentrale. Im Abschiedsinterview blicken die Co-Leiter zurück, äussern sich zur aktuellen Führungskrise und warnen vor einem kulturpolitischen Rückfall.

Ab nächster Woche ist die Dampfzentrale ohne Leitung. Mit welchen Gefühlen verlassen Sie die Institution?

Christian Pauli: Meine Gefühle sind zwiespältig. Zwar hat der Vorstand zusammen mit dem Team eine Übergangslösung gefunden. Aber es ist bedauerlich, dass jetzt mindestens ein halbes Jahr keine Leitungsperson vor Ort ist und nun überall von einem "Scherbenhaufen" die Rede ist. Das hätte nicht so herauskommen müssen …

Frustriert?

Pauli: Na ja, es gäbe auch viele Gründe, um stolz zu sein und positiv über die Dampfzentrale zu reden. Ich denke, dass wir das Haus in den letzten Jahren künstlerisch an einen Punkt gebracht haben, an den sich anknüpfen liesse …

Roger Merguin: Ich hätte mir natürlich eine nahtlose Übergabe gewünscht. Das ist leider nicht möglich.

Wie gravierend ist das Führungsvakuum in den kommenden Monaten?

Pauli: Was die interne Organisation betrifft, bin ich zuversichtlich. Das Team ist engagiert und stellt sich der Verantwortung - das ist sehr positiv.

Merguin: Es ist sicher eine grosse Herausforderung. Klar ist: Bis Ende Jahr wird es ein wohl reduziertes aber spannendes Programm geben.

Allerdings wird das Festival Tanz In. Bern, das Sie aufgebaut haben, dieses Jahr abgesagt.

Merguin: Das ist sehr enttäuschend. Wir haben in den letzten Jahren ein Stammpublikum aufgebaut, und die Dampfzentrale ist zu einem wichtigen Partner für die Künstler geworden. An diesen Erfolg hätte die neue Leitung anknüpfen können. Ein Jahr Pause gefährdet die gesamte Aufbauarbeit.

Konkret?

Merguin: Manche Sponsoren und Stiftungen werden nun über die Bücher gehen. Und es könnte sein, dass die künftige Festivalleitung in mancher Hinsicht wieder von vorne beginnen muss - so war es für mich nach dem Ende der Berner Tanztage 2007.

Zur Debatte steht, was mit den Subventionen für das abgesagte Festival geschehen soll. Es gibt Stimmen, die sich für eine Rückzahlung ausgesprochen haben.

Merguin: Das ist das Worst-Case-Szenario. Mich erstaunt das Vorgehen. Ende Jahr soll also die Politik entscheiden, wie viel das Programm wert war und dann allenfalls Geld zurückfordern. Sozusagen ein erfolgsabhängiges Bestrafungssystem. Ich hoffe, das macht nicht Schule.

Was bedeutet das praktisch?

Merguin: Der Übergangsbetrieb muss mit einer Kürzung rechnen und die 200 000 Franken schon mal zurückstellen für den Fall, dass sie am Ende rückerstattet werden müssen. Trotzdem soll er ein tolles Programm bieten. Das heisst: Gas geben und gleichzeitig auf die Bremse stehen. Da stimmt was nicht.

Pauli: Die Forderung mag für gewisse Kreise naheliegend sein, aber sie ist fatal. Meine grösste Befürchtung in der gegenwärtigen Situation ist, dass der Wind wieder dreht, dass nun jene Kräfte Auftrieb erhalten, die die Dampfzentrale ohnehin infrage stellen. Ein Haus für zeitgenössische Künste ist kulturpolitisch eine fragile Angelegenheit. Wir haben 2005 eine Institution in der Krise übernommen und ihr ein Profil gegeben, es gab einen kulturpolitischen Durchbruch: Im letzten Mai haben 73 Prozent der Bernerinnen und Berner Ja gesagt zur Dampfzentrale. Das alles wegen der jüngsten Probleme aufs Spiel zu setzen, ist fatal.

Was ist in den letzten Monaten schiefgelaufen?

Merguin: Die Ausgangslage war eigentlich gut. Ich habe den Vorstand frühzeitig über meine Bewerbung bei der Zürcher Gessnerallee informiert. Es gab dann im Vorstand wohl Grundsatzdiskussionen über das künftige Leitungsmodell, und offenbar konnte man sich nicht einigen. Diese Unklarheit spiegelte sich in der Ausschreibung und darin, dass die Stelle sehr spät ausgeschrieben wurde. Damit haben die Probleme begonnen.

Ist die neue Ausschreibung, die bis nächste Woche läuft, nun besser?

Merguin: Also, ich finde es eine interessante Ausschreibung, auf die ich mich vielleicht beworben hätte (lacht).

Pauli: Ich finde sie klarer als vorher. Ich gebe aber offen zu, dass ich mich gegen das nun gewählte Modell der Gesamtleitung durch eine einzelne Person ausgesprochen habe. Ich habe mich für die Beibehaltung des Co-Leitungsmodells eingesetzt - im Wissen um dessen Nachteile.

Die da wären?

Pauli: Dass die Verantwortung in einzelnen Fällen nicht geklärt ist.

Merguin: …beziehungsweise, dass die Verantwortung bei Pattsituationen in der Co-Leitung an den Vorstand delegiert wird. Das bedingt einen entscheidungsfreudigen Vorstand. Und wenn er das nicht ist, werden bestimmte Entscheide nicht getroffen.

Ist das Trägermodell der Dampfzentrale mit einem Laienvorstand überholt?

Pauli: Die Diskussion darüber ist auf jeden Fall nötig. Das Problem ist allerdings nicht dampfzentralenspezifisch.

Merguin: Auf dem Papier ist der Vorstand eigentlich gut aufgestellt, und im normalen Geschäftsablauf hat die Zusammenarbeit sechs Jahre lang gut funktioniert. Schwierig wird es in besonderen Situationen - bei einem Leitungswechsel, bei einer Krise …

Was wäre die Alternative?

Pauli: Es gibt die Idee eines Dezernats. Dass man gewisse Kulturinstitutionen direkt an die Stadt anbindet und strategisch von der Verwaltung führen lässt. Das ist zum Beispiel beim Zürcher Theaterspektakel der Fall. Mich überzeugt die Idee nicht wirklich. Aber ich finde es wichtig, dass solche Fragen nun in der ganzen Breite diskutiert werden.

Merguin: Gegen das Dezernats-modell spricht, dass die Institutionen ihre schlanke Organisationsstruktur verlieren und sich in der Verwaltung integrieren müssen. Dem jetzigen Modell des Laienvorstandes sollte aber in Krisenmomenten eine Beratung zur Verfügung stehen - nicht ein teures Beratungsbüro, sondern ein "Rat der Weisen", mit Personen, die aus der Praxis kommen.

Blicken wir zurück auf die letzten sechs Jahre. Worauf sind Sie besonders stolz?

Merguin: Wir haben 2005 mit einer Vision begonnen: dass die Dampfzentrale für das Publikum und die Künstler ein wichtiger Ort für zeitgenössischen Tanz und zeitgenössische Musik wird, der über Bern hinaus ausstrahlt. Das haben wir erreicht. Es wurde im Haus produziert und zeitge-nössischen Tanz und Musik auf die Bühne gebracht. Und das wurde in Bern, aber auch bis ins Ausland geschätzt.

Pauli: Dass so etwas in Bern möglich ist, hätte ich vor meinem Stellenantritt gar nicht für möglich gehalten. Salopp gesagt: Die Dampfzentrale ist das schönste Kulturhaus in Bern. Die Räume sind einzigartig. Das Haus strahlt Flexibilität und Offenheit aus, mit einem klaren, fordernden Profil. Das ist nicht selbstverständlich. Zuerst dachten manche, hier laufe in Sachen Tanz ungefähr dasselbe wie im Stadttheater. Oder musikalisch dasselbe wie im Dachstock der Reitschule.

Die Programmation ist allerdings immer wieder als zu sperrig und abgehoben kritisiert worden.

Merguin: Über Geschmack kann man gerne streiten. Denn sich mit etwas auseinanderzusetzen und seine Seh- und Hörgewohnheiten zu hinterfragen, kann sehr interessant sein. Der zeitgenössische Tanz bewegt sich nun mal von der Performance bis zum reinen Tanz. Genau dieses Spannungsfeld ist ja das Interessante beim Tanz. Und Achtung: 2005 hat es geheissen, die Dampfzentrale habe kein Profil. Jetzt hat sie eins und zeigt Tanz auf einem hohen Qualitätslevel in all seiner Vielfalt.

Pauli: Was meine Sparte betrifft: Die neue Musik ist eine spezifische Welt, die dem Publikum einiges abverlangt. Man muss vor allem Neugierde mitbringen - dann kann man regelrechte Abenteuer erleben. Kulturpolitisch ist die Frage aber eigentlich ganz einfach: Hat diese zeitgenössische Musik eine Daseinsberechtigung? Falls ja: Dann muss man ihr einen Ort und entsprechende Mittel geben. Und dieser Ort ist die Dampfzentrale.

Merguin: Natürlich, wenn die Zuschauer ausbleiben würden, müsste man das Profil des Hauses hinterfragen, dann gäbe es Handlungsbedarf. Aber so ist es nicht. Die Zuschauerzahlen in der Musiksparte sind in den letzten Jahren leicht gestiegen, beim Tanz sogar deutlich.

Publikums- und Auslastungszahlen sind immer relativ.

Merguin: Natürlich geht es eigentlich um Inhalte. Aber wenn sich die Diskussion - wie jüngst im Stadtrat - schon um Kennzahlen dreht, dann sage ich: bitte schön, dann schaut sie auch im Detail an.

Pauli: Ein Haus, dass sich dezidiert für zeitgenössische Kunst einsetzt und das Publikum herausfordert, steht permanent vor der Frage, ob es genügend Publikum hat oder nicht. Das ist nicht nur in Bern so.

Was wünschen Sie der Dampfzentrale für die Zukunft?

Merguin: Dass eine interessante Person die Leitung des Hauses übernimmt, die Inhalte definiert und die Dampfzentrale weiter entwickelt. Und dass die Dampfzentrale das Haus für den zeitgenössischen Tanz mit einem breiten Tanzbegriff bleibt.

Pauli: Die zeitgenössische, undogmatische Musik ist ein sensibles Pflänzchen, das spezifische Pflege braucht. Ich wünsche mir, dass sie auch unter dem neuen Gesamtleitungsmodell, das vor allem Tanz im Blick hat, entsprechend gehegt wird.

Interview: Oliver Meier

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Hintergrund

Personaldebakel Die Berner Dampfzentrale steht vor einer ungewissen Zukunft. Tanzchef Roger Merguin und Musikleiter Christian Pauli, beide als Co-Betriebsleiter seit 2005 im Amt, verlassen das Haus in diesen Tagen - wer die Kulturinstitution künftig leiten wird, ist vorderhand offen. Merguin übernimmt im August die Leitung des Theaterhauses Gessnerallee in Zürich, Pauli wechselt derweil an die Hochschule der Künste Bern, wo er ab Mai den Bereich Marketing und Kommunikation führt.

Die Suche nach einer Nachfolge für Merguin, der im Mai 2011 gekündigt hatte, mündete in ein Personaldebakel, das auf den Dampfzentrale-Vorstand kein gutes Licht warf. Merguins designierte Nachfolgerin zog sich im Dezember, kurz nachdem sie sich dem Team vorgestellt hatte, unter seltsamen Umständen wieder zurück. Der Vorstand, der sich bei der Stellenausschreibung viel Zeit gelassen hatte, musste über die Bücher und schrieb die Leitungsstelle mit Bewerbungsfrist bis 4. April 2012 neu aus. Damit steht die Dampfzentrale zumindest bis im Herbst, möglicherweise gar bis Ende Jahr ohne Leitung da.

Die Krise gab jüngst auch im Stadtparlament zu reden. Stadträte verschiedener Parteien forderten mit Blick auf die Probleme in der Dampfzentrale eine "aktivere" Rolle der Stadt. Auch das Trägermodell mit einem Verein und einem Laienvorstand, in dem die Stadt vertreten ist, wird hinterfragt. Weil das Festival Tanz In. Bern dieses Jahr ins Wasser fällt, steht zudem die Forderung im Raum, dass die dafür vorgesehene Subvention von 200 000 Franken zurückerstattet werden soll. Im Interview mit dieser Zeitung hielt Stadtpräsident Alexander Tschäppät dazu jüngst fest: "Ich verspreche, dass wir Ende Jahr genau hinschauen, was veranstaltet wurde und was nicht. Ist die Leistung nicht erbracht, wird Geld zurückfliessen oder zurückgestellt."mei

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BZ 29.3.12

Neue Fachstelle soll das Nachtleben sicherer machen

BERN. Ein schweizweites Warnsystem für gefährliche Substanzen und ein Massnahmenplan gegen Sexualdelikte unter Drogeneinfluss: Das sind die ersten Ziele von Safer Nightlife. Die Fachstelle versammelt Experten aus dem ganzen Land an einer Tagung.

Immer wieder erscheinen neue Drogen auf dem Markt. Oft sind sie mit gesundheitlichen Risiken verbunden, die noch nicht genau bekannt sind. "Wenn eine solche Substanz auftaucht, müssen neben den Konsumenten verschiedene Stellen wie etwa die Spitäler Bescheid wissen", sagt Peter Menzi von der Fachstelle Infodrog, die in Bern das Kompetenzzentrum Safer Nightlife Schweiz aufbaut. Eine der ersten Aufgaben ist es, das nationale Warnsystem Warning.ch zu entwickeln. Ein weiterer Fokus liegt momentan auf in Verbindung mit Drogen wie K.-o.-Tropfen begangenen Sexualdelikten. "Das Ziel ist, aus gesammelten Informationen ein standardisiertes Vorgehen abzuleiten", erklärt Menzi. So könne man sicherstellen, dass alle beteiligten Stellen richtig auf solche Fälle reagierten. Rettungssanitäter, Forscher, Clubbetreiber, Polizisten oder Gemeindebehörden haben alle mit Auswüchsen des Nachtlebens zu tun: Safer Nightlife will sie vernetzen und zur ersten schweizweiten Anlaufstelle für solche Fragen werden. Diesen Herbst bringt sie Fachleute aus allen Regionen in Biel an einer Tagung zusammen. Patrick Marbach

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BZ 28.3.12

Hip & hiesig

Pressetexte sind mit Vorsicht zu geniessen. Zu viel Eigenlob, zu wenig Facts. Doch mitunter findet sich zwischen Selbstbeweihräucherung und Superlativen doch etwas Brauchbares. Etwa im Promo-Blatt von The Jackets, einer Berner Band mit internationalen Referenzen. "Das Denken setzt mit dem Aufsetzen der Nadel aus", schreibt dort ein Anonymus zur Wirkung, die der Sound der Jackets auf ihn hat. Und sagt damit mehr über deren Musik als im ganzen restlichen Text. Denn das Trio tönt tatsächlich so, als entstamme es einer Zeit, als man seine Lieblingsbands noch auf dem Plattenteller drehen sah, mit 45 oder 33 Touren pro Minute. The Jackets spielen wilden Garagenbeat mit psychedelischer Garnitur, roh, rockig, robust und eher amerikanisch als britisch angehaucht.

Eine Gitarre, ein Bass, ein Schlagzeug - basta. Gut, da ist noch Sängerin Jackie Brutsche, die mit ihrem geheimnisvollen Timbre mal an Grace Slick (Jefferson Airplane) erinnert und dann wieder kreischt, gurgelt und quietscht, wie es der viel zu früh verstorbene Lux Interior von The Cramps tat. Brutsche, die als "The Moustache Queen" mit aufgeklebtem Schnauzbart auch eine One-Woman-Show auf die Bühne bringt, ist unbestrittener Blickfang und unüberhörbares Epizentrum der Jackets. Ihre gnadenlos verzerrten Gitarrenriffs sorgen für die Konturen des Jackets-Sounds, ihre Tremolo-orgien schütteln selbst ein ausgeschaltetes Hirn kräftig durch. Im Hintergrund agieren US-Drummer Chris Rosales und Bassist Samuel Schmidiger routiniert, aber dezent, und umgarnen Brutsches rohe Beatpower gelegentlich mit ein paar zurückhaltenden "Ooh"-Chören.

Die Vorbilder aus den Sixties haben The Jackets gut studiert. Punktierte Rhythmen, klirrende Gitarrenakkorde und ekstatische Refrains laden ein zum gemeinsamen "Freak Out" (Songtitel). Handwerklich überzeugt das Powertrio mehr als andere Vertreter des beliebten Retrogenres, auch wenn es die Spannung nicht während der ganzen Dauer seines neuen, zweiten Albums "Way Out" zu halten vermag - aber das war schon auf den Garagen-Beat-LP der Sixties so. Ohnehin verstehen sich The Jackets in erster Linie als Liveband. Morgen Donnerstag schlagen sie im "Rössli" gleich zwei Fliegen auf einen Streich und taufen ihre neue CD mit einem - hoffentlich - fulminanten Liveset. Freak out! Samuel Mumenthaler

CD: The Jackets "Way Out". CD-Taufe: 29.3. "Rössli"/Reitschule, Bern. Türöffnung: 21 Uhr.

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Aargauer Zeitung 27.3.12

Gefährliche Marktdominanz im Live-Geschäft

Musik · Am Festival m4music wurde die Konzertsituation in der Schweiz diskutiert. Brisante Themen blieben unerwähnt

Stefan Künzli

Die Schweizer Konzertszene boomt. Gemäss dem Branchenverband SMPA erreichten die Veranstalter mit einem Bruttoumsatz von 264 Millionen Franken 2010 einen neuen Spitzenwert. Gemäss diesen Angaben ist der Umsatz mehr als doppelt so gross wie jener der kriselnden Tonträgerindustrie (124 Millionen). An der Konferenz m4music in Zürich, wo der Live-Markt ein Hauptthema war, wurde trotzdem gejammert. Unter den Titeln "Festivals unter Druck" und "Clubsterben" sangen die Veranstalter den Blues und klagten in Panels über den harten Konkurrenzkampf, steigende Kosten, überrissene Gegenforderungen und sinkende Margen. Alles richtig, der Erkenntnisgewinn tendierte aber leider gegen null. Alles blieb nur an der Oberfläche.

Bloom und Blues

Es blieb an Berthold Seliger, dem deutschen Konzertagenten und Autor, in seiner Keynote den Widerspruch zwischen Boom und Blues im Live-Markt aufzuzeigen. Den grossen Profit sieht der streitbare Berliner bei den grossen Konzerten und den grossen Stars. Dagegen stellt er bei kleinen und mittleren Konzerten eine Stagnation fest. Auch die zum Teil horrenden Gagenforderungen würden nur für die Superstars gelten. Umso härter sei es für alle anderen. Bei steigenden Produktionskosten würden die Gagen kleiner und Newcomer legen bei Konzerten sogar drauf. Unausgesprochen widerlegte er damit die auch vom Bundesrat vertretene These, wonach die Schweizer Musiker ihre Einbussen im Verkauf von Tonträgern durch Konzerte kompensieren könnten.

Für Seliger ist die ungesunde Entwicklung in der Musikbranche eine Folge der Marktkonzentration. Nicht nur im Tonträgermarkt, wo die drei multinationalen Majors Universal, Sony und Warner über fast 80 Prozent Marktanteil verfügen, sondern vor allem auch im Live-Geschäft. Seliger verweist auf die beiden amerikanischen Unterhaltungsriesen William Morris Endeavor (WME, die Welt-Nr.1) und Creative Artists Agency (CAA), die den Markt beherrschen und die Preise aufgrund ihrer dominanten Stellung diktieren können. Weiter nennt Seliger den Zusammenschluss des Konzertriesen Live Nation und von Ticketmaster. 80 Prozent des Ticketings in den USA liefen über Ticketmaster.

Diktatur der Märkte

Seliger spricht von einer "Diktatur der Märkte", von einem "haltlosen Medienmonopol", von einem "amerikanischen Oligopol mit Auswirkungen auf die weltweite Konzertbranche". Die Marktkonzentration und die entstandenen Monopole und Oligopole hätten einen funktionierenden Wettbewerb ausser Kraft gesetzt. Für Seliger ist klar, dass diese monopolartigen Konglomerate "für die hohen Gagen und Ticketpreise verantwortlich" sind und dass der "Konsument die Zeche für diese Situation zahlt". "Wie konnte es passieren, dass wir das zulassen", sagt er und sieht "die Diversität und kulturelle Vielfalt gefährdet".

"Gigantisches Oligopol"

"Die Dominanz einzelner Firmen und Konglomerate zieht sich durch das gesamte Musikgeschäft", erklärt Seliger weiter. Auch in Deutschland. Gemäss Seliger verkauft der Marktführer CTS Eventim AG geschätzte 80 Prozent der Tickets für Popmusikkonzerte in Deutschland, ist Europas Marktführer im Ticketing und einer der führenden Anbieter von Live-Entertainment. Eventim verfügt über "gigantisches Oligopol, mit dem die Firma die Vorverkaufs- und Ticketgebühren wie auch die Verkaufsbedingungen diktiert". Gleichzeitig habe die Firma "systematisch Beteiligungen an nationalen Tournee- und Konzertveranstaltern aufgebaut" - auch in die Schweiz. Dabei verweist er auch auf den Deal mit der Schweizer Ticketcorner AG (Marktanteil 60 Prozent).

Es ist der einzige Verweis auf die Situation in der Schweiz. Dabei liesse sich Seligers Analyse wunderbar auf die Schweiz übertragen. Der Vorstandsvorsitzende von Eventim, Klaus-Peter Schulenberg, sagte damals zur Übernahme von Ticketcorner: "Wir festigen mit dieser Akquisition unser Geschäft in der Schweiz und bauen gleichzeitig unsere Marktführung in Europa weiter aus. Erklärtes Ziel ist es, zukünftig den kompletten Ticketverkauf in Europa aus einer Datenbank abzuwickeln."

Mit anderen Worten: Eventim gibt unumwunden zu, dass die Firma ein Monopol in Europa anstrebt. Umso pikanter ist der Deal, als der Medienkonzern Ringier mit Eventim schon 2009 eine Joint-Venture-Gesellschaft gegründet hatte, in der alle Ticketingaktivitäten gebündelt werden. Ringier verdient also mit. Für Marc Walder, CEO Ringier Schweiz und Deutschland, ist der Deal "ein weiterer wichtiger Schritt im Rahmen des konsequenten Ausbaus seines Engagements im Bereich Entertainment". Unerwähnt blieben auch folgende Fakten:

· Der grösste Schweizer Konzertveranstalter Good News gehört seit 2000 zu Ringier und dem deutschen Konzertveranstalter DEAG (Deutsche Entertainment AG).

· Free&Virgin, der zweitgrösste Schweizer Konzertveranstalter, ging im letzten Jahr ein. Ringier und DEAG gründeten darauf die neue Konzertagentur Starclick, die das Programmsortiment von Free &Virgin weitgehend übernahm (zum Beispiel das Metalfestival Sonisphere, das in diesem Jahr in Yverdon stattfindet).

Appell an die Konsumenten

Hat hier jemand etwas von gefährlicher Marktkonzentration gesagt? Am Festival m4music jedenfalls nicht. Von Ringier, Good News oder Eventim war niemand anwesend und die Stichworte "Ringier" und "Good News" wurden an der Konferenz nicht einmal erwähnt. Seliger appellierte angesichts der Marktkonzentration an die Haltung der Konsumenten. Doch wo sind die Politiker und Wettbewerbshüter, die für einen funktionierenden Wettbewerb sorgen sollen?

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m4music: festival und Konferenz

Die 15. Ausgabe von m4music in Zürich und Lausanne ist mit einem neuen Besucherrekord zu Ende gegangen. Über 6600 Personen haben an den drei Tagen die 53 Konzerte, rund 700 Vertreter der Musikbranche, die Konferenz und den Nachwuchswettbewerb Demotape-Clinic besucht. Das Festival am Samstag in Zürich war ausverkauft.

Vor allem die Konferenz ist in den letzten Jahren zu einem wichtigen Treffpunkt der nationalen Musikbranche geworden, in welchem aktuelle Trends und Probleme diskutiert werden.

Den Nachwuchsförder-Hauptpreis Demo of the Year 2012 der Demotape Clinic hat Domi Chansorn aus Bern gewonnen. Infos auf www.m4music.ch

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kulturstattbern.derbund.ch 26.3.12

Kulturbeutel 13/12

Von Gisela Feuz am Montag, den 26. März 2012, um 05:02 Uhr

Frau Feuz empfiehlt:
am Dienstag die einzige Schweizer Show (ausser M4 Music) von Rocky Votolato im ISC. Mit wunderbar rauer Sandpapierstimme trägt der ehemalige Punk-Frontmann seine schön traurigen Songperlen und akustischer Gitarre vor. Gleich weiter mit dunklem Stimm-Timbre geht's am Mittwoch dann in der Turnhalle vom Progr. Dort stellt Ex-Dead Brothers-Schatzi Pierre Omer zusammen mit der Stewarts Garage Conspiracy Crew seinen neusten Streich vor, was so viel bedeutet wie wunderbar dreckige Roadsongs, irgendwo zwischen Blues, Jazz, Gipsy-Swing, Folk und Surf. Und am Donnerstag gehen Sie dann ins Rössli, um mit dem Berner Garagen-Trio The Jackets auf deren neues Album anzustossen.

Kofmel empfiehlt:
Am Samstag im Dachstock den Boys on Pills zuhören beim laut sowie unverblümt Nachdenken über soziale Umstände, Rückschläge im Leben und in der Liebe und der grossen Lust am Eskapismus. Für konstant Sommersehnsüchtige empfiehlt sich Céu - DIE brasilianische Sängerin der Stunde. Zu hören und zu sehen ist sie am Sonntag im Progr.

(...)

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20 Minuten 26.3.12

Einfluss auf Politik: Clubs gründen Lobby

ZÜRICH. Ob das Kugl in St. Gallen oder das Sous Sol in Bern: In der ganzen Schweiz stehen Clubs unter Beschuss der Politik. Jetzt wollen sich die Exponenten des Nachtlebens national zusammenschliessen.

Das Schweizer Nachtleben erwirtschaftet laut eigenen Schätzungen jährliche Umsätze in Milliardenhöhe und schafft tausende Arbeitsplätze. Trotzdem fühlt sich ein Teil der Exponenten von der Politik zu wenig unterstützt. So musste in Bern vor wenigen Wochen der beliebte Club Sous Sol schliessen - weil eine einzelne Anwohnerin immer wieder Lärmklagen einreichte. Auch dem Kugl in St. Gallen droht wegen Klagen eines einzigen Anwohners das Aus.

Diesen Angriffen wollen sich die Schweizer Clubbetreiber künftig besser entgegenstellen können: Anlässlich einer Panel-Diskussion am M4Music-Festival kündete Marc Blickenstorfer an, dass sich die von ihm gegründete Zürcher Bar- und Clubkommission mittelfristig auch um nationale Anliegen kümmern will: "Momentan fehlt der Austausch unter den einzelnen Clubs, dabei kämpfen alle mit denselben Problemen", so Blickenstorfer zu 20 Minuten. Dies betrifft neben dem Lärm in erster Linie das Littering. "Wir müssen die Politik und die Gesellschaft für das Nachtleben sensibilisieren."

Eine solche Kommission würde dem Nachtleben eine geeinte Stimme geben - etwa gegen die Vorwürfe der Juso, der Ausgang sei zu teuer (20 Minuten berichtete): "Wenn nicht alle Clubs einzeln, sondern geeint kommunizieren, hat das viel mehr Kraft", so Blickenstorfer.

Niklaus Riegg

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Bund 26.3.12

Stagnation, Stimmungstief und Stirnrunzeln

An der Musikmesse M4music ist auch in diesem Jahr über den Zustand der Branche debattiert worden. Fazit: Es sieht dusterer aus denn je. Und auch die Zukunftsforschung ist ratlos.

Ane Hebeisen

Es dauert nicht lange und die Schweizer Musikmesse M4music hat ihre ersten Opfer gefordert. Eine Gruppe Jungmusiker sitzt grübelnd auf einem bereitgestellten "Freitag"-Sofa und starrt mutlos in die Weiten des Schiffbau-Foyers. In diversen Foren ist zuvor diskutiert und referiert worden, über den Zustand der Musikwelt im Allgemeinen und über die Befindlichkeit in der Schweiz im Speziellen. Und das ist definitiv nichts gewesen für schwache Nerven, und schon gar nichts für hoffnungsfrohe junge Tonkünstler, die davon träumen, irgendwann berühmt und gefeiert zu werden. Und wenn dann auch noch das eigene Tonwerk an der berühmten Demotape Clinic von einer Fachjury mit dem Argument "dafür besteht absolut kein Markt", abgekanzelt wird, ist definitiv Schluss mit lustig.

Der Pirat teilt, indem er klaut

Es fehlt an allem in der seit über einer Dekade serbelnden Musikindustrie. An Geld, an Wertschätzung, an politischer Macht und an der Aussicht, innert nützlicher Frist wieder zu Geld, Wertschätzung und politischer Macht zu kommen. Dabei wird derzeit mehr Musik konsumiert denn je. Und als in diese Epoche der Niedergeschlagenheit kürzlich auch noch die Botschaft der Politik aus dem Bundeshaus flatterte, dass das kostenlose Downloaden von Musik im Internet in der Schweiz legal bleibe, und die Musiker ihre Verdienste doch gefälligst an Konzerten und mit dem Verkauf von Fan-Artikeln einfahren sollten, mengte sich in die Niedergeschlagenheit ein gerüttelt Mass an Konsternation. Und nein, zum Schaffen eines neuen Selbstvertrauens vermag die M4music 2012 nicht beizutragen. Die Panels ergeben in der Summe eine Art Panoptikum alltäglicher Misslichkeiten der Branche.

Das ganze Dilemma wird am Diskussionsforum "Everything is streaming but the money" offenbar. Es geht um die schlichte Frage, wie ein Musiker in der Zeit von Streaming-Diensten, Gratis-Downloads, infrage gestellter Urheberrechten und im Sturzflug begriffener CD-Verkäufe noch Geld verdienen will. Und die Fronten sind bald klar gezogen: Hier die besorgten Musiker, da die ratlose Politik und dort die Nerds von der Piratenpartei, deren Freiheitsliebe so weit geht, dass sie den kostenlosen Konsum von Musik und Filmen im Internet als eine Art Grundrecht begreifen. Wenn er im Internet gratis Musik herunterlade sei das kein Klauen, es sei ein Teilen, sagt der Oberpirat Denis Simonet und erntet einiges Stirnerunzeln.

Gratis-Musik für alle, das klinge ja sehr verheissend, wirft der besorgte Musiker ein, wenn er ein offenes Zürich fordern würde, in dem man überall gratis saufen könnte, dann fänden das auch alle cool, doch niemand würde ernsthaft eine Umsetzung in Betracht ziehen. Doch genau das sei mit der Musik im Internet geschehen. Der denkwürdigste Beitrag stammt von Poto Wegener, seit Jahren eine Art Oberanwalt der Musikschaffenden.

Als ihm eine Mineralwasserflasche gereicht wird, erklärt er den Anwesenden, dass ein Musiker, möchte er sich diese Flasche kaufen, zuerst auf dem allseits als zukunftsweisend gelobten Musikportal Spotify circa 20 000 Streams generieren müsste. Und dann hätte er die Flasche erst noch mit seiner Plattenfirma zu teilen. Die Politik in der Person der Nationalrätin Evi Allemann hebt ratlos die Schultern, fordert, dass man sich zusammenraufen solle, und am Schluss einigt man sich auf die Einschätzung, dass da durchaus viele Probleme seien, man sich aber noch in der Phase der Auslegeordnung befinde.

Auftritt von Mister Q

Die grossen Abwesenden sind wie üblich die grossen Plattenfirmen, von denen man gerne erfahren hätte, wieso sie es bis heute nicht geschafft haben, als eigentliche Eigentümer der Musik, die Köpfe zusammenzustecken und ein eigenes legales Musikportal zu etablieren, in dem die Regeln und die Margen nicht von branchenfremden Firmen wie Apple, Coca Cola oder Nokia gemacht werden. Ebenfalls keine Feierstimmung herrscht im Konzertbereich, was Panel-Themen wie "Festivals unter Druck" und "Clubsterben - oder alles Schall und Rauch?" nahelegen. Auf dem Papier generiert die Konzertindustrie mittlerweile zwar doppelt so viel Umsatz wie die Tonträgerindustrie, doch ein erheblicher Teil davon fliesst an marktmächtige Monopolisten oder an Ticketanbieter, die mit fragwürdigen Gebühren und ohne unternehmerisches Risiko ein Millionengeschäft machen. Auch hier ist also der Kummer gross: Die Festivals beklagen, dass sich die Gagenforderungen der grösseren Bands in den letzten fünf Jahren um bis zu 200 Prozent erhöht hätten und dass in ganz Europa immer neue Festivals hinzukämen, die sich um dieselben wenigen Superstars balgen.

Ob das Heil der Openairs darin liegen könnte, fragt ein Mann aus dem Publikum, vermehrt DJs auf die Hauptbühnen zu laden, wie dies bereits immer öfter geschieht. Bringt nichts, antworten die Festival-Betreiber: Ein DJ, der mit seinem Platten-Koffer und einem Lichttechniker anreise, verlange die gleiche, oft sechsstellige Gage wie eine siebenköpfige Band, die mit fünf Sattelschleppern und zehn Helfern auf Tournee ist. Bezahlt werde der Marktwert, nicht der Aufwand. Und der einfache Musiker mit einem bisschen Airplay auf DRS 3 und Virus solle froh sein, in einem solchen Umfeld überhaupt mitspielen zu dürfen und dafür eine Spesenentschädigung zu erhalten. Da weiss auch der Beauftragte für Science-Fiction keinen Ausweg. Immerhin strotzt der Mann vor guter Laune und Zuversicht: Ralph Simon ist als Erfinder des Handy-Klingeltons und der Britney Spears in die Musikgeschichte eingegangen. Und in seiner Multi-Vision-Show preist er die Chance des technischen Fortschritts, zeigt neue Gadgets wie einen denkenden Turnschuh, einen digitalen Kugelschreiber und wirkt in seinem kurzweiligen Vortrag wie der sagenhafte James-Bond-Düsentrieb Mister Q.

Doch an Verwertbarem für die Musikschaffenden hat er nicht viel im Angebote-Köcher. Ein halsbrecherisches Gesangsvortrags-Übersetzungs-Tool und die Idee, über Twitter Musik zu verbreiten. Mehr ist da nicht. Enttäuschung macht sich breit.

Bädu Anlikers Schlusswort

Selbst beim Thema Clubsterben, zeigt sich, dass es sich nicht um ein handliches, isolierbares Problem, sondern um ein ganzes Probleme-Konglomerat handelt. Während in Bern und St. Gallen Clubs schliessen müssen, weil sich zugezogene Nachbarn von deren Lärm-Emissionen behelligt fühlen, kämpfen andere Städte mit anderen Problemen. Die welschen Clubs leiden unter den hohen Künstlergagen und zu wenig Kultursubventionen, in Zürich und in anderen grossen europäischen Städten sind es der zunehmende Konkurrenzdruck und die explodierenden Immobilienpreise, die immer öfter zu Club-Schliessungen führten.

Erst ganz zum Schluss hält dann doch noch ein wenig Heiterkeit in die Hoffnungslosigkeit Einzug. Aber nur ganz kurz. In einer munteren rotweintrinkenden Runde dürfen ältere Herren wie der einstige Phongram-Chef Louis Spillmann, Räubergeschichten aus den Blütezeiten der Musikindustrie zum Besten geben. Da gehts um den lustigen Ozzy Osbourne, der bei einem Konzert im Bühnensarg eingeschlafen ist, da gehts um Rammstein, deren Sänger sich an einer Major-Label-Jahrestagung in Hongkong wie gewohnt showtechnisch in Flammen setzte und so erreichte, dass sich das halbe chinesische Hotelpersonal mit Löschequipment auf ihn stürzte.

Und dann kommt der lustige Café-Mokka-Veteran Bädu Anliker und holt die nostalgietrunkene Runde jählings wieder auf den Boden der tristen Realität zurück: "Früher waren die Musiker ja auch scheisse, aber sie waren wenigstens betäubt. Heute sind sie nur noch scheisse. Torkeln grusslos in den Club, fragen nach WLAN, spielen für 300 Euro ihr Konzert und räumen dafür den ganzen Kühlschrank aus, damit sie sich im Hotel die Kante geben können." Ja, so sieht es heute aus, das romantische Musikerleben. Nicht gut. Gar nicht gut.

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NZZ 26.3.12

Mehr Eigeninitiative gefragt

Anregende Diskussionen und eindrückliche Konzerte am M4Music

Mit einer Mischung aus Konferenz, Konzerten und Demotape-Wettbewerb hat das Festival M4Music einmal mehr seine Bedeutung für die Schweizer Pop-Musik-Szene bewiesen.

Markus Ganz

Auch den Schweizer Pop-Musikern ist seit einigen Jahren klar, dass die Gratismentalität im Internet die Musikwelt dramatisch verändert. Lange blieben sie jedoch passiv und meinten, dies sei in erster Linie das Problem der Tonträgerindustrie. Es brauchte vielleicht den problematischen Bericht des Bundesrats zur "unerlaubten Werknutzung über das Internet", um sie zu mobilisieren. Kuno Lauener etwa erklärte mehrfach, dass die Zukunft von Züri West unter diesen Bedingungen ungewiss sei. Musiker gründeten zudem den Verein Musikschaffende Schweiz, der der breiten "Allianz gegen Internet-Piraterie" beitrat, seine Anliegen aber irritierenderweise nicht am M4Music bekannt machte.

Das Pop-Musik-Festival des Migros-Kulturprozents ist längst der wichtigste Treffpunkt der Schweizer Musikszene geworden, an dem im Konferenzteil auch internationale Fachleute anregenden Diskussionsstoff liefern. Der Tourneeveranstalter Berthold Seliger etwa widersprach der weitverbreiteten, auch vom Bundesrat vertretenen These, dank dem Konzertboom könnten Musiker den Rückgang der Tonträgereinnahmen kompensieren. Dies gelinge nur wenigen Stars wie Madonna, meinte er. Wie Andreas Ryser von der Berner Band Filewile glaubt Seliger, dass zunehmend Konzerne das grosse Geld machten; die Musik werde aber nur vermittelt, in deren Kreation und in den Aufbau von Künstlern werde nichts investiert.

Allein schon die Titel anderer Konferenzveranstaltungen verdeutlichten den Ernst der Lage. Sie lauteten "Everything is streaming but the money", "Clubsterben" oder "Festivals unter Druck". Trotzdem dominierte am M4Music eine zaghafte Aufbruchstimmung. An einigen Podiumsdiskussionen wurden neue Chancen wie das Crowdfunding oder der vereinfachte Verkauf von Nutzungsrechten vorgestellt, die das Internet eben auch eröffnet. Klar wurde allerdings, dass Musiker aktiver und unternehmerisch denkend werden müssen, wenn sie davon profitieren wollen. Auch solche neuen Dienste zwacken zudem einen Teil der Einkünfte ab und dürften einige Musiker überfordern, da sie zusätzliche Fachkenntnisse voraussetzen.

M4Music ist jedoch nicht nur ein Anlass für die Musikbranche, die dieses Jahr mit 700 Personen vertreten war. Weitere 6600 Besucher wurden von den 53 Bands angelockt, die an den drei Tagen in Lausanne und in Zürich auftraten. Zwei Drittel der Gruppen kamen aus der Schweiz und legten Zeugnis einer unvermindert vitalen Musikszene ab. Allen Widrigkeiten zum Trotz ist der Durchbruch zum gefeierten Künstler immer noch möglich, wie dies Bastian Baker aus Lausanne gleich mit seinem Debütalbum bewiesen hat - und dies mit unspektakulären Folkpop-Balladen. Live bestätigte er, dass gutes Handwerk die Basis für einen solchen Erfolg ist. Noch wichtiger dürfte beim erst gut 20-jährigen Singer/Songwriter sein, dass er mit seiner einschmeichelnden Stimme junge Frauen zu betören vermag.

Sicherheitsleute mussten diesen nach dem Konzert einen Weg durch die bereits vehement um Einlass drängenden Fans des nachfolgenden Künstlers bahnen. Kein Wunder, denn mit Mark Lanegan trat eine der herausragenden Figuren des Grunge im kleinen Moods auf. Der ehemalige Sänger der Screaming Trees zeigte mit den Songs seines neuen Albums "Blues Funeral", dass er einen einzigartigen Ausdruck gefunden hat, der für anhaltenden Erfolg nötig ist und gerade Bastian Baker noch fehlt. Mit dem beschwörenden Gesang seines bröckligen Baritons verlieh Mark Lanegan seinem Bluesrock eine hypnotische Wirkung, aus dem man sogar Elemente aus Gothic und Disco sowie Anspielungen an Leonard Cohen und U2 heraushören konnte.

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Tagesanzeiger 26.3.12

Gute Nachtgeschichten

Juso wollen billigen Alkohol für Jugendliche

Alex Flach

Mit einem offenen Brief haben die Genossinnen und Genossen der Juso Preisüberwacher Stefan Meierhans aufgefordert, die Eintritts- und Getränkepreise der Clubs zu überprüfen. Damit packen die Juso das (junge) Volk auf populistische Weise bei der Brieftasche und generieren Medienberichte. Ein legitimes Vorgehen, berücksichtigt man, dass die politische Gegenseite mit ebendiesem Vorgehen von jeher Erfolge verbucht. Ernst kann es den Juso mit ihrem imperativen Ruf nach günstigeren Club-Preisen hingegen nicht sein, da zu naiv und undurchdacht. Das Eintrittsgeld und der Getränkeverkauf an der Bar sind die einzigen Einnahmequellen der Clubs, von denen zwei Arten existieren: jene, die ein anspruchsvolles Kulturprogramm mit Gagen-intensiven DJs, Musikern und Bands bieten, und solche, die vornehmlich von ihrer Ausstrahlung, einem meist vergänglichen Hype, profitieren. Man kann die Spreu vom Weizen trennen, indem man sich im Internet die Monatsdaten der Clubs anschaut und sich ein bisschen über die dort spielenden DJs informiert.

Müssten nun, wie von den Juso verlangt, alle ihre Getränke- und Eintrittspreise massiv senken, würde das vor allem jene hart treffen, die ihrem Publikum ein anspruchsvolles Programm bieten, denn die betroffenen Betreiber könnten sich niveauvolle und daher mit teuren Gagen verbundene Gigs und DJ-Sets im bisherigen Umfang nicht mehr leisten. Profitieren würden die Lokale mit dem billigsten und damit anspruchslosesten Programm. Dass es Preisabsprachen gibt, wie von den Juso vermutet, stimmt nicht: Im Nachtleben bekämpfen sich die Konkurrenten wie in anderen Branchen auch, besonders seit in den letzten Jahren die Breite des Angebotes und damit auch die Konkurrenz stark zugenommen hat. Dieser steigende Konkurrenzdruck hat auch etwas Positives: Die Clubs versuchen, sich im Kampf ums Publikum mit exzellenten und teuren Line-ups gegenseitig zu übertrumpfen, mit dem Resultat, dass sich hierzulande die Weltklasse-Jockeys die Klinke in die Hand drücken.

Die von den Juso geforderte massive Senkung der Eintritts- und Getränkepreise würde primär Folgendes bewirken: massive Verschlechterung des kulturellen Angebotes aufgrund sinkender Einnahmen und gleichzeitige Zunahme der Alkoholabgabe an Jugendliche aufgrund tieferer Preise - das kann nicht im Sinne verantwortungsvoller Politiker sein. Clubs sind keine staatlich geförderten Institutionen mit entsprechenden Verpflichtungen, sondern freie Marktteilnehmer. Die Juso wollen nun aber die Lösung des (ihrer Ansicht nach gesellschaftlichen) Problems, dass sich wegen der hohen Preise in den Clubs nur noch reiche Kids ihre Drinks leisten können, auf ebendiese freien Marktteilnehmer abwälzen. Da stellt sich die Frage, wieso die Juso nicht einfach selbst sogenannte Botellones veranstalten: An diese Massenbesäufnisse kann jeder die Getränke selbst mitnehmen und teure DJs und Livebands müssen auch nicht gebucht werden, da es nicht um die Musik geht, sondern nur um den kollektiven Absturz.