MEDIENSPIEGEL
04. - 10. JUNI 2012
20min.ch 10.6.12
http://www.20min.ch/schweiz/news/story/24655173
Partyzonen gefordert
Berner Tanz-Demo rüttelt Städte aufBerner Tanz-Demo
rüttelt Städte auf
Facebook statt Bewilligungsformular: Politik und Clubs vernetzten sich
auf nationaler Ebene, um die schwelende Nachtleben-Problematik
anzugehen. Der Berner Stapi zeigt dafür Sympathien.
Die Berner Tanz-Party hat den Brennpunkt Nachtleben auf das nationale
Parkett gebracht: Der Schweizerische Städteverband (SSV) ruft eine
nationale Arbeitsgruppe ins Leben. Sie soll den Städten als
Austauschplattform für die schwelende Nachtleben-Problematik
dienen.
Auch die Clubbetreiber und Kulturorganisationen machen mobil: Laut
«SonntagsZeitung» wollen sich diverse regionale
Gruppierungen unter Federführung des Dachverbandes der
Schweizerischen Musikclubs (Petzi) erstmals auf nationaler Ebene
vernetzen. «Unser Ziel ist der Aufbau eines schlagkräftigen
Kulturnetzwerkes», sagt Petzi-Vertreterin Isabelle von
Walterskirchen. Schweizweit bestünden im Nachtleben ähnliche
Probleme, die es national anzupacken gelte. Ein Ziel der Aktion:
«Clubbetreiber brauchen mehr Rechtssicherheit bei Klagen.»
Es könne nicht sein, dass jemand die Schliessung eines Lokals im
Alleingang erzwingen könne, so von Walterskirchen.
Berner Stapi verlangt klare Spielregeln
«Wenn die Jungen an einem schönen Abend finden, jetzt wollen
wir die Stadt mal für uns, habe ich damit kein Problem»: Der
Berner Stadtpräsident Alexander Tschäppät zeigt in einem
Interview mit der «SonntagsZeitung» viel Verständnis
für die Forderungen der Jugend nach mehr Freiheiten im Nachtleben.
Er hält etwa das heutige Bewilligungsverfahren von Veranstaltungen
für überholt: «Über Facebook bringt man in der
Stadt innert Stunden Tausende von Leuten auf die Strasse, da bringen
Formulare nicht mehr viel.» Weiter müsse man darüber
nachdenken, ob für bestimmte Gassen und Strassen die Toleranz
für Lärm erhöht werden soll. «Dort, wo wohnen und
Nachtleben nebeneinander Platz haben müssen, braucht es aber klare
Spielregeln», so der Berner Stapi weiter. Tschäppät war
in seiner Jugend übrigens selbst kein Engel: «Wir haben
früher wildere Sachen gemacht als die Jungen heute.» Was
genau, will er aber nicht verraten.
Sprayereien am Bundeshaus kosten gegen 100 000 Franken
Tschäppät stürzte sich an der Tanz-Party selbst ins
Getümmel und wollte seine Frau vom Bahnhof abholen, blieb aber in
der Menge stecken. Obschon die weit über 10 000 Demo-Teilnehmer
grösstenteils friedlich feierten, gab es einen negativen
Höhepunkt: Einige Vermummte nutzten die Anonymität der Masse
und versprayten den Eingang des Bundeshauses – vor den Augen der
Kantonspolizei.
Nationalratspräsident Hansjörg Walter kritisiert in einem
Bericht der «NZZ am Sonntag» den Polizeieinsatz: «In
solchen Fällen muss das Bundeshaus künftig besser
geschützt werden.» Walter beurteilt die Schäden am
Parlamentsgebäude als «massiv» und die Beseitigung der
Schmierereien «extrem teuer.» Das zuständige Bundesamt
für Bauten und Logistik geht in einer ersten Schätzung von
Schäden bis zu 100 000 Franken aus.
(am)
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Sonntag 10.6.12
Jugendproteste: Das Recht auf Party ist das Recht auf Freiheit
Keine politischen Forderungen? Jugendliche in Schweizer Städten
demonstrieren seit langem immer wieder für mehr Freiräume und
weniger Repression – allerdings schon lange nicht mehr so laut und
zahlreich wie letztes Wochenende in der Stadt Bern
Alan Cassidy und Christof Moser
Man muss schon ziemlich gut weghören, um die politische Botschaft
der Jugend nicht zu hören. Was sich am vergangenen Wochenende in
der Stadt Bern in einer Massendemonstration entlud, ist der Frust
über immer mehr Vorschriften, Reglemente, Bewilligungspflichten –
nicht nur im Nachtleben, sondern im Leben überhaupt. Man
könnte die Forderungen in einem einfachen Slogan zusammenfassen:
«Mehr Freiheit, weniger Staat». Für die Jugendlichen
ist das Recht auf Party das Recht auf Freiheit. «Tanz dich
frei» lautete deshalb auch das Motto der Berner
Tanz-Demonstration. Hätten die Jugendlichen Steine werfen sollen,
um ernst genommen zu werden?
Erstaunlich, dass ausgerechnet bürgerlich gesinnte Politiker und
Kommentatoren, die mehr Freiheit und weniger Staat sonst immer
propagieren, die Forderungen der Jugend partout nicht verstehen wollen.
Erstaunlich ist dies umso mehr, als dass die jungen Leute – nicht nur
in Bern, sondern auch in anderen Schweizer Städten – gegen zumeist
rot-grün dominierte Stadtregierungen auf die Strasse gehen, die
ihre eigenen politischen Slogans kreieren. In Zürich zum Beispiel:
«Erlaubt ist, was nicht stört». In einen watteweichen
Satz verpackte sozialdemokratische Repression.
Erstmals zeigt «Der Sonntag» in einer Übersicht die
Problemzonen der jugendlichen Partygänger und Partymacher in den
wichtigsten Deutschschweizer Städten. Dabei fällt auf, dass
die Konflikte lokal unterschiedliche Gründe haben. Und doch gibt
es Gemeinsamkeiten. In allen Städten, vielleicht mit Ausnahme von
Chur, wurde das Nachtleben liberalisiert. Polizeistunden wurden
abgeschafft oder existieren nur auf dem Papier. Doch mit der
Liberalisierung kam auch die Kommerzialisierung – und die Repression.
Seit die Stadt Bern 2001 einen Wegweisungsartikel eingeführt hat,
kommt kein Polizeireglement mehr ohne aus. Was in Bern als Waffe gegen
Randständige und Drogenabhängige gedacht war, richtete die
sozialdemokratische Polizeidirektorin in Luzern 2009 bereits ganz
gezielt auf «Jugendgruppen» im öffentlichen Raum.
Jugendpolizeien wie in Bern die Pinto («Prävention,
Intervention, Toleranz») oder in Zürich die SIP
(«Sicherheit, Intervention, Prävention») entstanden,
die es auch auf jugendliche Alkoholkonsumenten und Kiffer abgesehen
haben. Zur Repressionswelle gesellen sich jedoch noch weitere Faktoren,
die Jugendlichen in den Schweizer Städten zunehmend das Leben
schwer machen:
Die Städte sind enger geworden. Es ist noch nicht lange her, da
sprach man von einer Stadtflucht: Günstiger Wohnraum und steigende
Mobilität liessen die Bewohner der Kernstädte in die
Agglomeration ziehen. Die Einwohnerzahlen der grossen Schweizer
Städte sanken. Inzwischen hat der Trend gekehrt: In Zürich
schätzen die Behörden, dass im Jahr 2025 bis zu 468 200
Menschen in der Stadt leben könnten – das wären rund 78 000
mehr als heute. Auch Basel rechnet für 2035 mit bis zu 22 000
zusätzlichen Einwohnern.
Anders als in früheren Zeiten waren es in den vergangenen Jahren
auch kaufkräftigere Schichten, die den Weg in die Städte
suchten – Leute, die sich vom urbanen Milieu angezogen fühlten. Um
Wohnraum für diese Klientel zu schaffen, wurden einstige
Industriebrachen in moderne Stadtquartiere umgewandelt. Meist geht
diese städtebauliche Aufwertung einher mit dem Verlust an
Freiräumen. Und verstanden sich die neuen Stadtbewohner vielleicht
früher selbst einmal als bewegt, so sind sie heute linke Spiesser.
Die grösseren Städte leisten eine Zentrumsfunktion für
die vielen Agglomerationsgemeinden, die ihre Jugendlichen durch
repressive Vorschriften vertreiben. Gemeinden wie Gossau SG kennen
regelrechte Ausgehverbote: Schüler dürfen dort nach 23 Uhr
nur noch in Begleitung von Erwachsenen unterwegs sein. Andere Gemeinden
betreiben auf ihrem Gebiet spezielle Geräte, die herumlungernde
Jugendliche mit Hochfrequenztönen verscheuchen.
Die Kommerzialisierung hat das Nachtleben und den öffentlichen
Raum verändert: Klubs und Bars sind teurer geworden, doch
Alternativen für die Jugendlichen fehlen. Die Behörden sind
mit Bewilligungen für öffentliche Veranstaltungen vor allem
dann grosszügig, wenn es um gewinnorientierte Anlässe geht –
die Erinnerungen an die Euro 08 sind noch frisch.
Die Politik reagiert auf die jüngsten Jugendproteste, wie sie das
immer tut: Sie setzt eine Arbeitsgruppe ein. Diesmal ist es der
Städteverband, der zu diesem Instrument greift. Die betroffenen
Städte sollen in der Gruppe ihre Erfahrungen austauschen
können, sagt Verbandsdirektorin Renate Amstutz. «Ich erhoffe
mir, dass daraus Empfehlungen entstehen.» Der gemeine Jugendliche
reagiert darauf, wie er immer auf Politik reagiert: mit einem
Gähnen.
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Bern
Bern macht seinem Ruf als Schlafstadt alle Ehre. Im Frühling 2011
musste der Afterhour-Club Formbar im Marzili schliessen, weil die
Behörden Sicherheitsmängel feststellten. Im Dezember folgte
dann das Aus für den Club Sous Sol in der unteren Altstadt und des
Wasserwerks in der Matte wegen Lärmklagen von Nachbarn. «Der
Regierungsstatthalter verballenbergt die Altstadt», twitterte
Grünliberalen-Stadtrat und Club-Aktivist Manuel C. Widmer
daraufhin.
Ebendieser Statthalter, Christoph Lerch, ein SP-Mann, der für die
Aufsicht über das Gastgewerbe zuständig ist, brachte Anfang
Mai das Fass zum Überlaufen, als er auf dem Vorplatz der Reithalle
nach 00.30 Uhr ein Alkoholausschankverbot aussprechen wollte und von
der Reithalle verlangte, dass die Nachtschwärmer zur Polizeistunde
nach Hause geschickt werden. Begründung: Lärmklagen. Damit
löste Lerch letztes Wochenende die grösste
Jugend-Demonstration in Bern seit den Zaffaraya-Protesten vor 25 Jahren
aus. Immer wieder zu Lärmklagen und Konfrontationen mit den
Behörden kommt es auch in der belebten Aarbergergasse und auf der
Schützenmatte. Die allseits bedrängten Clubs haben sich
mittlerweile im Verein «Pro Nachtleben» zusammengeschlossen
und verlangen Ausgehzonen in der Stadt und mehr Toleranz. «Wenn
eine Tyrannei der Minderheit entsteht wie in Bern, müssen die
institutionellen Strukturen überprüft werden», sagt
Partyveranstalter Fabian Wyssbrod, der im Kornhauskeller
Tanzanlässe organisierte, die wegen «ungelöster
Probleme mit dem Fumoir» von der städtischen
Immobilienverwaltung letztes Jahr ebenfalls verboten wurden.
Der Gemeinderat arbeitet derzeit an einem Konzept, das Clubs
Rechtssicherheit bieten soll. «Wir können uns Zonen
fürs Nachtleben vorstellen», sagt Gemeinderat Reto Nause
(CVP), der jedoch eine Änderung des Umweltgesetzes auf
Bundesebene, das Grenzwerte für Lärm individuell einklagbar
macht und den Clubs den Garaus, für «viel sinnvoller»
hielte.
Die Stadt Bern gilt spätestens seit 2001 als hartes Pflaster
für Jugendliche. Als erste Stadt der Schweiz hat die Stadt damals
einen Wegweisungsartikel im Polizeigesetz festgeschrieben, initiiert
vom 1998 verstorbenen FDP-Gemeinderat Kurt Wasserfallen. Seither kommt
kein revidiertes Polizeigesetz in der Schweiz ohne Wegweisungsartikel
mehr aus.
Die Wegweisungen werden nicht nur gegen Randständige und
Drogenabhängige verfügt, sondern auch gegen Jugendliche, die
sich im öffentlichen Raum versammeln. Allein 2011 hat die Berner
Polizei 564 Wegweisungen ausgesprochen, die meisten in
Bahnhofsnähe. Verstösse werden mit 100 Franken gebüsst.
Hart auch die Strafen gegen Littering. Wer in Bern einen
Zigarettenstummel auf den Boden wirft, muss mit einer Busse von 40
Franken rechnen – spöttisch wird Bern deshalb von Jugendlichen als
«Little Singapur» bezeichnet. Immerhin können die
Jungen auf Verständnis von Stadtpräsident Alexander
Tschäppät (SP) bauen: «Für alles und jedes gibt es
Regeln, Gesetze, Bewilligungswege. Das scheint Jugendliche immer mehr
zu stören», sagt er.
Zürich
Die Stadt Zürich ist die Partymetropole der Deutschschweiz, die
24-Stunden-Gesellschaft, die den Grossstädten dieser Welt eigen
ist, ist hier Realität. Wer will, kann von Donnerstagabend bis
Montagmorgen durchtanzen. Vor 15 Jahren hatten gerade mal 40 Betriebe
(Restaurants, Tanzlokale) nachts geöffnet, heute, nach Abschaffung
der Polizeistunde 1996, sind es 600. Zürich verkauft das
Nachtleben in der Tourismus- und Standortförderung als positiven
Faktor – und trotzdem hat die Stadt ein Problem: Das Zürcher
Nachtleben ist durchkommerzialisiert, die alternative Partyszene
deshalb zum Massenphänomen geworden.
Weil die Polizei gegen illegale Partys immer wieder rabiat vorgegangen
ist, artete im September 2011 eine Jugenddemonstration am Bellevue in
wüste Krawalle aus. Die Stadtbehörden reagierten darauf mit
einer «Jugendbewilligung», die Jugendlichen eine
unbürokratische und kostenlose Bewilligung von illegalen Partys
ermöglichen soll – was auch diesen Sommer nur wenige davon
abhalten wird, unbewilligte Partys zu veranstalten. Der Platz
dafür wird aber immer weniger, weil es immer weniger freie
Flächen gibt, so wie auch die kommerziellen Clubs durch Wohn- und
Gewerbebauprojekte immer stärker in Bedrängnis geraten. Die
Partymeile an der Geroldstrasse in Zürich-West, an der sich Clubs
wie das Hive, der Supermarket und das Cabaret angesiedelt haben, soll
bald einer Einkaufsmeile weichen.
Auf dem Areal der Toni-Molkerei, das ebenfalls eine Partyhochburg war,
wird an der Hochschule der Künste gebaut. Im Niederdorf
kämpfen Clubs und Bars seit je mit Lärmklagen, die mit der
Einführung des allgemeinen Rauchverbots in der ganzen Stadt
zugenommen haben, weil die Nachtschwärmer mit der Zigarette vor
die Tür gehen müssen.
Und weil die Stadtbehörden gleichzeitig mit der Einführung
des Rauchverbots ein altes Gesetz ausgegraben haben, das den Konsum von
Getränken nach Mitternacht ausserhalb einer Bar verbietet,
müssen viele Barbetreiber einen Türsteher engagieren, der die
Einhaltung der Vorschriften überwacht.
Chur
Wie stark neue Vorschriften das Gefühl von Freiraum
einschränken können, zeigt sich in Chur. Sprach man
früher mit einem Bündner über das Nachtleben in der
Stadt, wurde man sofort darauf hingewiesen, dass Chur die höchste
Beizendichte des Landes aufweise. Seit sich die Stadt vor vier Jahren
ein neues Polizeigesetz gab, hat sich der Stolz in Frust verwandelt.
Für Jugendliche ist Chur inzwischen ein hartes Pflaster.
Entladen hat sich der Frust in einem Protestsong des 19-jährigen
Studenten und Künstlers Hannes Barfuss und einer darauffolgenden
Demo mit mehreren hundert Teilnehmern im Mai. In einem Beitrag von
«Schweiz aktuell» bezeichnete Stadtpräsident Christian
Boner die Unzufriedenheit darauf als Protest von
«Einzelnen» – eine unglückliche Formulierung.
«Das hat unser Gefühl verstärkt, als Jugendliche nicht
ernst genommen zu werden», sagt die Studentin und
SP-Gemeinderätin Nora Scheel.
Tatsächlich ist der öffentliche Raum seit der Einführung
des neuen Polizeigesetzes sehr restriktiv geregelt. Auf dem ganzen
Siedlungsgebiet gilt von 00.30 bis 7.00 Uhr ein Alkoholkonsumverbot.
Wer sich draussen mit einer Flasche Bier zeigt, kann gebüsst
werden. 110-mal hat die Polizei seit Einführung des
Polizeigesetzes Ordnungsbussen verhängt. Rund 40 Schulhaus-,
Kindergarten- und Spielplätze sind «suchtmittelfreie
Zonen», in denen keine Zigaretten geraucht und kein Alkohol
getrunken werden dürfen. Darunter fällt zumindest unter der
Woche auch die grosse Quaderwiese, ein beliebter Treffpunkt für
viele Jugendliche. Die Polizei verhängte in diesen Zonen 62
weitere Bussen. Die vielen Bars und Beizen in der Altstadt müssen
um 1.00 Uhr schliessen. Fünf Videokameras sind derzeit auf
Stadtgebiet installiert. In einigen Jahren sollen an insgesamt 15
Standorten Kameras stehen.
Verärgert hat die Jugendlichen auch, wie die Behörden mit
einem Open-Air-Konzert umgingen, das am 30. Juni in der Altstadt
hätte stattfinden sollen. Um 22 Uhr wäre Schluss gewesen.
Trotzdem erhielten die Veranstalter keine Bewilligung. Den
behördlichen Segen erhielt dafür kurz darauf ein Anlass der
Grünliberalen, an dem es bis um 23 Uhr Musik geben wird – ein
Entscheid, der vielen als Widerspruch erscheint.
Ueli Caluori, Stadtpolizei-Kommandant, sagt, das Churer Polizeigesetz
unterscheide sich nur durch das Alkoholkonsumverbot von den Regeln in
anderen Städten. Die Kritik an der restriktiven Bewilligungspraxis
sei falsch: Von 160 Anlässen habe man 2011 158 bewilligt.
«In Chur läuft immer noch sehr viel», so Caluori.
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NZZ am Sonntag 10.6.12
Junge wollen Partys ohne Türsteher und hohe Getränkepreise
Das Angebot an Nachtlokalen in der Schweiz hat in den letzten Jahren
stark zugenommen. Allein in Zürich gibt es 643 Betriebe mit
verlängerter Polizeistunde. Trotzdem wächst unter
Jugendlichen der Ruf nach Freiräumen, wo sie feiern können –
und zwar ohne hohe Eintritts- und Getränkepreise, ohne
Türsteher und Polizeikontrollen. Am vergangenen Samstag folgten in
Bern 10 000 Menschen dem Aufruf zu einer Strassenparty. Sie
protestierten gegen Einschränkungen im Betrieb der Reithalle,
eines alternativen Kulturzentrums. In Basel trafen sich gleichentags
1000 Junge zu einer illegalen Party auf einem Industriegelände,
das bald überbaut wird; dabei kam es zu Ausschreitungen. In
Zürich hat die Stadtregierung die Bewilligung von Partys abseits
von Wohngegenden unlängst vereinfacht. Sie reagierte damit auf
unbewilligte Strassenfeste, an denen hoher Sachschaden entstanden war.
(be.)
► Seite 22
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Party aus Protest
Zehntausende ziehen jedes Wochenende in die Schweizer Städte, um
zu feiern. Das Klub-Angebot wächst ungebrochen,
Grossveranstaltungen und illegale Partys mehren sich. Und dennoch
klagen Junge über Einschränkungen und demonstrieren für
mehr Freiräume. Was ist los in den Städten?
Von Michael Furger, Francesco Benini und Joel Bedetti
Alexander Tschäppät versucht zu verstehen. Er versucht zu
verstehen, was am letzten Samstag in seiner gemütlichen kleinen
Stadt passiert ist. Weshalb 10 000 vor allem junge Menschen auf die
Strassen von Bern gegangen sind, bis in die Früh gefeiert und ihre
Frustration über die Jugend- und Kulturpolitik vorgetragen haben.
Wegen dieser Menschen muss er, der Stadtpräsident, am Dienstag in
der TV-Sendung «Club» sitzen und sich anhören, dass es
brodle in seiner Stadt. Er versucht es zu verstehen, aber es gelingt
ihm nicht. Tschäppät redet von Spielregeln, welche die Jungen
einzuhalten hätten, und davon, dass sie halt die Gesetze
ändern müssten, wenn sie damit nicht einverstanden seien. Er
sagt, man dürfe nicht der Politik die Schuld geben, wenn einem
etwas nicht passe. Und er sagt, dass die Jungen politisch ohnehin
nichts bewegten und für ihre Vorschläge kaum eine Mehrheit
fänden. Die Jungen in der Runde schütteln nur den Kopf.
Das Einzige, was Alexander Tschäppät zu verstehen scheint,
ist, dass er ein Problem hat. Im Herbst sind Wahlen. Der Sozialdemokrat
möchte als Stadtpräsident bestätigt werden, aber die
Jungen und die Kulturszene, viele klassische sozialdemokratische
Wähler, sind unzufrieden. Nächste Kundgebungen sind
angekündigt. Es könnte ein harter Sommer werden für ihn.
Das macht ihn sauer. Man sieht es ihm an.
Ist es wirklich so schwierig zu verstehen? In Bern gehen 10 000
Menschen auf die Strasse, in Basel feiern 1000 eine illegale Party in
einer leerstehenden Fabrik. Im Mai gab es eine Demonstration in Chur.
Letzten Herbst kam es zu Kundgebungen – mit Ausschreitungen – in
Zürich. Die Botschaft war immer dieselbe. Die junge Generation –
Teenager bis Leute Ende 20 – will Freiräume. Freiräume
für Party, Konzerte, Kultur.
Diese Forderung ist nicht neu. Schon frühere Generationen stellten
sie auf. In den achtziger Jahren etwa waren es die Alternativen. Jede
junge Generation versteht ihr Anliegen als politisch, obwohl damals wie
heute nicht jeder Demo-Teilnehmer ein politisch Bewegter war. Und jeder
Generation wird die Berechtigung dieser politischen Anliegen
abgesprochen. Was will die Jugend denn für Freiräume?, heisst
es heute. Es habe doch noch nie so viele Party-Angebote gegeben wie
jetzt.
Genau um diese Angebote gehe es vielen Jungen eben nicht, weiss Sara
Landolt. Sie ist Sozialgeografin an der Universität Zürich
und erforscht unter anderem das Verhalten der Jungen im Ausgang.
«Jugendliche brauchen Räume, wo sie sich selbst sein
können.» Zwar habe sich die Partyszene extrem ausgeweitet,
Vorschriften wurden teilweise gelockert. Aber das betreffe eben nur die
Kommerz-Ebene. Diese «Nightlife-Economy», wie Landolt sie
nennt, sei nur zum Teil gemeint, wenn von Freiräumen die Rede sei.
Junge Menschen wollten auch unkontrolliert und unkommerzialisiert
feiern – ohne Türsteher, ohne Polizeikontrollen, ohne hohe
Getränke- und Eintrittspreise und ohne Bewachung durch
patrouillierende Präventionstruppen. «Die Frage ist: Will
man konsumieren oder selbst gestalten. Wenn man selbst gestalten will,
wird es schwierig.»
Pickelharte Gewerbepolizei
Genau das war ein Zündfunken, der zur Kundgebung am letzten
Samstag geführt hat. Das alternative Kulturzentrum Reitschule
bietet einen der wenigen Freiräume der Stadt. Der Vorplatz der
Reitschule gleich neben dem Bahnhof wird am Wochenende zum Treffpunkt
von 500 bis 1000 Personen. Es kostet nichts, dort zu sein. Die
Getränke an der Bar sind nicht überteuert. Das Haus und sein
Betrieb werden autonom geführt. Doch diesen Mai verfügte der
Berner Regierungsstatthalter, die Bar auf dem Vorplatz sei um 0 Uhr 30
zu schliessen und die Besucher seien wegzuweisen. Die Zahl der Konzerte
müsse stark reduziert werden.
Die Reitschule ist schon fast eine Berner Institution. Man muss nicht
linksalternativ sein, um sich dort einzufinden. Entsprechend gross ist
die Sympathie für das Kulturzentrum. Zum Streit über die
Verfügung des Statthalters kam ein anderer Vorfall: Das Musiklokal
Sous Soul in der Altstadt schloss Ende 2011; die Betreiber waren
zermürbt von einem dreijährigen Kampf gegen eine einzige
Anwohnerin, die das Lokal mit Lärmklagen eindeckte. Die Stadt
verweist auf das Bundesrecht, das solche Klagen bei «subjektivem
Lärmempfinden» ermöglicht.
Das «Sous Soul» wurde von einem Verein junger Leute
geführt, ohne kommerzielle Interessen. Kathrin Bertschy, heute
Nationalrätin der Grünliberalen, war eine davon. Es gehe
immer auch darum, sagt sie, wie Behörden das Recht auslegten. In
der Unesco-geschützten Berner Altstadt sei die Gewerbepolizei
pickelhart. Für Gäste, die nach 0 Uhr 30 noch vor dem Lokal
stünden, um das Bier auszutrinken, zahlten Lokale mehrere hundert
Franken Bussen. Lärmklagen zögen sich über Jahre hin.
«Wenn diese harte Gangart weitergeht», sagt Bertschy,
«dann werden die Betreiber der Lokale und die Berner
Künstler nach Zürich abwandern.» Sie und junge
Politiker fast aller Parteien haben sich im Komitee Pro Nachtleben Bern
organisiert. Ihre Idee ist, eine «urbane Wohnzone» zu
definieren, wo auch das Nachtleben stattfinden soll. Wer hier wohnen
wolle, solle toleranter sein. Die Berner Stadtregierung hat seit zwei
Jahren den Auftrag, ein Nachtleben-Konzept auszuarbeiten. «Sie
verschleppt die Sache», sagt Bertschy. Das Problem drängt.
Jedes Wochenende strömen rund 10 000 Menschen aus den Vororten in
die Hauptstadt. Fast alle versammeln sich in der kleinen Altstadt auf
weniger als einem Quadratkilometer.
Nicht nur Bern, alle grossen Schweizer Städte werden am Wochenende
vom Partyvolk gestürmt. In Lausanne sollen es pro Wochenende 30
000 sein, viele kommen aus Frankreich. In jüngster Zeit
registrierte die Polizei gewalttätige Übergriffe. Am
grössten sind die Massen in der Stadt Zürich. 648
Nachtlokale, also Betriebe mit verlängerter Polizeistunde, locken
die Besucher an. Dazu mehren sich offenbar illegale Partys. Allein das
Nachtnetz des Zürcher Verkehrsverbundes transportiert pro Nacht
über 14 000 Personen. Doch die Partygäste kommen nicht nur
aus den nahen Gemeinden, sondern aus der ganzen Deutschschweiz. Die
Abendzüge nach Zürich sind voll. Und in Zürich West
fahren Cars mit Partygästen aus Süddeutschland vor.
«Die Masse in Zürich ist gigantisch», sagt der
Stadtforscher Philipp Klaus vom Forschungsnetzwerk Inura.
Die Masse ist auch eine Folge der Reurbanisierung. Seit 15 Jahren
ziehen vor allem junge, gebildete, kreative Leute wieder in die
Städte. «Die linksgrünen Stadtregierungen haben viel
dazu beigetragen», sagt Klaus. Sie hätten den
Innenstädten zu mehr Lebensqualität verholfen. Das sei eine
bewusste Strategie, sagt Klaus. «Man will qualifizierte
Arbeitskräfte anziehen. Und diese Leute wollen ein reiches Kultur-
und Vergnügungsangebot.» So habe das Grossstadt-Feeling die
Schweizer Städte erreicht – «mit allen positiven und
negativen Folgen.»
Laut dem Soziologen Jörg Rössel von der Universität
Zürich vergrössert sich die Masse auch, weil mehr ältere
Erwachsene in den Vergnügungsvierteln unterwegs sind. «Wer
mit der Popkultur aufgewachsen ist, besucht noch heute Konzerte und
Klubs.»
Party gegen «Schöner wohnen»
Mit der Ausbreitung des Nachtangebots schwinden Freiräume. Wie
beansprucht Strassen und Plätzen heute schon sind, zeigen die
Gesuche für öffentliche Anlässe in der Stadt Zürich
im Jahr 2011: Von 1277 Gesuchen bewilligte die Stadt 1082. Jede zweite
Woche fand im Schnitt ein Grossereignis statt, jede Woche eine
Demonstration, jeden Tag zwei Feste oder Eröffnungen. Solche
Anlässe beanspruchen die öffentlichen Plätze. Für
kommerzielle Open-air-Kinos und Strandbars werden Orte eingezäunt,
wo man sich zuvor frei treffen konnte.
Immerhin attestieren Experten der Zürcher Stadtregierung, sie
reagiere gut auf die Entwicklungen. Nachdem letzten Herbst an mehreren
Wochenenden Junge auf die Strasse gegangen waren und Freiräume
gefordert hatten, beschloss der Stadtrat, Partys von Jugendlichen auf
öffentlichen Plätzen abseits von Wohngegenden in einem
unkomplizierte Verfahren zu bewilligen. Wegen des schlechten Wetters
sind bisher indes erst drei solche Partys mit jeweils einigen hundert
Teilnehmern abgehalten worden. Die Veranstalter seien Leute, die
früher illegale Partys gefeiert hätten, heisst es bei der
Stadt.
In Basel wird ein Areal beim Badischen Bahnhof, das bei den Jungen
beliebt war, bald überbaut. Also fällt ein Ort weg, an dem
diese gerne Feste feierten. Am vergangenen Samstag gab es dort eine
illegale Party mit 1000 Besuchern; rund 30 von ihnen verhielten sich
gewalttätig. Vor einem Jahr wurde bei der Besetzung des
stillgelegten Kinderspitals medizinisches Gerät zerstört. Den
meisten Jungen geht es aber nicht um Zerstörung – sie wollen
«Freiheit spüren ausserhalb der staatlichen
Einflussnahme», wie Thomas Kessler sagt. Er leitet im Kanton
Basel-Stadt die Abteilung für Kantons- und Stadtentwicklung und
merkt an, dass es für die Jungen auf dem Gelände des Hafens
neue Möglichkeiten geben werde. Die Ansprüche aller
Bevölkerungsgruppen an den Staat seien hoch – er solle
Freiräume zur Verfügung stellen. Wenn dann aber zum Beispiel
nach Beschwerden über Lärm die Polizei Kontrollen
durchführe, behage das einigen Jugendlichen nicht.
Kessler stellt unter den Jungen das Bedürfnis fest, in
grösseren Gruppen zu feiern. Das ergebe ein Festival-Gefühl,
das vielen gefalle. Der Stadtentwickler betont, dass die Kulisse der
Altstadt nicht für alle Aktivitäten ideal sei. In Basel
versammelt man sich gerne am Rhein. «Es ist schön, am Rhein
zu grillieren – aber man kann dort nicht um Mitternacht Gitarre
spielen», meint Kessler. Die Wohnhäuser sind nur wenige
Meter entfernt, also brauche es Rücksicht auf die Anwohner.
«Mir scheint, dass unsere individualistisch geprägte
Gesellschaft erst noch lernen muss, wie eine grosse Zahl von Menschen
im öffentlichen Raum miteinander umgeht, ohne dass die Rechte der
Einzelnen beschnitten werden.»
«Es ist die Auseinandersetzung zwischen Partyleben und dem
<Schöner wohnen>-Lebensstil», sagt Christian Pauli. Er
ist Kommunikationschef der Hochschule der Künste und
Präsident von «bekult», dem Verein der Berner
Kulturveranstalter. Vor 30 Jahren war er bei den 80er Unruhen in Bern
dabei, heute ist er 48 Jahre alt und sagt, die Demonstration erinnere
an damals. Die Stadt sei am letzten Samstag unter Strom gestanden.
Gibt es denn dieses geforderte Recht auf Party? Ja, sagt Pauli.
«Jede Generation hat das Recht, sich Gehör zu verschaffen
und Raum für sich zu beanspruchen. Es ist geradezu die Aufgabe der
Jugend, das zu tun – auch wenn es die Erwachsenen nicht
verstehen.»
-
Junge machen Krach
Zürcher 80er Unruhen
Der Zürcher Stadtrat bewilligt 60 Millionen Franken für die
Renovation des Opernhauses und weist die Forderung Junger nach einem
autonomen Jugendzentrum zurück. Ende Mai 1980 kommt es in der
Zürcher Innenstadt zu schweren Krawallen. Bis 1982 gibt es bei
zahlreichen weiteren Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und
Polizisten Verletzte; die Sachschäden sind hoch. Die Forderung
nach einem Raum für alternative Kultur mischt sich mit Verdruss an
der gesellschaftlichen Zementierung in der Schweiz und mit anarchischer
Staatsfeindlichkeit – die sich im Leitspruch «Macht aus dem Staat
Gurkensalat» zeigt. Heute wird die Rote Fabrik, ein alternatives
Zürcher Kulturzentrum, staatlich subventioniert.
Bewegung in Bern
Das «Freie Land Zaffaraya», ein Zelt- und Wagendorf, wird
1987 von der Berner Polizei geräumt. In der Folge kommt es in der
Stadt zu Unruhen. Die Jugendlichen besetzen die Reithalle beim Bahnhof,
auch Reitschule genannt. Die Stadtbehörden tolerieren schliesslich
den alternativen Kultur- und Veranstaltungsort und renovieren ihn.
Mehrere Volksinitiativen zur Schliessung der Reithalle scheitern.
Street Parade
Die Zürcher Technoparty, erstmals 1992 durchgeführt als
«Demonstration für Liebe, Frieden, Freiheit,
Grosszügigkeit und Toleranz», wird 1994 vom Zürcher
Polizeivorstand Robert Neukomm (sp.) verboten. Es kommt in Zürich
zu Demonstrationen für die Veranstaltung, der Zürcher
Stadtrat gibt seinen Widerstand schliesslich auf. Heute zieht die
Street Parade Hunderttausende Besucher aus dem In- und Ausland an.
Reclaim the Streets
Die Bewegung zur Aneignung des öffentlichen Raums ist
globalisierungskritisch und führt Strassenpartys und Velofahrten
in Städten durch. In Zürich kommt es im Februar 2010 nach
einer Strassenparty zu Ausschreitungen mit Verwüstungen. Aus
Spanien schwappt der Brauch der Botellones in die Schweiz über:
Tausende Jugendliche treffen sich auf öffentlichen Plätzen
zum gemeinsamen Konsum alkoholischer Getränke. Die Mobilisierung
findet über das Internet statt. Nach einem Massenbesäufnis
mit rund 2000 Teilnehmern bleiben im August 2008 auf einer Wiese am
Zürichsee rund sechs Tonnen Abfall zurück. Die Veranstalter
werden in den Medien scharf kritisiert. (be.)
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Berns Polizei soll Bundeshaus besser vor Chaoten schützen
Hansjörg Walter, Präsident des Nationalrats, tadelt die
Polizei: Sie habe das Bundeshaus bei der Demonstration vom letzten
Samstag ungenügend geschützt.
Tausende Jugendliche drängten sich in der Nacht auf letzten
Sonntag auf dem Bundesplatz und demonstrierten unter dem Motto
«Tanz dich frei» für ein lebendigeres Nachtleben in
Bern. Dabei nutzten einige Vermummte die Gelegenheit für
Sachbeschädigungen und Sprayereien am Bundeshaus – vor den Augen
der Kantonspolizei Bern.
Diese Vorgänge sind für Nationalratspräsident
Hansjörg Walter (svp.) inakzeptabel: «Ich war nicht
zufrieden damit, dass die Polizei nicht eingegriffen hat.»
Offenbar habe die Polizei befürchtet, mit einem harten
Durchgreifen Krawalle zu provozieren. Doch Walter lässt dies so
nicht gelten: «In solchen Fällen muss das Bundeshaus
künftig geschützt werden.» Man werde mit der Polizei in
dieser Sache noch das Gespräch suchen. Walter beurteilt die
Schäden als «massiv» und die Beseitigung der
Schmierereien als «extrem teuer». Ähnliche Kritik wie
Walter äussern mehrere bürgerliche Parlamentarier. Sie wollen
in der Fragestunde von Montag vom Bundesrat unter anderem wissen, wie
solche Sachbeschädigungen künftig verhindert und der Schutz
des Parlamentsgebäudes verbessert werden kann. Der Bund hat wegen
der Sprayereien Anzeige gegen Unbekannt eingereicht.
Auf dem Bundesplatz habe letzten Samstag eine «sehr grosse
Menschenmenge friedlich demonstriert, getanzt und gefeiert», sagt
der Sprecher der Kantonspolizei Bern, Michael Fichter, zu dieser
Kritik. Aufgrund der Sachbeschädigungen durch Teilnehmer der
Demonstration habe die Polizei ihre Kräfte vor Ort verstärkt
und einzelne Personen weggewiesen. «Ein weitergehendes
Einschreiten wäre aufgrund des Risikos einer Eskalation
unverhältnismässig gewesen», sagt Fichter. Die
Situation sei zusätzlich erschwert worden, weil keine
Kontaktaufnahme mit den Veranstaltern der unbewilligten Kundgebung
möglich gewesen sei.
Das zuständige Bundesamt für Bauten und Logistik beziffert
die Schäden in einer «ersten vorsichtigen
Schätzung» auf 50 000 bis 100 000 Franken. Das Bundesamt
vertritt die Meinung, dass bei Anlässen wie im vorliegenden Fall
eine effektive Sicherung des Bundeshauses «mit
verhältnismässigem Aufwand kaum möglich» sei.
Stefan Bühler
---
Zentralschweiz am Sonntag 10.6.12
Herausgepickt
Reitschule ruft, fast niemand kommt
Bern sda. Die Berner Reitschule hat gestern erneut zur Eroberung des
städtischen Raums aufgerufen. Doch diesmal folgten dem wieder via
Facebook lancierten Ruf anders als vor einer Woche, als Tausende durch
die Innenstadt zogen, nur ganz wenig Leute. Etwa 15 Personen fanden
sich am früheren Samstagabend auf dem Bundesplatz ein, um dort
miteinander zu essen. «Play the Street Life» lautete der
Titel der Aktion, die noch dreimal wiederholt werden soll. Eine
Reitschul-Aktivistin räumte vor Ort ein, dass sie mehr Leute
erwartet habe.
---
Südostschweiz 10.6.12
Sonntagskommentar
Nicht aufregen, einfach zuhören
Von Andrea Masüger
Für einmal waren die Churer mit bei den Ersten: Die
gegenwärtigen Jugendproteste fanden praktisch gleichzeitig in
Chur, Zürich, Basel und Bern statt. Der Kampf eines Teils der
Churer Jungen gegen das Polizeigesetz von 2008, das als das
restriktivste der Schweiz gilt, machte schon vor Jahren nationale
Schlagzeilen.
Haben wir damit nach 1968 (internationale Studentenproteste,
Globuskrawalle), 1980 (Schweizer Jugendunruhen, Opernhauskrawalle) eine
neue Form von Jugendunruhen in der Schweiz? – Selbstverständlich
wird diese Frage derzeit vorwiegend verneint. Politiker und
Verantwortungsträger machen dabei zu Beginn solcher Phänomene
immer den gleichen Fehler und bagatellisieren die Sache. Heute werden
die Tanz- und Trinkparties in den Schweizer Städten vor allem als
hedonistische Aktionen verwöhnter Jugendlicher dargestellt, die
angesichts des überbordenden Wohlstandes und der Hirnlosigkeit
ihrer ebenfalls noch jungen Eltern nur noch Fun und Flausen im Kopf
haben. Man erhebt den Moralfinger und rät ihnen, nach Griechenland
zu schauen, wo die Jugendlichen in Arbeits- und Perspektivenlosigkeit
gefangen sind und froh wären um eine Lehrstelle oder einen
Studienplatz.
Dabei übersieht man, dass die gegenwärtige Bewegung
intellektuell viel breiter abgefedert ist als beispielsweise die
Jugendunruhen von 1980. Damals standen die Arrivierten hilflos vor
Dada-Parolen rund um staatlichen Gurkensalat und freier Sicht aufs
Mittelmeer. Heute aber erheben die Jugendlichen klare Forderungen nach
Freiräumen in der Öffentlichkeit, nach Abbau von staatlichen
Bewilligungsrestriktionen und von Verboten. Dabei regieren
Kreativität und Originalität, wie der Protestsong des Churer
Hannes Barfuss zeigt. Barfuss ist übrigens auch ein
ausgezeichneter und scharf denkender Formulierer.
Gerade im Kern haben die neueste und die bisherigen Bewegungen eine
grosse Gemeinsamkeit: Immer ging es um Platz, den die Jugendlichen
für sich reklamieren, um Jugendhäuser, Kulturzentren oder
eben Festplätze. Doch, und das ist ein Riesenunterschied: Diesmal
ist – im Gegensatz zu 1968 und 1980! – keine Gewalt im Spiel. Die neue
Bewegung hat deshalb das Recht, ernst genommen zu werden.
---
Sonntagszeitung 10.6.12
Berner Stapi Tschäppät will Partys erleichtern
Bern. Nach der Tanz-Demo vom letzten Wochenende geht Alexander
Tschäppät über die Bücher: «Man muss nun
darüber nachdenken, ob für
bestimmte Gassen und Strassen die Toleranz für den Lärm
erhöht werden
soll.» Auch der Städteverband reagiert und ruft eine
nationale
Arbeitsgruppe ins Leben. Nachrichten Seite 2, Fokus Seite 21
-
Tanz-Demo mobilisiert Städte
Verband gründet Arbeitsgruppe – Clubbetreiber planen schweizweites
Netzwerk
Von Fabian Eberhard
Bern Der Schweizerische Städteverband (SSV) reagiert auf die
Berner
Tanz-Demo vom vergangenen Wochenende und ruft eine nationale
Arbeitsgruppe ins Leben. Das bestätigt Direktorin Renate Amstutz
gegenüber der SonntagsZeitung. «Wir haben die
Verantwortlichen aller
grösseren Städte angeschrieben und werden sie zu einem
nationalen
Treffen einladen.»
Die Arbeitsgruppe soll den Städten als Austauschplattform rund um
die
schwelende Nachtleben-Problematik dienen. «Wir hoffen, dass wir
schliesslich Empfehlungen für die Städte formulieren
können», sagt
Amstutz. Für die Umsetzung konkreter Massnahmen seien diese aber
selbst
verantwortlich.
Wen die Städte in die Arbeitsgruppe delegieren, ist noch nicht
klar.
Amstutz hofft auf viele unterschiedliche Perspektiven. Vertreter der
Politik und der Verwaltung, von Polizei über Soziales bis Kultur
sollen
zusammenfinden.
Handlungsbedarf gibt es vor allem beim Lärmschutz
Nach ihrem Protest auf der Strasse machen Kulturaktivisten inzwischen
auch auf politischer Ebene mobil: Clubbetreiber und
Kulturorganisationen planen ein gesamtschweizerisches Netzwerk, das
sich gegen das Clubsterben und für ein attraktives Nachtleben in
Schweizer Städten einsetzt. Unter der Federführung des
Dachverbandes
der Schweizerischen Musikclubs (Petzi) wollen sich diverse regionale
Gruppierungen erstmals auf nationaler Ebene vernetzen. Darunter auch
der Verein Pro Nachtleben Bern, der die Demo vom letzten Wochenende mit
über 10 000 Teilnehmern unterstützte.
Am vergangenen Mittwoch trafen sich Delegierte aus allen Landeszeilen
in Zürich, wie Petzi-Vertreterin Isabelle von Walterskirchen
bestätigt:
«Unser Ziel ist der Aufbau eines schlagkräftigen
Kulturnetzwerkes.»
Weitere Treffen würden bald folgen.
Laut von Walterskirchen habe die Diskussion um das Nachtleben zwar in
jeder Stadt ihre Eigenheiten. Schliesslich bestünden aber
schweizweit
ähnliche Probleme, die es national anzupacken gelte. So gäbe
es etwa
Handlungsbedarf beim Lärmschutz. «Clubbetreiber brauchen
mehr
Rechtssicherheit bei Klagen von Einzelpersonen», sagt sie. Es
könne
nicht sein, dass jemand die Schliessung eines Kulturzentrums im
Alleingang erzwinge.
Sie fordert zudem, dass neben Anwohnern und Gewerbebetreibern auch die
Kulturszene fest in die Stadtplanung miteinbezogen werde. Dafür
werde
das Netzwerk sowohl auf nationaler wie auch auf regionaler Ebene
lobbyieren und versuchen, Politiker mit ins Boot zu holen.
Im Internet werben Unbekannte nun für den 22. September für
ein
«nächtliches Tanzvergnügen» in Aarau. Nur gerade
fünfzehn Personen
fanden sich gestern auf dem Bundesplatz ein, um dort miteinander zu
essen. Sie folgten einem Aufruf der Reithalle.
Mehr zum Thema Fokus Seite 21
-
«Ich würde gerne politisches Kabarett machen»
Der Berner Stadtpräsident Alexander Tschäppät über
lautstarkes
Nachtleben, einen Deal mit seinem Vater, seinen Kampf für
bezahlbaren
Wohnraum und seine EM-Hoffnung Holland
von Joël Widmer und Nadja Pastega (Text) und Severin Nowacki
(Fotos)
Der Berner Stadtpräsident und SP-Nationalrat Alexander
Tschäppät ist
kein Kind von Traurigkeit. Über die Stränge hauen? Für
Tschäppät kein
Problem. Manchmal läuft die Party auch aus dem Ruder – wie jene
Feier
nach einem Heimsieg von YB gegen Zürich, als Tschäppät
mit einer
Mundart-Trash-Band auf der Bühne abschätzig über
Christoph Blocher
sang. In diesen Tagen sitzt er weit ab vom Partygeschehen – im
Nationalratssaal im Bundeshaus, wo gerade die Sommersession
stattfindet. In einem Sitzungszimmer lässt er sich gemächlich
auf einem
schwarzen Lederfauteuil nieder, schlägt die Beine
übereinander und will
wissen: «Tanzen wir schon?»
Nein, Herr Tschäppät, wir führen zuerst ein
Gespräch. Am letzten
Wochenende haben sich in Bern 10 000 junge Menschen zu einer Tanzparty
getroffen, zusammengetrommelt über Facebook. Wo waren Sie?
Ich habe versucht, meine Frau vom Bahnhof abzuholen. Das war ein
logistisches Meisterstück, weil die halbe Stadt abgeriegelt war.
Ich
habe also die Party und ihre Auswirkungen hautnah miterlebt.
Wann haben Sie selber das letzte Mal die Nacht zum Tag gemacht?
Ich möchte mich nicht rühmen, aber ich würde behaupten,
wir haben früher wildere Sachen gemacht als die Jungen heute.
Nämlich?
Ich zähle das nicht auf. Aber wir haben natürlich einen ganz
anderen
Kampf geführt im autoritären Bereich. Das war eine andere
Zeit. Die
Schule war autoritär, die ganze Gesellschaft war autoritärer.
Und im Ausgang?
Wir sind nach Neuenburg gefahren, das war Ende der 60er-Jahre die
liberalste Stadt rund um Bern. Die Töffli haben wir frisiert, sie
fuhren etwa 60 Stundenkilometer, sonst wäre man nie dort
angekommen!
Die Tanz-Demo vom vergangenen Wochenende war für Sie also eine
politische Aktion?
Wenn 10 000 Menschen tanzen, findet man nicht heraus, was die
Motivation jedes Einzelnen ist. Da war wohl alles vertreten, vom
politisch überzeugten Klassenkämpfer bis zum
Partygänger, der in seinen
300 Franken teuren Nike-Schuhen abtanzen will.
Ist es politisch, wenn man um zwei Uhr morgens eins trinken will?
Wenn die Jungen an einem schönen Abend finden, wir wollen die
Stadt
jetzt mal für uns, habe ich damit kein Problem. Man kann das als
Teil
einer politischen Aussage verstehen. Aber für viele war es einfach
Party.
Die Gesellschaft war doch noch nie so liberal wie heute.
Das stimmt. Als ich als Gymnasiast mit Haaren über den Ohren in
die
Schule ging, gab das Lämpe mit dem Lehrer. Im Militär hat man
stundenlang Gel in die Haare geschmiert, um längere Haare nicht
abschneiden zu müssen. Heute findet es der Kommandant
wahrscheinlich
noch witzig, wenn man mit blau gefärbten Haaren in die RS
einrückt. Die
Gesellschaft akzeptiert heute sehr viel mehr.
Trotzdem gibt es Konflikte.
Das Problem liegt darin, dass unterschiedliche Ansprüche an den
gleichen öffentlichen Freiraum gestellt werden. Die Jungen
möchten die
Nacht durchfeiern.Andere, die morgens um sechs zur Büez
müssen, möchten
dann nicht über Glasscherben stolpern und um Mitternacht ihre Ruhe
haben.
Ein attraktives Nachtleben rutscht doch in den Tourismusführern
immer weiter nach vorne.
Ich bin sehr für ein attraktives Nachtleben. Aber nehmen Sie
Lausanne.
Dort hat man das Nachtleben so lange gefördert, bis man am Schluss
mit
den Problemen nicht mehr fertig wird. Samstag für Samstag gibt es
Lärm
und Schlägereien.
Das liegt daran, dass dort 40 Clubs gleichzeitig um fünf Uhr
früh
schliessen und die Partygänger quasi auf der Strasse festsitzen,
weil
die ersten Züge erst später fahren.
Ja, das ist das eine. Es hat sich in Lausanne aber auch ein riesiger
Nachtlebenstourismus entwickelt. Da kommen Partygänger aus
Frankreich
oder aus Genf. Die sagen sich, «mir ist es doch egal, wenn sich
die
Bewohner von Lausanne gestört fühlen, ich wohne ja nicht
hier».
Können die unterschiedlichen Bedürfnisse der Menschen
überhaupt koexistieren in einer Stadt?
In Hamburg gibt es seit 100 Jahren die Reeperbahn. Dort muss keiner
eine Wohnung beziehen und meinen, er habe abends um elf Uhr Nachtruhe.
Das Gleiche gilt für die Langstrasse in Zürich.
Unproblematisch für das
Nachtleben sind die Industriegebiete, weil hier niemand wohnt. Im
Berner Fussballstadion Wankdorf haben wir einen riesigen Nachtclub, das
stört keinen. Im engen urbanen Raum kann man aber nie alles unter
einen
Hut bringen, man kann nur Prioritäten setzen.
Welche Konzepte haben Sie?
Eine Ideallösung gibt es nicht. Die untere Altstadt soll und muss
bewohnt sein, ich will keine Geisterstadt im Zentrum. Für die
obere
Altstadt, wo es weniger Wohnungen hat, muss man jetzt die Diskussion
führen und entscheiden, ob man das Wohnen zurückstellen und
das
Nachtleben priorisieren soll. Am Schluss muss es sich für die
Clubbesitzer aber auch noch rechnen.
Braucht es in den Städten Sonderzonen für die Partyszene?
Dort, wo Wohnen und Nachtleben nebeneinander Platz haben müssen,
braucht es klare Spielregeln. Dafür gibt es bereits heute Zonen
mit
unterschiedlichen Lärmbestimmungen. In einem Wohnquartier gilt ein
anderer Lärmschutz als in einem Industriequartier. Man muss
darüber
nachdenken, ob für bestimmte Gassen und Strassen die Toleranz
für Lärm
erhöht werden soll.
Verschiedene Schweizer Städte haben die gleichen Probleme. Braucht
es einen runden Tisch?
Ein Gedankenaustausch ist sinnvoll. Wir haben in Bern dazu eine
Arbeitsgruppe eingesetzt und auch der Städteverband nimmt sich dem
Thema an. Wir müssen zum Beispiel über die
Bewilligungsverfahren
diskutieren. Das heutige Verfahren mit Formularen ist obsolet,
über
Facebook bringt man in zwei Stunden Tausende von Leuten auf die Strasse.
Zürich hat bereits eine neue Bewilligungspraxis für spontane
Outdoor-Partys eingeführt. Wird Bern dieses Modell übernehmen?
Bern ist daran, ein Nachtlebenskonzept auszuarbeiten. Dabei prüfen
wir
auch, ob wir ein erleichtertes Bewilligungsverfahren einführen
können,
damit wir einen Ansprechpartner haben und die negativen Auswirkungen
besser in den Griff bekommen.
Sie sind in Bern aufgewachsen. Waren Sie als 18-Jähriger schon
politisch aktiv, zum Beispiel bei den Jusos?
Nein, ich war nie bei den Jusos. Ich war sehr politisch, aber nicht
organisiert. Mein Vater und ich hatten unterschiedliche Ansichten. Das
war auch ein Generationenkonflikt, den wir nicht öffentlich
austragen
wollten.
Ihr Vater war sozialdemokratischer Stadtpräsident. Wann sind Sie
in die SP eingetreten?
Ich bin politisch aktiv geworden, als mein Vater 1979 mit 61 Jahren
starb. Das war eine Abmachung zwischen meinem Vater und mir: Solange er
im Amt ist, bin ich nicht politisch aktiv.
Es war immer klar, dass Sie in die SP gehen?
Ja. Mein Grossvater hat zu den Organisatoren des Generalstreiks
gehört.
Etwas anderes als SP hat es in meiner Familie seit 100 Jahren nicht
gegeben. Als ich Kind war, verbot uns der Grossvater unter
Höchststrafe, in der Migros eine Tafel Schokolade für 30
Rappen zu
kaufen. Als Sozi ging man in den Konsum. Das ist heute nicht mehr so,
aber die SP braucht es wegen des zunehmenden sozialen Gefälles
mehr
denn je.
Sie sind nun zwölf Jahre in der Berner Stadtregierung und wurden
soeben 60 Jahre alt. Warum treten Sie im Herbst nochmals
für das Stadtpräsidium an?
Wir haben in der Stadt in den letzten 12 Jahren viel erreicht, zum
Beispiel den öffentlichen Ver- kehr ausgebaut und mehr Wohnraum
geschaffen. Das möchte ich noch 4 Jahre weiterführen, mich
für
bezahlbaren Wohnraum einsetzen und die Rolle als Hauptstadt
stärken.
Ausserdem ist Stadtpräsident ein wunderbarer Job und Bern ein
wunderschöner Ort. Man ist nah bei den Leuten, man kann etwas
verändern. Ich kann Tram fahren, dann weiss ich nach zehn Minuten,
wo
der Schuh drückt.
Sie werden angesprochen?
Ja, sicher. Die Leute sagen, was sie stört oder was sie gut
finden. Das
ist faszinierend, aber auch stressig. Man ist nie allein. In jeder
Beiz, wo ich mit meiner Frau essen gehe, kommt einer und will eine
Geschichte erzählen. Aber das hat auch etwas sehr Schönes.
Sie haben im Wahlkampf für das Stadtpräsidium keinen
bürgerlichen Gegner. Sind Sie der König von Bern?
Sicher nicht. Bei jedem Geschäft, das wir in den letzten vier
Jah-ren
hatten, gab es Widerstand von der bürgerlichen Seite. Wenn man so
fundamental politisiert, muss man bei den Wahlen eine Auswahl
präsentieren. Ich bedaure, dass das bisher nicht der Fall ist.
Was wollen Sie machen, damit Bern das Image der Beamtenstadt verliert?
Das haben wir schon lange verloren. Das kann nur eine Zürcherin
fragen.
Sie sind beleidigt.
Nein, es ist einfach schon lange nicht mehr so. Man kann ja in den
weltweiten Ranglisten der Lebensqualität nachschauen: Bern
verbessert
sich stetig. Die Vorurteile bleiben aber: Wir seien langsam. Damit habe
ich kein Problem.
Für die gleich hohe Lebensqualität wie in Zürich muss
man in Bern viel mehr Steuern zahlen.
Wenn man die Steuern vergleicht, stimmt das. Man muss aber auch das
Angebot vergleichen, die Arbeitswege, die Stauzeiten oder die
Mietzinse. Bern bietet hier enorm viel für den Steuerfranken.
Ausserdem
ist nicht die Stadt, sondern der Kanton Bern für die hohen Steuern
verantwortlich. Er ist der zweitgrösste Kanton der Schweiz mit
einer
unglaublichen Infrastruktur, die man unterhalten muss. Wenn die
Agglomeration ein Halbkanton wäre, könnten wir steuerlich in
den Top 5
sein, aber eine solche Entsolidarisierung kann nicht das Ziel sein,
eine Steuerharmonisierung wäre bessere.
Wie wollen Sie Bern wirtschaftlich weiterbringen?
Wir leben zu 80 Prozent von den Steuern natürlicher Personen und
nicht
von Firmen. Wir müssen daher schauen, dass es den Steuerzahlern
gut
geht und für sie Wohnraum schaffen.
Sind 20 Prozent Steuern aus Firmen nicht viel zu wenig?
Mehr wäre natürlich besser, aber es hat auch Vorteile. Man
ist nicht abgängig von einzelnen Unternehmen.
Aber ein paar zusätzliche Firmen brächten auch ein paar
zusätzliche Steuerfranken.
Ja, interessant sind Firmen aber vor allem wegen der guten Arbeits-
plätze. Unsere Stärke liegt im Bereich Service public, bei
den
Dienstleistungen: Wir haben die Post, die SBB, die SRG.
Sie haben es also aufgegeben, Hightech-Industrie anzusiedeln.
Wir geben nicht auf. Wenn aber Google in Flughafennähe sein will,
was soll ich da kämpfen?
Sie gelten als beratungs- resistent. War Ihr Vater auch so?
Wahrscheinlich schon, ja. Mein Vater hat allen zugehört, aber
gesagt:
Ich entscheide selber. Er hat allen das Gefühl gegeben, sie seien
wichtig und hat dann allein entschieden.
Sie machen das auch so?
Ich höre den Leuten zu, aber am Ende entscheide ich. Ich finde
nichts
schlimmer, als wenn man merkt, dass man nicht auf sich selbst
gehört
hat.
Sie seien ein Einzelgänger, ein wenig misstrauisch, heisst es.
Ich bin anders, als viele denken. Vor jedem TV-Auftritt, jeder
Radiosendung habe ich Schweissausbrüche, wie vor 30 Jahren. Ich
habe in
meinem Leben auch bedeutend mehr Tiefgang, als viele denken.
Wie man hört, sind Sie auch ein Zweifler.
Ja, das bin ich sicher.
Stehen Sie darum gerne in der Öffentlichkeit?
Manchmal tut man das gerne, aber es gibt auch Momente, in denen ich am
liebsten eine Perücke anziehen möchte.
Zum Beispiel?
Wenn etwas schiefläuft. Als Stadtpräsident ist man für
alle Misserfolge
verantwortlich. Bei Hochwasser ist der Stapi schuld, dass die Aare
über
die Ufer tritt. Da läuft man nicht gerne durch die Matte.
Jeder Angriff trifft Sie heute noch tief?
Ja. An mir prallt gar nichts ab. Mir raubt es in solchen Momenten auch
den Schlaf. Ich beneide Leute, die cool bleiben können.
Sie haben ein Häuschen am Murtensee. Ihr Rückzugsort?
Ich bin leider viel zu selten dort. Es steht am Mont Vully, nur 40
Minuten von Bern. Aber man hat das Gefühl, man sei in einer
anderen
Welt.
Sie sind also ein Zweitwohnungsbesitzer.
Ja. Aber meine ist fast nie kalt, meine Familie ist oft dort.
Das AKW Mühleberg liegt weniger als 20 Kilometer von Bern weg.
Würden Sie die Stadt nach einem Super-GAU evakuieren?
Das scheint mir die falsche Frage. Ich möchte nicht wissen, wie es
nach
einem Super-GAU aussieht. Mein Ziel ist es, dass Mühleberg
möglichst
rasch vom Netz geht. Wir können sicher nicht sagen, wir nehmen
Jodtabletten, sitzen an die Aare und hoffen, dass die Wolke wegzieht.
Der Bund hat keine Evakuierungspläne.
Wichtig sind nicht solche Pläne, sondern dass die
gefährlichen AKW abgestellt werden.
Was sind Ihre Zukunftspläne für die Zeit des Ruhestands?
Ich möchte gern politisches Kabarett machen. Das fehlt völlig
in diesem Land: aktuelles, zeitgenössisches politisches Kabarett.
Mit wem würden Sie auftreten?
Zum Beispiel mit Daniel Zuberbühler, dem Ex-Chef der Finma, er hat
einen wunderbaren Humor. Es ist aber nicht so, dass ich jetzt auf der
Suche nach einem Kleinkunstvertrag bin.
Wenn würden Sie als Erstes auf die Schippe nehmen?
Da muss ich wohl bei mir selber anfangen.
Bern hat kein gutes Sportjahr hinter sich. Erleben Sie als
Stadtpräsident noch, das YB Meister wird?
Wenn ich wiedergewählt werde, sicher.
Ihr Favorit an der Euro?
Die Deutschen sind sehr stark. Aber mein Herz schlägt nach wie vor
für Holland.
«Manchmal stehe ich gerne in der Öffentlichkeit, aber es
gibt auch
Momente, in denen ich am liebsten eine Perücke anziehen
möchte»
«Ich kann Tram fahren, dann weiss ich nach zehn Minuten, wo der
Schuh drückt»
Für die SP zum zweiten Mal im Nationalrat
Alexander Tschäppät wurde 1952 in Bern geboren. Er studierte
Rechtswissenschaft, arbeitete dann als Fürsprecher und
während fast 20
Jahren als Gerichtspräsident in der Schweizer Hauptstadt. Seit
2005
amtet Tschäppät, Mitglied der Sozialdemokratischen Partei,
SP, als
Stadtpräsident in Bern. Im vergangenen Herbst wurde er für
die SP zum
zweiten Mal in den Nationalrat gewählt, nachdem er bereits von
1991 bis
2003 in der grossen Kammer sass. Alexander Tschäppät hat zwei
erwachsene Söhne und wohnt mit seiner Lebenspartnerin in Bern.
-
Lieber Reto Nause
Sie machen zurzeit einen arg unsicheren Eindruck als
«Sicherheitsdirektor» der Stadt Bern. So heisst ihr Amt,
weil «Polizei»
nicht so gut tönt bei der Kundschaft, die sie auf Trab hält:
Jugendliche, die nachts länger saufen wollen und für dieses
Anliegen
auf die Strasse gehen, bis zu zwanzig Tonnen Abfall auf den Boden
schmeissen, das Bundeshaus verschmieren, wie letzte Samstagnacht
geschehen. Unfassbar: Diese wütigen Nachtbuben wollen wirklich nur
mehr
Nachtleben! Glückliches Bern. In Spanien und in Griechenland gehen
Gleichaltrige auf die Strasse, weil sie keine Zukunft haben – in Bern
demonstriert die Jugend für längeres Terrassehöckle.
Weiss die Berner
Jugend eigentlich, wie viel Ärger noch auf sie zukommt,
wirtschaftlich?
Oder kann sie gerade deshalb nicht mehr schlafen? Was mich am meisten
erstaunt ist die lasche Haltung der Stadtbehörden: Ihr
Stadtpräsident
Alexander Tschäppät hat schon angekündigt, man
könne über Ausnahmen
reden, zum Beispiel für den Vorplatz der – eh schon gesetzesfreien
–
Reithalle. Und die Reithalle hat gleich mit der Bierflasche gedroht:
Nüüüt da, wir wollen Freinacht überall! Da in Bern
nachts eh die
Reithalle regiert, mache ich einen Vorschlag zur Güte: Sie
vertreiben
alle Bewohner, die Nachtruhe brauchen, in die Vorstädte und machen
aus
der Altstadt eine Festzone für die Jugend. Bern, tagsüber
Beamtenzoo,
nachts Disneyland für sorglose Kids. Ist doch ein super
Zukunftsprojekt
für die wirtschaftlich schwächelnde Hauptstadt.
Mit freundlichen Grüssen, Peter Rothenbühler
---
bernerzeitung.ch 9.6.12
http://www.bernerzeitung.ch/region/bern/Die-Berner-Reitschule-ruft--und-fast-niemand-kommt/story/26040146
Die Berner Reitschule ruft - und fast niemand kommt
Die Berner Reitschule hat am Samstag erneut zur Eroberung des
städtischen Raums aufgerufen. Doch diesmal folgten dem wieder via
Facebook lancierten Ruf anders als vor einer Woche, als Tausende durch
die Innenstadt zogen, nur ganz wenig Leute.
Etwa fünfzehn Personen fanden sich am früheren Samstagabend
auf dem Bundesplatz ein, um dort miteinander zu essen. «Play the
Street Life» lautete der Titel der Aktion, die noch dreimal
wiederholt werden soll. Das Spiel besteht darin, den öffentlichen
Raum in Bern nacheinander zu einer Küche, einem Wohnzimmer, dem
Badezimmer und dem Schlafzimmer zu machen.
Am Samstag war die Küche dran und deshalb rief das alternative
Kulturzentrum dazu auf, Töpfe, Tische usw. mitzubringen. Mehrere
Reitschulaktivisten setzten sich um einen festlich gedeckten Tisch.
Schwer einzuschätzen wieviele Leute kommen
Eine Reitschul-Aktivistin räumte vor Ort auf Anfrage der
Nachrichtenagentur sda ein, dass sie mehr Leute erwartet habe, ein
anderer sagte, das Echo auf Facebook-Aufrufe sei jeweils schwer
einzuschätzen.
Die Aktion sei als Fortsetzung der Tanzparade vom vergangenen Samstag
zu verstehen, sagte die Aktivistin. «Bern wird uns nicht
los», hiess es im Aufruf zur Aktion «gegen repressive
Reglementierungen des städtischen Lebens».
(aw)
---
20min.ch 9.6.12
http://www.20min.ch/schweiz/bern/story/Berner-Jugend-pfeift-auf-neue-Openair-Party-31807408
War es das schon?
Berner Jugend pfeift auf neue Openair-PartyBerner Jugend pfeift auf
neue Openair-Party
Was für eine Ernüchterung für die Organisatoren der
Reitschule. Vor einer Woche mobilisierte ihr Aufruf zur Eroberung der
Hauptstadt noch über 10'000 Junge - heute kam bloss ein gutes
Dutzend.
Die Berner Reitschule hat am Samstag erneut zur Eroberung des
städtischen Raums aufgerufen. Doch diesmal folgten dem wieder via
Facebook lancierten Ruf anders als vor einer Woche, als Tausende durch
die Innenstadt zogen, nur ganz wenig Leute.
Etwa fünfzehn Personen fanden sich am früheren Samstagabend
auf dem Bundesplatz ein, um dort miteinander zu essen. «Play the
Street Life» lautete der Titel der Aktion, die noch dreimal
wiederholt werden soll. Das Spiel besteht darin, den öffentlichen
Raum in Bern nacheinander zu einer Küche, einem Wohnzimmer, dem
Badezimmer und dem Schlafzimmer zu machen.
«Bern wird uns nicht los»
Am Samstag war die Küche dran und deshalb rief das alternative
Kulturzentrum dazu auf, Töpfe, Tische usw. mitzubringen. Mehrere
Reitschulaktivisten setzten sich um einen festlich gedeckten Tisch.
Eine Reitschul-Aktivistin räumte vor Ort auf Anfrage der
Nachrichtenagentur SDA ein, dass sie mehr Leute erwartet habe, ein
anderer sagte, das Echo auf Facebook-Aufrufe sei jeweils schwer
einzuschätzen.
Die Aktion sei als Fortsetzung der Tanzparade vom vergangenen Samstag
zu verstehen, sagte die Aktivistin. «Bern wird uns nicht
los», hiess es im Aufruf zur Aktion «gegen repressive
Reglementierungen des städtischen Lebens».
(sda)
---
Langenthaler Tagblatt 9.6.12
Gastbeitrag zur Tanzdemo vom vergangenen Wochenende
Das Berner Jugendfest, Ausgabe 2012
Bernhard Giger*
Zu Tausenden zogen die Teens und Twens am frühen Abend vom Bahnhof
her das Bollwerk hinunter vor die Reitschule, als gingen sie an ein
Open Air oder zum Fussballspiel ins Stadion. Und eine Mischung aus
Volksfest, Pubfestival, Strassentheater und Demonstration war das denn
auch, was in Berns Innenstadt am vergangenen Samstag eine laute Nacht
lang abgegangen ist.
«Tanz dich frei» – dies die Botschaft der Kundgebung. Um
ein Stück persönliche Freiheit ging es also, und – vor dem
aktuellen Hintergrund der Debatten und Konflikte um das Berner
Nachtleben – um kollektiv genutzte Freiräume. Das war der wohl
grösste gemeinsame Nenner, der die schlussendlich gut 15000
Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tanzdemo zusammengebracht hat. Sonst
hielten sich die Gemeinsamkeiten in Grenzen. Partytime und Kampftrinken
war für die einen angesagt, die Wiedereroberung der Strasse
suchten die anderen. Der einsame Vermummte, der an der Spitalgasse mit
einem Wachsstift zornig Schaufenster zerkritzelte, stammt aus einer
völlig anderen Welt als die drei jungen Frauen, die auf dem
Bundesplatz vor einem iPad kauerten und sich die ersten über
Facebook verbreiteten Filmchen des Fests ansahen, das um sie herum in
vollem Gang war. Die meisten werden auch die Anspielung auf dem
Transparent nicht verstanden haben, das vom Dach des Baldachins am
Bahnhof hing: «Bewegung 2. Juni» stand darauf. So nannte
sich in den 70er-Jahren in der Bundesrepublik Deutschland eine
terroristische Gruppe im Umfeld der RAF, der Roten Armee Fraktion.
War das, was sich in Bern ereignete, nun politisch oder nicht?
Darüber rätseln seit Tagen Medien und Politik,
Stadtpräsidenten und kichernde Politologen, alt Aktivisten der
68er- und der 80er-Bewegung – eigentlich fast alle ausser denen, um die
sich alles dreht, die Jungen selber. «Wenn Sie das nicht
politisch finden, dann übersetzen Sie es doch in ihre politische
Sprache», sagte am Dienstag im Club auf SF1 der Churer Student
Hannes Barfuss zu Berns Stadtpräsident Alexander
Tschäppät.
Keine Frage, was in Bern passierte, und was die 15000 bewegte, dabei
mitzumachen, ist zutiefst politisch. In der Nachtleben-Diskussion
prallen die verschiedensten Anliegen und Interessen aufeinander –
Reitschule, private Clubs, Wohnzonen mit Mieten, die zum Teil deutlich
über dem städtischen Durchschnitt liegen. Aber wo und wie die
Auseinandersetzungen auch stattfinden, immer drehen sie sich zentral um
Fragen der Nutzung eines öffentlichen Raums, den viele als
überreglementiert und deshalb als nicht mehr öffentlichen,
sondern verbotenen Raum empfinden.
Die Diskussion betrifft aber auch ganz generell unser Ausgehverhalten.
Wochenende für Wochenende strömen bis zu 10000 mehrheitlich
jugendliche und junge Menschen aus der Agglomeration oder der weiteren
Region in die Stadt. Sie wollen sich vergnügen und verzetteln und
dann wieder gehen. Die Infrastruktur für ihr Vergnügen
stellen die Stadt und in der Stadt ansässige Einrichtungen bereit.
Die 15000 vom letzten Samstag, die von überall herkamen, aus der
Stadt, der Agglo, dem Kanton, der ganzen Schweiz, haben es
eindrücklich belegt: Das Nachtleben ist keine bloss
städtische Angelegenheit, da ist, wie beim Verkehr und der
Raumplanung, die ganze Region gefordert.
Im Westschweizer Fernsehen lief diese Woche «Woodstock»,
der Film über das legendäre Festival von 1969. Einmal tritt
der Farmer auf die Bühne, der das Gelände für den
Grossanlass zur Verfügung gestellt hatte. Die 500000, die gekommen
seien, um drei Tage in Frieden zusammen Musik zu hören, sagt der
Mann ins Mikrofon, würden als Zeichen in die Welt gehen. Woodstock
wurde zum Synonym für die Hoffnung einer ganzen Generation. Kein
Mensch fragte damals, ob das politisch sei.
*Bernhard Giger ist Journalist und Filmemacher in Bern und leitet das
Berner Kornhausforum.
---
Regional-Diagonal DRS1 9.6.12
Jugendproteste – fast wie in den 80er Jahren

Zürcher Jugendproteste der 80er-Jahre (Keystone)
In Bern, Basel und Chur gehen Jugendliche auf die Strasse und fordern
mehr Freiraum. In Zürich liegen die Proteste schon einige Monate
zurück, dort wird jetzt mit einer neuen Partystrategie der Unmut
besänftigt.
Wie tönt das in den Ohren einer Frau, die in den 80er Jahren
selber protestiert hat. Patrizia Loggia erinnert sich, sieht Parallelen
und Unterschiede. Im Gespräch mit Regional-Diagonal schätzt
sie die Lage ein.
Junge fordern mehr Freiraum
In Bern, Basel und Chur gehen Jugendliche auf die Strasse, machen Party
und fordern mehr Freiraum für sich. Die Behörden versuchen
nun, unbürokratisch entgegen zu kommen. Dabei schauen sie Richtung
Zürich. Da liegen die Proteste schon einige Monate zurück,
mit einer neuen Partystrategie versuchte die Stadt hier, die Wogen zu
glätten.
Mehr
Patrizia Loggia blickt zurück
Wenn Junge wieder auf die Strasse gehen, stellt sich die Frage, wie das
in den Ohren einer Frau tönt, die in den 80er Jahren selber bei
den Unruhen in Zürich protestiert hat. Patrizia Loggia erinnert
sich, sieht Parallelen und Unterschiede. Im Gespräch mit
Regional-Diagonal schätzt sie die Lage ein.
Mehr
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Bund 9.6.12
Kurz frottiert
Mehr Courage, Herr Präsident!
Es gab mal eine Zeit, da wurden dringende Probleme in der Stadt Bern
zur Chefsache erklärt. So hatte der Vorgänger des aktuellen
Stadtoberhauptes einst die Verantwortung für den Kampf gegen die
offene Drogenszene übernommen. Der Akt hatte eher symbolischen
Charakter. Aber damit signalisierte der Chef: «Obacht, jetzt
passiert etwas. Und ich stehe dafür gerade.»
Sein Nachfolger hat es nicht so mit der Symbolik. Er hält sich
lieber an die Kompetenzregelung. Und die besagt, dass die Konflikte um
den Vorplatz der Reitschule und das Nachtleben das Gastgewerbe
betreffen, das zum Aufgabenkreis des Sicherheitsdirektors gehört.
So hat der Amtsinhaber im Erlacherhof nach der ersten Tanzdemo von
Mitte Mai (3000 Teilnehmende) geschwiegen. Das Erstaunen war gross, als
die Stadt eine Woche später eine Medienmitteilung zum Thema
versandte, auf der aber plötzlich nicht mehr der
Sicherheitsdirektor, sondern der Stadtpräsident als
Auskunftsperson angegeben war. Ist das Thema nun doch noch zur
Chefsache geworden? - Mitnichten. Das Timing der ersten Wortmeldung war
gut gewählt: Kurz zuvor hatte der Regierungsstatthalter
nämlich Fehler bei der Kommunikation der Zwangsmassnahmen
eingeräumt. Der Schwarze Peter für das Verwirrspiel um die
geltenden Regeln war somit vergeben, das Risiko der präsidialen
Wortmeldung gleich null. In der Folge trat das Stadtoberhaupt jedoch
wieder diskret in den Hintergrund - bis am Tag nach der zweiten
Tanzdemo vor einer Woche (10 000 Teilnehmende). Nun tat sich
tatsächlich etwas, und der Stadtpräsident gab bekannt, dass
Sonderregeln für den Vorplatz der Reitschule prüfenswert
seien. Zudem wolle er persönlich einen runden Tisch zum Thema
Nachtleben einberufen. Spätestens jetzt schien es klar zu sein,
dass das Thema zur Chefsache geworden ist - was es aber nur für
wenige Stunden geblieben ist. Denn am Abend desselben Tages hagelte es
im Stadtparlament Schelte für die avisierten Sonderregeln. Dabei
überliess der Stadtpräsident seine Verteidigung dem
Sicherheitsdirektor. Stumm blieb er sitzen, während dieser
für ihn sprach.
Der Konflikt um den Vorplatz der Reitschule und das Nachtleben wird
immer erst dann zur Chefsache, wenn der Schwarze Peter verteilt ist
oder wenn es etwas zu verkünden gibt. In einem Wahljahr darf man
von einem Politiker wohl keine Heldentaten verlangen. Aber dem
Präsident der Hauptstadt würde etwas mehr Courage eigentlich
gut anstehen.
Bernhard Ott
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BZ 9.6.12
BernBabyBurn
Zwei Seelen, ach!
Sarah Pfäffli
Es gibt einen Song mit dem schönen Titel: «Ich möchte
Teil einer Jugendbewegung sein.» Ja, das möchte ich. Ich
wäre wirklich gern sehr bewegt und überzeugt von diesen
Partyprotesten. Nicht weil ich glaube, dass Bern ein zu kleines
Nachtleben hat. Genug Angebote gibt es – einfach nicht genug gute. Aber
ich wünschte mir, die Berner würden begreifen, dass das
Nachtleben ein zentraler Attraktivitätsfaktor einer Stadt ist,
kein unerwünschter Nebeneffekt. Dass sie eine Vorstellung davon
entwickeln, wie die Stadt es fördern – und damit steuern – kann,
statt stets bloss Scherben zusammenzuwischen. Und ich meine nicht nur
Tschäppät, Lerch, Müller. Sondern sehr viele Berner ab
etwa dreissig, die vor allem darum besorgt sind, dass sie am Morgen
wieder früh aus dem Bett müssen. Das wünsche ich mir
schon lange, und deshalb hätte ich die Tanzparty vor einer Woche
super finden müssen. Doch dann stand ich auf dem Bundesplatz,
neben einer Gruppe besoffener Glatzköpfe, die das T-Shirt
ausgezogen hatten, ans Bundeshaus pinkelten und alles Hammer fanden.
Und ich war mir nicht so sicher, ob wir die gleiche Vorstellung haben
von gutem Ausgang. Dann begriff ich: Ich denke wie die! – Die, die nur
die negativen Nebenerscheinungen sehen. Und nicht das Wesentliche. Oh,
ich wollte, ich könnte Teil einer Jugendbewegung sein.
Sarah Pfäffli (29, bernbabyburn@gmail.com) und Fabian Sommer
schreiben hier abwechslungsweise, wos in ihrer Stadt echt brennt. Sie
aus Bern, er aus Biel.
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BZ 9.6.12
Lösung für Freiluft-Partys?
Nachtleben Seit rund sechs Wochen besteht in Zürich eine neue
Regelung für Partys im Freien. Neu können Jugendliche
sogenannte Jugendbewilligungen beantragen, um auf öffentlichem
Grund legal ein Fest zu feiern. Um eine Bewilligung zu erhalten,
müssen die Organisatoren diverse Kriterien erfüllen,
beispielsweise das selbstständige Entsorgen der Abfälle. Der
Berner Gemeinderat zieht nun in Erwägung, ein solches oder
ähnliches Konzept für Bern zu prüfen. Das Pilotprojekt
in Zürich ist gut gestartet. Gemäss dem Polizeidepartement
der Stadt Zürich gingen elf solche Anfragen ein. Sieben dieser
Anträge wurden bewilligt, zwei werden zurzeit noch
überprüft. Zwei wurden abgelehnt, da sie die Kriterien nicht
erfüllten.stoSeite 3
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Die Idee «Jugendbewilligung» ist in Zürich gut
gestartet
Nachtleben · Seit April können in Zürich
Jugendbewilligungen beantragt werden, um eine Party im
öffentlichen Raum legal zu veranstalten. Die Stadt Zürich hat
bis anhin positive Erfahrungen damit gemacht. Der Gemeinderat
prüft, ob in Bern ein Konzept in ähnlichem Format gelten
könnte.
Jugendliche demonstrieren nicht nur in Bern für mehr Rechte und
ein breiteres Angebot im Nachtleben. Auch in anderen Städten kommt
es zu Phänomenen wie jenen der nächtlichen Partys. Der Berner
Gemeinderat will nun vereinfachte Bewilligungen für Outdoor-Partys
prüfen (siehe gestrige Ausgabe). Zürichs Regelung könnte
als Beispiel für Bern dienen. Die Zürcher Regierung hat
Anfang April die sogenannte Jugendbewilligung für Anlässe im
Freien eingeführt. Sie kann von Zürcher Jugendlichen im Alter
zwischen 18 und 25 Jahren für Festanlässe beantragt werden.
Damit werde der Forderung der Jungen Rechnung getragen, mehr Freiraum
für (nicht kommerzielle) Feste zu haben. Das Pilotprojekt ist bis
anhin gut gestartet, das Polizeidepartement der Stadt Zürich hat
seit der Lancierung vor sechs Wochen nach eigenen Angaben durchs Band
«positive Erfahrungen» gesammelt.
Positive Reaktionen
Hintergrund der Jugendbewilligung sind vermehrte Auseinandersetzungen
zwischen der Polizei und feiernden Jugendlichen in Zürich in den
letzten Jahren. Letzten Herbst spitzte sich die Lage zu: Einmal
eskalierte eine Outdoor-Party beim Bellevue, ein andermal kam es beim
Central zu grösseren Auseinandersetzungen zwischen Polizei und
jugendlichen Partygängern. Die Stadt reagierte vor rund sechs
Wochen mit der Einführung der Jugendbewilligung.
Elf Gesuche, sieben Bewilligungen
Laut Alexandra Heeb, der Delegierten für Quartiersicherheit des
Polizeidepartements Zürich, ist die Pilotphase des Projekts sehr
gut gestartet: «Wir haben bis anhin elf konkrete Gesuche und
einige lose Anfragen erhalten.» Nach sechs Wochen handle es sich
jedoch nur um erste Erfahrungen, sagt Heeb. Von den elf Gesuchen wurden
sieben bewilligt und zwei abgelehnt, weitere zwei sind noch in
Bearbeitung. «Eines der Gesuche, die abgelehnt wurden, kam von
der Juso. Sie wollten ihr Fest mitten in der Stadt feiern. Das ging
natürlich nicht. Das andere wurde von einem Veranstalter gestellt,
der sich nicht an die Auflagen gehalten hat und eine kommerzielle Party
durchführen wollte», informiert Heeb. Eingereicht wurden die
Anträge bis jetzt primär von Leuten, die die Partys sonst
wohl illegal durchgeführt hätten. Vier der sieben bewilligten
Feste fanden bereits statt: «Die Jugendlichen haben nach den
Festen immer gut aufgeräumt und sich an die Regeln
gehalten.» Die anderen drei Outdoor-Partys wurden wegen
schlechten Wetters verschoben. Um eine Bewilligung zu erhalten,
müssen die jungen Organisatoren in Zürich diverse Regeln
einhalten. Beispielsweise muss der Organisator den Behörden
bekannt sein. Die Partys dürfen nicht kommerziell sein, es
dürfen maximal 400 Personen am Fest teilnehmen, der Abfall muss
selbst weggeräumt werden, und übermässige
Lärmemission müssen vermieden werden. Auch darf nicht
über eine Social-Media-Plattform wie etwa Facebook für den
Event geworben werden.
Anna Storz
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Le Temps 9.6.12
Le débat politique qui pointe sous l’hédonisme
alémanique
Les soirées en plein air, antidotes à la cherté,
font des milliers d’adeptes dans les villes alémaniques
Anne Fournier zurich
> Les soirées en plein air, antidotes à la
cherté, font des milliers d’adeptes dans les villes outre-Sarine
Quel poids politique cachait ce rassemblement? Est-ce l’expression
d’une jeunesse gâtée, protégée des crises
auxquelles sont confrontées ses voisines européennes? Les
soirées suisses se voudraient-elles de plus en plus
«méditerranéennes»? Depuis samedi dernier,
les nuits des grandes villes alémaniques inspirent politiciens,
sociologues, psychologues, voire historiens. D’ailleurs, faut-il parler
de «party», de «happening» ou de
«manifestation»?
Le 2 juin, 15 000 jeunes, mobilisés
essentiellement via Facebook par le collectif «Tanz dich
frei» (Danse en liberté) ont valsé dans les rues de
Berne jusqu’au petit matin. Déjà entendu au printemps
2011, cet appel à la danse réunissait alors quelques
centaines de jeunes. Cette fois-ci, la mobilisation a pris une ampleur
sans précédent: on est venu, parfois de loin, on a
dansé, on est reparti. Tout s’est fait sans confrontation
majeure avec les forces de l’ordre.
«Cela montre que l’on ne peut rien interdire. Que
l’énergie est là. Celle de samedi fut très
positive», argumente Thomas Berger, jeune libéral-radical,
président de l’Association «Nachtleben Bern»
(Vie nocturne Berne). Dans la capitale, la vie nocturne constitue un
sujet politique. Des fermetures ont été dictées
suite à des plaintes de particuliers visant plusieurs bars ou
clubs – comme le Sous-sol – et des restrictions de commerce
imposées au centre alternatif de la Reitschule. Thomas Berger
continue: «Nous sommes heureux que la Ville réagisse
dorénavant, nous convie à des tables rondes.»
Le climat pacifique n’est pas une évidence. Le même soir,
à Bâle cette fois-ci, un millier de fêtards ont
répondu avec des jets de pierres à la police venue les
déloger d’un squat. L’automne dernier, à Zurich, le
rassemblement sur la place Bellevue de milliers de jeunes avait
entraîné des rencontres musclées avec les forces de
l’ordre, de lourds dégâts et une centaine d’arrestations.
Parmi les arguments des organisateurs figuraient la cherté de la
Zurich nocturne et le manque d’«espaces de liberté».
La portée d’un message politique laisse la plupart des
commentateurs sceptiques. Peu se permettent un parallèle avec
les révoltes du début des années 80, lorsque la
jeunesse, notamment à Zurich, réclamait plus d’espaces de
création. N’empêche, soulignait jeudi dans le
Tages-Anzeiger Sarah Rüegger, 26 ans, «beaucoup
parmi ceux qui ont dansé à Berne, qui font la fête
sous les ponts à Zurich ou qui squattent à Bâle,
s’affichent contre une tendance du développement urbain, contre
la mode du «riche-propre-tranquille».
Pour Richard Wolff, géographe, spécialiste de la vie
urbaine et engagé lors des manifestations de «Zurich
brûle», les méthodes de mobilisation ont
changé avec l’anonymat qui accompagne les nouveaux
médias. De plus, «en 1980 le mouvement, avant tout social,
avait son écho à Berlin, à Amsterdam».
Pourtant, estime-t-il, il ne faut pas sous-estimer les besoins
exprimés. «Certes, samedi, la plupart sont venus à
Berne pour faire la fête. Mais derrière, lorsqu’on
réclame de l’espace, c’est quand même le signe d’une
résistance politique.» Et puis, à Zurich, où
l’offre de clubs abonde mais où les tarifs dépassent
souvent les moyens, les soirées illégales font partie des
mœurs.
Depuis les heurts de 2011, Zurich a entrepris de parler avec ses jeunes
en lançant un débat via Facebook. Pionnière, elle
a instauré un «permis pour soirées en plein
air», sous conditions: tranche d’âge de 18 à
25 ans, pas plus de 400 participants, organisateur
annoncé. En six semaines, dix demandes ont été
formulées, sept autorisées. «Un des refus a
été motivé par l’endroit choisi pour faire la
fête en ville, un deuxième parce qu’il avait
été annoncé de manière ouverte sur
Facebook», explique Patrick Pons, du Département des
écoles et du sport. «Dans l’ensemble, les organisateurs
sont des habitués. Ils reconnaissent que cette méthode
allège la pression.» Jeudi, Berne a annoncé
tenter l’expérience d’un permis similaire. Du moins durant
l’été.zurich
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20 Minuten 8.6.12
Tim & Puma Mimi: Auch offline
wird fleissig getüftelt
BERN. Die kreativen Skype-Musiker Tim
& Puma Mimi holen Töne
aus Gemüse raus. Morgen taufen sie ihr Album.
Die Presse ist ausser sich vor Freude
über das Album, das morgen
im Rössli der Reitschule getauft wird: «Einer der
originellsten Schweizer Electro-Acts» sagt etwa DRS 3.
«Weltklasse», schreibt die Baz, «ein stimmiges
Gesamtwerk», meint die NZZ. Der «Tages-Anzeiger»
widmet schliesslich eine ganze Seite unter dem Titel «Gurken
Techno» – in Anspielung an den Song «I feel Gurk».
Die Rede ist von der Platte des japanisch-schweizerischen, ehemaligen
Skype-Duos Tim & Puma Mimi: «The Stone Collection of
...».
Weltweit bekannt wurde das
Zweiergespann, weil es aus der Not eine
Tugend machte: Während Sängerin Michiko Hanawa noch in Tokio
wohnte und Produzent Christian Fischer in Zürich weilte, sang
Hanawa bei Konzerten über Skype live mit.
Mittlerweile sind das Tempi passati
und beide leben in der Schweiz.
Doch trotz der räumlichen Nähe bleibt das Paar erfinderisch.
So stammen etwa einige der Klänge von Gemüse, andere vom
Hackbrett und weitere von tibetanischen Zimbeln. Das wird alles
schön gefiltert, zerhäckselt und mit Beats unterlegt, so dass
zum Schluss ein hörenswertes Stück Elektropop entsteht. Pedro
Codes
Sa, 9.6., 21 Uhr, Tim & Puma Mimi
– Plattentaufe, Rössli,
Reitschule.
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20 Minuten 8.6.12
Reitschule
Forum eröffnet
Heute Freitag, 8. Juni, findet mit
indischem Essen und Film um 19.30
Uhr die Eröffnung des Indien-Forums in der Grossen Halle der
Reitschule statt. Bereits zum dritten Mal weist die interaktive
Ausstellung auf soziale und ökonomische Ungleichheiten auf der
Welt hin. Die Ausstellung ist von Montag bis Freitag von 16 bis 20 Uhr,
am Samstag von 13 bis 18 Uhr geöffnet.pd
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kulturstattbern.derbund.ch 8.6.12
The Shit taufen
ihre Dingleberries
Von Gisela Feuz am Freitag, den 8.
Juni 2012, um 12:19 Uhr
Ladies and Gentlemen, das war THE SHIT
gestern Abend im Rössli!
Volle Hütte und wilde Verrenkungen auf dem Dancefloor. Genau so
soll eine Plattentaufe über die Bühne gehen.
<>
Zwar konnte Gitarrist Mr. T alias Franz Hausammann nicht mit von der
Partie sein, weil er gemäss Sänger Robert Butler mit
blauen, leistenbruch-geschwollenen Eiern (Danke für die
Information) zu Hause liegen bleiben musste.
Schrankgitarrist Christian
Aregger erledigte seinen Job aber äusserst
souverän. So souverän, dass er eigentlich ein richtig
bedrucktes T-Shirt verdient hätte anstelle des Klebstreifen Ts.
«Dingleberry Fields Forever» heisst die Platte
der Berner Garagenrock-Combo The Shit, welche gestern Abend getauft
wurde und die ungemein Freude bereitet. Was Dingleberries sind? Fragen
Sie nicht. Finden tut man sie in der Nähe von Hausamanns
momentaner Problemzone, bloss einfach bei Kühen. Wie gesagt,
fragen Sie nicht. Kaufen Sie sich besser das Album von The Shit, weil
das ist richtig gut.
Falls Sie trotzdem mehr über Dingleberries wissen
möchten oder wie es den Herren Shit bei den Album-Aufnahmen in der
Rancho de la Luna in Kalifornien ergangen ist, können Sie hier ein Interview mit Sänger Robert Butler
und Schlagzeuger Pit Lee auf RaBe 95,6 MHz nachhören, inklusive
Songs von «Dingleberry Fields Forever», allerdings in
Shit-Qualität.
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Bund 12.6.12
«Wir sind verdammt zum Dialog»
Sollen für den Vorplatz der Reitschule eigene Regeln gelten? Diese
Frage entzweit die Stadtpolitiker. Was sie eint, ist die Hoffnung, dass
ein runder Tisch Bewegung in die festgefahrene Nachtleben-Diskussion
bringt.
Timo Kollbrunner
«Die Haltung des Gemeinderates ist klar», sagte
Sicherheitsdirektor Reto Nause gestern vor den städtischen
Parlamentariern. «Wir wollen die bestehende Rechtsordnung
für alle Betriebe gleich anwenden.» Mit diesen Worten nahm
Nause Stellung zu einem Vorstoss von Stadtrat Alexander Feuz (FDP).
«Steht die Reithalle über dem Recht?», hatte er
gefragt - und wollte wissen, wie sich der Gemeinderat zur
Verfügung von Regierungsstatthalter Christoph Lerch stellt. Diese
verlangt, dass die Reitschule jeden vom Vorplatz weisen muss, der dort
nach 0:30 Uhr eines ihrer Getränke konsumiert. Der Gemeinderat
hatte Feuz in seiner schriftlichen Antwort beschieden: Nein, die
Reitschule stehe nicht über dem Recht. «Der Gemeinderat
begrüsst und unterstützt das Vorgehen des
Regierungsstatthalters im Sinne der Gleichberechtigung.» Und nun
bekräftigte Nause diese Position noch einmal.
«Schutzgott der Reitschule»
Alles bestens also für Alexander Feuz? Mitnichten. Denn eigentlich
wollte der gar keine Antwort von Reto Nause. Sondern von
Stadtpräsident Alexander Tschäppät. Denn Feuz ist
irritiert ob dessen Verhalten in dieser Woche, der Woche eins nach der
Tanzdemo mit über 10 000 Teilnehmern. Warum? Tschäppät
hat in den Medien angeregt, dass man über eine Lockerung der
Polizeistunde auf dem Vorplatz nachdenken sollte. Es gelte, zu
überlegen, ob der Vorplatz nicht ein Freiraum sei, der nach einer
Andersbehandlung verlange («Bund» vom Mittwoch).
Was gilt nun? Andersbehandlung? Gleichbehandlung? Feuz hätte das
gestern vom Stadtpräsidenten persönlich wissen wollen - und
gab sich Mühe, diesen aus der Reserve zu locken. Feuz warf
Tschäppät vor, er sende mit seinen Äusserungen in den
Medien widersprüchliche Signale aus, er mache eine
«Pirouette», ja, er falle dem Gemeinderat in den
Rücken. «Auf Druck der Strasse» ziehe er nun
plötzlich eine Lockerung der Regeln in Betracht. «Es kann
nicht sein, dass der Stapi als Schutzgott der Reitschule
auftritt.»
Nause verteidigt Tschäppät
Der angegriffene Stadtpräsident sagte zu all dem - nichts. Stumm
blieb er sitzen, während Nause für ihn sprach. Wenn der
Stadtpräsident der Meinung sei, dass man andere Regeln für
den Vorplatz in Betracht ziehen müsse, «dann ist das eine
Diskussion, die er anstossen darf», sagte der CVP-Gemeinderat.
«Schwierig bis nicht umsetzbar»
Feuz griff nicht nur den Stadtpräsidenten, sondern auch dessen
Partei - die SP - an. Diese übe offen Druck aus auf den
Regierungsstatthalter, der selbst SP-Mitglied ist, damit der die
Reitschule anders behandle als alle anderen Betrieben. «Wir
setzen den Regierungsstatthalter nicht unter Druck», entgegnete
die SP-Fraktionspräsidentin Annette Lehmann. Und die «zum
Teil primitive Kritik» am Regierungsstatthalter verurteile die
Partei. Lehmann sagte aber auch klar, dass die SP die Massnahmen des
Genossen Lerch «als schwierig bis nicht umsetzbar»
betrachte.
Dann sagte Lehmann: Dank der nun losgetretenen Diskussion werde jetzt
wenigstens allmählich erkannt, dass die Reitschule einer der
wenigen Orte sei, der jene Freiräume längst biete, die von
den Jungen gefordert würden. Mit diesem Votum war die Debatte auf
den Vorplatz selbst gelenkt. Dieser sei «einer der wenigen
öffentlichen Räume in der Stadt, an denen man sich treffen
kann, ohne zu konsumieren», sagte Lea Bill für die
GB/JA-Fraktion. Mit der Verfügung von Lerch werde dieser Freiraum
«zerstört». Ganz anders sah dies das bürgerliche
Lager. «Es kann nicht sein, dass ein subventionierter Betrieb
Ausnahmen bekommt», sagte Alexander Feuz und bekam dabei - wenig
überraschend - Unterstützung von SVP-Fraktionschef Roland
Jakob.
Der Anfang nach dem Aufschrei
Später am Abend wurde aus der Debatte um den Vorplatz dann eine
richtig grundsätzliche Diskussion über das Nachtleben in der
Hauptstadt. Denn endlich wurde ein interfraktioneller Vorstoss von
Manuel C. Widmer (GFL) und sechs weiteren Stadträten diskutiert,
der wieder und wieder verschoben worden war. «Lässt der
Gemeinderat das Berner Nachtleben einfach vor die Hunde gehen?»,
hatten die Stadträte wissen wollen - im August vergangenen Jahres
notabene. Damals gaben die Zukunft des Wasserwerks und des -
mittlerweile geschlossenen - Sous-Soul mehr zu reden als der
Reitschule-Vorplatz oder tanzende Tausendschaften. Gestern aber standen
die Voten ganz unter dem Eindruck der Massen vom Wochenende. Dass am
Samstag 10 000 auf die Strasse gegangen seien, das sei ein
«Aufschrei» gewesen, sagte Widmer. Dieser sei wohl
nötig gewesen, dass in Bern nun endlich etwas geschehe. Der runde
Tisch, den der Gemeinderat vorsehe (siehe Text unten), sei zumindest
ein Anfang.
In diese Einschätzung stimmten in der Folge alle Nachredner ein.
«Der runde Tisch kann ein Anfang sein», sagte Simon Glauser
(SVP) etwas zurückhaltender. Bernhard Eicher (FDP) sprach von
einem «Scheideweg». Entweder gehe es weiter mit
Protestveranstaltungen und Verunglimpfungen auf Facebook, «oder
wir reissen uns jetzt zusammen». Der runde Tisch könne da
ein Mittel sein. Und auch Patrizia Mordini (SP) sagte: «Wir
begrüssen sehr, dass dieser runde Tisch einberufen wird. Ich bin
zuversichtlich, dass jetzt endlich etwas geht.»
Sicherheitsdirektor Nause stellte eine «offene, unvoreingenommene
Diskussion mit allen Beteiligten» in Aussicht. Anders gehe es
nicht. «Wir sind verdammt zum Dialog.»
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Nachtleben und Freiräume
Tiefere Hürden für Tanzdemos und Hilfe für
Clubgründer
Der Berner Gemeinderat legt seine Karten auf den Tisch: Eine Vielzahl
von Massnahmen soll den Nachtleben-Konflikt entschärfen.
Der Gemeinderat reagiert auf den Druck der Strasse: Nachdem am Samstag
über zehntausend Personen für Nachtleben, Freiräume und
«Recht auf Party» durch die Innenstadt zogen, befasste sich
die Stadtberner Regierung am Mittwoch mit den Protesten. Gestern nun
skizzierte sie ein Massnahmenpaket, das die Konflikte entschärfen
soll und sowohl harte als auch weiche Eingriffe umfasst. Inwiefern
diese ins Nachtleben-Konzept einfliessen werden, dessen Abschluss der
Gemeinderat für Spätsommer erwartet, steht noch nicht fest.
Folgende Massnahmen skizziert der Gemeinderat:
Erleichterte Bewilligungen für Spontandemos: Der Gemeinderat
erwägt, ein erleichtertes Bewilligungsverfahren für
Spontandemos und Strassenpartys einzuführen. Er will damit eine
Grundlage schaffen, um in den Sommermonaten eine bestimmte Anzahl von
Outdoor-Anlässen kurzfristig und unkompliziert zu
ermöglichen. Damit wolle er dem Bedürfnis der Jugend nach
Freiräumen für eigene, nicht kommerzielle Aktivitäten
Rechnung tragen, schreibt der Gemeinderat. «Gewisse Auflagen,
gerade in Bezug auf den Abfall, müssen nach wie vor eingehalten
werden.»
Raumplanerische Massnahmen: Weiter soll nach dem Willen des
Gemeinderates Wohnen und Ausgehen in der Altstadt stärker
voneinander getrennt werden. Konkret: Die obere Altstadt würde
wohl zur Ausgehzone, die untere zur Wohnzone. Diese Idee ist bei
Nachtleben-Aktivisten nicht unumstritten: Viele befürchten durch
eine örtliche Trennung von Wohnen und Ausgehen eine Ghettoisierung
des Nachtlebens.
Mediation: Der Gemeinderat will zudem künftig bei Konflikten
zwischen Anwohnern und Clubbetreibern als Mediator auftreten. Konkret
sollen Strukturen geschaffen werden, um Brennpunkte frühzeitig zu
erkennen und anzugehen.
Unterstützung für Clubgründer: Teil des Massnahmenpakets
ist auch die Idee, dass die Stadtverwaltung Personen, die in Bern einen
Club oder eine Bar eröffnen wollen, künftig bei der Suche
nach geeigneten Lokalen hilft.
Dialog mit «Pro Nachtleben»: Zugleich verweist der
Gemeinderat darauf, dass er sich weiterhin im Dialog mit dem Verein Pro
Nachtleben befinde. Seit März hätten zwei konstruktive
Sitzungen stattgefunden, schreibt die Stadtregierung. Dabei seien
einerseits rechtliche Grundlagen geklärt worden, andererseits
hätten Behörden und Aktivisten verschiedene Lösungen
diskutiert, «die zu einem lebendigeren Nachtleben in der Stadt
beitragen könnten».
Runder Tisch: Ausserdem soll ein runder Tisch zum Nachtleben einberufen
werden. Die Leitung liegt bei Stadtpräsident Alexander
Tschäppät (SP). (len)
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BZ 8.6.12
Bern prüft vereinfachte Bewilligung
Nachtleben · Der Gemeinderat legt erste Ideen vor, die in das
Nachtlebenkonzept einfliessen könnten: vereinfachte Bewilligungen
für Partys ähnlich wie in Zürich sowie
Unterstützung für Clubbetreiber.
Im Frühherbst will der Gemeinderat ein Nachtlebenkonzept für
die Stadt vorlegen. Eine halbe Woche nach «Tanz dich Frei
2.0» mit mehr als 10 000 Teilnehmern hat er nun erste Ideen
präsentiert, die in das Konzept einfliessen könnten. Mit
einem vereinfachten Bewilligungsverfahren etwa will der Gemeinderat den
Dialog zwischen Veranstaltern und Behörden etablieren. «Es
ist offenbar ein Bedürfnis der Jugend, im öffentlichen Raum
Party zu machen», sagt Sicherheitsdirektor Reto Nause. Der
Gemeinderat will auch Unterstützung bei der Suche nach Standorten
für Clubs anbieten. Auch der Stadtrat diskutierte gestern Abend
engagiert über das Nachtleben und das Vorgehen des Gemeinderats.
GFL-Vertreter Manuel C. Widmer (GFL) meinte, besser, als darüber
zu reden, wäre es, der Jugend zuzuhören.rah/tob/wrs Seite 2 +
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Nachtleben - Konzept
Gemeinderat will vereinfachte Bewilligungen für Partys
Nach der Tanzparade vom letzten Samstag will der Gemeinderat ein
vereinfachtes Bewilligungsverfahren für derartige Anlässe
prüfen. Ähnlich wie die «Jugendbewilligung» in
Zürich. Weiter will der Gemeinderat Interessierte auf ihrer Suche
nach einem geeigneten Standort für einen Club oder eine Bar
unterstützen.
Beim Rückblick auf die Tanzparade am Samstag dürfe man eines
nicht vergessen: «Wir hatten grosses Glück, dass nichts
Schlimmeres passiert ist», betont der Berner Sicherheitsdirektor
Reto Nause (CVP). Zwölf Personen mussten von der
Sanitätspolizei behandelt werden, sechs wurden sogar
hospitalisiert. Der Event sei unberechenbar gewesen, und diese
Unberechenbarkeit berge grosse Risiken, so Nause. «Wer einen
solchen Event veranstaltet, kann die Unberechenbarkeit drastisch
senken, wenn er den Dialog mit den Behörden sucht.» Mit
einem vereinfachten Bewilligungsverfahren möchte der Gemeinderat
künftig den Dialog zwischen Veranstaltern und Behörden
etablieren. «Es ist offenbar ein Bedürfnis der Jugend, im
öffentlichen Raum Party zu machen», sagt Nause. Der
Gemeinderat will prüfen, ob er während der warmen Monate eine
bestimmte Anzahl von Outdooranlässen in der Stadt kurzfristig und
auf unkompliziertem Weg ermöglichen kann. Der Sicherheitsdirektor
kann sich zum Beispiel ein Open-Air-Konzert auf der Schützenmatte
vorstellen. «Gewisse Auflagen, gerade in Bezug auf den Abfall,
müssen nach wie vor eingehalten werden», betont Nause.
Inhaltlich verfolgt das Berner Modell mit dem vereinfachten
Bewilligungsverfahren dasselbe Ziel wie die Zürcher
«Jugendbewilligung», welche vor zwei Monaten
eingeführt wurde. Die Details der Berner Variante sind aber noch
offen.
Hilfe für neue Clubs und Bars
Die Arbeit am Nachtlebenkonzept käme gut voran, sagt der
Gemeinderat (siehe Box). Ein Ansatz sieht vor, Interessierte bei der
Suche nach geeigneten Lokalitäten für einen neuen Club oder
eine Bar zu unterstützen. Ähnlich wie ein
«gewöhnliches» Unternehmen, das bei seiner Suche nach
einem Standort in Bern vom Wirtschaftsamt unterstützt wird,
erklärt Nause. «Es ist allerdings nicht so, dass
interessierte Clubbetreiber bei mir Schlange stehen», so der
Sicherheitsdirektor.
Ralph Heiniger
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Zwischenbilanz
Dialog, Raumplanung und ein runder Tisch
In einer Medienmitteilung zog der Berner Gemeinderat gestern eine
positive Zwischenbilanz zur Arbeit am Nachtlebenkonzept. Seit März
haben zwei konstruktive Sitzungen mit dem Verein «Pro Nachtleben
Bern» stattgefunden, heisst es in der Mitteilung. Dabei wurden
einerseits die rechtlichen Grundlagen geklärt und andererseits
verschiedene Lösungsansätze diskutiert, die zu einem
lebendigeren Nachtleben beitragen könnten.
Raumplanerische Abklärungen: Der Gemeinderat prüft, welche
Möglichkeiten bestehen, um Wohnen und Ausgang örtlich
stärker voneinander zu trennen. Der Gemeinderat fasst dabei eine
unterschiedliche Behandlung der oberen und der unteren Altstadt ins
Auge. Um die Bauordnung zu ändern, bräuchte es jedoch eine
Volksabstimmung.
Vermittlung bei Konflikten: Die Stadt will Strukturen aufbauen, damit
Konflikte zwischen Anwohnenden und Clubbetreibern frühzeitig
erkannt und angegangen werden können.
Wie Alexander Tschäppät (SP) bereits sagte, hat der
Gemeinderat in beschlossen, einen runden Tisch mit allen Interessierten
einzuberufen (wir berichteten). Es sei aber nicht zu erwarten, dass so
eine einfache Lösung gefunden werden kann, warnte der
Stadtpräsident. Ziel sei es, bis im Spätsommer ein breit
abgestütztes Konzept vorzulegen.pd/rah
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«Hören wir doch lieber mal der Jugend zu»
Der Stadtrat hat gestern ebenfalls über die Nachtlebenpolitik des
Berner Gemeinderats diskutiert. Es gab Kritik, aber auch einiges
Verständnis.
«Die Strassenparty war nötig, damit der Gemeinderat endlich
übers Nachtleben spricht», sagte Manuel Widmer (GFL). Er
fügte an: «Lieber spät als nie.» Doch Widmer
betonte: «Hören wir doch lieber der Jugend zu. Das ist
besser, als darüber zu reden.» Für die FDP forderte
Bernhard Eicher, den gegenseitigen Respekt aufrechtzuerhalten:
«Die Verbalattacken gegen Statthalter Christoph Lerch und nun
auch gegen Stadtpräsident Alexander Tschäppät sind unter
der Gürtellinie.» Seit mehreren Jahren würden die
Gastrobetriebe durch kantonale Gesetze eingeschränkt, sagte
Eicher. Er erwähnte das Rauchverbot und die restriktive
Lärmgesetzgebung. «Die Stadt sollte selber bestimmen
können, was für Regeln für ihre Gastrobetriebe
gelten.»
«Ein Abwürgen der Clubs»
«Klar muss der Regierungsstatthalter auch dem Bedürfnis nach
Nachtruhe gerecht werden», sagte Patrizia Mordini (SP).
«Doch auch er hat beim Durchsetzen der Gesetze einen
Ermessensspielraum.» Die Schliessung des Sous-Soul und die
Verfügung gegen die Reitschule hätten in Bern viel
ausgelöst, sagte Martin Schneider (Fraktion BDP/CVP). «Von
einem Clubsterben können wir zwar nicht reden. Aber von einem
Abwürgen der Clubs», sagte er. Es sei nicht Aufgabe des
Gemeinderats, das Nachtleben zu organisieren. «Aber er muss gute
Rahmenbedingungen schaffen.» «Der Gemeinderat hat sich des
Themas früh und ernsthaft angenommen», entgegnete
Sicherheitsdirektor Reto Nause (CVP). Der Gemeinderat wolle ein stark
belebtes Unesco-Weltkulturerbe. Dazu gehörten die Bereiche
Ausgang, Gastro, Hotellerie und Wohnen. «Wir sind offen für
einen Dialog mit allen Gruppen», sagte Nause und rief den
Stadträten zu: «Eure Anliegen zum Thema Nachtleben waren
heute Abend ziemlich diffus. Ich warte nach wie vor auf konkrete
Vorschläge.» Stadtpräsident Tschäppät
äusserte sich im Stadtrat nicht zum Thema.
Reitschule war wieder Thema
Zum wiederholten Mal diskutierte der Stadtrat auch über die
Reitschule. Der Grund zur dringlichen Debatte lag an einer Aussage von
Tschäppät in der Berner Zeitung vom Dienstag. In einem
Interview hatte Tschäppät gefordert, die Polizeistunde
für die Bar auf dem Reitschule-Vorplatz nach hinten zu
verschieben. Dies entgegen der Verfügung von Regierungsstatthalter
Lerch (SP).
«Wer freundlich ist, nennt Tschäppäts Verhalten eine
Pirouette», sagt Alexander Feuz (FDP). «Doch bös
gesagt war es ein Rückenschuss gegen den Gemeinderat und gegen den
Statthalter.» Er akzeptiere, dass das Stimmvolk zur Reitschule
stehe, sagte Feuz. «Aber bei der Abstimmung sagte das Stimmvolk
Ja zum Kulturbetrieb – nicht zu einem rechtsfreien Raum.» Reto
Nause verteidigte Alexander Tschäppät. «Auch der
Stadtpräsident darf öffentlich eine Diskussion anstossen,
ohne dass man ihn dafür gleich zerreissen sollte.» Tobias
Habegger
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20 Minuten 8.6.12
Neues Ecstasy: Bereits Dutzende Tote weltweit
BERN. Die heimtückische Glückspille Number One ist erstmals
in der Schweiz aufgetaucht. 80 Menschen sind schon daran gestorben.
Besorgnis unter Suchtfachleuten: Bei Drogenanalysen am letzten Freitag
in der Reitschule in Bern wurde in der Schweiz erstmals die Substanz
PMMA in einer Ecstasytablette entdeckt. «Wird eine
Number-One-Pille im Übermass oder in Kombination mit Alkohol/Speed
konsumiert, kann der Trip lebensbedrohlich sein», so Alexander
Bücheli von Streetwork Zürich. Deswegen hat die
Suchtberatungsstelle zum ersten Mal seit zehn Jahren eine Warnung
herausgegeben. Obwohl man quasi an einer Überdosis
Glückshormonen stirbt, ist das Hinscheiden grausam: «PMMA
kann zu einer Serotoninvergiftung führen, die hohes Fieber
verursacht und schliesslich in einem Organversagen enden kann. Ein
Herzkreislaufstillstand kann die Folge sein», so Dr. Christine
Rauber vom Toxikologischen Institut Zürich.
Hans-Jörg Helmlin vom Kantonsapothekeramt Bern ist besorgt:
«Weltweit sind im Zusammenhang mit PMMA schon über 80
Personen gestorben. Kommt es nach Einnahme von Ecstasy zu Fieber oder
Herzrasen, sollte man sofort einen Arzt aufsuchen.» Allein in
Israel starben 32 Menschen wegen PMMA. Auch in Deutschland,
Österreich und Belgien sind Todesfälle im Zusammenhang mit
PMMA bekannt.
Besonders problematisch sei der heimtückische Effekt des neuen
Ecstasy, so Bücheli: «Pillen mit PMMA erbringen nicht den
gewünschten Ecstasy-Effekt. Den Konsumenten erscheint das Ecstasy
schwach, weshalb sie oft weitere Pillen nachwerfen. Das ist fatal und
könnte im schlimmsten Fall zum Tod führen.»
Das Bundesamt für Gesundheit nimmt die neuen Pillen ernst und
beobachtet die Situation.
Jeremias Büchel
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Tageswoche 8.6.12
Basel
«Wir wollen die Stadt mitgestalten»
Marc Krebs; Cédric Russo
Wie politisch sind illegale Partys? Was will die Bewegung? Zwei junge
Aktivisten nehmen Stellung. Und Bettina Dieterle, eine Ex-Punkerin aus
den bewegten 1980er-Jahren, zieht Vergleiche.
Am Samstag, 2. Juni, pilgerten nachts über 1000 Menschen aufs
nt/Areal. Die Schlösser einer leer stehenden Halle, die abgerissen
wird, wurden geknackt, Soundsysteme aufgestellt und eine
«Sauvage» veranstaltet. Hier haben wir darüber
berichtet, hier finden Sie einen Videoclip. Seither äussern
sich Stadtentwickler, Polizei, Politiker und Anwohner dazu.
Was aber treibt die Aktivisten an? Weshalb nehmen sie sich diesen
Freiraum, wie nehmen sie die Polizei-Einsätze wahr – und gibt es
Parallelen zu den 1980er-Jahren? Die Aktivisten Ueli (30) und Martin
(23), die anonym bleiben möchten, und die Schauspielerin Bettina
Dieterle, die vor 30 Jahren in der Punkszene verkehrte, geben Antworten.
Was verstehen Sie unter einem Freiraum?
Ueli: Einen Raum, wo man frei von Konventionen und Konsumzwang
kreativ sein kann …Martin: … doch bezieht sich dieser Freiraum
nicht nur auf den Ausgang, sondern auf das gesamte Leben. Ich brauche
Platz, um etwas zu machen, was nicht der gesellschaftlichen Norm
entspricht. Ich will mein Lebensumfeld, meine Stadt mitgestalten.
Der Basler Stadtentwickler Thomas Kessler sagte im
«TagesAnzeiger», dass es in Basel und Zürich
genug Freiraum für alle erdenklichen Jugendszenen gebe.
Bettina Dieterle: Solche Aussagen bekamen wir schon in den
1980er-Jahren zu hören. Nur weil Thomas Kessler dieser Ansicht
ist, heisst das nicht, dass die Jugendlichen mit dem Angebot zufrieden
sind. Sobald man den Freiraum zur Verfügung stellt und sagt, was
man darf und was nicht, funktioniert er nicht mehr. Es geht darum,
einen Raum zu entern, ihn kreativ zu bespielen, nach eigenem Gusto.
Martin: Sehe ich auch so. Schauen Sie sich das nt/Areal an. Früher
war dies ein wilder Ort, der Wagenmeister ein Gebäude, das allen
offenstand, ohne Konsumzwang. Zuletzt aber wurde dieses Areal
immer kommerzieller – und für mich uninteressanter, denn ich
möchte selber gestalten, statt mich in ein gemachtes Nest zu
setzen.
Ueli: Mir geht es auch sehr stark um Gemeinschaft. Räume haben bei
uns einen definierten Zweck. Damit muss man Kohle machen oder die CMS
muss dafür zahlen, weil sie es irgendwie wertvoll findet. Dadurch
wird jede Initiative zerstört. Ich vermisse ein Verständnis
für andere Lebensformen. Nehmen wir das Basler Wagenplatz-Projekt:
Da möchte eine grössere Gruppe Menschen zusammen wohnen, nur
fehlt der entsprechende Wohnraum für die Umsetzung. Also suchen
sie sich eine Fläche für einen gemeinsamen Wagenplatz. Ihr
Vorhaben scheitert schliesslich an der Bauzonenordnung, weil diese das
nicht vorsieht. Warum bitte soll das nicht möglich sein? Ich
vermisse bei uns die Freiheit.
Wir leben in einer überreglementierten Stadt?
Ueli: Definitiv. Jetzt wurde ja auch noch die Strassenmusik
reglementiert. Das ist doch völlig absurd. Der
öffentliche Raum gehört uns allen. Da frage ich mich
ernsthaft, ob man als Nächstes eine Bewilligung haben muss, damit
man zu fünft auf einem Bänklein sitzen und eine Zigi rauchen
darf.
Nun rühmt sich die Stadt aber damit, dass sie Freiraum
schaffe – etwa im Hafen, wo Zwischennutzungsprojekte umgesetzt werden.
Martin: Die Stadt hat es beim Hafen leider versäumt, einen echten
Freiraum zu öffnen. Sie hätte die Brachen vorstellen und
sagen können: Hier ist Platz, setzt eure Ideen um. Stattdessen
lancierte sie einen Wettbewerb mit Jury, verlangte Konzepteingaben und
verhinderte so, dass von Grund auf etwas Gemeinsames entwickelt wurde.
Beim Hafen stört mich auch, dass, so wie es sich abzeichnet, die
immer gleichen Gruppen zum Zug kommen. Mir scheint, da sei viel Vitamin
B im Spiel.
Ueli: Die Stadt hat kein Interesse, dass im Hafen eine Basler
Reitschule entsteht. Die Räume sind klar definiert, einige
Buvetten haben den Zuschlag bekommen, ebenso der ICF-Ableger – also die
Partychristen – sowie ein Radioprojekt. Das sind doch keine
Freiräume. Da ist alles klar definiert. Oder habt ihr das in
den 1980er-Jahren anders gesehen?
Bettina: Uns ging es grundsätzlich um die Eroberung von
Räumen, denn vor 30 Jahren gab es bestenfalls einige
Jugendzentren, mehr war da nicht. Und diese waren für uns nicht
interessant, weil sie unter der Aufsicht von Erwachsenen standen, die
einem sagten, welche Wand man bunt anstreichen dürfe. Wir
wollten für unsere eigenen Räume kämpfen. Ich habe aus
meiner Zeit im Autonomen Jugendzentrum enorm viel mitgenommen: Eine
Horde Menschen musste sich organisieren, sich miteinander arrangieren
und lernen, wie man das jetzt macht, eine solche Selbstverwaltung.
Ueli: Die Rechten predigen bei uns immer die heilige
Eigenverantwortung. Fangen aber Leute an, selber Sachen auf die Beine
zu stellen, Freiheit zu leben, dann bekommen sie es mit der Angst
zu tun. Ausgerechnet das Establishment, das mehr Freiheit fordert,
sieht in unserem Verhalten eine Bedrohung. Das ist doch schizophren.
Zur Angst trägt vermutlich auch bei, dass bei
«Sauvages» einige Leute vermummt sind. Warum eigentlich?
Ueli: Weil die Leute, die das Schloss zu einer Halle knacken und vor
dem Gebäude eine Absperrung aufstellen, mit ihren Aktionen
Straftaten begehen. Wenn sie dabei von Handykameras gefilmt
würden und die Aufnahmen im Netz landen, könnten sie sich
gleich freiwillig verhaften lassen. Die Vermummung ist zum eigenen
Schutz nötig. Uns sind mehrere Fälle bekannt, bei denen an
einer illegalen Party ein Organisator aufgeschrieben wurde und danach,
neben Urteil und Busse auch noch die Kosten für den
Polizei-Einsatz tragen musste. So steht ein jugendlicher Mensch
plötzlich vor einem Schuldenberg in Höhe von 25 000 Franken.
Ist das ein reales Beispiel?
Ueli: Ja. Sollte jemand für die Party vom Samstag verurteilt
werden, dann ist seine finanzielle Zukunft am Arsch.
Die Jungfreisinnigen sammeln jetzt Unterschriften für eine
«Jugendbewilligung», wie sie in Zürich getestet
wird. Wäre das für Sie eine befriedigende Lösung?
Ueli: Nein. Eine Veranstaltung wie jene in der Halle wäre dennoch
nicht bewilligt worden. Zudem ist die Jugendbewilligung
diskriminierend: Warum soll man mit 30 sein Recht verlieren, mit
anderen eine solche Party zu organisieren? Kommt hinzu, dass so
künftig von jedem, der mit Freunden und einem Radio im Freien
grilliert, eine Bewilligung für sein illegales Fest verlangt
werden könnte.
Was ist der politische Aspekt einer illegalen Party?
Ueli: An diesen Orten erlebt und erfährt man, wie die
Selbstorganisation funktioniert. Das ist eine wichtige Erkenntnis, wird
uns doch immer gesagt, dass wir einen Chef brauchen, weil wir sonst
verloren seien. Mein Vater sagte immer: Das Leben funktioniere nicht
nach dem Lustprinzip. Das sehe ich anders. Habe ich abends Lust, zu
essen, dann koche ich. Warum sollte ich das nicht in allen
Lebensbereichen tun?
Martin: Die grosse Masse, die bei einer solchen Party auftaucht,
erfreut sich ja auch am wilden, subversiven Charakter eines solchen
Anlasses. Jugendliche, die wochentags ihren Lehrmeistern gehorchen,
konnten sich am Samstag kreativ austoben. Ich beobachtete etwa, wie
einige den Innenraum lustvoll mit Klebebändern dekorierten. So
etwas kann der Anfang einer Politisierung sein, finde ich. Denkbar,
dass sie sich beim nächsten Fest stärker involvieren.
Bahnt sich eine neue Jugendbewegung an?
Ueli: Ja. Immer mehr Leute in unserer Gesellschaft erkennen, dass wir
ausgebeutet werden, dass das, was man uns als Demokratie verkauft,
nicht wirklich eine ist. Und dass unser Rechtssystem unfair ist: Droht
eine Bank zu kollabieren, kann man plötzlich die ganzen Regelwerke
auf den Kopf stellen, bei notleidenden Menschen hingegen tut man das
nicht.
Martin: Wir spüren die Repression bei jeder Party. Am Samstag
begann alles friedlich: 500 Menschen spazierten zu Beginn an einem
Kastenwagen vorbei. Angesichts dieser Masse fuhr die Polizei wieder
weg. Später sah ich, wie ein Polizist in Zivil ausrastete und
seine Waffe zog. Man stelle sich nur vor: Ein Angetrunkener hätte
ihn angerempelt, ein Schuss sich gelöst, ein Partygänger
wäre getötet worden. Die Polizei-Einsätze sind
völlig übertrieben.
Ueli: Die Polizei schafft die Problemsituationen.
Martin: Genau. Bei der Party im Abrissgebäude der
Grosspeter-Garage sah ich, wie ein Betrunkener tanzend Richtung
Uniformierte torkelte, worauf ein Polizist aus fünf Metern Distanz
Gummischrot abfeuerte. Auf einen unbewaffneten Partygänger! Das
darf doch nicht sein. Und dann klagt die Polizei im
Communiqué, dass danach Steine geworfen wurden.
Was ist die Konsequenz? Läuft es auf Eskalation hinaus?
Ueli: Es gibt sicher solche, die sich wünschen, dass es richtig
knallt – auf beiden Seiten. Mit dem Unterschied, dass wir nicht
bewaffnet an Partys gehen. Wir wollen ja nicht die Stadt in Schutt und
Asche legen. Mich regt es gottlos auf, dass die Polizei jeweils
schreibt, die Party sei friedlich gewesen, aber einige Vermummte
hätten den Einsatz nötig gemacht. Das entspricht keineswegs
der Tatsache. Die Polizei schreitet völlig
unverhältnismässig ein. Am Samstag wurden die Anlagen zum
Teil mit Gewalt beschlagnahmt, Leute wurden mies behandelt, beschimpft,
geschlagen und gefesselt mit Pfefferspray traktiert.
Haben Sie gerade Flashbacks, Bettina?
Bettina: Ja, natürlich. Das ist dieselbe Vorgehensweise wie vor 30
Jahren. Es ist traurig, dass es heute wie damals Polizisten gibt, die
ihre Macht missbrauchen.
Ueli: Es ist erschreckend, dass immer noch Menschen im Keller der
Clarawache zusammengeschlagen werden. Scheinbar traut sich niemand, dem
Einhalt zu gebieten.
Bettina: Schon in den 80ern wurde mit einer Gewalt
zurückgeschlagen, die in keinem Verhältnis zu dem stand, was
wir taten. Wir richteten unsere Aggression primär gegen
Gebäude, die Polizei richtete sie gegen uns.
Was sich aber geändert hat: Im Unterschied zu den 1980er-Jahren
wird Basel heute von Rot-Grün regiert.
Bettina: Schon, aber die stehen auch unter dem Zwang der
Bürgerlichen und der Geldgeber.
Martin: Meiner Meinung nach kann man rot-grün auch nicht als links
bezeichnen.
Bettina: Man muss natürlich sehen: Die Regierung steht unter
massivem Druck, weil rasch der Vorwurf laut wird, sie liesse
«Chaoten» gewähren.
Ueli: Warum lassen sie uns dann nicht gewähren, wenn sie sowieso
Schelte kassieren?
Bettina: Gute Frage. Zudem sind es zwei verschiedene Dinge, was die
Regierung herausgibt und wie die Polizei funktioniert. Freiraum
für uns bedeutet ja auch Freiraum für die Polizei. Indem sie
etwa auch mal zuschlägt.
Martin: Wie ich gehört habe, haben Polizisten am Samstag diverse
Soundanlagen, Plattenspieler und Schallplatten mutwillig
beschädigt …
Ueli: … und danach Soundsysteme konfisziert, ohne dafür einen
Grund anzugeben oder eine Quittung auszustellen. Die Polizei sagte
nur, dass man die Anlagen am Montag abholen könne. Sie rückte
diese aber nicht heraus, ohne Angaben von Gründen. So etwas
ist doch eines Rechtsstaats unwürdig. Ich verstehe das nicht.
Polizisten werden doch Polizisten, weil sie andere Menschen
schützen wollen. Damit haben sie eine grosse Verantwortung, der
sie gerecht werden müssen. Ansonsten provozieren sie Vergeltung.
Gewalt erzeugt Gegengewalt.
Die Freiluft-Party am Voltaplatz im Herbst 2011 wurde zur
«Krawallnacht» erklärt. Ein Feuer brannte,
Fensterscheiben einer Apotheke wurden eingeschlagen. Ist das nicht
kontraproduktiv, weil mit den Schaufenstern auch die Argumente, die
für eine Duldung sprechen, zerschlagen werden?
Ueli: Die Bewegung ist halt nicht homogen. Darin gibt es Menschen,
die sich politisch engagieren, abstimmen, wählen und Initiativen
einreichen, aber auch solche, die all das voll Scheisse finden. Es
gibt Menschen, die Partys besuchen, um zu konsumieren. Es gibt Leute,
die sie organisieren. Es gibt alle Farben und Formen. Ich selbst
schmeisse keine Scheiben ein, da ich das nicht als
zielfördernd erachte. Aber es hat unbestritten einen Effekt: Es
wird darüber diskutiert, und es entwertet die Liegenschaft, die
man hasst. So gesehen hat es seine Logik.
Martin: Genau. Ich bin im St.-Johann-Quartier aufgewachsen und
fühle mich dort fremd heute, durch die bauliche
«Aufwertung», wie die Behörden es formulieren. Ich bin
auch nicht damit einverstanden, wenn man auf dem Voltaplatz einen
Robispielplatz baut, der wie ein Internierungslager aussieht.
Aber längst nicht alle Besucher einer illegalen Party
möchten damit gleich die Welt verändern.
Ueli: Vielleicht nicht. In der Schweiz ist der Leidensdruck auch noch
nicht so gross. Dennoch manifestiert sich der Wille zur
Veränderung an den Partys. Wir sehnen uns nach Orten, an denen wir
nicht nur als Geldbörse angesehen werden. Es geht um
Identität. Wenn du heute Punk wirst, dann ist das eine
Identität, die dir verkauft wird. Durch Läden, die ihre
Klamotten spezifisch als Punk deklarieren. Es gibt keine
Identitäten mehr, die nicht kommerziell ausgeschlachtet wurden.
Bettina: Das erinnert mich an die Krawalle in Zürich, als uns
gesagt wurde: «Ihr wollt doch nur konsumieren!» Im
Gegenteil; wir wollten uns genau davon befreien. Und natürlich
auch gegen das Spiessertum rebellieren, das die 1970er-Jahre
geprägt hatte.
An manchen illegalen Partys, in den Langen Erlen etwa, werden am Ende
Bebbi-Säcke verteilt und der Abfall wird eingesammelt. Ist das zu
angepasst für Sie?
Martin: Nein. Wenn jemand aufräumen will, soll er. Wenn nicht,
finde ich das auch okay.
Ueli: Da bin ich anderer Meinung. Man hat eine Verantwortung für
seine Handlungen, ein Naturschutzgebiet soll so verlassen werden, wie
man es vorfand. Dass man uns aber die Sachbeschädigungen vom
Samstag vorhält, ist für mich nicht nachvollziehbar: Wir
haben eine Halle bespielt, die bald abgerissen wird. Warum
sollte diese schön geputzt abgegeben werden?
Und die Lärmbelästigung? Wo hört der Egoismus auf und
fängt das Verständnis für die Anwohnerschaft an?
Ueli: Auf dem nt/Areal geht es jedes Wochenende laut zu und her. An der
Party meldeten sich Anwohner, weil eine der Barrikaden einen Durchgang
versperrte. Darauf nahm man Rücksicht und verschob die Barrikade.
Wird das Gespräch gesucht, funktioniert so etwas.
Martin: Ich flüchte jedes Jahr drei Tage lang aus dieser Stadt. An
der Fasnacht nimmt auch niemand Rücksicht auf meinen Wunsch nach
Ruhe.
Ueli: Das ist das Gleiche wie die Diskussion am Rheinbord. Da kaufen
sich Leute Wohnungen am Rhein und beklagen sich danach über
Lärmbelästigung. Wenn sie völlige Ruhe wollen, dann
sollen sie aufs Bruderholz ziehen. Ich finde es vielmehr egoistisch,
wenn jemand ins Kleinbasel zieht, weil dort viel läuft, dann aber
seine Ruhe will, sobald er die Schlafzimmertür hinter sich
zugemacht hat.
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Aargauer Zeitung 8.6.12
Denn wir wissen nicht, wieso sie es tun
Ausgang · Das Angebot im Schweizer Nachtleben war noch nie so
gross – und es langweilte die Jugend noch nie so sehr
Benno Tuchschmid
Ja, ja, die Jugend. Sie hat es wieder einmal geschafft. Die
älteren Generationen wundern sich. Können nicht verstehen. Da
versammelten sich am Wochenende in Bern über 10000 Jugendliche und
tanzten durch die Innenstadt. Ohne Bewilligung. Ohne erkennbaren Grund.
Ohne erkennbare Botschaft. Dafür mit ganz viel Lärm. Und
seither diskutiert die Schweiz über das Wieso. Unterschwellig
schwingt bei den 68er- und 80er-Veteranen der Vorwurf der Undankbarkeit
mit. Nach all den erkämpften Freiheiten hat die heutige Jugend
immer noch nicht genug ... Noch nie sei die Gesellschaft bei
Jugendanliegen so liberal gewesen, sagte der Soziologe Kurt Imhof im
«Club» des Schweizer Fernsehens. Strafrechtsprofessor
Martin Killias sagt: «Wer behauptet das Nachtleben sei
überreguliert, der verkennt völlig, dass wir seit zwanzig
Jahren eine historisch und im Vergleich zu anderen Ländern
einmalige Deregulation erlebt haben.» Killias lässt die
Fakten sprechen. Und zwischen den Zeilen das Unverständnis.
Bei der Berner Tanz-Dich-Frei-Demonstration vom Samstag gab es jedoch
durchaus einen Auslöser: die Frustration der Berner Club- und
Kulturszene – und ihrer Besucher – über das strikte Durchgreifen
der Stadt ins Nachtleben. Ein Ausschankverbot auf dem Vorplatz der
alternativen Kulturinstitution Reithalle brachte das Fass zum
Überlaufen. Das ist der regionale Hintergrund. Doch der Tanz-Mob
bestand nicht nur aus Bernern, die Besucher der Tanz-Demo kamen aus der
ganzen Schweiz. Die digitale Mundpropaganda auf Facebook
verkündete den Feierwütigen, dass sich in Bern etwas
Spezielles anbahnt. Der Protest der Betreiber vermischte sich mit der
Tanzwut der Masse.
Doch Bern ist überall. Partys und Veranstaltungen abseits der
klassischen Clubs und Discos sind schweizweit im Trend und ziehen
Massen an. In Bern ist es die Tanz-Dich-Frei-Demo, in Basel sind es
Veranstaltungen im nt-Areal oder auf der Erlenmatte. Gestern fand in
Biel ein ähnlicher Anlass statt. In St. Gallen und Zürich
sind sie in Planung. Szenekenner sprechen von einem Rückzug der
Jugendlichen ins Halblegale, Soziologen von einer Flucht aus dem
«kommerz-orientierten» Nachtleben. «Privat-Partys und
illegale Feiern nehmen definitiv zu», sagt auch Thomas Berger vom
Verein Nachtleben Bern. Und das nicht nur in den Metropolen, auch in
kleineren Städten ist der Trend da. «Wir wissen von
Gebäuden, in denen immer wieder illegale Partys
stattfinden», sagt Mark Haggenmüller, Chef der Stadtpolizei
Olten. In Aarau findet eine der beliebtesten Techno-Partys der Region
alle 2 Monate in einer ehemaligen Garage statt. Veranstalter ist ein
Künstlerkollektiv. Tizian Baldinger, Mitglied des Kollektivs,
sagt: «Die Leute haben genug vom Einheitsbrei und suchen etwas,
das anders und frisch ist.» Die Veranstaltungen im Lokal sind
nicht illegal, unterscheiden sich aber trotzdem deutlich von Partys in
einem normalen Club. Der Reiz des Neuen und Unverbrauchten spielt mit.
so kommt es zum Paradoxon, dass das Angebot im Nachtleben heute so
gross ist, wie noch nie. Vor 15 Jahren gab es in der Stadt Zürich
40 Betriebe, welche die ganze Nacht geöffnet hatten. Heute sind es
600. Und die Jugend sucht trotzdem neue Räume – und findet sie.
Thomas Berger sagt: «Es gibt heute zwar viele Clubs, aber
innerhalb dieser wurden die Regeln immer strenger.» Er meint
Rauchverbot, strenge Eingangskontrollen und hohe Preise. Das alles gibt
es auf öffentlichem Grund und im Untergrund nicht.
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UND DER REST DER ARTIKEL?
:-) Kommt noch, nur Geduld...