MEDIENSPIEGEL 04. - 10. JUNI 2012

20min.ch 10.6.12
http://www.20min.ch/schweiz/news/story/24655173

Partyzonen gefordert

Berner Tanz-Demo rüttelt Städte aufBerner Tanz-Demo rüttelt Städte auf

Facebook statt Bewilligungsformular: Politik und Clubs vernetzten sich auf nationaler Ebene, um die schwelende Nachtleben-Problematik anzugehen. Der Berner Stapi zeigt dafür Sympathien.

Die Berner Tanz-Party hat den Brennpunkt Nachtleben auf das nationale Parkett gebracht: Der Schweizerische Städteverband (SSV) ruft eine nationale Arbeitsgruppe ins Leben. Sie soll den Städten als Austauschplattform für die schwelende Nachtleben-Problematik dienen.

Auch die Clubbetreiber und Kulturorganisationen machen mobil: Laut «SonntagsZeitung» wollen sich diverse regionale Gruppierungen unter Federführung des Dachverbandes der Schweizerischen Musikclubs (Petzi) erstmals auf nationaler Ebene vernetzen. «Unser Ziel ist der Aufbau eines schlagkräftigen Kulturnetzwerkes», sagt Petzi-Vertreterin Isabelle von Walterskirchen. Schweizweit bestünden im Nachtleben ähnliche Probleme, die es national anzupacken gelte. Ein Ziel der Aktion: «Clubbetreiber brauchen mehr Rechtssicherheit bei Klagen.» Es könne nicht sein, dass jemand die Schliessung eines Lokals im Alleingang erzwingen könne, so von Walterskirchen.

Berner Stapi verlangt klare Spielregeln

«Wenn die Jungen an einem schönen Abend finden, jetzt wollen wir die Stadt mal für uns, habe ich damit kein Problem»: Der Berner Stadtpräsident Alexander Tschäppät zeigt in einem Interview mit der «SonntagsZeitung» viel Verständnis für die Forderungen der Jugend nach mehr Freiheiten im Nachtleben. Er hält etwa das heutige Bewilligungsverfahren von Veranstaltungen für überholt: «Über Facebook bringt man in der Stadt innert Stunden Tausende von Leuten auf die Strasse, da bringen Formulare nicht mehr viel.» Weiter müsse man darüber nachdenken, ob für bestimmte Gassen und Strassen die Toleranz für Lärm erhöht werden soll. «Dort, wo wohnen und Nachtleben nebeneinander Platz haben müssen, braucht es aber klare Spielregeln», so der Berner Stapi weiter. Tschäppät war in seiner Jugend übrigens selbst kein Engel: «Wir haben früher wildere Sachen gemacht als die Jungen heute.» Was genau, will er aber nicht verraten.

Sprayereien am Bundeshaus kosten gegen 100 000 Franken

Tschäppät stürzte sich an der Tanz-Party selbst ins Getümmel und wollte seine Frau vom Bahnhof abholen, blieb aber in der Menge stecken. Obschon die weit über 10 000 Demo-Teilnehmer grösstenteils friedlich feierten, gab es einen negativen Höhepunkt: Einige Vermummte nutzten die Anonymität der Masse und versprayten den Eingang des Bundeshauses – vor den Augen der Kantonspolizei.

Nationalratspräsident Hansjörg Walter kritisiert in einem Bericht der «NZZ am Sonntag» den Polizeieinsatz: «In solchen Fällen muss das Bundeshaus künftig besser geschützt werden.» Walter beurteilt die Schäden am Parlamentsgebäude als «massiv» und die Beseitigung der Schmierereien «extrem teuer.» Das zuständige Bundesamt für Bauten und Logistik geht in einer ersten Schätzung von Schäden bis zu 100 000 Franken aus.

(am)

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Sonntag 10.6.12

Jugendproteste: Das Recht auf Party ist das Recht auf Freiheit

Keine politischen Forderungen? Jugendliche in Schweizer Städten demonstrieren seit langem immer wieder für mehr Freiräume und weniger Repression – allerdings schon lange nicht mehr so laut und zahlreich wie letztes Wochenende in der Stadt Bern

Alan Cassidy und Christof Moser

Man muss schon ziemlich gut weghören, um die politische Botschaft der Jugend nicht zu hören. Was sich am vergangenen Wochenende in der Stadt Bern in einer Massendemonstration entlud, ist der Frust über immer mehr Vorschriften, Reglemente, Bewilligungspflichten – nicht nur im Nachtleben, sondern im Leben überhaupt. Man könnte die Forderungen in einem einfachen Slogan zusammenfassen: «Mehr Freiheit, weniger Staat». Für die Jugendlichen ist das Recht auf Party das Recht auf Freiheit. «Tanz dich frei» lautete deshalb auch das Motto der Berner Tanz-Demonstration. Hätten die Jugendlichen Steine werfen sollen, um ernst genommen zu werden?

Erstaunlich, dass ausgerechnet bürgerlich gesinnte Politiker und Kommentatoren, die mehr Freiheit und weniger Staat sonst immer propagieren, die Forderungen der Jugend partout nicht verstehen wollen. Erstaunlich ist dies umso mehr, als dass die jungen Leute – nicht nur in Bern, sondern auch in anderen Schweizer Städten – gegen zumeist rot-grün dominierte Stadtregierungen auf die Strasse gehen, die ihre eigenen politischen Slogans kreieren. In Zürich zum Beispiel: «Erlaubt ist, was nicht stört». In einen watteweichen Satz verpackte sozialdemokratische Repression.

Erstmals zeigt «Der Sonntag» in einer Übersicht die Problemzonen der jugendlichen Partygänger und Partymacher in den wichtigsten Deutschschweizer Städten. Dabei fällt auf, dass die Konflikte lokal unterschiedliche Gründe haben. Und doch gibt es Gemeinsamkeiten. In allen Städten, vielleicht mit Ausnahme von Chur, wurde das Nachtleben liberalisiert. Polizeistunden wurden abgeschafft oder existieren nur auf dem Papier. Doch mit der Liberalisierung kam auch die Kommerzialisierung – und die Repression.

Seit die Stadt Bern 2001 einen Wegweisungsartikel eingeführt hat, kommt kein Polizeireglement mehr ohne aus. Was in Bern als Waffe gegen Randständige und Drogenabhängige gedacht war, richtete die sozialdemokratische Polizeidirektorin in Luzern 2009 bereits ganz gezielt auf «Jugendgruppen» im öffentlichen Raum. Jugendpolizeien wie in Bern die Pinto («Prävention, Intervention, Toleranz») oder in Zürich die SIP («Sicherheit, Intervention, Prävention») entstanden, die es auch auf jugendliche Alkoholkonsumenten und Kiffer abgesehen haben. Zur Repressionswelle gesellen sich jedoch noch weitere Faktoren, die Jugendlichen in den Schweizer Städten zunehmend das Leben schwer machen:

Die Städte sind enger geworden. Es ist noch nicht lange her, da sprach man von einer Stadtflucht: Günstiger Wohnraum und steigende Mobilität liessen die Bewohner der Kernstädte in die Agglomeration ziehen. Die Einwohnerzahlen der grossen Schweizer Städte sanken. Inzwischen hat der Trend gekehrt: In Zürich schätzen die Behörden, dass im Jahr 2025 bis zu 468 200 Menschen in der Stadt leben könnten – das wären rund 78 000 mehr als heute. Auch Basel rechnet für 2035 mit bis zu 22 000 zusätzlichen Einwohnern.

Anders als in früheren Zeiten waren es in den vergangenen Jahren auch kaufkräftigere Schichten, die den Weg in die Städte suchten – Leute, die sich vom urbanen Milieu angezogen fühlten. Um Wohnraum für diese Klientel zu schaffen, wurden einstige Industriebrachen in moderne Stadtquartiere umgewandelt. Meist geht diese städtebauliche Aufwertung einher mit dem Verlust an Freiräumen. Und verstanden sich die neuen Stadtbewohner vielleicht früher selbst einmal als bewegt, so sind sie heute linke Spiesser.

Die grösseren Städte leisten eine Zentrumsfunktion für die vielen Agglomerationsgemeinden, die ihre Jugendlichen durch repressive Vorschriften vertreiben. Gemeinden wie Gossau SG kennen regelrechte Ausgehverbote: Schüler dürfen dort nach 23 Uhr nur noch in Begleitung von Erwachsenen unterwegs sein. Andere Gemeinden betreiben auf ihrem Gebiet spezielle Geräte, die herumlungernde Jugendliche mit Hochfrequenztönen verscheuchen.

Die Kommerzialisierung hat das Nachtleben und den öffentlichen Raum verändert: Klubs und Bars sind teurer geworden, doch Alternativen für die Jugendlichen fehlen. Die Behörden sind mit Bewilligungen für öffentliche Veranstaltungen vor allem dann grosszügig, wenn es um gewinnorientierte Anlässe geht – die Erinnerungen an die Euro 08 sind noch frisch.

Die Politik reagiert auf die jüngsten Jugendproteste, wie sie das immer tut: Sie setzt eine Arbeitsgruppe ein. Diesmal ist es der Städteverband, der zu diesem Instrument greift. Die betroffenen Städte sollen in der Gruppe ihre Erfahrungen austauschen können, sagt Verbandsdirektorin Renate Amstutz. «Ich erhoffe mir, dass daraus Empfehlungen entstehen.» Der gemeine Jugendliche reagiert darauf, wie er immer auf Politik reagiert: mit einem Gähnen.

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Bern

Bern macht seinem Ruf als Schlafstadt alle Ehre. Im Frühling 2011 musste der Afterhour-Club Formbar im Marzili schliessen, weil die Behörden Sicherheitsmängel feststellten. Im Dezember folgte dann das Aus für den Club Sous Sol in der unteren Altstadt und des Wasserwerks in der Matte wegen Lärmklagen von Nachbarn. «Der Regierungsstatthalter verballenbergt die Altstadt», twitterte Grünliberalen-Stadtrat und Club-Aktivist Manuel C. Widmer daraufhin.

Ebendieser Statthalter, Christoph Lerch, ein SP-Mann, der für die Aufsicht über das Gastgewerbe zuständig ist, brachte Anfang Mai das Fass zum Überlaufen, als er auf dem Vorplatz der Reithalle nach 00.30 Uhr ein Alkoholausschankverbot aussprechen wollte und von der Reithalle verlangte, dass die Nachtschwärmer zur Polizeistunde nach Hause geschickt werden. Begründung: Lärmklagen. Damit löste Lerch letztes Wochenende die grösste Jugend-Demonstration in Bern seit den Zaffaraya-Protesten vor 25 Jahren aus. Immer wieder zu Lärmklagen und Konfrontationen mit den Behörden kommt es auch in der belebten Aarbergergasse und auf der Schützenmatte. Die allseits bedrängten Clubs haben sich mittlerweile im Verein «Pro Nachtleben» zusammengeschlossen und verlangen Ausgehzonen in der Stadt und mehr Toleranz. «Wenn eine Tyrannei der Minderheit entsteht wie in Bern, müssen die institutionellen Strukturen überprüft werden», sagt Partyveranstalter Fabian Wyssbrod, der im Kornhauskeller Tanzanlässe organisierte, die wegen «ungelöster Probleme mit dem Fumoir» von der städtischen Immobilienverwaltung letztes Jahr ebenfalls verboten wurden.

Der Gemeinderat arbeitet derzeit an einem Konzept, das Clubs Rechtssicherheit bieten soll. «Wir können uns Zonen fürs Nachtleben vorstellen», sagt Gemeinderat Reto Nause (CVP), der jedoch eine Änderung des Umweltgesetzes auf Bundesebene, das Grenzwerte für Lärm individuell einklagbar macht und den Clubs den Garaus, für «viel sinnvoller» hielte.

Die Stadt Bern gilt spätestens seit 2001 als hartes Pflaster für Jugendliche. Als erste Stadt der Schweiz hat die Stadt damals einen Wegweisungsartikel im Polizeigesetz festgeschrieben, initiiert vom 1998 verstorbenen FDP-Gemeinderat Kurt Wasserfallen. Seither kommt kein revidiertes Polizeigesetz in der Schweiz ohne Wegweisungsartikel mehr aus.

Die Wegweisungen werden nicht nur gegen Randständige und Drogenabhängige verfügt, sondern auch gegen Jugendliche, die sich im öffentlichen Raum versammeln. Allein 2011 hat die Berner Polizei 564 Wegweisungen ausgesprochen, die meisten in Bahnhofsnähe. Verstösse werden mit 100 Franken gebüsst. Hart auch die Strafen gegen Littering. Wer in Bern einen Zigarettenstummel auf den Boden wirft, muss mit einer Busse von 40 Franken rechnen – spöttisch wird Bern deshalb von Jugendlichen als «Little Singapur» bezeichnet. Immerhin können die Jungen auf Verständnis von Stadtpräsident Alexander Tschäppät (SP) bauen: «Für alles und jedes gibt es Regeln, Gesetze, Bewilligungswege. Das scheint Jugendliche immer mehr zu stören», sagt er.

Zürich

Die Stadt Zürich ist die Partymetropole der Deutschschweiz, die 24-Stunden-Gesellschaft, die den Grossstädten dieser Welt eigen ist, ist hier Realität. Wer will, kann von Donnerstagabend bis Montagmorgen durchtanzen. Vor 15 Jahren hatten gerade mal 40 Betriebe (Restaurants, Tanzlokale) nachts geöffnet, heute, nach Abschaffung der Polizeistunde 1996, sind es 600. Zürich verkauft das Nachtleben in der Tourismus- und Standortförderung als positiven Faktor – und trotzdem hat die Stadt ein Problem: Das Zürcher Nachtleben ist durchkommerzialisiert, die alternative Partyszene deshalb zum Massenphänomen geworden.

Weil die Polizei gegen illegale Partys immer wieder rabiat vorgegangen ist, artete im September 2011 eine Jugenddemonstration am Bellevue in wüste Krawalle aus. Die Stadtbehörden reagierten darauf mit einer «Jugendbewilligung», die Jugendlichen eine unbürokratische und kostenlose Bewilligung von illegalen Partys ermöglichen soll – was auch diesen Sommer nur wenige davon abhalten wird, unbewilligte Partys zu veranstalten. Der Platz dafür wird aber immer weniger, weil es immer weniger freie Flächen gibt, so wie auch die kommerziellen Clubs durch Wohn- und Gewerbebauprojekte immer stärker in Bedrängnis geraten. Die Partymeile an der Geroldstrasse in Zürich-West, an der sich Clubs wie das Hive, der Supermarket und das Cabaret angesiedelt haben, soll bald einer Einkaufsmeile weichen.

Auf dem Areal der Toni-Molkerei, das ebenfalls eine Partyhochburg war, wird an der Hochschule der Künste gebaut. Im Niederdorf kämpfen Clubs und Bars seit je mit Lärmklagen, die mit der Einführung des allgemeinen Rauchverbots in der ganzen Stadt zugenommen haben, weil die Nachtschwärmer mit der Zigarette vor die Tür gehen müssen.

Und weil die Stadtbehörden gleichzeitig mit der Einführung des Rauchverbots ein altes Gesetz ausgegraben haben, das den Konsum von Getränken nach Mitternacht ausserhalb einer Bar verbietet, müssen viele Barbetreiber einen Türsteher engagieren, der die Einhaltung der Vorschriften überwacht.

Chur

Wie stark neue Vorschriften das Gefühl von Freiraum einschränken können, zeigt sich in Chur. Sprach man früher mit einem Bündner über das Nachtleben in der Stadt, wurde man sofort darauf hingewiesen, dass Chur die höchste Beizendichte des Landes aufweise. Seit sich die Stadt vor vier Jahren ein neues Polizeigesetz gab, hat sich der Stolz in Frust verwandelt. Für Jugendliche ist Chur inzwischen ein hartes Pflaster.

Entladen hat sich der Frust in einem Protestsong des 19-jährigen Studenten und Künstlers Hannes Barfuss und einer darauffolgenden Demo mit mehreren hundert Teilnehmern im Mai. In einem Beitrag von «Schweiz aktuell» bezeichnete Stadtpräsident Christian Boner die Unzufriedenheit darauf als Protest von «Einzelnen» – eine unglückliche Formulierung. «Das hat unser Gefühl verstärkt, als Jugendliche nicht ernst genommen zu werden», sagt die Studentin und SP-Gemeinderätin Nora Scheel.

Tatsächlich ist der öffentliche Raum seit der Einführung des neuen Polizeigesetzes sehr restriktiv geregelt. Auf dem ganzen Siedlungsgebiet gilt von 00.30 bis 7.00 Uhr ein Alkoholkonsumverbot. Wer sich draussen mit einer Flasche Bier zeigt, kann gebüsst werden. 110-mal hat die Polizei seit Einführung des Polizeigesetzes Ordnungsbussen verhängt. Rund 40 Schulhaus-, Kindergarten- und Spielplätze sind «suchtmittelfreie Zonen», in denen keine Zigaretten geraucht und kein Alkohol getrunken werden dürfen. Darunter fällt zumindest unter der Woche auch die grosse Quaderwiese, ein beliebter Treffpunkt für viele Jugendliche. Die Polizei verhängte in diesen Zonen 62 weitere Bussen. Die vielen Bars und Beizen in der Altstadt müssen um 1.00 Uhr schliessen. Fünf Videokameras sind derzeit auf Stadtgebiet installiert. In einigen Jahren sollen an insgesamt 15 Standorten Kameras stehen.

Verärgert hat die Jugendlichen auch, wie die Behörden mit einem Open-Air-Konzert umgingen, das am 30. Juni in der Altstadt hätte stattfinden sollen. Um 22 Uhr wäre Schluss gewesen. Trotzdem erhielten die Veranstalter keine Bewilligung. Den behördlichen Segen erhielt dafür kurz darauf ein Anlass der Grünliberalen, an dem es bis um 23 Uhr Musik geben wird – ein Entscheid, der vielen als Widerspruch erscheint.

Ueli Caluori, Stadtpolizei-Kommandant, sagt, das Churer Polizeigesetz unterscheide sich nur durch das Alkoholkonsumverbot von den Regeln in anderen Städten. Die Kritik an der restriktiven Bewilligungspraxis sei falsch: Von 160 Anlässen habe man 2011 158 bewilligt. «In Chur läuft immer noch sehr viel», so Caluori.


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NZZ am Sonntag 10.6.12

Junge wollen Partys ohne Türsteher und hohe Getränkepreise

Das Angebot an Nachtlokalen in der Schweiz hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Allein in Zürich gibt es 643 Betriebe mit verlängerter Polizeistunde. Trotzdem wächst unter Jugendlichen der Ruf nach Freiräumen, wo sie feiern können – und zwar ohne hohe Eintritts- und Getränkepreise, ohne Türsteher und Polizeikontrollen. Am vergangenen Samstag folgten in Bern 10 000 Menschen dem Aufruf zu einer Strassenparty. Sie protestierten gegen Einschränkungen im Betrieb der Reithalle, eines alternativen Kulturzentrums. In Basel trafen sich gleichentags 1000 Junge zu einer illegalen Party auf einem Industriegelände, das bald überbaut wird; dabei kam es zu Ausschreitungen. In Zürich hat die Stadtregierung die Bewilligung von Partys abseits von Wohngegenden unlängst vereinfacht. Sie reagierte damit auf unbewilligte Strassenfeste, an denen hoher Sachschaden entstanden war. (be.)

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Party aus Protest

Zehntausende ziehen jedes Wochenende in die Schweizer Städte, um zu feiern. Das Klub-Angebot wächst ungebrochen, Grossveranstaltungen und illegale Partys mehren sich. Und dennoch klagen Junge über Einschränkungen und demonstrieren für mehr Freiräume. Was ist los in den Städten?

Von Michael Furger, Francesco Benini und Joel Bedetti

Alexander Tschäppät versucht zu verstehen. Er versucht zu verstehen, was am letzten Samstag in seiner gemütlichen kleinen Stadt passiert ist. Weshalb 10 000 vor allem junge Menschen auf die Strassen von Bern gegangen sind, bis in die Früh gefeiert und ihre Frustration über die Jugend- und Kulturpolitik vorgetragen haben.

Wegen dieser Menschen muss er, der Stadtpräsident, am Dienstag in der TV-Sendung «Club» sitzen und sich anhören, dass es brodle in seiner Stadt. Er versucht es zu verstehen, aber es gelingt ihm nicht. Tschäppät redet von Spielregeln, welche die Jungen einzuhalten hätten, und davon, dass sie halt die Gesetze ändern müssten, wenn sie damit nicht einverstanden seien. Er sagt, man dürfe nicht der Politik die Schuld geben, wenn einem etwas nicht passe. Und er sagt, dass die Jungen politisch ohnehin nichts bewegten und für ihre Vorschläge kaum eine Mehrheit fänden. Die Jungen in der Runde schütteln nur den Kopf.

Das Einzige, was Alexander Tschäppät zu verstehen scheint, ist, dass er ein Problem hat. Im Herbst sind Wahlen. Der Sozialdemokrat möchte als Stadtpräsident bestätigt werden, aber die Jungen und die Kulturszene, viele klassische sozialdemokratische Wähler, sind unzufrieden. Nächste Kundgebungen sind angekündigt. Es könnte ein harter Sommer werden für ihn. Das macht ihn sauer. Man sieht es ihm an.

Ist es wirklich so schwierig zu verstehen? In Bern gehen 10 000 Menschen auf die Strasse, in Basel feiern 1000 eine illegale Party in einer leerstehenden Fabrik. Im Mai gab es eine Demonstration in Chur. Letzten Herbst kam es zu Kundgebungen – mit Ausschreitungen – in Zürich. Die Botschaft war immer dieselbe. Die junge Generation – Teenager bis Leute Ende 20 – will Freiräume. Freiräume für Party, Konzerte, Kultur.

Diese Forderung ist nicht neu. Schon frühere Generationen stellten sie auf. In den achtziger Jahren etwa waren es die Alternativen. Jede junge Generation versteht ihr Anliegen als politisch, obwohl damals wie heute nicht jeder Demo-Teilnehmer ein politisch Bewegter war. Und jeder Generation wird die Berechtigung dieser politischen Anliegen abgesprochen. Was will die Jugend denn für Freiräume?, heisst es heute. Es habe doch noch nie so viele Party-Angebote gegeben wie jetzt.

Genau um diese Angebote gehe es vielen Jungen eben nicht, weiss Sara Landolt. Sie ist Sozialgeografin an der Universität Zürich und erforscht unter anderem das Verhalten der Jungen im Ausgang. «Jugendliche brauchen Räume, wo sie sich selbst sein können.» Zwar habe sich die Partyszene extrem ausgeweitet, Vorschriften wurden teilweise gelockert. Aber das betreffe eben nur die Kommerz-Ebene. Diese «Nightlife-Economy», wie Landolt sie nennt, sei nur zum Teil gemeint, wenn von Freiräumen die Rede sei. Junge Menschen wollten auch unkontrolliert und unkommerzialisiert feiern – ohne Türsteher, ohne Polizeikontrollen, ohne hohe Getränke- und Eintrittspreise und ohne Bewachung durch patrouillierende Präventionstruppen. «Die Frage ist: Will man konsumieren oder selbst gestalten. Wenn man selbst gestalten will, wird es schwierig.»

Pickelharte Gewerbepolizei

Genau das war ein Zündfunken, der zur Kundgebung am letzten Samstag geführt hat. Das alternative Kulturzentrum Reitschule bietet einen der wenigen Freiräume der Stadt. Der Vorplatz der Reitschule gleich neben dem Bahnhof wird am Wochenende zum Treffpunkt von 500 bis 1000 Personen. Es kostet nichts, dort zu sein. Die Getränke an der Bar sind nicht überteuert. Das Haus und sein Betrieb werden autonom geführt. Doch diesen Mai verfügte der Berner Regierungsstatthalter, die Bar auf dem Vorplatz sei um 0 Uhr 30 zu schliessen und die Besucher seien wegzuweisen. Die Zahl der Konzerte müsse stark reduziert werden.

Die Reitschule ist schon fast eine Berner Institution. Man muss nicht linksalternativ sein, um sich dort einzufinden. Entsprechend gross ist die Sympathie für das Kulturzentrum. Zum Streit über die Verfügung des Statthalters kam ein anderer Vorfall: Das Musiklokal Sous Soul in der Altstadt schloss Ende 2011; die Betreiber waren zermürbt von einem dreijährigen Kampf gegen eine einzige Anwohnerin, die das Lokal mit Lärmklagen eindeckte. Die Stadt verweist auf das Bundesrecht, das solche Klagen bei «subjektivem Lärmempfinden» ermöglicht.

Das «Sous Soul» wurde von einem Verein junger Leute geführt, ohne kommerzielle Interessen. Kathrin Bertschy, heute Nationalrätin der Grünliberalen, war eine davon. Es gehe immer auch darum, sagt sie, wie Behörden das Recht auslegten. In der Unesco-geschützten Berner Altstadt sei die Gewerbepolizei pickelhart. Für Gäste, die nach 0 Uhr 30 noch vor dem Lokal stünden, um das Bier auszutrinken, zahlten Lokale mehrere hundert Franken Bussen. Lärmklagen zögen sich über Jahre hin. «Wenn diese harte Gangart weitergeht», sagt Bertschy, «dann werden die Betreiber der Lokale und die Berner Künstler nach Zürich abwandern.» Sie und junge Politiker fast aller Parteien haben sich im Komitee Pro Nachtleben Bern organisiert. Ihre Idee ist, eine «urbane Wohnzone» zu definieren, wo auch das Nachtleben stattfinden soll. Wer hier wohnen wolle, solle toleranter sein. Die Berner Stadtregierung hat seit zwei Jahren den Auftrag, ein Nachtleben-Konzept auszuarbeiten. «Sie verschleppt die Sache», sagt Bertschy. Das Problem drängt. Jedes Wochenende strömen rund 10 000 Menschen aus den Vororten in die Hauptstadt. Fast alle versammeln sich in der kleinen Altstadt auf weniger als einem Quadratkilometer.

Nicht nur Bern, alle grossen Schweizer Städte werden am Wochenende vom Partyvolk gestürmt. In Lausanne sollen es pro Wochenende 30 000 sein, viele kommen aus Frankreich. In jüngster Zeit registrierte die Polizei gewalttätige Übergriffe. Am grössten sind die Massen in der Stadt Zürich. 648 Nachtlokale, also Betriebe mit verlängerter Polizeistunde, locken die Besucher an. Dazu mehren sich offenbar illegale Partys. Allein das Nachtnetz des Zürcher Verkehrsverbundes transportiert pro Nacht über 14 000 Personen. Doch die Partygäste kommen nicht nur aus den nahen Gemeinden, sondern aus der ganzen Deutschschweiz. Die Abendzüge nach Zürich sind voll. Und in Zürich West fahren Cars mit Partygästen aus Süddeutschland vor. «Die Masse in Zürich ist gigantisch», sagt der Stadtforscher Philipp Klaus vom Forschungsnetzwerk Inura.

Die Masse ist auch eine Folge der Reurbanisierung. Seit 15 Jahren ziehen vor allem junge, gebildete, kreative Leute wieder in die Städte. «Die linksgrünen Stadtregierungen haben viel dazu beigetragen», sagt Klaus. Sie hätten den Innenstädten zu mehr Lebensqualität verholfen. Das sei eine bewusste Strategie, sagt Klaus. «Man will qualifizierte Arbeitskräfte anziehen. Und diese Leute wollen ein reiches Kultur- und Vergnügungsangebot.» So habe das Grossstadt-Feeling die Schweizer Städte erreicht – «mit allen positiven und negativen Folgen.»

Laut dem Soziologen Jörg Rössel von der Universität Zürich vergrössert sich die Masse auch, weil mehr ältere Erwachsene in den Vergnügungsvierteln unterwegs sind. «Wer mit der Popkultur aufgewachsen ist, besucht noch heute Konzerte und Klubs.»

Party gegen «Schöner wohnen»

Mit der Ausbreitung des Nachtangebots schwinden Freiräume. Wie beansprucht Strassen und Plätzen heute schon sind, zeigen die Gesuche für öffentliche Anlässe in der Stadt Zürich im Jahr 2011: Von 1277 Gesuchen bewilligte die Stadt 1082. Jede zweite Woche fand im Schnitt ein Grossereignis statt, jede Woche eine Demonstration, jeden Tag zwei Feste oder Eröffnungen. Solche Anlässe beanspruchen die öffentlichen Plätze. Für kommerzielle Open-air-Kinos und Strandbars werden Orte eingezäunt, wo man sich zuvor frei treffen konnte.

Immerhin attestieren Experten der Zürcher Stadtregierung, sie reagiere gut auf die Entwicklungen. Nachdem letzten Herbst an mehreren Wochenenden Junge auf die Strasse gegangen waren und Freiräume gefordert hatten, beschloss der Stadtrat, Partys von Jugendlichen auf öffentlichen Plätzen abseits von Wohngegenden in einem unkomplizierte Verfahren zu bewilligen. Wegen des schlechten Wetters sind bisher indes erst drei solche Partys mit jeweils einigen hundert Teilnehmern abgehalten worden. Die Veranstalter seien Leute, die früher illegale Partys gefeiert hätten, heisst es bei der Stadt.

In Basel wird ein Areal beim Badischen Bahnhof, das bei den Jungen beliebt war, bald überbaut. Also fällt ein Ort weg, an dem diese gerne Feste feierten. Am vergangenen Samstag gab es dort eine illegale Party mit 1000 Besuchern; rund 30 von ihnen verhielten sich gewalttätig. Vor einem Jahr wurde bei der Besetzung des stillgelegten Kinderspitals medizinisches Gerät zerstört. Den meisten Jungen geht es aber nicht um Zerstörung – sie wollen «Freiheit spüren ausserhalb der staatlichen Einflussnahme», wie Thomas Kessler sagt. Er leitet im Kanton Basel-Stadt die Abteilung für Kantons- und Stadtentwicklung und merkt an, dass es für die Jungen auf dem Gelände des Hafens neue Möglichkeiten geben werde. Die Ansprüche aller Bevölkerungsgruppen an den Staat seien hoch – er solle Freiräume zur Verfügung stellen. Wenn dann aber zum Beispiel nach Beschwerden über Lärm die Polizei Kontrollen durchführe, behage das einigen Jugendlichen nicht.

Kessler stellt unter den Jungen das Bedürfnis fest, in grösseren Gruppen zu feiern. Das ergebe ein Festival-Gefühl, das vielen gefalle. Der Stadtentwickler betont, dass die Kulisse der Altstadt nicht für alle Aktivitäten ideal sei. In Basel versammelt man sich gerne am Rhein. «Es ist schön, am Rhein zu grillieren – aber man kann dort nicht um Mitternacht Gitarre spielen», meint Kessler. Die Wohnhäuser sind nur wenige Meter entfernt, also brauche es Rücksicht auf die Anwohner. «Mir scheint, dass unsere individualistisch geprägte Gesellschaft erst noch lernen muss, wie eine grosse Zahl von Menschen im öffentlichen Raum miteinander umgeht, ohne dass die Rechte der Einzelnen beschnitten werden.»

«Es ist die Auseinandersetzung zwischen Partyleben und dem <Schöner wohnen>-Lebensstil», sagt Christian Pauli. Er ist Kommunikationschef der Hochschule der Künste und Präsident von «bekult», dem Verein der Berner Kulturveranstalter. Vor 30 Jahren war er bei den 80er Unruhen in Bern dabei, heute ist er 48 Jahre alt und sagt, die Demonstration erinnere an damals. Die Stadt sei am letzten Samstag unter Strom gestanden.

Gibt es denn dieses geforderte Recht auf Party? Ja, sagt Pauli. «Jede Generation hat das Recht, sich Gehör zu verschaffen und Raum für sich zu beanspruchen. Es ist geradezu die Aufgabe der Jugend, das zu tun – auch wenn es die Erwachsenen nicht verstehen.»

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Junge machen Krach

Zürcher 80er Unruhen

Der Zürcher Stadtrat bewilligt 60 Millionen Franken für die Renovation des Opernhauses und weist die Forderung Junger nach einem autonomen Jugendzentrum zurück. Ende Mai 1980 kommt es in der Zürcher Innenstadt zu schweren Krawallen. Bis 1982 gibt es bei zahlreichen weiteren Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und Polizisten Verletzte; die Sachschäden sind hoch. Die Forderung nach einem Raum für alternative Kultur mischt sich mit Verdruss an der gesellschaftlichen Zementierung in der Schweiz und mit anarchischer Staatsfeindlichkeit – die sich im Leitspruch «Macht aus dem Staat Gurkensalat» zeigt. Heute wird die Rote Fabrik, ein alternatives Zürcher Kulturzentrum, staatlich subventioniert.

Bewegung in Bern

Das «Freie Land Zaffaraya», ein Zelt- und Wagendorf, wird 1987 von der Berner Polizei geräumt. In der Folge kommt es in der Stadt zu Unruhen. Die Jugendlichen besetzen die Reithalle beim Bahnhof, auch Reitschule genannt. Die Stadtbehörden tolerieren schliesslich den alternativen Kultur- und Veranstaltungsort und renovieren ihn. Mehrere Volksinitiativen zur Schliessung der Reithalle scheitern.

Street Parade

Die Zürcher Technoparty, erstmals 1992 durchgeführt als «Demonstration für Liebe, Frieden, Freiheit, Grosszügigkeit und Toleranz», wird 1994 vom Zürcher Polizeivorstand Robert Neukomm (sp.) verboten. Es kommt in Zürich zu Demonstrationen für die Veranstaltung, der Zürcher Stadtrat gibt seinen Widerstand schliesslich auf. Heute zieht die Street Parade Hunderttausende Besucher aus dem In- und Ausland an.

Reclaim the Streets

Die Bewegung zur Aneignung des öffentlichen Raums ist globalisierungskritisch und führt Strassenpartys und Velofahrten in Städten durch. In Zürich kommt es im Februar 2010 nach einer Strassenparty zu Ausschreitungen mit Verwüstungen. Aus Spanien schwappt der Brauch der Botellones in die Schweiz über: Tausende Jugendliche treffen sich auf öffentlichen Plätzen zum gemeinsamen Konsum alkoholischer Getränke. Die Mobilisierung findet über das Internet statt. Nach einem Massenbesäufnis mit rund 2000 Teilnehmern bleiben im August 2008 auf einer Wiese am Zürichsee rund sechs Tonnen Abfall zurück. Die Veranstalter werden in den Medien scharf kritisiert. (be.)

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Berns Polizei soll Bundeshaus besser vor Chaoten schützen

Hansjörg Walter, Präsident des Nationalrats, tadelt die Polizei: Sie habe das Bundeshaus bei der Demonstration vom letzten Samstag ungenügend geschützt.

Tausende Jugendliche drängten sich in der Nacht auf letzten Sonntag auf dem Bundesplatz und demonstrierten unter dem Motto «Tanz dich frei» für ein lebendigeres Nachtleben in Bern. Dabei nutzten einige Vermummte die Gelegenheit für Sachbeschädigungen und Sprayereien am Bundeshaus – vor den Augen der Kantonspolizei Bern.

Diese Vorgänge sind für Nationalratspräsident Hansjörg Walter (svp.) inakzeptabel: «Ich war nicht zufrieden damit, dass die Polizei nicht eingegriffen hat.» Offenbar habe die Polizei befürchtet, mit einem harten Durchgreifen Krawalle zu provozieren. Doch Walter lässt dies so nicht gelten: «In solchen Fällen muss das Bundeshaus künftig geschützt werden.» Man werde mit der Polizei in dieser Sache noch das Gespräch suchen. Walter beurteilt die Schäden als «massiv» und die Beseitigung der Schmierereien als «extrem teuer». Ähnliche Kritik wie Walter äussern mehrere bürgerliche Parlamentarier. Sie wollen in der Fragestunde von Montag vom Bundesrat unter anderem wissen, wie solche Sachbeschädigungen künftig verhindert und der Schutz des Parlamentsgebäudes verbessert werden kann. Der Bund hat wegen der Sprayereien Anzeige gegen Unbekannt eingereicht.

Auf dem Bundesplatz habe letzten Samstag eine «sehr grosse Menschenmenge friedlich demonstriert, getanzt und gefeiert», sagt der Sprecher der Kantonspolizei Bern, Michael Fichter, zu dieser Kritik. Aufgrund der Sachbeschädigungen durch Teilnehmer der Demonstration habe die Polizei ihre Kräfte vor Ort verstärkt und einzelne Personen weggewiesen. «Ein weitergehendes Einschreiten wäre aufgrund des Risikos einer Eskalation unverhältnismässig gewesen», sagt Fichter. Die Situation sei zusätzlich erschwert worden, weil keine Kontaktaufnahme mit den Veranstaltern der unbewilligten Kundgebung möglich gewesen sei.

Das zuständige Bundesamt für Bauten und Logistik beziffert die Schäden in einer «ersten vorsichtigen Schätzung» auf 50 000 bis 100 000 Franken. Das Bundesamt vertritt die Meinung, dass bei Anlässen wie im vorliegenden Fall eine effektive Sicherung des Bundeshauses «mit verhältnismässigem Aufwand kaum möglich» sei.

Stefan Bühler

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Zentralschweiz am Sonntag 10.6.12

Herausgepickt

Reitschule ruft, fast niemand kommt

Bern sda. Die Berner Reitschule hat gestern erneut zur Eroberung des städtischen Raums aufgerufen. Doch diesmal folgten dem wieder via Facebook lancierten Ruf anders als vor einer Woche, als Tausende durch die Innenstadt zogen, nur ganz wenig Leute. Etwa 15 Personen fanden sich am früheren Samstagabend auf dem Bundesplatz ein, um dort miteinander zu essen. «Play the Street Life» lautete der Titel der Aktion, die noch dreimal wiederholt werden soll. Eine Reitschul-Aktivistin räumte vor Ort ein, dass sie mehr Leute erwartet habe.

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Südostschweiz 10.6.12

Sonntagskommentar

Nicht aufregen, einfach zuhören

Von Andrea Masüger

Für einmal waren die Churer mit bei den Ersten: Die gegenwärtigen Jugendproteste fanden praktisch gleichzeitig in Chur, Zürich, Basel und Bern statt. Der Kampf eines Teils der Churer Jungen gegen das Polizeigesetz von 2008, das als das restriktivste der Schweiz gilt, machte schon vor Jahren nationale Schlagzeilen.

Haben wir damit nach 1968 (internationale Studentenproteste, Globuskrawalle), 1980 (Schweizer Jugendunruhen, Opernhauskrawalle) eine neue Form von Jugendunruhen in der Schweiz? – Selbstverständlich wird diese Frage derzeit vorwiegend verneint. Politiker und Verantwortungsträger machen dabei zu Beginn solcher Phänomene immer den gleichen Fehler und bagatellisieren die Sache. Heute werden die Tanz- und Trinkparties in den Schweizer Städten vor allem als hedonistische Aktionen verwöhnter Jugendlicher dargestellt, die angesichts des überbordenden Wohlstandes und der Hirnlosigkeit ihrer ebenfalls noch jungen Eltern nur noch Fun und Flausen im Kopf haben. Man erhebt den Moralfinger und rät ihnen, nach Griechenland zu schauen, wo die Jugendlichen in Arbeits- und Perspektivenlosigkeit gefangen sind und froh wären um eine Lehrstelle oder einen Studienplatz.

Dabei übersieht man, dass die gegenwärtige Bewegung intellektuell viel breiter abgefedert ist als beispielsweise die Jugendunruhen von 1980. Damals standen die Arrivierten hilflos vor Dada-Parolen rund um staatlichen Gurkensalat und freier Sicht aufs Mittelmeer. Heute aber erheben die Jugendlichen klare Forderungen nach Freiräumen in der Öffentlichkeit, nach Abbau von staatlichen Bewilligungsrestriktionen und von Verboten. Dabei regieren Kreativität und Originalität, wie der Protestsong des Churer Hannes Barfuss zeigt. Barfuss ist übrigens auch ein ausgezeichneter und scharf denkender Formulierer.

Gerade im Kern haben die neueste und die bisherigen Bewegungen eine grosse Gemeinsamkeit: Immer ging es um Platz, den die Jugendlichen für sich reklamieren, um Jugendhäuser, Kulturzentren oder eben Festplätze. Doch, und das ist ein Riesenunterschied: Diesmal ist – im Gegensatz zu 1968 und 1980! – keine Gewalt im Spiel. Die neue Bewegung hat deshalb das Recht, ernst genommen zu werden.

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Sonntagszeitung 10.6.12

Berner Stapi Tschäppät will Partys erleichtern

Bern. Nach der Tanz-Demo vom letzten Wochenende geht Alexander Tschäppät über die Bücher: «Man muss nun darüber nachdenken, ob für bestimmte Gassen und Strassen die Toleranz für den Lärm erhöht werden soll.» Auch der Städteverband reagiert und ruft eine nationale Arbeitsgruppe ins Leben. Nachrichten Seite 2, Fokus Seite 21

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Tanz-Demo mobilisiert Städte

Verband gründet Arbeitsgruppe – Clubbetreiber planen schweizweites Netzwerk

Von Fabian Eberhard

Bern Der Schweizerische Städteverband (SSV) reagiert auf die Berner Tanz-Demo vom vergangenen Wochenende und ruft eine nationale Arbeitsgruppe ins Leben. Das bestätigt Direktorin Renate Amstutz gegenüber der SonntagsZeitung. «Wir haben die Verantwortlichen aller grösseren Städte angeschrieben und werden sie zu einem nationalen Treffen einladen.»

Die Arbeitsgruppe soll den Städten als Austauschplattform rund um die schwelende Nachtleben-Problematik dienen. «Wir hoffen, dass wir schliesslich Empfehlungen für die Städte formulieren können», sagt Amstutz. Für die Umsetzung konkreter Massnahmen seien diese aber selbst verantwortlich.

Wen die Städte in die Arbeitsgruppe delegieren, ist noch nicht klar. Amstutz hofft auf viele unterschiedliche Perspektiven. Vertreter der Politik und der Verwaltung, von Polizei über Soziales bis Kultur sollen zusammenfinden.

Handlungsbedarf gibt es vor allem beim Lärmschutz

Nach ihrem Protest auf der Strasse machen Kulturaktivisten inzwischen auch auf politischer Ebene mobil: Clubbetreiber und Kulturorganisationen planen ein gesamtschweizerisches Netzwerk, das sich gegen das Clubsterben und für ein attraktives Nachtleben in Schweizer Städten einsetzt. Unter der Federführung des Dachverbandes der Schweizerischen Musikclubs (Petzi) wollen sich diverse regionale Gruppierungen erstmals auf nationaler Ebene vernetzen. Darunter auch der Verein Pro Nachtleben Bern, der die Demo vom letzten Wochenende mit über 10 000 Teilnehmern unterstützte.

Am vergangenen Mittwoch trafen sich Delegierte aus allen Landeszeilen in Zürich, wie Petzi-Vertreterin Isabelle von Walterskirchen bestätigt: «Unser Ziel ist der Aufbau eines schlagkräftigen Kulturnetzwerkes.» Weitere Treffen würden bald folgen.

Laut von Walterskirchen habe die Diskussion um das Nachtleben zwar in jeder Stadt ihre Eigenheiten. Schliesslich bestünden aber schweizweit ähnliche Probleme, die es national anzupacken gelte. So gäbe es etwa Handlungsbedarf beim Lärmschutz. «Clubbetreiber brauchen mehr Rechtssicherheit bei Klagen von Einzelpersonen», sagt sie. Es könne nicht sein, dass jemand die Schliessung eines Kulturzentrums im Alleingang erzwinge.

Sie fordert zudem, dass neben Anwohnern und Gewerbebetreibern auch die Kulturszene fest in die Stadtplanung miteinbezogen werde. Dafür werde das Netzwerk sowohl auf nationaler wie auch auf regionaler Ebene lobbyieren und versuchen, Politiker mit ins Boot zu holen.

Im Internet werben Unbekannte nun für den 22. September für ein «nächtliches Tanzvergnügen» in Aarau. Nur gerade fünfzehn Personen fanden sich gestern auf dem Bundesplatz ein, um dort miteinander zu essen. Sie folgten einem Aufruf der Reithalle.

Mehr zum Thema Fokus Seite 21

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«Ich würde gerne politisches Kabarett machen»

Der Berner Stadtpräsident Alexander Tschäppät über lautstarkes Nachtleben, einen Deal mit seinem Vater, seinen Kampf für bezahlbaren Wohnraum und seine EM-Hoffnung Holland

von Joël Widmer und Nadja Pastega (Text) und Severin Nowacki (Fotos)

Der Berner Stadtpräsident und SP-Nationalrat Alexander Tschäppät ist kein Kind von Traurigkeit. Über die Stränge hauen? Für Tschäppät kein Problem. Manchmal läuft die Party auch aus dem Ruder – wie jene Feier nach einem Heimsieg von YB gegen Zürich, als Tschäppät mit einer Mundart-Trash-Band auf der Bühne abschätzig über Christoph Blocher sang. In diesen Tagen sitzt er weit ab vom Partygeschehen – im Nationalratssaal im Bundeshaus, wo gerade die Sommersession stattfindet. In einem Sitzungszimmer lässt er sich gemächlich auf einem schwarzen Lederfauteuil nieder, schlägt die Beine übereinander und will wissen: «Tanzen wir schon?»

Nein, Herr Tschäppät, wir führen zuerst ein Gespräch. Am letzten Wochenende haben sich in Bern 10 000 junge Menschen zu einer Tanzparty getroffen, zusammengetrommelt über Facebook. Wo waren Sie?

Ich habe versucht, meine Frau vom Bahnhof abzuholen. Das war ein logistisches Meisterstück, weil die halbe Stadt abgeriegelt war. Ich habe also die Party und ihre Auswirkungen hautnah miterlebt.

Wann haben Sie selber das letzte Mal die Nacht zum Tag gemacht?

Ich möchte mich nicht rühmen, aber ich würde behaupten, wir haben früher wildere Sachen gemacht als die Jungen heute.

Nämlich?

Ich zähle das nicht auf. Aber wir haben natürlich einen ganz anderen Kampf geführt im autoritären Bereich. Das war eine andere Zeit. Die Schule war autoritär, die ganze Gesellschaft war autoritärer.

Und im Ausgang?

Wir sind nach Neuenburg gefahren, das war Ende der 60er-Jahre die liberalste Stadt rund um Bern. Die Töffli haben wir frisiert, sie fuhren etwa 60 Stundenkilometer, sonst wäre man nie dort angekommen!

Die Tanz-Demo vom vergangenen Wochenende war für Sie also eine politische Aktion?

Wenn 10 000 Menschen tanzen, findet man nicht heraus, was die Motivation jedes Einzelnen ist. Da war wohl alles vertreten, vom politisch überzeugten Klassenkämpfer bis zum Partygänger, der in seinen 300 Franken teuren Nike-Schuhen abtanzen will.

Ist es politisch, wenn man um zwei Uhr morgens eins trinken will?

Wenn die Jungen an einem schönen Abend finden, wir wollen die Stadt jetzt mal für uns, habe ich damit kein Problem. Man kann das als Teil einer politischen Aussage verstehen. Aber für viele war es einfach Party.

Die Gesellschaft war doch noch nie so liberal wie heute.

Das stimmt. Als ich als Gymnasiast mit Haaren über den Ohren in die Schule ging, gab das Lämpe mit dem Lehrer. Im Militär hat man stundenlang Gel in die Haare geschmiert, um längere Haare nicht abschneiden zu müssen. Heute findet es der Kommandant wahrscheinlich noch witzig, wenn man mit blau gefärbten Haaren in die RS einrückt. Die Gesellschaft akzeptiert heute sehr viel mehr.

Trotzdem gibt es Konflikte.

Das Problem liegt darin, dass unterschiedliche Ansprüche an den gleichen öffentlichen Freiraum gestellt werden. Die Jungen möchten die Nacht durchfeiern.Andere, die morgens um sechs zur Büez müssen, möchten dann nicht über Glasscherben stolpern und um Mitternacht ihre Ruhe haben.

Ein attraktives Nachtleben rutscht doch in den Tourismusführern immer weiter nach vorne.

Ich bin sehr für ein attraktives Nachtleben. Aber nehmen Sie Lausanne. Dort hat man das Nachtleben so lange gefördert, bis man am Schluss mit den Problemen nicht mehr fertig wird. Samstag für Samstag gibt es Lärm und Schlägereien.

Das liegt daran, dass dort 40 Clubs gleichzeitig um fünf Uhr früh schliessen und die Partygänger quasi auf der Strasse festsitzen, weil die ersten Züge erst später fahren.

Ja, das ist das eine. Es hat sich in Lausanne aber auch ein riesiger Nachtlebenstourismus entwickelt. Da kommen Partygänger aus Frankreich oder aus Genf. Die sagen sich, «mir ist es doch egal, wenn sich die Bewohner von Lausanne gestört fühlen, ich wohne ja nicht hier».

Können die unterschiedlichen Bedürfnisse der Menschen überhaupt koexistieren in einer Stadt?

In Hamburg gibt es seit 100 Jahren die Reeperbahn. Dort muss keiner eine Wohnung beziehen und meinen, er habe abends um elf Uhr Nachtruhe. Das Gleiche gilt für die Langstrasse in Zürich. Unproblematisch für das Nachtleben sind die Industriegebiete, weil hier niemand wohnt. Im Berner Fussballstadion Wankdorf haben wir einen riesigen Nachtclub, das stört keinen. Im engen urbanen Raum kann man aber nie alles unter einen Hut bringen, man kann nur Prioritäten setzen.

Welche Konzepte haben Sie?

Eine Ideallösung gibt es nicht. Die untere Altstadt soll und muss bewohnt sein, ich will keine Geisterstadt im Zentrum. Für die obere Altstadt, wo es weniger Wohnungen hat, muss man jetzt die Diskussion führen und entscheiden, ob man das Wohnen zurückstellen und das Nachtleben priorisieren soll. Am Schluss muss es sich für die Clubbesitzer aber auch noch rechnen.

Braucht es in den Städten Sonderzonen für die Partyszene?

Dort, wo Wohnen und Nachtleben nebeneinander Platz haben müssen, braucht es klare Spielregeln. Dafür gibt es bereits heute Zonen mit unterschiedlichen Lärmbestimmungen. In einem Wohnquartier gilt ein anderer Lärmschutz als in einem Industriequartier. Man muss darüber nachdenken, ob für bestimmte Gassen und Strassen die Toleranz für Lärm erhöht werden soll.

Verschiedene Schweizer Städte haben die gleichen Probleme. Braucht es einen runden Tisch?

Ein Gedankenaustausch ist sinnvoll. Wir haben in Bern dazu eine Arbeitsgruppe eingesetzt und auch der Städteverband nimmt sich dem Thema an. Wir müssen zum Beispiel über die Bewilligungsverfahren diskutieren. Das heutige Verfahren mit Formularen ist obsolet, über Facebook bringt man in zwei Stunden Tausende von Leuten auf die Strasse.

Zürich hat bereits eine neue Bewilligungspraxis für spontane Outdoor-Partys eingeführt. Wird Bern dieses Modell übernehmen?

Bern ist daran, ein Nachtlebenskonzept auszuarbeiten. Dabei prüfen wir auch, ob wir ein erleichtertes Bewilligungsverfahren einführen können, damit wir einen Ansprechpartner haben und die negativen Auswirkungen besser in den Griff bekommen.

Sie sind in Bern aufgewachsen. Waren Sie als 18-Jähriger schon politisch aktiv, zum Beispiel bei den Jusos?

Nein, ich war nie bei den Jusos. Ich war sehr politisch, aber nicht organisiert. Mein Vater und ich hatten unterschiedliche Ansichten. Das war auch ein Generationenkonflikt, den wir nicht öffentlich austragen wollten.

Ihr Vater war sozialdemokratischer Stadtpräsident. Wann sind Sie in die SP eingetreten?

Ich bin politisch aktiv geworden, als mein Vater 1979 mit 61 Jahren starb. Das war eine Abmachung zwischen meinem Vater und mir: Solange er im Amt ist, bin ich nicht politisch aktiv.

Es war immer klar, dass Sie in die SP gehen?

Ja. Mein Grossvater hat zu den Organisatoren des Generalstreiks gehört. Etwas anderes als SP hat es in meiner Familie seit 100 Jahren nicht gegeben. Als ich Kind war, verbot uns der Grossvater unter Höchststrafe, in der Migros eine Tafel Schokolade für 30 Rappen zu kaufen. Als Sozi ging man in den Konsum. Das ist heute nicht mehr so, aber die SP braucht es wegen des zunehmenden sozialen Gefälles mehr denn je.

Sie sind nun zwölf Jahre in der Berner Stadtregierung und wurden soeben 60 Jahre alt. Warum treten Sie im Herbst nochmals

für das Stadtpräsidium an?

Wir haben in der Stadt in den letzten 12 Jahren viel erreicht, zum Beispiel den öffentlichen Ver- kehr ausgebaut und mehr Wohnraum geschaffen. Das möchte ich noch 4 Jahre weiterführen, mich für bezahlbaren Wohnraum einsetzen und die Rolle als Hauptstadt stärken. Ausserdem ist Stadtpräsident ein wunderbarer Job und Bern ein wunderschöner Ort. Man ist nah bei den Leuten, man kann etwas verändern. Ich kann Tram fahren, dann weiss ich nach zehn Minuten, wo der Schuh drückt.

Sie werden angesprochen?

Ja, sicher. Die Leute sagen, was sie stört oder was sie gut finden. Das ist faszinierend, aber auch stressig. Man ist nie allein. In jeder Beiz, wo ich mit meiner Frau essen gehe, kommt einer und will eine Geschichte erzählen. Aber das hat auch etwas sehr Schönes.

Sie haben im Wahlkampf für das Stadtpräsidium keinen bürgerlichen Gegner. Sind Sie der König von Bern?

Sicher nicht. Bei jedem Geschäft, das wir in den letzten vier Jah-ren hatten, gab es Widerstand von der bürgerlichen Seite. Wenn man so fundamental politisiert, muss man bei den Wahlen eine Auswahl präsentieren. Ich bedaure, dass das bisher nicht der Fall ist.

Was wollen Sie machen, damit Bern das Image der Beamtenstadt verliert?

Das haben wir schon lange verloren. Das kann nur eine Zürcherin fragen.

Sie sind beleidigt.

Nein, es ist einfach schon lange nicht mehr so. Man kann ja in den weltweiten Ranglisten der Lebensqualität nachschauen: Bern verbessert sich stetig. Die Vorurteile bleiben aber: Wir seien langsam. Damit habe ich kein Problem.

Für die gleich hohe Lebensqualität wie in Zürich muss man in Bern viel mehr Steuern zahlen.

Wenn man die Steuern vergleicht, stimmt das. Man muss aber auch das Angebot vergleichen, die Arbeitswege, die Stauzeiten oder die Mietzinse. Bern bietet hier enorm viel für den Steuerfranken. Ausserdem ist nicht die Stadt, sondern der Kanton Bern für die hohen Steuern verantwortlich. Er ist der zweitgrösste Kanton der Schweiz mit einer unglaublichen Infrastruktur, die man unterhalten muss. Wenn die Agglomeration ein Halbkanton wäre, könnten wir steuerlich in den Top 5 sein, aber eine solche Entsolidarisierung kann nicht das Ziel sein, eine Steuerharmonisierung wäre bessere.

Wie wollen Sie Bern wirtschaftlich weiterbringen?

Wir leben zu 80 Prozent von den Steuern natürlicher Personen und nicht von Firmen. Wir müssen daher schauen, dass es den Steuerzahlern gut geht und für sie Wohnraum schaffen.

Sind 20 Prozent Steuern aus Firmen nicht viel zu wenig?

Mehr wäre natürlich besser, aber es hat auch Vorteile. Man ist nicht abgängig von einzelnen Unternehmen.

Aber ein paar zusätzliche Firmen brächten auch ein paar zusätzliche Steuerfranken.

Ja, interessant sind Firmen aber vor allem wegen der guten Arbeits- plätze. Unsere Stärke liegt im Bereich Service public, bei den Dienstleistungen: Wir haben die Post, die SBB, die SRG.

Sie haben es also aufgegeben, Hightech-Industrie anzusiedeln.

Wir geben nicht auf. Wenn aber Google in Flughafennähe sein will, was soll ich da kämpfen?

Sie gelten als beratungs- resistent. War Ihr Vater auch so?

Wahrscheinlich schon, ja. Mein Vater hat allen zugehört, aber gesagt: Ich entscheide selber. Er hat allen das Gefühl gegeben, sie seien wichtig und hat dann allein entschieden.

Sie machen das auch so?

Ich höre den Leuten zu, aber am Ende entscheide ich. Ich finde nichts schlimmer, als wenn man merkt, dass man nicht auf sich selbst gehört hat.

Sie seien ein Einzelgänger, ein wenig misstrauisch, heisst es.

Ich bin anders, als viele denken. Vor jedem TV-Auftritt, jeder Radiosendung habe ich Schweissausbrüche, wie vor 30 Jahren. Ich habe in meinem Leben auch bedeutend mehr Tiefgang, als viele denken.

Wie man hört, sind Sie auch ein Zweifler.

Ja, das bin ich sicher.

Stehen Sie darum gerne in der Öffentlichkeit?

Manchmal tut man das gerne, aber es gibt auch Momente, in denen ich am liebsten eine Perücke anziehen möchte.

Zum Beispiel?

Wenn etwas schiefläuft. Als Stadtpräsident ist man für alle Misserfolge verantwortlich. Bei Hochwasser ist der Stapi schuld, dass die Aare über die Ufer tritt. Da läuft man nicht gerne durch die Matte.

Jeder Angriff trifft Sie heute noch tief?

Ja. An mir prallt gar nichts ab. Mir raubt es in solchen Momenten auch den Schlaf. Ich beneide Leute, die cool bleiben können.

Sie haben ein Häuschen am Murtensee. Ihr Rückzugsort?

Ich bin leider viel zu selten dort. Es steht am Mont Vully, nur 40 Minuten von Bern. Aber man hat das Gefühl, man sei in einer anderen Welt.

Sie sind also ein Zweitwohnungsbesitzer.

Ja. Aber meine ist fast nie kalt, meine Familie ist oft dort.

Das AKW Mühleberg liegt weniger als 20 Kilometer von Bern weg. Würden Sie die Stadt nach einem Super-GAU evakuieren?

Das scheint mir die falsche Frage. Ich möchte nicht wissen, wie es nach einem Super-GAU aussieht. Mein Ziel ist es, dass Mühleberg möglichst rasch vom Netz geht. Wir können sicher nicht sagen, wir nehmen Jodtabletten, sitzen an die Aare und hoffen, dass die Wolke wegzieht.

Der Bund hat keine Evakuierungspläne.

Wichtig sind nicht solche Pläne, sondern dass die gefährlichen AKW abgestellt werden.

Was sind Ihre Zukunftspläne für die Zeit des Ruhestands?

Ich möchte gern politisches Kabarett machen. Das fehlt völlig in diesem Land: aktuelles, zeitgenössisches politisches Kabarett.

Mit wem würden Sie auftreten?

Zum Beispiel mit Daniel Zuberbühler, dem Ex-Chef der Finma, er hat einen wunderbaren Humor. Es ist aber nicht so, dass ich jetzt auf der Suche nach einem Kleinkunstvertrag bin.

Wenn würden Sie als Erstes auf die Schippe nehmen?

Da muss ich wohl bei mir selber anfangen.

Bern hat kein gutes Sportjahr hinter sich. Erleben Sie als Stadtpräsident noch, das YB Meister wird?

Wenn ich wiedergewählt werde, sicher.

Ihr Favorit an der Euro?

Die Deutschen sind sehr stark. Aber mein Herz schlägt nach wie vor für Holland.

«Manchmal stehe ich gerne in der Öffentlichkeit, aber es gibt auch Momente, in denen ich am liebsten eine Perücke anziehen möchte»

«Ich kann Tram fahren, dann weiss ich nach zehn Minuten, wo der Schuh drückt»

Für die SP zum zweiten Mal im Nationalrat

Alexander Tschäppät wurde 1952 in Bern geboren. Er studierte Rechtswissenschaft, arbeitete dann als Fürsprecher und während fast 20 Jahren als Gerichtspräsident in der Schweizer Hauptstadt. Seit 2005 amtet Tschäppät, Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, SP, als Stadtpräsident in Bern. Im vergangenen Herbst wurde er für die SP zum zweiten Mal in den Nationalrat gewählt, nachdem er bereits von 1991 bis 2003 in der grossen Kammer sass. Alexander Tschäppät hat zwei erwachsene Söhne und wohnt mit seiner Lebenspartnerin in Bern.

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Lieber Reto Nause

Sie machen zurzeit einen arg unsicheren Eindruck als «Sicherheitsdirektor» der Stadt Bern. So heisst ihr Amt, weil «Polizei» nicht so gut tönt bei der Kundschaft, die sie auf Trab hält: Jugendliche, die nachts länger saufen wollen und für dieses Anliegen auf die Strasse gehen, bis zu zwanzig Tonnen Abfall auf den Boden schmeissen, das Bundeshaus verschmieren, wie letzte Samstagnacht geschehen. Unfassbar: Diese wütigen Nachtbuben wollen wirklich nur mehr Nachtleben! Glückliches Bern. In Spanien und in Griechenland gehen Gleichaltrige auf die Strasse, weil sie keine Zukunft haben – in Bern demonstriert die Jugend für längeres Terrassehöckle. Weiss die Berner Jugend eigentlich, wie viel Ärger noch auf sie zukommt, wirtschaftlich? Oder kann sie gerade deshalb nicht mehr schlafen? Was mich am meisten erstaunt ist die lasche Haltung der Stadtbehörden: Ihr Stadtpräsident Alexander Tschäppät hat schon angekündigt, man könne über Ausnahmen reden, zum Beispiel für den Vorplatz der – eh schon gesetzesfreien – Reithalle. Und die Reithalle hat gleich mit der Bierflasche gedroht: Nüüüt da, wir wollen Freinacht überall! Da in Bern nachts eh die Reithalle regiert, mache ich einen Vorschlag zur Güte: Sie vertreiben alle Bewohner, die Nachtruhe brauchen, in die Vorstädte und machen aus der Altstadt eine Festzone für die Jugend. Bern, tagsüber Beamtenzoo, nachts Disneyland für sorglose Kids. Ist doch ein super Zukunftsprojekt für die wirtschaftlich schwächelnde Hauptstadt.

Mit freundlichen Grüssen, Peter Rothenbühler

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bernerzeitung.ch 9.6.12
http://www.bernerzeitung.ch/region/bern/Die-Berner-Reitschule-ruft--und-fast-niemand-kommt/story/26040146

Die Berner Reitschule ruft - und fast niemand kommt

Die Berner Reitschule hat am Samstag erneut zur Eroberung des städtischen Raums aufgerufen. Doch diesmal folgten dem wieder via Facebook lancierten Ruf anders als vor einer Woche, als Tausende durch die Innenstadt zogen, nur ganz wenig Leute.

Etwa fünfzehn Personen fanden sich am früheren Samstagabend auf dem Bundesplatz ein, um dort miteinander zu essen. «Play the Street Life» lautete der Titel der Aktion, die noch dreimal wiederholt werden soll. Das Spiel besteht darin, den öffentlichen Raum in Bern nacheinander zu einer Küche, einem Wohnzimmer, dem Badezimmer und dem Schlafzimmer zu machen.

Am Samstag war die Küche dran und deshalb rief das alternative Kulturzentrum dazu auf, Töpfe, Tische usw. mitzubringen. Mehrere Reitschulaktivisten setzten sich um einen festlich gedeckten Tisch.

Schwer einzuschätzen wieviele Leute kommen

Eine Reitschul-Aktivistin räumte vor Ort auf Anfrage der Nachrichtenagentur sda ein, dass sie mehr Leute erwartet habe, ein anderer sagte, das Echo auf Facebook-Aufrufe sei jeweils schwer einzuschätzen.

Die Aktion sei als Fortsetzung der Tanzparade vom vergangenen Samstag zu verstehen, sagte die Aktivistin. «Bern wird uns nicht los», hiess es im Aufruf zur Aktion «gegen repressive Reglementierungen des städtischen Lebens».

(aw)

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20min.ch 9.6.12
http://www.20min.ch/schweiz/bern/story/Berner-Jugend-pfeift-auf-neue-Openair-Party-31807408

War es das schon?

Berner Jugend pfeift auf neue Openair-PartyBerner Jugend pfeift auf neue Openair-Party

Was für eine Ernüchterung für die Organisatoren der Reitschule. Vor einer Woche mobilisierte ihr Aufruf zur Eroberung der Hauptstadt noch über 10'000 Junge - heute kam bloss ein gutes Dutzend.

Die Berner Reitschule hat am Samstag erneut zur Eroberung des städtischen Raums aufgerufen. Doch diesmal folgten dem wieder via Facebook lancierten Ruf anders als vor einer Woche, als Tausende durch die Innenstadt zogen, nur ganz wenig Leute.

Etwa fünfzehn Personen fanden sich am früheren Samstagabend auf dem Bundesplatz ein, um dort miteinander zu essen. «Play the Street Life» lautete der Titel der Aktion, die noch dreimal wiederholt werden soll. Das Spiel besteht darin, den öffentlichen Raum in Bern nacheinander zu einer Küche, einem Wohnzimmer, dem Badezimmer und dem Schlafzimmer zu machen.

«Bern wird uns nicht los»

Am Samstag war die Küche dran und deshalb rief das alternative Kulturzentrum dazu auf, Töpfe, Tische usw. mitzubringen. Mehrere Reitschulaktivisten setzten sich um einen festlich gedeckten Tisch.

Eine Reitschul-Aktivistin räumte vor Ort auf Anfrage der Nachrichtenagentur SDA ein, dass sie mehr Leute erwartet habe, ein anderer sagte, das Echo auf Facebook-Aufrufe sei jeweils schwer einzuschätzen.

Die Aktion sei als Fortsetzung der Tanzparade vom vergangenen Samstag zu verstehen, sagte die Aktivistin. «Bern wird uns nicht los», hiess es im Aufruf zur Aktion «gegen repressive Reglementierungen des städtischen Lebens».

(sda)

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Langenthaler Tagblatt 9.6.12

Gastbeitrag zur Tanzdemo vom vergangenen Wochenende

Das Berner Jugendfest, Ausgabe 2012

Bernhard Giger*

Zu Tausenden zogen die Teens und Twens am frühen Abend vom Bahnhof her das Bollwerk hinunter vor die Reitschule, als gingen sie an ein Open Air oder zum Fussballspiel ins Stadion. Und eine Mischung aus Volksfest, Pubfestival, Strassentheater und Demonstration war das denn auch, was in Berns Innenstadt am vergangenen Samstag eine laute Nacht lang abgegangen ist.

«Tanz dich frei» – dies die Botschaft der Kundgebung. Um ein Stück persönliche Freiheit ging es also, und – vor dem aktuellen Hintergrund der Debatten und Konflikte um das Berner Nachtleben – um kollektiv genutzte Freiräume. Das war der wohl grösste gemeinsame Nenner, der die schlussendlich gut 15000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tanzdemo zusammengebracht hat. Sonst hielten sich die Gemeinsamkeiten in Grenzen. Partytime und Kampftrinken war für die einen angesagt, die Wiedereroberung der Strasse suchten die anderen. Der einsame Vermummte, der an der Spitalgasse mit einem Wachsstift zornig Schaufenster zerkritzelte, stammt aus einer völlig anderen Welt als die drei jungen Frauen, die auf dem Bundesplatz vor einem iPad kauerten und sich die ersten über Facebook verbreiteten Filmchen des Fests ansahen, das um sie herum in vollem Gang war. Die meisten werden auch die Anspielung auf dem Transparent nicht verstanden haben, das vom Dach des Baldachins am Bahnhof hing: «Bewegung 2. Juni» stand darauf. So nannte sich in den 70er-Jahren in der Bundesrepublik Deutschland eine terroristische Gruppe im Umfeld der RAF, der Roten Armee Fraktion.

War das, was sich in Bern ereignete, nun politisch oder nicht? Darüber rätseln seit Tagen Medien und Politik, Stadtpräsidenten und kichernde Politologen, alt Aktivisten der 68er- und der 80er-Bewegung – eigentlich fast alle ausser denen, um die sich alles dreht, die Jungen selber. «Wenn Sie das nicht politisch finden, dann übersetzen Sie es doch in ihre politische Sprache», sagte am Dienstag im Club auf SF1 der Churer Student Hannes Barfuss zu Berns Stadtpräsident Alexander Tschäppät.

Keine Frage, was in Bern passierte, und was die 15000 bewegte, dabei mitzumachen, ist zutiefst politisch. In der Nachtleben-Diskussion prallen die verschiedensten Anliegen und Interessen aufeinander – Reitschule, private Clubs, Wohnzonen mit Mieten, die zum Teil deutlich über dem städtischen Durchschnitt liegen. Aber wo und wie die Auseinandersetzungen auch stattfinden, immer drehen sie sich zentral um Fragen der Nutzung eines öffentlichen Raums, den viele als überreglementiert und deshalb als nicht mehr öffentlichen, sondern verbotenen Raum empfinden.

Die Diskussion betrifft aber auch ganz generell unser Ausgehverhalten. Wochenende für Wochenende strömen bis zu 10000 mehrheitlich jugendliche und junge Menschen aus der Agglomeration oder der weiteren Region in die Stadt. Sie wollen sich vergnügen und verzetteln und dann wieder gehen. Die Infrastruktur für ihr Vergnügen stellen die Stadt und in der Stadt ansässige Einrichtungen bereit. Die 15000 vom letzten Samstag, die von überall herkamen, aus der Stadt, der Agglo, dem Kanton, der ganzen Schweiz, haben es eindrücklich belegt: Das Nachtleben ist keine bloss städtische Angelegenheit, da ist, wie beim Verkehr und der Raumplanung, die ganze Region gefordert.

Im Westschweizer Fernsehen lief diese Woche «Woodstock», der Film über das legendäre Festival von 1969. Einmal tritt der Farmer auf die Bühne, der das Gelände für den Grossanlass zur Verfügung gestellt hatte. Die 500000, die gekommen seien, um drei Tage in Frieden zusammen Musik zu hören, sagt der Mann ins Mikrofon, würden als Zeichen in die Welt gehen. Woodstock wurde zum Synonym für die Hoffnung einer ganzen Generation. Kein Mensch fragte damals, ob das politisch sei.

*Bernhard Giger ist Journalist und Filmemacher in Bern und leitet das Berner Kornhausforum.

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Regional-Diagonal DRS1 9.6.12

Jugendproteste – fast wie in den 80er Jahren


Zürcher Jugendproteste der 80er-Jahre (Keystone)

In Bern, Basel und Chur gehen Jugendliche auf die Strasse und fordern mehr Freiraum. In Zürich liegen die Proteste schon einige Monate zurück, dort wird jetzt mit einer neuen Partystrategie der Unmut besänftigt.

Wie tönt das in den Ohren einer Frau, die in den 80er Jahren selber protestiert hat. Patrizia Loggia erinnert sich, sieht Parallelen und Unterschiede. Im Gespräch mit Regional-Diagonal schätzt sie die Lage ein.

 
Junge fordern mehr Freiraum

In Bern, Basel und Chur gehen Jugendliche auf die Strasse, machen Party und fordern mehr Freiraum für sich. Die Behörden versuchen nun, unbürokratisch entgegen zu kommen. Dabei schauen sie Richtung Zürich. Da liegen die Proteste schon einige Monate zurück, mit einer neuen Partystrategie versuchte die Stadt hier, die Wogen zu glätten.
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Patrizia Loggia blickt zurück

Wenn Junge wieder auf die Strasse gehen, stellt sich die Frage, wie das in den Ohren einer Frau tönt, die in den 80er Jahren selber bei den Unruhen in Zürich protestiert hat. Patrizia Loggia erinnert sich, sieht Parallelen und Unterschiede. Im Gespräch mit Regional-Diagonal schätzt sie die Lage ein.
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Bund 9.6.12

Kurz frottiert

Mehr Courage, Herr Präsident!

Es gab mal eine Zeit, da wurden dringende Probleme in der Stadt Bern zur Chefsache erklärt. So hatte der Vorgänger des aktuellen Stadtoberhauptes einst die Verantwortung für den Kampf gegen die offene Drogenszene übernommen. Der Akt hatte eher symbolischen Charakter. Aber damit signalisierte der Chef: «Obacht, jetzt passiert etwas. Und ich stehe dafür gerade.»

Sein Nachfolger hat es nicht so mit der Symbolik. Er hält sich lieber an die Kompetenzregelung. Und die besagt, dass die Konflikte um den Vorplatz der Reitschule und das Nachtleben das Gastgewerbe betreffen, das zum Aufgabenkreis des Sicherheitsdirektors gehört. So hat der Amtsinhaber im Erlacherhof nach der ersten Tanzdemo von Mitte Mai (3000 Teilnehmende) geschwiegen. Das Erstaunen war gross, als die Stadt eine Woche später eine Medienmitteilung zum Thema versandte, auf der aber plötzlich nicht mehr der Sicherheitsdirektor, sondern der Stadtpräsident als Auskunftsperson angegeben war. Ist das Thema nun doch noch zur Chefsache geworden? - Mitnichten. Das Timing der ersten Wortmeldung war gut gewählt: Kurz zuvor hatte der Regierungsstatthalter nämlich Fehler bei der Kommunikation der Zwangsmassnahmen eingeräumt. Der Schwarze Peter für das Verwirrspiel um die geltenden Regeln war somit vergeben, das Risiko der präsidialen Wortmeldung gleich null. In der Folge trat das Stadtoberhaupt jedoch wieder diskret in den Hintergrund - bis am Tag nach der zweiten Tanzdemo vor einer Woche (10 000 Teilnehmende). Nun tat sich tatsächlich etwas, und der Stadtpräsident gab bekannt, dass Sonderregeln für den Vorplatz der Reitschule prüfenswert seien. Zudem wolle er persönlich einen runden Tisch zum Thema Nachtleben einberufen. Spätestens jetzt schien es klar zu sein, dass das Thema zur Chefsache geworden ist - was es aber nur für wenige Stunden geblieben ist. Denn am Abend desselben Tages hagelte es im Stadtparlament Schelte für die avisierten Sonderregeln. Dabei überliess der Stadtpräsident seine Verteidigung dem Sicherheitsdirektor. Stumm blieb er sitzen, während dieser für ihn sprach.

Der Konflikt um den Vorplatz der Reitschule und das Nachtleben wird immer erst dann zur Chefsache, wenn der Schwarze Peter verteilt ist oder wenn es etwas zu verkünden gibt. In einem Wahljahr darf man von einem Politiker wohl keine Heldentaten verlangen. Aber dem Präsident der Hauptstadt würde etwas mehr Courage eigentlich gut anstehen.

Bernhard Ott

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BZ 9.6.12

BernBabyBurn

Zwei Seelen, ach!

Sarah Pfäffli

Es gibt einen Song mit dem schönen Titel: «Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein.» Ja, das möchte ich. Ich wäre wirklich gern sehr bewegt und überzeugt von diesen Partyprotesten. Nicht weil ich glaube, dass Bern ein zu kleines Nachtleben hat. Genug Angebote gibt es – einfach nicht genug gute. Aber ich wünschte mir, die Berner würden begreifen, dass das Nachtleben ein zentraler Attraktivitätsfaktor einer Stadt ist, kein unerwünschter Nebeneffekt. Dass sie eine Vorstellung davon entwickeln, wie die Stadt es fördern – und damit steuern – kann, statt stets bloss Scherben zusammenzuwischen. Und ich meine nicht nur Tschäppät, Lerch, Müller. Sondern sehr viele Berner ab etwa dreissig, die vor allem darum besorgt sind, dass sie am Morgen wieder früh aus dem Bett müssen. Das wünsche ich mir schon lange, und deshalb hätte ich die Tanzparty vor einer Woche super finden müssen. Doch dann stand ich auf dem Bundesplatz, neben einer Gruppe besoffener Glatzköpfe, die das T-Shirt ausgezogen hatten, ans Bundeshaus pinkelten und alles Hammer fanden. Und ich war mir nicht so sicher, ob wir die gleiche Vorstellung haben von gutem Ausgang. Dann begriff ich: Ich denke wie die! – Die, die nur die negativen Nebenerscheinungen sehen. Und nicht das Wesentliche. Oh, ich wollte, ich könnte Teil einer Jugendbewegung sein.

Sarah Pfäffli (29, bernbabyburn@gmail.com) und Fabian Sommer schreiben hier abwechslungsweise, wos in ihrer Stadt echt brennt. Sie aus Bern, er aus Biel.

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BZ 9.6.12

Lösung für Freiluft-Partys?

Nachtleben Seit rund sechs Wochen besteht in Zürich eine neue Regelung für Partys im Freien. Neu können Jugendliche sogenannte Jugendbewilligungen beantragen, um auf öffentlichem Grund legal ein Fest zu feiern. Um eine Bewilligung zu erhalten, müssen die Organisatoren diverse Kriterien erfüllen, beispielsweise das selbstständige Entsorgen der Abfälle. Der Berner Gemeinderat zieht nun in Erwägung, ein solches oder ähnliches Konzept für Bern zu prüfen. Das Pilotprojekt in Zürich ist gut gestartet. Gemäss dem Polizeidepartement der Stadt Zürich gingen elf solche Anfragen ein. Sieben dieser Anträge wurden bewilligt, zwei werden zurzeit noch überprüft. Zwei wurden abgelehnt, da sie die Kriterien nicht erfüllten.stoSeite 3

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Die Idee «Jugendbewilligung» ist in Zürich gut gestartet

Nachtleben · Seit April können in Zürich Jugendbewilligungen beantragt werden, um eine Party im öffentlichen Raum legal zu veranstalten. Die Stadt Zürich hat bis anhin positive Erfahrungen damit gemacht. Der Gemeinderat prüft, ob in Bern ein Konzept in ähnlichem Format gelten könnte.

Jugendliche demonstrieren nicht nur in Bern für mehr Rechte und ein breiteres Angebot im Nachtleben. Auch in anderen Städten kommt es zu Phänomenen wie jenen der nächtlichen Partys. Der Berner Gemeinderat will nun vereinfachte Bewilligungen für Outdoor-Partys prüfen (siehe gestrige Ausgabe). Zürichs Regelung könnte als Beispiel für Bern dienen. Die Zürcher Regierung hat Anfang April die sogenannte Jugendbewilligung für Anlässe im Freien eingeführt. Sie kann von Zürcher Jugendlichen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren für Festanlässe beantragt werden. Damit werde der Forderung der Jungen Rechnung getragen, mehr Freiraum für (nicht kommerzielle) Feste zu haben. Das Pilotprojekt ist bis anhin gut gestartet, das Polizeidepartement der Stadt Zürich hat seit der Lancierung vor sechs Wochen nach eigenen Angaben durchs Band «positive Erfahrungen» gesammelt.

Positive Reaktionen

Hintergrund der Jugendbewilligung sind vermehrte Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und feiernden Jugendlichen in Zürich in den letzten Jahren. Letzten Herbst spitzte sich die Lage zu: Einmal eskalierte eine Outdoor-Party beim Bellevue, ein andermal kam es beim Central zu grösseren Auseinandersetzungen zwischen Polizei und jugendlichen Partygängern. Die Stadt reagierte vor rund sechs Wochen mit der Einführung der Jugendbewilligung.

Elf Gesuche, sieben Bewilligungen

Laut Alexandra Heeb, der Delegierten für Quartiersicherheit des Polizeidepartements Zürich, ist die Pilotphase des Projekts sehr gut gestartet: «Wir haben bis anhin elf konkrete Gesuche und einige lose Anfragen erhalten.» Nach sechs Wochen handle es sich jedoch nur um erste Erfahrungen, sagt Heeb. Von den elf Gesuchen wurden sieben bewilligt und zwei abgelehnt, weitere zwei sind noch in Bearbeitung. «Eines der Gesuche, die abgelehnt wurden, kam von der Juso. Sie wollten ihr Fest mitten in der Stadt feiern. Das ging natürlich nicht. Das andere wurde von einem Veranstalter gestellt, der sich nicht an die Auflagen gehalten hat und eine kommerzielle Party durchführen wollte», informiert Heeb. Eingereicht wurden die Anträge bis jetzt primär von Leuten, die die Partys sonst wohl illegal durchgeführt hätten. Vier der sieben bewilligten Feste fanden bereits statt: «Die Jugendlichen haben nach den Festen immer gut aufgeräumt und sich an die Regeln gehalten.» Die anderen drei Outdoor-Partys wurden wegen schlechten Wetters verschoben. Um eine Bewilligung zu erhalten, müssen die jungen Organisatoren in Zürich diverse Regeln einhalten. Beispielsweise muss der Organisator den Behörden bekannt sein. Die Partys dürfen nicht kommerziell sein, es dürfen maximal 400 Personen am Fest teilnehmen, der Abfall muss selbst weggeräumt werden, und übermässige Lärmemission müssen vermieden werden. Auch darf nicht über eine Social-Media-Plattform wie etwa Facebook für den Event geworben werden.

Anna Storz

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Le Temps 9.6.12

Le débat politique qui pointe sous l’hédonisme alémanique
Les soirées en plein air, antidotes à la cherté, font des milliers d’adeptes dans les villes alémaniques

Anne Fournier zurich

> Les soirées en plein air, antidotes à la cherté, font des milliers d’adeptes dans les villes outre-Sarine

Quel poids politique cachait ce rassemblement? Est-ce l’expression d’une jeunesse gâtée, protégée des crises auxquelles sont confrontées ses voisines européennes? Les soirées suisses se voudraient-elles de plus en plus «méditerranéennes»? Depuis samedi dernier, les nuits des grandes villes alémaniques inspirent politiciens, sociologues, psychologues, voire historiens. D’ailleurs, faut-il parler de «party», de «happening» ou de «manifestation»?

Le 2   juin, 15   000 jeunes, mobilisés essentiellement via Facebook par le collectif «Tanz dich frei» (Danse en liberté) ont valsé dans les rues de Berne jusqu’au petit matin. Déjà entendu au printemps 2011, cet appel à la danse réunissait alors quelques centaines de jeunes. Cette fois-ci, la mobilisation a pris une ampleur sans précédent: on est venu, parfois de loin, on a dansé, on est reparti. Tout s’est fait sans confrontation majeure avec les forces de l’ordre.

«Cela montre que l’on ne peut rien interdire. Que l’énergie est là. Celle de samedi fut très positive», argumente Thomas Berger, jeune libéral-radical, président de l’Asso­ciation «Nachtleben Bern» (Vie nocturne Berne). Dans la capitale, la vie nocturne constitue un sujet politique. Des fermetures ont été dictées suite à des plaintes de particuliers visant plusieurs bars ou clubs – comme le Sous-sol – et des restrictions de commerce imposées au centre alternatif de la Reitschule. Thomas Berger continue: «Nous sommes heureux que la Ville réagisse dorénavant, nous convie à des tables rondes.»

Le climat pacifique n’est pas une évidence. Le même soir, à Bâle cette fois-ci, un millier de fêtards ont répondu avec des jets de pierres à la police venue les déloger d’un squat. L’automne dernier, à Zurich, le rassemblement sur la place Bellevue de milliers de jeunes avait entraîné des rencontres musclées avec les forces de l’ordre, de lourds dégâts et une centaine d’arrestations. Parmi les arguments des organisateurs figuraient la cherté de la Zurich nocturne et le manque d’«espaces de liberté».

La portée d’un message politique laisse la plupart des commentateurs sceptiques. Peu se permettent un parallèle avec les révoltes du début des années 80, lorsque la jeunesse, notamment à Zurich, réclamait plus d’espaces de création. N’empêche, soulignait jeudi dans le Tages-Anzeiger Sarah Rüegger, 26   ans, «beaucoup parmi ceux qui ont dansé à Berne, qui font la fête sous les ponts à Zurich ou qui squattent à Bâle, s’affichent contre une tendance du développement urbain, contre la mode du «riche-propre-tranquille».

Pour Richard Wolff, géographe, spécialiste de la vie urbaine et engagé lors des manifestations de «Zurich brûle», les méthodes de mobilisation ont changé avec l’anonymat qui accompagne les nouveaux médias. De plus, «en 1980 le mouvement, avant tout social, avait son écho à Berlin, à Amsterdam». Pourtant, estime-t-il, il ne faut pas sous-estimer les besoins exprimés. «Certes, samedi, la plupart sont venus à Berne pour faire la fête. Mais derrière, lorsqu’on réclame de l’espace, c’est quand même le signe d’une résistance politique.» Et puis, à Zurich, où l’offre de clubs abonde mais où les tarifs dépassent souvent les moyens, les soirées illégales font partie des mœurs.

Depuis les heurts de 2011, Zurich a entrepris de parler avec ses jeunes en lançant un débat via Facebook. Pionnière, elle a instauré un «permis pour soirées en plein air», sous conditions: tranche d’âge de 18 à 25   ans, pas plus de 400 participants, organisateur annoncé. En six semaines, dix demandes ont été formulées, sept autorisées. «Un des refus a été motivé par l’endroit choisi pour faire la fête en ville, un deuxième parce qu’il avait été annoncé de manière ouverte sur Facebook», explique Patrick Pons, du Département des écoles et du sport. «Dans l’ensemble, les organisateurs sont des habitués. Ils reconnaissent que cette méthode ­allège la pression.» Jeudi, Berne a annoncé tenter l’expérience d’un permis similaire. Du moins durant l’été.zurich

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20 Minuten 8.6.12

Tim & Puma Mimi: Auch offline wird fleissig getüftelt

BERN. Die kreativen Skype-Musiker Tim & Puma Mimi holen Töne aus Gemüse raus. Morgen taufen sie ihr Album.

Die Presse ist ausser sich vor Freude über das Album, das morgen im Rössli der Reitschule getauft wird: «Einer der originellsten Schweizer Electro-Acts» sagt etwa DRS 3. «Weltklasse», schreibt die Baz, «ein stimmiges Gesamtwerk», meint die NZZ. Der «Tages-Anzeiger» widmet schliesslich eine ganze Seite unter dem Titel «Gurken Techno» – in Anspielung an den Song «I feel Gurk». Die Rede ist von der Platte des japanisch-schweizerischen, ehemaligen Skype-Duos Tim & Puma Mimi: «The Stone Collection of ...».

Weltweit bekannt wurde das Zweiergespann, weil es aus der Not eine Tugend machte: Während Sängerin Michiko Hanawa noch in Tokio wohnte und Produzent Christian Fischer in Zürich weilte, sang Hanawa bei Konzerten über Skype live mit.

Mittlerweile sind das Tempi passati und beide leben in der Schweiz. Doch trotz der räumlichen Nähe bleibt das Paar erfinderisch. So stammen etwa einige der Klänge von Gemüse, andere vom Hackbrett und weitere von tibetanischen Zimbeln. Das wird alles schön gefiltert, zerhäckselt und mit Beats unterlegt, so dass zum Schluss ein hörenswertes Stück Elektropop entsteht. Pedro Codes

Sa, 9.6., 21 Uhr, Tim & Puma Mimi – Plattentaufe, Rössli, Reitschule.

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20 Minuten 8.6.12

Reitschule

Forum eröffnet

Heute Freitag, 8. Juni, findet mit indischem Essen und Film um 19.30 Uhr die Eröffnung des Indien-Forums in der Grossen Halle der Reitschule statt. Bereits zum dritten Mal weist die interaktive Ausstellung auf soziale und ökonomische Ungleichheiten auf der Welt hin. Die Ausstellung ist von Montag bis Freitag von 16 bis 20 Uhr, am Samstag von 13 bis 18 Uhr geöffnet.pd

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kulturstattbern.derbund.ch 8.6.12

The Shit taufen ihre Dingleberries

Von Gisela Feuz am Freitag, den 8. Juni 2012, um 12:19 Uhr

Ladies and Gentlemen, das war THE SHIT gestern Abend im Rössli! Volle Hütte und wilde Verrenkungen auf dem Dancefloor. Genau so soll eine Plattentaufe über die Bühne gehen.

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Zwar konnte Gitarrist Mr. T alias Franz Hausammann nicht mit von der Partie sein,
weil er gemäss Sänger Robert Butler mit blauen, leistenbruch-geschwollenen Eiern (Danke für die Information) zu Hause liegen bleiben musste. Schrankgitarrist Christian Aregger erledigte seinen Job aber äusserst souverän. So souverän, dass er eigentlich ein richtig bedrucktes T-Shirt verdient hätte anstelle des Klebstreifen Ts.

«Dingleberry Fields Forever» heisst die Platte der Berner Garagenrock-Combo The Shit, welche gestern Abend getauft wurde und die ungemein Freude bereitet. Was Dingleberries sind? Fragen Sie nicht. Finden tut man sie in der Nähe von Hausamanns momentaner Problemzone, bloss einfach bei Kühen. Wie gesagt, fragen Sie nicht. Kaufen Sie sich besser das Album von The Shit, weil das ist richtig gut.

Falls Sie trotzdem mehr über Dingleberries wissen möchten oder wie es den Herren Shit bei den Album-Aufnahmen in der Rancho de la Luna in Kalifornien ergangen ist, können Sie hier ein Interview mit Sänger Robert Butler und Schlagzeuger Pit Lee auf RaBe 95,6 MHz nachhören, inklusive Songs von «Dingleberry Fields Forever», allerdings in Shit-Qualität.

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Bund 12.6.12

«Wir sind verdammt zum Dialog»

Sollen für den Vorplatz der Reitschule eigene Regeln gelten? Diese Frage entzweit die Stadtpolitiker. Was sie eint, ist die Hoffnung, dass ein runder Tisch Bewegung in die festgefahrene Nachtleben-Diskussion bringt.
Timo Kollbrunner

«Die Haltung des Gemeinderates ist klar», sagte Sicherheitsdirektor Reto Nause gestern vor den städtischen Parlamentariern. «Wir wollen die bestehende Rechtsordnung für alle Betriebe gleich anwenden.» Mit diesen Worten nahm Nause Stellung zu einem Vorstoss von Stadtrat Alexander Feuz (FDP). «Steht die Reithalle über dem Recht?», hatte er gefragt - und wollte wissen, wie sich der Gemeinderat zur Verfügung von Regierungsstatthalter Christoph Lerch stellt. Diese verlangt, dass die Reitschule jeden vom Vorplatz weisen muss, der dort nach 0:30 Uhr eines ihrer Getränke konsumiert. Der Gemeinderat hatte Feuz in seiner schriftlichen Antwort beschieden: Nein, die Reitschule stehe nicht über dem Recht. «Der Gemeinderat begrüsst und unterstützt das Vorgehen des Regierungsstatthalters im Sinne der Gleichberechtigung.» Und nun bekräftigte Nause diese Position noch einmal.

«Schutzgott der Reitschule»

Alles bestens also für Alexander Feuz? Mitnichten. Denn eigentlich wollte der gar keine Antwort von Reto Nause. Sondern von Stadtpräsident Alexander Tschäppät. Denn Feuz ist irritiert ob dessen Verhalten in dieser Woche, der Woche eins nach der Tanzdemo mit über 10 000 Teilnehmern. Warum? Tschäppät hat in den Medien angeregt, dass man über eine Lockerung der Polizeistunde auf dem Vorplatz nachdenken sollte. Es gelte, zu überlegen, ob der Vorplatz nicht ein Freiraum sei, der nach einer Andersbehandlung verlange («Bund» vom Mittwoch).

Was gilt nun? Andersbehandlung? Gleichbehandlung? Feuz hätte das gestern vom Stadtpräsidenten persönlich wissen wollen - und gab sich Mühe, diesen aus der Reserve zu locken. Feuz warf Tschäppät vor, er sende mit seinen Äusserungen in den Medien widersprüchliche Signale aus, er mache eine «Pirouette», ja, er falle dem Gemeinderat in den Rücken. «Auf Druck der Strasse» ziehe er nun plötzlich eine Lockerung der Regeln in Betracht. «Es kann nicht sein, dass der Stapi als Schutzgott der Reitschule auftritt.»

Nause verteidigt Tschäppät

Der angegriffene Stadtpräsident sagte zu all dem - nichts. Stumm blieb er sitzen, während Nause für ihn sprach. Wenn der Stadtpräsident der Meinung sei, dass man andere Regeln für den Vorplatz in Betracht ziehen müsse, «dann ist das eine Diskussion, die er anstossen darf», sagte der CVP-Gemeinderat.

«Schwierig bis nicht umsetzbar»

Feuz griff nicht nur den Stadtpräsidenten, sondern auch dessen Partei - die SP - an. Diese übe offen Druck aus auf den Regierungsstatthalter, der selbst SP-Mitglied ist, damit der die Reitschule anders behandle als alle anderen Betrieben. «Wir setzen den Regierungsstatthalter nicht unter Druck», entgegnete die SP-Fraktionspräsidentin Annette Lehmann. Und die «zum Teil primitive Kritik» am Regierungsstatthalter verurteile die Partei. Lehmann sagte aber auch klar, dass die SP die Massnahmen des Genossen Lerch «als schwierig bis nicht umsetzbar» betrachte.

Dann sagte Lehmann: Dank der nun losgetretenen Diskussion werde jetzt wenigstens allmählich erkannt, dass die Reitschule einer der wenigen Orte sei, der jene Freiräume längst biete, die von den Jungen gefordert würden. Mit diesem Votum war die Debatte auf den Vorplatz selbst gelenkt. Dieser sei «einer der wenigen öffentlichen Räume in der Stadt, an denen man sich treffen kann, ohne zu konsumieren», sagte Lea Bill für die GB/JA-Fraktion. Mit der Verfügung von Lerch werde dieser Freiraum «zerstört». Ganz anders sah dies das bürgerliche Lager. «Es kann nicht sein, dass ein subventionierter Betrieb Ausnahmen bekommt», sagte Alexander Feuz und bekam dabei - wenig überraschend - Unterstützung von SVP-Fraktionschef Roland Jakob.

Der Anfang nach dem Aufschrei

Später am Abend wurde aus der Debatte um den Vorplatz dann eine richtig grundsätzliche Diskussion über das Nachtleben in der Hauptstadt. Denn endlich wurde ein interfraktioneller Vorstoss von Manuel C. Widmer (GFL) und sechs weiteren Stadträten diskutiert, der wieder und wieder verschoben worden war. «Lässt der Gemeinderat das Berner Nachtleben einfach vor die Hunde gehen?», hatten die Stadträte wissen wollen - im August vergangenen Jahres notabene. Damals gaben die Zukunft des Wasserwerks und des - mittlerweile geschlossenen - Sous-Soul mehr zu reden als der Reitschule-Vorplatz oder tanzende Tausendschaften. Gestern aber standen die Voten ganz unter dem Eindruck der Massen vom Wochenende. Dass am Samstag 10 000 auf die Strasse gegangen seien, das sei ein «Aufschrei» gewesen, sagte Widmer. Dieser sei wohl nötig gewesen, dass in Bern nun endlich etwas geschehe. Der runde Tisch, den der Gemeinderat vorsehe (siehe Text unten), sei zumindest ein Anfang.

In diese Einschätzung stimmten in der Folge alle Nachredner ein. «Der runde Tisch kann ein Anfang sein», sagte Simon Glauser (SVP) etwas zurückhaltender. Bernhard Eicher (FDP) sprach von einem «Scheideweg». Entweder gehe es weiter mit Protestveranstaltungen und Verunglimpfungen auf Facebook, «oder wir reissen uns jetzt zusammen». Der runde Tisch könne da ein Mittel sein. Und auch Patrizia Mordini (SP) sagte: «Wir begrüssen sehr, dass dieser runde Tisch einberufen wird. Ich bin zuversichtlich, dass jetzt endlich etwas geht.» Sicherheitsdirektor Nause stellte eine «offene, unvoreingenommene Diskussion mit allen Beteiligten» in Aussicht. Anders gehe es nicht. «Wir sind verdammt zum Dialog.»

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Nachtleben und Freiräume
Tiefere Hürden für Tanzdemos und Hilfe für Clubgründer

Der Berner Gemeinderat legt seine Karten auf den Tisch: Eine Vielzahl von Massnahmen soll den Nachtleben-Konflikt entschärfen.

Der Gemeinderat reagiert auf den Druck der Strasse: Nachdem am Samstag über zehntausend Personen für Nachtleben, Freiräume und «Recht auf Party» durch die Innenstadt zogen, befasste sich die Stadtberner Regierung am Mittwoch mit den Protesten. Gestern nun skizzierte sie ein Massnahmenpaket, das die Konflikte entschärfen soll und sowohl harte als auch weiche Eingriffe umfasst. Inwiefern diese ins Nachtleben-Konzept einfliessen werden, dessen Abschluss der Gemeinderat für Spätsommer erwartet, steht noch nicht fest.

Folgende Massnahmen skizziert der Gemeinderat:

Erleichterte Bewilligungen für Spontandemos: Der Gemeinderat erwägt, ein erleichtertes Bewilligungsverfahren für Spontandemos und Strassenpartys einzuführen. Er will damit eine Grundlage schaffen, um in den Sommermonaten eine bestimmte Anzahl von Outdoor-Anlässen kurzfristig und unkompliziert zu ermöglichen. Damit wolle er dem Bedürfnis der Jugend nach Freiräumen für eigene, nicht kommerzielle Aktivitäten Rechnung tragen, schreibt der Gemeinderat. «Gewisse Auflagen, gerade in Bezug auf den Abfall, müssen nach wie vor eingehalten werden.»

Raumplanerische Massnahmen: Weiter soll nach dem Willen des Gemeinderates Wohnen und Ausgehen in der Altstadt stärker voneinander getrennt werden. Konkret: Die obere Altstadt würde wohl zur Ausgehzone, die untere zur Wohnzone. Diese Idee ist bei Nachtleben-Aktivisten nicht unumstritten: Viele befürchten durch eine örtliche Trennung von Wohnen und Ausgehen eine Ghettoisierung des Nachtlebens.

Mediation: Der Gemeinderat will zudem künftig bei Konflikten zwischen Anwohnern und Clubbetreibern als Mediator auftreten. Konkret sollen Strukturen geschaffen werden, um Brennpunkte frühzeitig zu erkennen und anzugehen.

Unterstützung für Clubgründer: Teil des Massnahmenpakets ist auch die Idee, dass die Stadtverwaltung Personen, die in Bern einen Club oder eine Bar eröffnen wollen, künftig bei der Suche nach geeigneten Lokalen hilft.

Dialog mit «Pro Nachtleben»: Zugleich verweist der Gemeinderat darauf, dass er sich weiterhin im Dialog mit dem Verein Pro Nachtleben befinde. Seit März hätten zwei konstruktive Sitzungen stattgefunden, schreibt die Stadtregierung. Dabei seien einerseits rechtliche Grundlagen geklärt worden, andererseits hätten Behörden und Aktivisten verschiedene Lösungen diskutiert, «die zu einem lebendigeren Nachtleben in der Stadt beitragen könnten».

Runder Tisch: Ausserdem soll ein runder Tisch zum Nachtleben einberufen werden. Die Leitung liegt bei Stadtpräsident Alexander Tschäppät (SP). (len)

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BZ 8.6.12

Bern prüft vereinfachte Bewilligung

Nachtleben · Der Gemeinderat legt erste Ideen vor, die in das Nachtlebenkonzept einfliessen könnten: vereinfachte Bewilligungen für Partys ähnlich wie in Zürich sowie Unterstützung für Clubbetreiber.

Im Frühherbst will der Gemeinderat ein Nachtlebenkonzept für die Stadt vorlegen. Eine halbe Woche nach «Tanz dich Frei 2.0» mit mehr als 10 000 Teilnehmern hat er nun erste Ideen präsentiert, die in das Konzept einfliessen könnten. Mit einem vereinfachten Bewilligungsverfahren etwa will der Gemeinderat den Dialog zwischen Veranstaltern und Behörden etablieren. «Es ist offenbar ein Bedürfnis der Jugend, im öffentlichen Raum Party zu machen», sagt Sicherheitsdirektor Reto Nause. Der Gemeinderat will auch Unterstützung bei der Suche nach Standorten für Clubs anbieten. Auch der Stadtrat diskutierte gestern Abend engagiert über das Nachtleben und das Vorgehen des Gemeinderats. GFL-Vertreter Manuel C. Widmer (GFL) meinte, besser, als darüber zu reden, wäre es, der Jugend zuzuhören.rah/tob/wrs Seite 2 + 3

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Nachtleben -  Konzept

Gemeinderat will vereinfachte Bewilligungen für Partys

Nach der Tanzparade vom letzten Samstag will der Gemeinderat ein vereinfachtes Bewilligungsverfahren für derartige Anlässe prüfen. Ähnlich wie die «Jugendbewilligung» in Zürich. Weiter will der Gemeinderat Interessierte auf ihrer Suche nach einem geeigneten Standort für einen Club oder eine Bar unterstützen.

Beim Rückblick auf die Tanzparade am Samstag dürfe man eines nicht vergessen: «Wir hatten grosses Glück, dass nichts Schlimmeres passiert ist», betont der Berner Sicherheitsdirektor Reto Nause (CVP). Zwölf Personen mussten von der Sanitätspolizei behandelt werden, sechs wurden sogar hospitalisiert. Der Event sei unberechenbar gewesen, und diese Unberechenbarkeit berge grosse Risiken, so Nause. «Wer einen solchen Event veranstaltet, kann die Unberechenbarkeit drastisch senken, wenn er den Dialog mit den Behörden sucht.» Mit einem vereinfachten Bewilligungsverfahren möchte der Gemeinderat künftig den Dialog zwischen Veranstaltern und Behörden etablieren. «Es ist offenbar ein Bedürfnis der Jugend, im öffentlichen Raum Party zu machen», sagt Nause. Der Gemeinderat will prüfen, ob er während der warmen Monate eine bestimmte Anzahl von Outdooranlässen in der Stadt kurzfristig und auf unkompliziertem Weg ermöglichen kann. Der Sicherheitsdirektor kann sich zum Beispiel ein Open-Air-Konzert auf der Schützenmatte vorstellen. «Gewisse Auflagen, gerade in Bezug auf den Abfall, müssen nach wie vor eingehalten werden», betont Nause. Inhaltlich verfolgt das Berner Modell mit dem vereinfachten Bewilligungsverfahren dasselbe Ziel wie die Zürcher «Jugendbewilligung», welche vor zwei Monaten eingeführt wurde. Die Details der Berner Variante sind aber noch offen.

Hilfe für neue Clubs und Bars

Die Arbeit am Nachtlebenkonzept käme gut voran, sagt der Gemeinderat (siehe Box). Ein Ansatz sieht vor, Interessierte bei der Suche nach geeigneten Lokalitäten für einen neuen Club oder eine Bar zu unterstützen. Ähnlich wie ein «gewöhnliches» Unternehmen, das bei seiner Suche nach einem Standort in Bern vom Wirtschaftsamt unterstützt wird, erklärt Nause. «Es ist allerdings nicht so, dass interessierte Clubbetreiber bei mir Schlange stehen», so der Sicherheitsdirektor.

Ralph Heiniger

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Zwischenbilanz

Dialog, Raumplanung und ein runder Tisch

In einer Medienmitteilung zog der Berner Gemeinderat gestern eine positive Zwischenbilanz zur Arbeit am Nachtlebenkonzept. Seit März haben zwei konstruktive Sitzungen mit dem Verein «Pro Nachtleben Bern» stattgefunden, heisst es in der Mitteilung. Dabei wurden einerseits die rechtlichen Grundlagen geklärt und andererseits verschiedene Lösungsansätze diskutiert, die zu einem lebendigeren Nachtleben beitragen könnten.

Raumplanerische Abklärungen: Der Gemeinderat prüft, welche Möglichkeiten bestehen, um Wohnen und Ausgang örtlich stärker voneinander zu trennen. Der Gemeinderat fasst dabei eine unterschiedliche Behandlung der oberen und der unteren Altstadt ins Auge. Um die Bauordnung zu ändern, bräuchte es jedoch eine Volksabstimmung.

Vermittlung bei Konflikten: Die Stadt will Strukturen aufbauen, damit Konflikte zwischen Anwohnenden und Clubbetreibern frühzeitig erkannt und angegangen werden können.

Wie Alexander Tschäppät (SP) bereits sagte, hat der Gemeinderat in beschlossen, einen runden Tisch mit allen Interessierten einzuberufen (wir berichteten). Es sei aber nicht zu erwarten, dass so eine einfache Lösung gefunden werden kann, warnte der Stadtpräsident. Ziel sei es, bis im Spätsommer ein breit abgestütztes Konzept vorzulegen.pd/rah

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«Hören wir doch lieber mal der Jugend zu»

Der Stadtrat hat gestern ebenfalls über die Nachtlebenpolitik des Berner Gemeinderats diskutiert. Es gab Kritik, aber auch einiges Verständnis.

«Die Strassenparty war nötig, damit der Gemeinderat endlich übers Nachtleben spricht», sagte Manuel Widmer (GFL). Er fügte an: «Lieber spät als nie.» Doch Widmer betonte: «Hören wir doch lieber der Jugend zu. Das ist besser, als darüber zu reden.» Für die FDP forderte Bernhard Eicher, den gegenseitigen Respekt aufrechtzuerhalten: «Die Verbalattacken gegen Statthalter Christoph Lerch und nun auch gegen Stadtpräsident Alexander Tschäppät sind unter der Gürtellinie.» Seit mehreren Jahren würden die Gastrobetriebe durch kantonale Gesetze eingeschränkt, sagte Eicher. Er erwähnte das Rauchverbot und die restriktive Lärmgesetzgebung. «Die Stadt sollte selber bestimmen können, was für Regeln für ihre Gastrobetriebe gelten.»

«Ein Abwürgen der Clubs»

«Klar muss der Regierungsstatthalter auch dem Bedürfnis nach Nachtruhe gerecht werden», sagte Patrizia Mordini (SP). «Doch auch er hat beim Durchsetzen der Gesetze einen Ermessensspielraum.» Die Schliessung des Sous-Soul und die Verfügung gegen die Reitschule hätten in Bern viel ausgelöst, sagte Martin Schneider (Fraktion BDP/CVP). «Von einem Clubsterben können wir zwar nicht reden. Aber von einem Abwürgen der Clubs», sagte er. Es sei nicht Aufgabe des Gemeinderats, das Nachtleben zu organisieren. «Aber er muss gute Rahmenbedingungen schaffen.» «Der Gemeinderat hat sich des Themas früh und ernsthaft angenommen», entgegnete Sicherheitsdirektor Reto Nause (CVP). Der Gemeinderat wolle ein stark belebtes Unesco-Weltkulturerbe. Dazu gehörten die Bereiche Ausgang, Gastro, Hotellerie und Wohnen. «Wir sind offen für einen Dialog mit allen Gruppen», sagte Nause und rief den Stadträten zu: «Eure Anliegen zum Thema Nachtleben waren heute Abend ziemlich diffus. Ich warte nach wie vor auf konkrete Vorschläge.» Stadtpräsident Tschäppät äusserte sich im Stadtrat nicht zum Thema.

Reitschule war wieder Thema

Zum wiederholten Mal diskutierte der Stadtrat auch über die Reitschule. Der Grund zur dringlichen Debatte lag an einer Aussage von Tschäppät in der Berner Zeitung vom Dienstag. In einem Interview hatte Tschäppät gefordert, die Polizeistunde für die Bar auf dem Reitschule-Vorplatz nach hinten zu verschieben. Dies entgegen der Verfügung von Regierungsstatthalter Lerch (SP).

«Wer freundlich ist, nennt Tschäppäts Verhalten eine Pirouette», sagt Alexander Feuz (FDP). «Doch bös gesagt war es ein Rückenschuss gegen den Gemeinderat und gegen den Statthalter.» Er akzeptiere, dass das Stimmvolk zur Reitschule stehe, sagte Feuz. «Aber bei der Abstimmung sagte das Stimmvolk Ja zum Kulturbetrieb – nicht zu einem rechtsfreien Raum.» Reto Nause verteidigte Alexander Tschäppät. «Auch der Stadtpräsident darf öffentlich eine Diskussion anstossen, ohne dass man ihn dafür gleich zerreissen sollte.» Tobias Habegger

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20 Minuten 8.6.12

Neues Ecstasy: Bereits Dutzende Tote weltweit

BERN. Die heimtückische Glückspille Number One ist erstmals in der Schweiz aufgetaucht. 80 Menschen sind schon daran gestorben.

Besorgnis unter Suchtfachleuten: Bei Drogenanalysen am letzten Freitag in der Reitschule in Bern wurde in der Schweiz erstmals die Substanz PMMA in einer Ecstasytablette entdeckt. «Wird eine Number-One-Pille im Übermass oder in Kombination mit Alkohol/Speed konsumiert, kann der Trip lebensbedrohlich sein», so Alexander Bücheli von Streetwork Zürich. Deswegen hat die Suchtberatungsstelle zum ersten Mal seit zehn Jahren eine Warnung herausgegeben. Obwohl man quasi an einer Überdosis Glückshormonen stirbt, ist das Hinscheiden grausam: «PMMA kann zu einer Serotoninvergiftung führen, die hohes Fieber verursacht und schliesslich in einem Organversagen enden kann. Ein Herzkreislaufstillstand kann die Folge sein», so Dr. Christine Rauber vom Toxikologischen Institut Zürich.

Hans-Jörg Helmlin vom Kantonsapothekeramt Bern ist besorgt: «Weltweit sind im Zusammenhang mit PMMA schon über 80 Personen gestorben. Kommt es nach Einnahme von Ecstasy zu Fieber oder Herzrasen, sollte man sofort einen Arzt aufsuchen.» Allein in Israel starben 32 Menschen wegen PMMA. Auch in Deutschland, Österreich und Belgien sind Todesfälle im Zusammenhang mit PMMA bekannt.

Besonders problematisch sei der heimtückische Effekt des neuen Ecstasy, so Bücheli: «Pillen mit PMMA erbringen nicht den gewünschten Ecstasy-Effekt. Den Konsumenten erscheint das Ecstasy schwach, weshalb sie oft weitere Pillen nachwerfen. Das ist fatal und könnte im schlimmsten Fall zum Tod führen.»

Das Bundesamt für Gesundheit nimmt die neuen Pillen ernst und beobachtet die Situation.

Jeremias Büchel

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Tageswoche 8.6.12

Basel

«Wir wollen die Stadt mitgestalten»

Marc Krebs; Cédric Russo

Wie politisch sind illegale Partys? Was will die Bewegung? Zwei junge Aktivisten nehmen Stellung. Und Bettina Dieterle, eine Ex-Punkerin aus den bewegten 1980er-Jahren, zieht Vergleiche.

Am Samstag, 2. Juni, pilgerten nachts über 1000 Menschen aufs nt/Areal. Die Schlösser einer leer stehenden Halle, die abgerissen wird, wurden geknackt, Soundsysteme aufgestellt und eine «Sauvage» veranstaltet. Hier haben wir darüber berichtet, hier finden Sie einen Videoclip. Seither äus­sern sich Stadtentwickler, Polizei, Politiker und Anwohner dazu.

Was aber treibt die Aktivisten an? Weshalb nehmen sie sich diesen Freiraum, wie nehmen sie die Polizei-Einsätze wahr – und gibt es Parallelen zu den 1980er-Jahren? Die Aktivisten Ueli (30) und Martin (23), die anonym bleiben möchten, und die Schauspielerin Bettina Dieterle, die vor 30 Jahren in der Punkszene verkehrte, geben Antworten.

Was verstehen Sie unter einem Freiraum?

Ueli: Einen Raum, wo man frei von Konventionen und Konsumzwang ­kreativ sein kann …Martin: … doch bezieht sich dieser Freiraum nicht nur auf den Ausgang, sondern auf das gesamte Leben. Ich brauche Platz, um etwas zu machen, was nicht der gesellschaftlichen Norm entspricht. Ich will mein Lebensumfeld, meine Stadt mitgestalten.

Der Basler Stadtentwickler ­Thomas Kessler sagte im «TagesAnzeiger», dass es in Basel und ­Zürich genug Freiraum für alle ­erdenklichen Jugendszenen gebe.

Bettina Dieterle: Solche Aussagen bekamen wir schon in den 1980er-Jahren zu hören. Nur weil Thomas Kessler dieser Ansicht ist, heisst das nicht, dass die Jugendlichen mit dem Angebot zufrieden sind. Sobald man den Freiraum zur Verfügung stellt und sagt, was man darf und was nicht, funktioniert er nicht mehr. Es geht darum, einen Raum zu entern, ihn kreativ zu bespielen, nach eigenem Gusto.

Martin: Sehe ich auch so. Schauen Sie sich das nt/Areal an. Früher war dies ein wilder Ort, der Wagenmeister ein Gebäude, das allen offenstand, ohne Konsumzwang. Zuletzt aber wurde ­dieses Areal immer kommerzieller – und für mich uninteressanter, denn ich möchte selber gestalten, statt mich in ein gemachtes Nest zu setzen.

Ueli: Mir geht es auch sehr stark um Gemeinschaft. Räume haben bei uns einen definierten Zweck. Damit muss man Kohle machen oder die CMS muss dafür zahlen, weil sie es irgendwie wertvoll findet. Dadurch wird jede Initiative zerstört. Ich vermisse ein Verständnis für andere Lebensformen. Nehmen wir das Basler Wagenplatz-Projekt: Da möchte eine grössere Gruppe Menschen zusammen wohnen, nur fehlt der entsprechende Wohnraum für die Umsetzung. Also suchen sie sich eine Fläche für einen gemeinsamen Wagenplatz. Ihr Vorhaben scheitert schliesslich an der Bauzonenordnung, weil diese das nicht vorsieht. Warum bitte soll das nicht möglich sein? Ich vermisse bei uns die Freiheit.

Wir leben in einer überreglementierten Stadt?

Ueli: Definitiv. Jetzt wurde ja auch noch die Strassenmusik reglementiert. Das ist doch völlig absurd. Der öffent­liche Raum gehört uns allen. Da frage ich mich ernsthaft, ob man als Nächstes eine Bewilligung haben muss, damit man zu fünft auf einem Bänklein sitzen und eine Zigi rauchen darf.

Nun rühmt sich die Stadt aber ­damit, dass sie Freiraum schaffe – etwa im Hafen, wo Zwischennutzungsprojekte umgesetzt werden.

Martin: Die Stadt hat es beim Hafen leider versäumt, einen echten Freiraum zu öffnen. Sie hätte die Brachen vorstellen und sagen können: Hier ist Platz, setzt eure Ideen um. Stattdessen lancierte sie einen Wettbewerb mit Jury, verlangte Konzepteingaben und verhinderte so, dass von Grund auf etwas Gemeinsames entwickelt wurde. Beim Hafen stört mich auch, dass, so wie es sich abzeichnet, die immer gleichen Gruppen zum Zug kommen. Mir scheint, da sei viel Vitamin B im Spiel.

Ueli: Die Stadt hat kein Interesse, dass im Hafen eine Basler Reitschule entsteht. Die Räume sind klar definiert, ­einige Buvetten haben den Zuschlag bekommen, ebenso der ICF-Ableger – also die Partychristen – sowie ein ­Radioprojekt. Das sind doch keine ­Freiräume. Da ist alles klar definiert. Oder habt ihr das in den 1980er-Jahren anders gesehen?

Bettina: Uns ging es grundsätzlich um die Eroberung von Räumen, denn vor 30 Jahren gab es bestenfalls einige Jugendzentren, mehr war da nicht. Und diese waren für uns nicht interessant, weil sie unter der Aufsicht von Erwachsenen standen, die einem sagten, ­welche Wand man bunt anstreichen dürfe. Wir wollten für unsere eigenen Räume kämpfen. Ich habe aus meiner Zeit im Autonomen Jugendzentrum enorm viel mitgenommen: Eine Horde Menschen musste sich organisieren, sich miteinander arrangieren und ­lernen, wie man das jetzt macht, eine solche Selbstverwaltung.

Ueli: Die Rechten predigen bei uns ­immer die heilige Eigenverantwortung. Fangen aber Leute an, selber Sachen auf die Beine zu stellen, Freiheit zu ­leben, dann bekommen sie es mit der Angst zu tun. Ausgerechnet das Establishment, das mehr Freiheit fordert, sieht in unserem Verhalten eine Bedrohung. Das ist doch schizophren.

Zur Angst trägt vermutlich auch bei, dass bei «Sauvages» einige Leute vermummt sind. Warum eigentlich?

Ueli: Weil die Leute, die das Schloss zu einer Halle knacken und vor dem Gebäude eine Absperrung aufstellen, mit ihren Aktionen Straftaten begehen. Wenn sie dabei von Handykameras ­gefilmt würden und die Aufnahmen im Netz landen, könnten sie sich gleich freiwillig verhaften lassen. Die Vermummung ist zum eigenen Schutz nötig. Uns sind mehrere Fälle bekannt, bei denen an einer illegalen Party ein Organisator aufgeschrieben wurde und danach, ­neben Urteil und Busse auch noch die Kosten für den Polizei-Einsatz tragen musste. So steht ein jugendlicher Mensch plötzlich vor einem Schuldenberg in Höhe von 25 000 Franken.

Ist das ein reales Beispiel?

Ueli: Ja. Sollte jemand für die Party vom Samstag verurteilt werden, dann ist seine finanzielle Zukunft am Arsch.

Die Jungfreisinnigen sammeln jetzt Unterschriften für eine ­«Jugendbewilligung», wie sie in Zürich getestet wird. Wäre das für Sie eine befriedigende Lösung?

Ueli: Nein. Eine Veranstaltung wie jene in der Halle wäre dennoch nicht bewilligt worden. Zudem ist die Jugendbewilligung diskriminierend: ­Warum soll man mit 30 sein Recht verlieren, mit anderen eine solche Party zu organisieren? Kommt hinzu, dass so künftig von jedem, der mit Freunden und einem Radio im Freien grilliert, eine Bewilligung für sein illegales Fest verlangt werden könnte.

Was ist der politische Aspekt einer illegalen Party?

Ueli: An diesen Orten erlebt und erfährt man, wie die Selbstorganisation funktioniert. Das ist eine wichtige Erkenntnis, wird uns doch immer gesagt, dass wir einen Chef brauchen, weil wir sonst verloren seien. Mein Vater sagte immer: Das Leben funktioniere nicht nach dem Lustprinzip. Das sehe ich anders. Habe ich abends Lust, zu essen, dann koche ich. Warum sollte ich das nicht in allen Lebensbereichen tun?

Martin: Die grosse Masse, die bei einer solchen Party auftaucht, erfreut sich ja auch am wilden, subversiven Charakter eines solchen Anlasses. Jugendliche, die wochentags ihren Lehrmeistern gehorchen, konnten sich am Samstag kreativ austoben. Ich beobachtete etwa, wie einige den Innenraum lustvoll mit Klebebändern dekorierten. So etwas kann der Anfang einer Politisierung sein, finde ich. Denkbar, dass sie sich beim nächsten Fest stärker involvieren.

Bahnt sich eine neue Jugend­bewegung an?

Ueli: Ja. Immer mehr Leute in unserer Gesellschaft erkennen, dass wir aus­gebeutet werden, dass das, was man uns als Demokratie verkauft, nicht wirklich eine ist. Und dass unser Rechtssystem unfair ist: Droht eine Bank zu kollabieren, kann man plötzlich die ganzen Regelwerke auf den Kopf stellen, bei notleidenden Menschen hingegen tut man das nicht.

Martin: Wir spüren die Repression bei jeder Party. Am Samstag begann ­alles friedlich: 500 Menschen spazierten zu Beginn an einem Kastenwagen vorbei. Angesichts dieser Masse fuhr die Polizei wieder weg. Später sah ich, wie ein Polizist in Zivil ausrastete und seine Waffe zog. Man stelle sich nur vor: Ein Angetrunkener hätte ihn an­gerempelt, ein Schuss sich gelöst, ein Partygänger wäre getötet worden. Die Polizei-Einsätze sind völlig übertrieben.

Ueli: Die Polizei schafft die Problem­situationen.

Martin: Genau. Bei der Party im ­Abrissgebäude der Grosspeter-Garage sah ich, wie ein Betrunkener tanzend Richtung Uniformierte torkelte, worauf ein Polizist aus fünf Metern Distanz Gummischrot abfeuerte. Auf einen unbewaffneten Partygänger! Das darf doch nicht sein. Und dann klagt die ­Polizei im Communiqué, dass danach Steine geworfen wurden.

Was ist die Konsequenz? Läuft es auf Eskalation hinaus?

Ueli: Es gibt sicher solche, die sich wünschen, dass es richtig knallt – auf beiden Seiten. Mit dem Unterschied, dass wir nicht bewaffnet an Partys gehen. Wir wollen ja nicht die Stadt in Schutt und Asche legen. Mich regt es gottlos auf, dass die Polizei jeweils schreibt, die Party sei friedlich gewesen, aber einige Vermummte hätten den Einsatz nötig gemacht. Das entspricht keineswegs der Tatsache. Die Polizei schreitet völlig unverhältnismässig ein. Am Samstag wurden die Anlagen zum Teil mit Gewalt beschlagnahmt, Leute wurden mies behandelt, beschimpft, geschlagen und gefesselt mit Pfefferspray traktiert.

Haben Sie gerade Flashbacks, Bettina?

Bettina: Ja, natürlich. Das ist dieselbe Vorgehensweise wie vor 30 Jahren. Es ist traurig, dass es heute wie damals Polizisten gibt, die ihre Macht missbrauchen.

Ueli: Es ist erschreckend, dass immer noch Menschen im Keller der Clarawache zusammengeschlagen werden. Scheinbar traut sich niemand, dem Einhalt zu gebieten.

Bettina: Schon in den 80ern wurde mit einer Gewalt zurückgeschlagen, die in keinem Verhältnis zu dem stand, was wir taten. Wir richteten unsere Aggression primär gegen Gebäude, die Polizei richtete sie gegen uns.

Was sich aber geändert hat: Im Unterschied zu den 1980er-Jahren wird Basel heute von Rot-Grün regiert.

Bettina: Schon, aber die stehen auch unter dem Zwang der Bürgerlichen und der Geldgeber.

Martin: Meiner Meinung nach kann man rot-grün auch nicht als links bezeichnen.

 

Bettina: Man muss natürlich sehen: Die Regierung steht unter massivem Druck, weil rasch der Vorwurf laut wird, sie liesse «Chaoten» gewähren.

Ueli: Warum lassen sie uns dann nicht gewähren, wenn sie sowieso Schelte kassieren?

Bettina: Gute Frage. Zudem sind es zwei verschiedene Dinge, was die Regierung herausgibt und wie die Polizei funktioniert. Freiraum für uns bedeutet ja auch Freiraum für die Polizei. Indem sie etwa auch mal zuschlägt.

Martin: Wie ich gehört habe, haben Polizisten am Samstag diverse Soundanlagen, Plattenspieler und Schallplatten mutwillig beschädigt …

Ueli: … und danach Soundsysteme konfisziert, ohne dafür einen Grund anzugeben oder eine Quittung aus­zustellen. Die Polizei sagte nur, dass man die Anlagen am Montag abholen könne. Sie rückte diese aber nicht heraus, ohne Angaben von Gründen. So ­etwas ist doch eines Rechtsstaats unwürdig. Ich verstehe das nicht. Polizisten werden doch Polizisten, weil sie andere Menschen schützen wollen. Damit haben sie eine grosse Verantwortung, der sie gerecht werden müssen. Ansonsten provozieren sie Vergeltung. ­Gewalt erzeugt Gegengewalt.

Die Freiluft-Party am Voltaplatz im Herbst 2011 wurde zur ­«Krawallnacht» erklärt. Ein Feuer brannte, Fensterscheiben einer Apotheke wurden eingeschlagen. Ist das nicht kontraproduktiv, weil mit den Schaufenstern auch die Argumente, die für eine Duldung sprechen, zerschlagen werden?

Ueli: Die Bewegung ist halt nicht ­homogen. Darin gibt es Menschen, die sich politisch engagieren, abstimmen, wählen und Initiativen einreichen, aber auch solche, die all das voll Scheis­se finden. Es gibt Menschen, die Partys besuchen, um zu konsumieren. Es gibt Leute, die sie organisieren. Es gibt alle Farben und Formen. Ich selbst schmeis­se keine Scheiben ein, da ich das nicht als zielfördernd erachte. Aber es hat unbestritten einen Effekt: Es wird darüber diskutiert, und es entwertet die Liegenschaft, die man hasst. So gesehen hat es seine Logik.

Martin: Genau. Ich bin im St.-Johann-Quartier aufgewachsen und fühle mich dort fremd heute, durch die bauliche «Aufwertung», wie die Behörden es formulieren. Ich bin auch nicht damit einverstanden, wenn man auf dem Voltaplatz einen Robispielplatz baut, der wie ein Internierungslager aussieht.

Aber längst nicht alle Besucher ­einer illegalen Party möchten damit gleich die Welt verändern.

Ueli: Vielleicht nicht. In der Schweiz ist der Leidensdruck auch noch nicht so gross. Dennoch manifestiert sich der Wille zur Veränderung an den Partys. Wir sehnen uns nach Orten, an denen wir nicht nur als Geldbörse angesehen werden. Es geht um Identität. Wenn du heute Punk wirst, dann ist das eine Identität, die dir verkauft wird. Durch Läden, die ihre Klamotten spezifisch als Punk deklarieren. Es gibt keine Identitäten mehr, die nicht kommerziell ausgeschlachtet wurden.

Bettina: Das erinnert mich an die Krawalle in Zürich, als uns gesagt ­wurde: «Ihr wollt doch nur konsumieren!» Im Gegenteil; wir wollten uns genau davon befreien. Und natürlich auch gegen das Spiessertum rebellieren, das die 1970er-Jahre geprägt hatte.

An manchen illegalen Partys, in den Langen Erlen etwa, werden am Ende Bebbi-Säcke verteilt und der Abfall wird eingesammelt. Ist das zu angepasst für Sie?

Martin: Nein. Wenn jemand aufräumen will, soll er. Wenn nicht, finde ich das auch okay.

Ueli: Da bin ich anderer Meinung. Man hat eine Verantwortung für seine Handlungen, ein Naturschutzgebiet soll so verlassen werden, wie man es vorfand. Dass man uns aber die Sachbeschädigungen vom Samstag vorhält, ist für mich nicht nachvollziehbar: Wir ­haben eine Halle bespielt, die bald ­abgerissen wird. Warum sollte diese schön geputzt abgegeben werden?

Und die Lärmbelästigung? Wo hört der Egoismus auf und fängt das Verständnis für die Anwohnerschaft an?

Ueli: Auf dem nt/Areal geht es jedes Wochenende laut zu und her. An der Party meldeten sich Anwohner, weil eine der Barrikaden einen Durchgang versperrte. Darauf nahm man Rücksicht und verschob die Barrikade. Wird das Gespräch gesucht, funktioniert so etwas.

Martin: Ich flüchte jedes Jahr drei Tage lang aus dieser Stadt. An der Fasnacht nimmt auch niemand Rücksicht auf meinen Wunsch nach Ruhe.

Ueli: Das ist das Gleiche wie die Diskussion am Rheinbord. Da kaufen sich Leute Wohnungen am Rhein und beklagen sich danach über Lärmbelästigung. Wenn sie völlige Ruhe wollen, dann sollen sie aufs Bruderholz ziehen. Ich finde es vielmehr egoistisch, wenn jemand ins Kleinbasel zieht, weil dort viel läuft, dann aber seine Ruhe will, sobald er die Schlafzimmertür hinter sich zugemacht hat.

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Aargauer Zeitung 8.6.12

Denn wir wissen nicht, wieso sie es tun

Ausgang · Das Angebot im Schweizer Nachtleben war noch nie so gross – und es langweilte die Jugend noch nie so sehr

Benno Tuchschmid

Ja, ja, die Jugend. Sie hat es wieder einmal geschafft. Die älteren Generationen wundern sich. Können nicht verstehen. Da versammelten sich am Wochenende in Bern über 10000 Jugendliche und tanzten durch die Innenstadt. Ohne Bewilligung. Ohne erkennbaren Grund. Ohne erkennbare Botschaft. Dafür mit ganz viel Lärm. Und seither diskutiert die Schweiz über das Wieso. Unterschwellig schwingt bei den 68er- und 80er-Veteranen der Vorwurf der Undankbarkeit mit. Nach all den erkämpften Freiheiten hat die heutige Jugend immer noch nicht genug ... Noch nie sei die Gesellschaft bei Jugendanliegen so liberal gewesen, sagte der Soziologe Kurt Imhof im «Club» des Schweizer Fernsehens. Strafrechtsprofessor Martin Killias sagt: «Wer behauptet das Nachtleben sei überreguliert, der verkennt völlig, dass wir seit zwanzig Jahren eine historisch und im Vergleich zu anderen Ländern einmalige Deregulation erlebt haben.» Killias lässt die Fakten sprechen. Und zwischen den Zeilen das Unverständnis.

Bei der Berner Tanz-Dich-Frei-Demonstration vom Samstag gab es jedoch durchaus einen Auslöser: die Frustration der Berner Club- und Kulturszene – und ihrer Besucher – über das strikte Durchgreifen der Stadt ins Nachtleben. Ein Ausschankverbot auf dem Vorplatz der alternativen Kulturinstitution Reithalle brachte das Fass zum Überlaufen. Das ist der regionale Hintergrund. Doch der Tanz-Mob bestand nicht nur aus Bernern, die Besucher der Tanz-Demo kamen aus der ganzen Schweiz. Die digitale Mundpropaganda auf Facebook verkündete den Feierwütigen, dass sich in Bern etwas Spezielles anbahnt. Der Protest der Betreiber vermischte sich mit der Tanzwut der Masse.

Doch Bern ist überall. Partys und Veranstaltungen abseits der klassischen Clubs und Discos sind schweizweit im Trend und ziehen Massen an. In Bern ist es die Tanz-Dich-Frei-Demo, in Basel sind es Veranstaltungen im nt-Areal oder auf der Erlenmatte. Gestern fand in Biel ein ähnlicher Anlass statt. In St. Gallen und Zürich sind sie in Planung. Szenekenner sprechen von einem Rückzug der Jugendlichen ins Halblegale, Soziologen von einer Flucht aus dem «kommerz-orientierten» Nachtleben. «Privat-Partys und illegale Feiern nehmen definitiv zu», sagt auch Thomas Berger vom Verein Nachtleben Bern. Und das nicht nur in den Metropolen, auch in kleineren Städten ist der Trend da. «Wir wissen von Gebäuden, in denen immer wieder illegale Partys stattfinden», sagt Mark Haggenmüller, Chef der Stadtpolizei Olten. In Aarau findet eine der beliebtesten Techno-Partys der Region alle 2 Monate in einer ehemaligen Garage statt. Veranstalter ist ein Künstlerkollektiv. Tizian Baldinger, Mitglied des Kollektivs, sagt: «Die Leute haben genug vom Einheitsbrei und suchen etwas, das anders und frisch ist.» Die Veranstaltungen im Lokal sind nicht illegal, unterscheiden sich aber trotzdem deutlich von Partys in einem normalen Club. Der Reiz des Neuen und Unverbrauchten spielt mit.

so kommt es zum Paradoxon, dass das Angebot im Nachtleben heute so gross ist, wie noch nie. Vor 15 Jahren gab es in der Stadt Zürich 40 Betriebe, welche die ganze Nacht geöffnet hatten. Heute sind es 600. Und die Jugend sucht trotzdem neue Räume – und findet sie. Thomas Berger sagt: «Es gibt heute zwar viele Clubs, aber innerhalb dieser wurden die Regeln immer strenger.» Er meint Rauchverbot, strenge Eingangskontrollen und hohe Preise. Das alles gibt es auf öffentlichem Grund und im Untergrund nicht.

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UND DER REST DER ARTIKEL?
:-) Kommt noch, nur Geduld...