MEDIENSPIEGEL 26.3.09
(Online-Archiv: http://www.reitschule.ch/reitschule/mediengruppe/index.html)

Heute im Medienspiegel:
- Reitschule-Programm
- Prozess Silvester 06/07 + Co.: 16 Monate bedingt, Busse + Kosten
- Bettelverbot schon wieder im Stadtrat
- Leerstand ist kein Zustand: SP will Zwischennutzungen
- Kokain-Flut in CH
- Ausbau Party-Drogentests
- Härtefälle-Praxis
- Lausanne: Polizei-Schikanen gegen Migrations-AktivistInnen
- Sexwork: Modell Nidau auch in Bern?
- Big Brother: keine Einsicht in Fichen; Bundesamt für Geheimdienste
- Tigris: Busipo by GSG 9; Maulkörbe
- Allpack-Streikprozess: Einschüchterungstaktik und Polizeiaufmarsch
- Homohass: Inti zum Mord an Istanbuler Transgender-Aktivistin
- Verdingkinder: Ausstellung im Käfigturm; Portrait
- Azot-Demo gegen Zirkustiere
- Anti-Atom: 30 Jahre Three Mile Island-Kernschmelze-GAU
- Gipfel-Soli-News 26.3.09

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REITSCHULE
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Do 26.03.09
20.00 Uhr - Frauenraum - HINTERHOF-LOUNGE. Hinterhof-Lounge goes Italo Disco
20.30 Uhr - Tojo - Die Seifin und der Dreck - Objekt-Tanz-Theater von Cécile Keller
20.30 Uhr - Kino - UNCUT - Warme Filme am Donnerstag: OUT AT THE WEDDING, L. Freelander, USA 2007

Fr 27.03.09
20.30 Uhr - Tojo - Die Seifin und der Dreck - Objekt-Tanz-Theater von Cécile Keller
21.00 Uhr - Kino - Filmreihe Intersexualität: XXY, L. Puenzo, Argentinien 2007
21.00 Uhr - Frauenraum - TanzBar mit DJ Grisumel. Gesellschaftstänze & Disco für Frau & Frau, Mann & Mann und Friends. Mit Crashkurs ab 19.15 Uhr.
22.00 Uhr - SousLePont - The Phonotones (D); The Budget Boozers (CH) - Dirty Rock‘nRoll und Garage Punk

Sa 28.03.09
20.30 Uhr - Tojo - Die Seifin und der Dreck - Objekt-Tanz-Theater von Cécile Keller
21.00 Uhr - Kino - Filmreihe Intersexualität: Das verordnete Geschlecht, O. Tolmein und B. Rothermund, Deutschland 2001
22.15 Uhr - Kino - Filmreihe Intersexualität: Die Katze wäre eher ein Vogel ..., M. Jilg, Deutschland 2007
22.00 Uhr - Dachstock - Techstock IV: Traumschallplatten Nacht mit: Piemont (D), Bukaddor & Fishbeck (D), Triple R (D) Support: Bud Clyde (Festmacher), Coleton (live), 2nd Floor: Frango (Sirion/BE), Brian Python, Racker, Minimalist (Festmacher) Techno/Minimal/House

So 29.03.09
18.00 Uhr - Rössli - Piano-Bar

Infos: www.reitschule.ch

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CRIME NEWS
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BZ 26.3.09

Bedingte Strafe für Messerstecher

Das Kreisgericht Konolfingen hat sein Urteil im Fall der Messerstecherei in Worb vom Sommer 2007 gefällt: Der 23-jährige Täter wird zu 16 Monaten Freiheitsstrafe, bedingt auf drei Jahre, verurteilt. Zusätzlich wird er gebüsst.

"Das Urteil ist ein harter Schuss vor den Bug eines jungen Aggressors", sagte Gerichtspräsident Zwahlen bei der Urteilsverkündung. Er begründete damit die "Wahrscheinlichkeitsrechnung", die das Kreisgericht Konolfingen zu machen hatte. Beurteilt wurde der Fall eines 23-jährigen Schweizers, der wegen versuchter schwerer Körperverletzung und weiterer Vergehen wie Tätlichkeit, Drohung und Sachbeschädigung angeklagt war (siehe Ausgaben von gestern und vorgestern).

Wie der Gerichtspräsident ausführte, basierte die Urteilsfindung hauptsächlich auf Aussagen von Zeugen, Opfern und Täter. Ausgehend davon sah das Gericht es als erwiesen an, dass der junge Mann sich im Sommer 2007 der versuchten schweren Körperverletzung schuldig gemacht hatte. Er stach damals in einer Auseinandersetzung mit einem 17-Jährigen vor einer Bar in Worb zu und verletzte diesen dabei an der Seite.

Mit Messer bedroht

Ein Schuldspruch erfolgte ebenfalls wegen Drohung und versuchter Nötigung. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der Angeschuldigte in einer Märznacht 2007 neben der Reitschule in Bern einen Mann mit dem Messer bedroht hatte. Dieses Vergehen hatte der 23-Jährige abgestritten. "Die Aussage des Angeschuldigten steht gegen die glaubwürdige Schilderung des Opfers und eines Zeugen", sagte Gerichtspräsident Zwahlen. Dass der Angeschuldigte Messer einsetze, sei mit dem Vorfall in Worb ein paar Monate später hinlänglich erwiesen.

Das Gericht sah es zudem als erwiesen an, dass der Angeschuldigte an Krawallen in der Silvesternacht 2006/2007 rund um die Reitschule teilgenommen hatte. Er wurde deshalb wegen Landfriedensbruchs und Sachbeschädigung verurteilt. Da ihm aber nicht nachgewiesen werden konnte, dass er aktiv an einem Angriff auf Personen beteiligt war, wurde er von diesem Anklagepunkt freigesprochen.

Schwere finanzielle Last

Mildernd auf das Urteil wirkte, dass sich der Angeschuldigte vor den Vorfällen und nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft nichts mehr zuschulden kommen liess. Im Hinblick auf sein stabiles Arbeits- und familiäres Umfeld sprach das Kreisgericht die Strafe bedingt auf drei Jahre aus. Der junge Mann muss auch wegen Tätlichkeit und Verstoss gegen das Betäubungsmittelgesetz 800 Franken Busse zahlen sowie rund 10000 Franken Verfahrenskosten tragen. Zusätzlich muss er Zivilforderungen in der Höhe von 2500 Franken bezahlen. "Auch diese finanzielle Last ist eine Strafe", sagte Gerichtspräsident Zwahlen.

Anna Tschannen

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BETTELVERBOT
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Bund 26.3.09

Die Bettler bleiben ein Politikum

Berner Stadtrat diskutiert heute Donnerstag über ein Bettelverbot - zum wiederholten Mal

Gleich zwei bürgerliche Forderungen nach Eindämmung der Bettelei stehen heute Donnerstag im Stadtrat zur Debatte. Ob das Bettelverbot mehrheitsfähig ist, bleibt ungewiss.

Daniel Vonlanthen

Ziemlich genau vor Jahresfrist lehnte der Berner Stadtrat mit Stichentscheid des damaligen Ratspräsidenten Andreas Zysset (sp) ein Bettelverbot für die Berner Innenstadt ab. Ausgerechnet aus der SP-Fraktion war der Vorstoss gekommen: Hasim Sönmez, der an der Spitalgasse ein Blumengeschäft führt, verlangte die Ausdehnung des im Bahnhofperimeter geltenden Bettelverbots auf die gesamte Innenstadt. Sönmez erhielt für seine "Zivilcourage" viel Lob von bürgerlicher Seite.

Ausgerechnet ein Bürgerlicher gab indes den Ausschlag dafür, dass es zur Pattsituation und damit zum Stichentscheid kam: CVP-Stadtrat Henri-Charles Beuchat stimmte als "überzeugter Christ" gegen die Motion. Er wolle niemandem einen Hilferuf verbieten. Denn betteln sei nichts anderes als "um Hilfe zu rufen", so Beuchat. An der Sitzung des Stadtrats von heute Donnerstag wird Beuchat nicht mitstimmen - er weilt in den Ferien.

Bernhard Eicher (jf) will ein für alle Mal Klarheit schaffen: Das Volk solle über die Einführung eines gemeindeweiten Bettelverbots entscheiden, fordert er per Motion, die heute auf der Traktandenliste steht. Seine Begründung: "Die Bernerinnen und Berner haben genug von organisierten Bettelbanden, die auch vor Kinderarbeit nicht zurückschrecken." Dies habe der klare Volksentscheid vom Juni letzten Jahres zum Bahnhofreglement gezeigt. "Jetzt aber Schluss mit der Bettelei", fordern Beat Schori (svp) und Philippe Müller (fdp) in einer gemeinsamen Motion. Die Stadt Bern habe durch die unnötige Bettelei als Unesco-Weltdenkmal viel von ihrer Schönheit und ihrem Ansehen verloren.

Keine Bettler mehr im Bahnhof

Das neue Bahnhofreglement verbietet im städtischen Teil des Bahnhofs und rund um die Zugänge - analog der SBB-Bahnhofordnung - das Betteln und anderes mehr. Verboten ist auch das Abstellen von Velos und das Versperren von Passagen und Treppen. Das Reglement ist seit Oktober 2008 in Kraft. Der Gemeinderat wird demnächst über die neue Bahnhofordnung und deren Folgen einen Rechenschaftsbericht vorlegen (siehe Kasten). Das Verbot habe ohne nennenswerte Probleme durchgesetzt werden können, hält der Gemeinderat in seiner Kurzantwort fest. "Bereits nach wenigen Tagen waren keine Bettelnden in diesem Bereich mehr anzutreffen."

Die erneute Diskussion wird die alten Gräben im Stadtrat wieder aufreissen; allerdings sind die Blöcke weniger erratisch als vor den Wahlen. SP/Juso-, GB/JA- und GFL/EVP-Fraktion vertreten die gleiche Position wie vor Jahresfrist und lehnen das Bettelverbot grossmehrheitlich ab. FDP/JF- und SVP-Plus-Fraktion ihrerseits begrüssen das Verbot. Zu den Befürwortern gesellt sich auch die BDP/CVP-Fraktion: "Dank unserem gut ausgebauten Sozialnetz muss niemand betteln", sagt Kurt Hirsbrunner (bdp). Ein Verbot sei allerdings schwierig durchzusetzen.

GLP als Zünglein an der Waage

Das Zünglein an der Waage spielen die Grünliberalen: "Wir haben noch keine abschliessende Haltung zu den Vorstössen", sagt Jan Flückiger. In ihrem Positionspapier schreibt die GLP: "Individuelle Freiheiten dürfen nur in begründeten Fällen eingeschränkt werden", zum Beispiel dann, wenn Freiheiten Dritter tangiert seien. "Ein generelles Bettelverbot in der Innenstadt oder gar in der ganzen Stadt Bern lehnt die GLP ab." Nulltoleranz müsse aber gegenüber gewerbsmässiger und organisierter Bettelei gelten. Möglicherweise wird die GLP demnach von ihrem Positionspapier abrücken und für ein generelles Bettelverbot votieren.

Aufwand und Ertrag eines flächendeckenden Verbots stünden in keinem Verhältnis, sagt Barbara Streit-Stettler namens der GFL/EVP-Fraktion.

"Bettelnde Musizierende"

Gerade die organisierte Bettelei könne die Behörde aber heute schon mit den vorhandenen Instrumenten bekämpfen, hielt der Gemeinderat vor Jahresfrist fest. Grundlage dazu bilden das Ausländergesetz und die Verordnung über die Einreise- und Visumsverfahren. "Bettelnde Musizierende" seien in letzter Zeit denn auch vermehrt kontrolliert worden und aus diesem Grund momentan kaum mehr in der Stadt anzutreffen, rapportiert der Gemeinderat.

Der Grosse Rat lehnte im Januar letzten Jahres ein kantonales Bettelverbot ab. SVP-Grossrat und Stadtrat Beat Schori hatte die Wiedereinführung des 1991 aufgehobenen Verbots gefordert. Mit 76 gegen 63 Stimmen beschloss das Kantonsparlament, den Status quo beizubehalten. Es überliess weiter gehende Massnahmen den Gemeinden.

Im Kanton Zürich verboten

Im Kanton Zürich beispielsweise ist das Verbot im Straf- und Justizvollzugsgesetz verankert. "Wer bettelt oder Kinder oder Personen, die von ihr oder ihm abhängig sind, zum Betteln schickt, wird mit Busse bestraft", heisst es im Passus. Die Stadtpolizei Zürich setze das Verbot im Rahmen ihrer normalen Patrouillentätigkeit um, so Mediensprecher René Ruf. "Wir machen keine Bettlerhatz." Bettelnde müssen überdies "wegen vorübergehender Benützung öffentlichen Grunds zum Sonderzweck des Bettelns" mit einer Verzeigung beim Strafrichteramt rechnen.

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Frage der Ressourcen

Über Nutzen und Wirksamkeit des Bettelverbots im Bahnhof will der Gemeinderat demnächst Rechenschaft ablegen. SP/Juso-Fraktionschefin Giovanna Battagliero hatte dies gefordert. Gleichzeitig verlangte sie Aufschluss darüber, ob die vorhandenen fremdenpolizeilichen Instrumente gegen die organisierte Bettelei auf Stadtgebiet genügten. Durch das Verbot im Bahnhof habe eine Verlagerung der Bettelei Richtung Innenstadt stattgefunden, sagte gestern der stellvertretende Polizeiinspektor Marc Heeb. Für die Durchsetzung des Verbots ist die Orts- und Gewerbepolizei zuständig. Würde der Perimeter erweitert, wären zusätzliche personelle Ressourcen nötig. Dem Bericht des Gemeinderats wollte Heeb aber nicht vorgreifen. (dv)

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Stadtrats-Debatte 26.3.09

4. Motion Beat Schori (SVP)/Philippe Müller (FDP): Jetzt aber Schluss mit der Bettelei! (SUE: Nause) verschoben vom 19.03.2009  08.000251
http://www.bern.ch/stadtrat/sitzungen/termine/2008/08.000251/gdbDownload

5. Motion Fraktion FDP (Bernhard Eicher, JF): Bevölkerung soll über stadtweites Bettelverbot entscheiden (SUE: Nause) verschoben vom 19.03.2009 08.000202
http://www.bern.ch/stadtrat/sitzungen/termine/2008/08.000202/gdbDownload

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LEERSTAND
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Bund 26.3.09

Mehr Leben auf Leerflächen

Ein SP-Vorstoss will, dass die Stadt vermehrt auf Zwischennutzungen setzt

Planungsverfahren dauern lange. Und bis einmal gebaut wird, bleiben Gebäude und Brachen manchmal jahrelang leer. SP-Stadträtin Gisela Vollmer möchte daher, dass ein Instrument für Zwischennutzungen geschaffen wird.

Simon Jäggi

Was wäre, wenn das ehemalige Progymnasium am Waisenhausplatz leer geblieben wäre? Gisela Vollmer, SP-Stadträtin und Raumplanerin, ist sich sicher: Die Drogenszene hätte die Gegend in Beschlag genommen, der Schub für die Kulturszene wäre ausgeblieben. "Der Progr hat das Gebiet belebt", sagt Vollmer.

Der Progr war aber nicht der alleinige Auslöser, dass Vollmer eine Motion eingegeben hat, die verlangt, dass die Stadt künftig vermehrt auf Zwischennutzungen in leer stehenden Gebäuden und auf unbenutzten Brachen setzen soll. Es sind viel eher die Areale, die zur Zeit unbenutzt leer stehen, weshalb die SP-Stadträtin vom Gemeinderat verlangt, ein Planungsinstrument für Zwischennutzungen vorzulegen. Zum Beispiel das Schlachthofareal. "Ich habe nicht verstanden, warum die Gebäude sofort abgerissen wurden", sagt Vollmer. Es dauere noch Jahre, bis auf dem Areal tatsächlich gebaut werde. Als weiteres Beispiel nennt sie Weyermannshaus Ost. Seit zwölf Jahren solle hier gebaut werden. "Implenia hätte auf ihrem Grundstück längst schon etwas machen können." Brachen, die durch eine Zwischennutzung an Attraktivität gewinnen könnten, fänden sich auch auf dem Oberfeld oder in Ausserholligen, wo dereinst das Haus der Religionen zu stehen kommen soll.

Leben ist schneller geworden

Im Kanton Bern sind Zwischennutzungen möglich und werden im Baugesetz geregelt. Vollmer findet es aber notwendig, dass auch ein städtisches Reglement ausgearbeitet wird. In der Vergangenheit habe sich gezeigt, dass Zwischennutzungen im Bewilligungsverfahren häufig zu Problemen führten, da die Verfahren noch wenig Bezug auf die sich ändernden Rahmenbedingungen und Lebenszyklen von Nutzungen nähmen. "Wir brauchen ein Instrument, mit dem man schneller reagieren kann. Wir müssen flexibler werden", so Vollmer.

Doch was ist, wenn die Zwischennutzer bleiben wollen? Schafft sich die Stadt nicht neue Schwierigkeiten - wie es beim Progr der Fall war? Der Fehler beim Progr sei schon vor dem Planungswettbewerb geschehen, sagt Vollmer. "Es gab keine öffentliche Diskussion, wie das Haus künftig genutzt werden sollte. Es gibt Probleme, wenn es die Stadt dem Investor überlässt, die Nutzung festzulegen."

Wohnen im Container

Als beispielhafte Zwischennutzung nennt Vollmer das Erlenmattareal in Basel, wo Stück um Stück von einer Zwischen- in eine Endnutzung übergegangen worden sei. "Das war kein totes Areal mehr, wo sich das Leben erst über Jahre entwickeln musste." Vollmer weist auch auf den Zürcher Räffelpark hin, wo Swiss Life 42 Container für Büros, Ateliers und Wohnungen aufgestellt hat."Wenn sich Swiss Life auf ein solches Projekt einlässt, muss es schon Hand und Fuss haben", sagt Vollmer. Dies unterstreiche, dass Zwischennutzungen auch finanziell attraktiv seien.

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KOKAIN
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20min.ch 25.3.09

Drogenschmuggel

Kokain im Feriengepäck

von Thomas Pressmann

Die Schweiz wird derzeit von Kokain überschwemmt. Ins Land kommt der Stoff immer öfter mit Touristen, die auf eigene Faust agieren und sich schnellen Reichtum versprechen.

Zurück aus den Ferien, das Kokain mit im Gepäck: Unter den Schmugglern stellt die Polizei vermehrt ganz normale Touristen fest. Der Kokainhandel in der Schweiz werde zurzeit zwar klar von Personen aus Westafrika dominiert, aber: "Von alteingesessenen südamerikanischen Kartellen im Hintergrund bis zum einzelnen Schweizer Tourist ist alles dabei", sagt Roger Flury von der Bundeskriminalpolizei (BKP).

Touristen als Drogenschmuggler - gerade im Flughafen Zürich ein häufiges Bild. Selbst Senioren transportieren in Koffern mit doppelten Böden und Wänden Kokain um die halbe Welt, wie Stefan Oberlin von der Kantonspolizei Zürich bestätigt. "Die Reisenden denken, sie können damit schnell viel Geld machen." Einige versuchten auf eigene Faust, mit den Verkäufern ins Geschäft zu kommen, andere würden von Drogenhändlern angegangen und witterten das schnelle Geld.

Teure Fracht in der Velohose

Hergestellt wird das Kokain in Südamerika aus der Cocapflanze. Von dort gelangt es entweder direkt oder via Spanien, Portugal oder die Niederlande in die Schweiz. "Geschmuggelt wird das Kokain mit den unglaublichsten Methoden", sagt BKP-Sprecher Flury. Professionelle Drogenkuriere arbeiten das Kokain in Textilien ein, verstecken es im Reisegepäck oder transportieren es mittels Bodypacker. Dabei schlucken die Schmuggler das in Kondome verpackte Kokain und scheiden es später wieder aus - eine lebensgefährliche Praxis.

Am Flughafen Zürich wurden letzthin gleich mehrere Frauen erwischt, die jeweils 2,5 Kilo Kokain in Velohosen versteckt am Körper trugen. Aber auch ausgehöhlte und mit Kokain gefüllte Schuhsohlen, Kleiderbügel oder Holzmörser stellen die Behörden am Flughafen Zürich immer wieder sicher. Oder Konservendosen, die statt Bohnen Kokain enthalten.

Viel Geld mit billigem Kokain

Die Preise von Kokain sind in den letzten Jahren deutlich gefallen, auf noch rund 80 Franken pro Gramm. Trotzdem ist es immer noch ein sehr lohnendes Geschäft. Die Zollbehörden schätzen die Gewinne aus dem Kokainhandel in der Schweiz auf einen mehrstelligen Millionenbetrag. 100 000 Personen konsumieren gemäss Bundesamt für Gesundheit hierzulande regelmässig Kokain. Europaweit werden geschätzte 150 Tonnen jährlich verbraucht. Die aktuellste Kriminalstatistik des Bundes weist fürs Jahr 2007 404 Kilogramm beschlagnahmtes Kokain aus - mehr als je zuvor. Die beschlagnahmten Mengen anderer weit verbreiteter Betäubungsmittel blieben in den letzten Jahren dagegen stabil.

Auf dem Land angekommen

Immer breitere Bevölkerungskreise konsumieren Kokain. Die Droge der Schönen und Reichen in den Städten ist längst auch auf dem Land angekommen. Und der günstige Gramm-Preis macht eine Linie auch für Jugendliche erschwinglich, wie Suchtanlaufstellen besorgt feststellen. Das Bundesamt für Gesundheit warnt vor den negative Auswirkungen auf die Gesundheit und das soziale Umfeld der Konsumenten. Für den Bund ist der Kokainhandel denn auch das dringendste Problem im Drogenbereich.

Zudem gebe es Hinweise, dass die Schweiz speziell für Kokain zu einem Umschlagplatz geworden sei, wie Andreas Trachsel von der Fachstelle für Betäubungsmittel bei der Zollverwaltung sagt. So stellen die Grenzwächter nicht nur die Einfuhr von Kokain in die Schweiz fest, der Stoff wird zunehmend von hier wieder ins Ausland geschmuggelt. "Die Schmuggler profitieren von unserem gut ausgebauten Verkehrsnetz", sagt Bundeskriminalist Flury.

Lieferengpässe gibt es nicht

Die Bekämpfung des Kokainhandels scheint zudem relativ schwierig zu sein. "Es fällt auf, wie gut organisiert manche Banden sind", sagt Stefan Lanzrain von der Kantonspolizei Bern. "Auch wenn wir grössere Mengen Kokain sicherstellen, wird noch am gleichen Tag weiter gedealt, zu Lieferengpässen kommt es allem Anschein nach nicht."

Sechs Kilo Kokain wurden im letzten Jahr im Kanton Bern beschlagnahmt. Was nach wenig klingt, wertet Lanzrain als Erfolg. Aber: "Wir stellen fest, dass enorme Mengen an Kokain im Umlauf sind, so viel wie wohl noch nie." Beim Zoll ist man angesichts der grossen Mengen ebenfalls ratlos. Grenzwächter, Zoll und die Polizeistellen arbeiten auch mit dem Ausland zusammen - mit mässigem Erfolg. "Gegen die Übermacht der Händler können wir eigentlich gar nicht viel ausrichten", sagt Drogenfachmann Trachsel von der Zollverwaltung. "Es tobt ein Krieg - ein Drogenkrieg."

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DROGENTESTS
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20min.ch 25.3.09

Drogentests werden nun ausgebaut

von Saraina von Grünigen

Das mobile Berner Labor für Drogentests stösst bei seinen Einsätzen ans Limit: Eine zweite Analysemaschine soll nun Abhilfe schaffen.
 
"Zu Spitzenzeiten mussten wir Leute zeitlich vertrösten oder sogar abweisen, weil wir ausgelastet waren", sagt Hans-Jörg Helmlin vom Kantonsapothekeramt Bern, Betreiber des mobilen Labors für Drogentests. Dies sei weder für die Partygänger noch für die Crew befriedigend. Deshalb muss jetzt eine zweite Drogen-Analysemaschine her: "Damit können wir unsere Kapazitäten verdoppeln und pro Stunde bis zu sechs Analysen durchführen."

Gemäss Helmlin wird der Drogenkonsum an Partys immer gefährlicher. "Einerseits gibt es immer mehr neuartige Substanzen, andererseits ist auch der Mischkonsum gestiegen." Wenn die Ergebnisse der Analyse Anlass zur Besorgnis geben, warnt die Crew des Präventionsteams die Konsumenten. "Wir nehmen aber niemandem die Drogen weg, sondern geben Infos und Erfahrungen weiter", erklärt Helmlin. Die Konsumenten seien grösstenteils einsichtig. "Bei einer grösseren Anzahl durchgeführter Tests sind die Chancen höher, eine exotische Substanz zu erwischen", so Helmlin.

Das erweiterte Labor kommt erstmals diesen Samstag in Roggwil an der Mythos-Party zum Einsatz.

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Info-Box

Gratis-Drogentest gegen Fragebogen

Zusammen mit Sozialarbeitern gehen Berner Apotheker des Pharmazeutischen Kontrolllabors mit ihrem mobilen Labor an Partys, um dort kostenlos die Drogen der Raver zu testen. Wer mitmacht, verpflichtet sich, während dem Test mit den Sozialarbeitern einen Fragebogen zum eigenen Konsumverhalten auszufüllen. Das Präventionsprojekt ist hauptsächlich an Partys im Raum Zürich ­anzutreffen, es ist aber auch im Kanton Bern aktiv.

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Link-Box
http://www.saferparty.ch

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HÄRTEFÄLLE
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Radio Rabe 24.3.09

Die Härtefall-Praxis im Asylgesetz: regiert dort die Willkür?

Die Härtefall-Regelung im Asylgesetz ist seit 2 Jahren in Kraft.
Mit dieser Regelung können Kantone Menschen legalisieren, die keinen legalen Aufenthaltsstatus haben, aber gut integriert sind.
Die gesetzliche Grundlage der Härtefall-Regelung ist für alle Kantone dieselbe. Doch bei der Handhabung gibt es grosse Unterschiede.
Zu grosse Unterschiede, meint die Schweizerische Flüchtlingshilfe in einer eben erschienen Studie.
Wilma Rall berichtet
http://www.freie-radios.net/mp3/20090325-diehrtefal-27063.mp3

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SCHIKANE
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24 Heures 26.3.09

La police accusée de traquer les militants de l'asile

Polémique - A Lausanne, trois sympathisants de l'asile lancent un appel pour le respect des libertés d'expression, d'affichage et de manifestation.

Trois amendes, deux recours. Des militants du milieu de l'asile et de la migration se disent victimes de dénonciations arbitraires.

Septembre 2008, une affiche appelant à une manifestation pacifique est collée sur les murs de Lausanne. Une plainte est déposée contre Graziella de Coulon, coprésidente de Solidarités Sans Frontières, une des nombreuses associations qui organisaient la manif. Elle nie avoir collé cette affiche ou en avoir donné l'ordre, mais elle est condamnée à une amende de 340 francs. La commission de police estime que la responsabilité d'enlever les affiches lui revenait. "Un climat de répression s'installe, commente-t-elle. Mais j'ai décidé de ne pas aller au tribunal pour ne pas perdre encore plus d'énergie et d'argent. " Le municipal Olivier Français, auteur de la plainte, paraît blasé: "Ce sont toujours les mêmes, de toute façon. On continuera à protéger le domaine public des agressions de tout type. "

Autre cas en décembre 2008. Jean-Michel Dolivo et Nanda Ingrosso sont accusés d'organisation de manifestation non autorisée sur la voie publique, lors d'une action de soutien aux sans-papiers zurichois via l'occupation de l'église Saint-Laurent, au centre-ville de Lausanne.

"Délit de faciès"

Tous deux nient et reçoivent chacun une amende de 210 francs. "Nous n'avons pas organisé cette manifestation, se défend Jean-Michel Dolivo. Nous sommes sympathisants du mouvement, c'est tout. Il n'y a eu aucun contrôle direct de la police, le rapport a été fait sur la base d'un délit de faciès. A travers nous, ce sont les mouvements qui sont visés dans leurs activités. " "C'est étonnant de la part d'une Municipalité de gauche", s'inquiète, de son côté, Nanda Ingrosso.

Jean-Philippe Pittet, porte-parole de la police lausannoise, relativise ces accusations: "Le terme de délit de faciès s'applique plutôt quand des policiers contrôlent des personnes de couleur. Dans ce cas, il s'agit simplement de personnes connues dans le milieu. La manifestation de décembre n'a pas fait l'objet d'autorisation, il est difficile de contrôler tous les noms. La distribution de tracts a été constatée par mon collègue sur place. Il y a tout un appareil administratif qui leur permet de recourir. " Le municipal Marc Vuilleumier juge, quant à lui, les paroles des trois militants "totalement excessives. Ils parlent d'une pluie d'amendes alors qu'il y en a trois. "

Sophie Simon

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La Liberté 26.3.09

Des militants se disent victimes du zèle policier

Libertés - Le Groupe antirépression dénonce des condamnations abusives de défenseurs des migrants dans l'exercice de leurs droits fondamentaux. Les autorités municipales de Lausanne sont appelées à réagir.

Arnaud Crevoisier

Un climat de répression s'est-il abattu sur les défenseurs des sans-papiers et autres migrants? C'est la conviction des animateurs du Groupe antirépression de Lausanne. Nanda Ingrosso et Jean-Michel Dolivo ont dressé hier un réquisitoire à charge contre les autorités de la ville. Tous deux s'estiment victimes de l'excès de zèle de la police locale et du laisser-faire de la municipalité à l'égard de cette pratique.

Le 19 décembre dernier, la syndicaliste et l'avocat s'étaient rendus à une manifestation de la Coordination asile. Le cortège s'était réuni à Saint-Laurent, avant de défiler dans le centre-ville. Nanda Ingrosso n'a participé que quelques instants au rassemblement sur le parvis de l'église et à l'intérieur de celle-ci. "Quant à moi, j'y ai distribué des tracts pendant un moment, mais sans participer au défilé", précise Jean-Michel Dolivo. Les deux militants ont pourtant été dénoncés comme étant les instigateurs de cette manifestation non-autorisée par la ville. Sur la base d'un constat de police, ces figures locales ont ainsi été condamnées à 210 fr. d'amende chacune. Une sentence que Jean-Michel Dolivo et Nanda Ingrosso contestent d'autant plus énergiquement qu'ils n'ont fait l'objet d'aucune interpellation. "Ni Nanda ni moi n'avons été contrôlés directement par la police. Le rapport de police s'est fait sur la base d'un délit de faciès. On ne nous a même pas demandé notre nom", accuse l'avocat.

Tous deux insistent sur leur rôle de second plan durant cet épisode. Ils n'en dénoncent pas moins "une application de plus en plus tâtillonne et répressive du règlement de police" lors de manifestations.

Membre de la Coordination asile et des Etats généraux, Graziella de Coulon est aussi la coprésidente de Solidarité sans frontières (SSF). En cette qualité, elle a récemment fait l'objet d'une condamnation pour "affichage sauvage". S'estimant victime d'une violation de ses droits, elle est aussi venue témoigner de son cas.

Le 26 août dernier, un agent du service d'assainissement de la ville constate que des appels à manifester émanant de SSF ont été placardés à la colle de poisson en dehors des emplacements autorisés. S'ensuit une dénonciation de Graziella de Coulon. L'intéressée, si elle reconnaît avoir distribué les tracts, ne s'estime pas responsable de leur affichage sur la voie publique. Et pour cause: "Je n'ai jamais demandé à qui que ce soit de coller cette affiche à la colle de poisson", précise Graziella de Coulon. L'argument n'a pas convaincu: cette dernière a été condamnée à 340 francs d'amende.

Appuyés par la présidente des Juristes progressistes vaudois, Charlotte Iselin, ces défenseurs du droit d'asile ont lancé un "Appel pour le respect des libertés d'expression, d'affichage, de manifestation". Dans l'immédiat, le texte exige l'acquittement des trois militants.

Pour Jean-Michel Dolivo, l'une et l'autre affaires sont politiques. L'avocat exige donc un sursaut des autorités. "La municipalité doit intervenir pour retirer ces poursuites et dire publiquement qu'il n'y a pas lieu de sanctionner pénalement l'organisation d'une manifestation." Et en cas de fin de non-recevoir? "Si nous ne sommes pas libérés de la poursuite pénale, il est clair que nous recourrons au Tribunal de police", clame l'avocat. Graziella de Coulon, elle, s'est résolue à payer l'amende.

En dépit de nos tentatives réitérées, il n'a pas été possible de joindre le conseiller municipal en charge de la police, Marc Vuilleumier.

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20min.ch 26.3.09

Des gauchistes se sentent harcelés

LAUSANNE. "Pluie d'amendes sur les militants", dénoncent des défenseurs des sans-papiers dans un appel présenté hier. "Parle-t-on d'une pluie ou d'un légère ondée?" ironise Marc Vuilleumier, municipal POP de la Police. La thèse des "dérives policières" ne repose en fait que sur deux cas: la coprésidente d'une association a été amendée en raison d'affiches posées à la colle, et les militants Jean-Michel Dolivo et Nanda Ingrosso ont été amendés pour avoir participé à une manifestation non autorisée qu'ils disent ne pas avoir organisée. "Ils peuvent faire recours et nous nous conformerons à la décision de la justice", relativise le porte-parole de la police.  job

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SEXWORK
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Bund 26.3.09

Von der Unterwelt in die Halbwelt

Seit 18 Monaten läuft der Betrieb der Kontaktbar Hotel Schloss Nidau unter Bedingungen des Regierungsstatthalters

Werner Könitzer schuf in Nidau ein Modell, wo Frauen abseits von Menschenhandel, Zwang und Gewalt Sexarbeit betreiben können. Die ersten Erfahrungen sind positiv, deshalb wollen Grossräte ein kantonales Prostitutionsgesetz.

Anita Bachmann

Beinahe im Jahresrhythmus führte die Polizei im Schloss Hotel Nidau aufwendige Razzien durch. Frauen, die sich illegal in der Schweiz aufhielten und in der Kontaktbar als Prostituierte arbeiteten, wurden in Ausschaffungshaft gesetzt und Betreiber und Hintermänner vor Gericht gestellt. Wegen Menschenhandel, Nötigung, Ausnützung einer Notlage und Förderung der Prostitution bei Minderjährigen wurden die Täter zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. Im Februar 2007 gelang der Kantonspolizei Bern und Schwyz in Nidau der bis dahin grösste Schlag gegen Menschenhandel in der Schweiz.

Praktisch von seinem Büro im Schloss Nidau konnte der Regierungsstatthalter Werner Könitzer dem Treiben jahrelang zuschauen. Er liess das Bordell mehrmals schliessen. Eine Wiedereröffnung konnte er jeweils nicht verhindern. Er musste zusehen, bis sich Beweise, die eine Polizeirazzia rechtfertigten, wieder erhärteten. Bei der letzten grossen Razzia waren 200 Polizisten im Einsatz. Ermittlungen durch die Polizei und den Untersuchungsrichter und die Gerichtsverfahren bis hin zur obersten Instanz hätten je Hunderte bis Tausende von Arbeitsstunden in Anspruch genommen, sagt Könitzer. Dazu käme die Situation der Frauen: Sie seien der Willkür der Betreiber und Hintermänner ausgesetzt, die sie mit psychischer oder physischer Gewalt zur Sexarbeit zwingen würden, ihnen Preise und Arbeitsbedingungen diktierten. Legal sei Prostitution seit 60 Jahren, aber nur unter der Wahrung der Selbstbestimmung, sagt Könitzer. "Die falsche Loyalität der Frauen gegenüber den Betreibern und die Heuchelei, es handle sich im Hotel Schloss nur um Touristinnen, denen man nicht vorschreiben könne, wie viele Freunde sie mit aufs Zimmer nehmen würden, haben mich genervt", sagt der Regierungsstatthalter. Deshalb entschloss sich Könitzer, aus der Kontaktbar vis-à-vis von seinem Regierungsstatthalterbüro ein legales Arbeitsumfeld für Sexarbeiterinnen mit menschenwürdigen Bedingungen zu schaffen - gestern zog er dazu Bilanz vor den Medien.

Recht auf Menschwürde

Dafür holte er Xenia, eine Beratungsstelle für Frauen im Sexgewerbe, an Bord. Eine der Hauptaufgaben sei die aufsuchende Sozialarbeit, erklärt Martha Wigger von Xenia. Dafür würden sie die Frauen in den Etablissements besuchen, ihnen erklären, dass es eine Beratungsstelle gebe, an die sie sich mit medizinischen, sozialen oder juristischen Problemen wenden könnten, und dass sie ein Recht auf Menschenwürde hätten. "Ins Hotel Schloss kamen wir nur, wenn wir den Türsteher mit Halbwahrheiten umgehen konnten", sagt Wigger. Aber auch drinnen sei es unmöglich gewesen, ohne Aufsicht der Betreiber mit den Frauen zu reden.

Beim Migrationsdienst, bei der Kantonspolizei, beim kantonalen Polizeidirektor und bei der Koordinationsstelle gegen Menschenhandel und Menschenschmuggel holte sich Könitzer die Informationen, um einen Rahmenvertrag auszuarbeiten. Erst als dieser vom Betreiber unterschrieben war, erteilte der Regierungsstatthalter ihm die Gastgewerbebewilligung, und die Kontaktbar Hotel Schloss Nidau nahm ihren Betrieb wieder auf.

"Grauzone akzeptieren"

18 Monate später zieht Könitzer nun Bilanz über sein Modell: Er habe das Sexgewerbe in Nidau von der Unterwelt in eine Halbwelt geholt. "Ein gewisser Dunst bleibt, eine Grauzone müssen wir akzeptieren", sagt Könitzer. Polizeikontrollen, die dank der Anknüpfung an die Gastgewerbebewilligung auch ohne Verdacht möglich sind, hätten aber ergeben, dass heute nur noch Frauen mit legalem Aufenthalts- und Arbeitsstatus aus den berechtigten EU- und Efta-Staaten arbeiten würden. Sie verdienten nicht schlecht, und Xenia könne ohne Behinderung ihre Arbeit machen, sagt Könitzer.

In den eineinhalb Jahren hat Könitzer den Rahmenvertrag um fehlende Punkte erweitert. Um dem hohen, gesundheitsschädigenden Alkoholkonsum der Frauen, der grösstenteils mit ihrer Arbeit verbunden sei, entgegenzuwirken, könnten sich die Sexarbeiterinnen nun am Umsatz von nichtalkoholischen Getränken beteiligen. "Auch die Steuerveranlagung mussten wir überdenken", sagt er. Viele Frauen seien nur maximal 90 Tage in der Schweiz und würden oft spontan abreisen. Deshalb entwarf Könitzer eine Express-Steuererklärung, in der die Frauen ihr Einkommen deklarieren müssen. Damit sie dieser Pflicht nachkämen, müssten sie eine Kaution hinterlegen.

Strassenstrich kaum erreichbar

Dass Millionenumsätze am Fiskus vorbeigeschleust würden, ist auch für FDP-Grossrat Adrian Kneubühler (Nidau) ein Grund, für die Prostitution einen kantonal legaleren Rahmen zu schaffen. Er und Christine Häsler (grüne, Wilderswil) verlangen zusammen mit SP und SVP ein Prostitutionsgesetz, das Schranken, Regeln und Schutz im Sexgewerbe ermöglichen soll ("Bund" vom 10. März). Könitzer hatte Grossräte gesucht, die einen entsprechenden Vorstoss lancieren würden, um das Nidauer Modell in ein Gesetz umzusetzen.

Menschenhandel werde damit nicht verunmöglicht, und Sexarbeiterinnen auf dem Strassenstrich seien schwer erreichbar. Dort sei unklar, wer der Betreiber sei und den Rahmenvertrag unterschreiben müsste. "Es besteht die Gefahr, dass diese Frauen definitiv in eine Unterwelt gelangen", sagt Wigger.

Städtische Bordelle?

Lichterlöschen in der Stadt Bern: Allein seit Anfang Jahr hat das Bauinspektorat gestützt auf den Zonenplan in mindestens sechs Liegenschaften das Rotlicht verboten ("Bund" vom 18. Dezember 2008). Dass Bordelle in Wohnzonen geschlossen würden, mache "durchaus Sinn", heisst es in einem gemeinsamen Vorstoss von SP und GB zu diesem Thema. Die Stadträtinnen und Stadträte mahnen jedoch vor den weitreichenden Folgen der Bordellschliessungen. Allein in der Lorraine verlören 100 Sexarbeiterinnen ihren Arbeitsplatz, heisst es in der interfraktionellen Interpellation. Die Prostituierten würden sich in der Folge überall "auf dem ganzen Stadtgebiet verstreuen, irgendwohin, wo ihre Betreuung, Beratung und Kontrolle nicht mehr gewährleistet ist". Deswegen müsse die Stadt ein Interesse daran haben, dass in den Dienstleistungszonen genügend Arbeitsplätze für das Sexgewerbe bestünden. "So ist dieses Gewerbe sichtbar, stört dort am wenigsten und ermöglicht auch beste Beratung und Betreuung durch Organisationen wie Xenia." Die Interpellantinnen regen zudem an, "die Stadt könnte Liegenschaften in der Dienstleistungszone zur Verfügung stellen".

Die gemeinderätliche Antwort auf den Vorstoss ist derzeit noch ausstehend. (pas)

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BZ 26.3.09

Sexgewerbe in Nidau

"Halbwelt" unter Kontrolle

Seit eineinhalb Jahren steht die Nidauer Kontaktbar Hotel Schloss unter behördlicher Beobachtung. Der Schritt "von der Unterwelt in die Halbwelt" sei getan, so die positive Bilanz von Statthalter Werner Könitzer.

Mitte 2007 startete Werner Könitzer ein Projekt, das schweizweit für Schlagzeilen sorgte. Mit dem Betreiber des Nidauer Hotels Schloss machte der Nidauer Regierungsstatthalter Rahmenbedingungen aus, nachdem es in der Kontaktbar immer wieder zu Razzien und Verhaftungen gekommen war. Gestern zog Könitzer eine positive Bilanz.

Alle mit Bewilligung

Bei Kontrollen der Kantonspolizei hätten alle Sexarbeiterinnen im Hotel Schloss die nötigen Aufenthalts- und Arbeitsbewilligungen gehabt. Auch die übrigen Auflagen wie marktübliche Mietpreise für die Zimmer, fremdsprachige Merkblätter und unbeschränkter Zugang für die Beratungsstelle für Frauen im Sexgewerbe, Xenia, wurden eingehalten.

So zieht denn auch Martha Wigger von Xenia eine positive Bilanz. Vor ein paar Jahren seien die Frauen, die in Nidau gearbeitet hatten, ängstlich und zurückhaltend gewesen. "Es war fast unmöglich, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen." Nun sei es bedeutend einfacher, auf die Frauen zuzugehen. "Es herrscht eine gute Atmosphäre, um mit den Frauen in Kontakt zu kommen. Ich sehe eine gewisse Offenheit und Freiheit, die Arbeitsbedingungen sind wirklich gut. Ausserdem kennen die Frauen ihre Rechte und Pflichten."

Eine dieser Frauen ist Mercedes, die gestern den Medien Interviews gab: "Ich bin zufrieden hier", sagt sie. Auch die Sicherheit sei gewährleistet. Gebe es Probleme, könne sie mittels Walkie-Talkie einen Securitas-Beamten herbeirufen.

Steuerpflicht war Problem

Natürlich habe es auch Probleme gegeben, so Könitzer. Etwa mit der Steuerpflicht. Die Frauen, die vor allem aus Ungarn, Tschechien und der Slowakei stammen, dürfen maximal 90 Tage in der Schweiz arbeiten. So waren sie meist schon wieder abgereist, wenn die Steuerrechnung kam. Das System wurde mittlerweile vereinfacht. Ein anderes Problem war der Alkohol. "Die Kunden bezahlen den Frauen Getränke, das führt dazu, dass sie sehr viel Alkohol konsumieren. Das ist ein gesundheitliches Problem", so Könitzer. Nun bekommen die Frauen für alkoholfreie Getränke eine Umsatzbeteiligung.

Noch nicht am Ziel

Noch verbesserungswürdig sei beispielsweise das Meldeverfahren. Und auch bei der Frage, ob tatsächlich keine oder weniger finanzielle Ausbeutung mehr geschehe, sei "der Durchbruch noch nicht gelungen. Es gilt, noch viele Widerstände zu überwinden", sagte Könitzer. Etwa bei Amtsstellen in der Verwaltung, "die das Gefühl haben, man könne alles so lassen, wie es ist. Ich bin verschiedentlich gebremst worden." Unterm Strich gehe die Rechnung indes auf: "Einen wichtigen Schritt von der Unterwelt in die Halbwelt haben wir getan", sagte Könitzer. "Eitel Sonnenschein herrscht zwar nicht, doch ein bisschen Dunst muss sein in diesem Gewerbe, wie mir Fachleute versichert haben." Zentral sei, dass "die Halbwelt unter behördlicher Kontrolle steht".

Doch es gebe noch einiges zu tun. So wolle er seine Kollegen in den Regierungsstatthalterämtern vertieft darüber informieren, "was möglich ist und was nicht". Und Werner Könitzer blickt auch auf das nächste Jahr, wenn er Statthalter des neuen Verwaltungskreises Biel-Seeland sein wird: "Für die Bieler Betreiber wird es eine harte Zeit geben mit mir."
Bettina Epper

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BIG BROTHER
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WoZ 26.3.09

Kein Einblick

Im vergangenen Sommer kam heraus, dass der Schweizer Staatsschutz weiter fleissig Daten sammelt: Drei WOZ-Autoren waren vom Geheimdienst wegen ihrer journalistischen Tätigkeit fichiert worden. Ebenso fichiert, dies aber wegen politischer Tätigkeit: Ein WOZ-Redaktor und der grüne Zürcher Gemeinderat Balthasar Glättli (siehe WOZ Nr. 32/08). Die ganzen Fichen, die der Dienst für Analyse und Prävention führt, blieben jedoch verschlossen. WOZ-Anwalt Viktor Györffy versuchte daraufhin, vor dem Bundesverwaltungsgericht die Herausgabe der Fichen zu erkämpfen.

Das Bundesverwaltungsgericht hat nun abschlägig entschieden und sieht keinen Grund, eine "vollständige Einsicht in die Datensammlungen der Staatsschutzorgane" zu gewähren. Die WOZ überlegt sich, zusammen mit dem Verein grundrechte.ch, den Fall an den Europäischen Gerichtshof für Menschen rechte in Strassburg weiterzuziehen. sb

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Bund 26.3.09

Bundesamt für Geheimdienste

VBS Der Inland- und der Auslandgeheimdienst sollen Anfang 2010 in einem neuen Bundesamt des Verteidigungsdepartements zusammengeführt werden. Der Bundesrat hat das Departement beauftragt, die nötigen Vorbereitungen an die Hand zu nehmen. VBS-Chef Ueli Maurer will rasch einen Direktor vorschlagen.

Die eidgenössischen Räte hatten im vergangenen Herbst nach jahrelanger Kritik an der mangelnden Zusammenarbeit der zivilen Nachrichtendienste gesetzlich festgelegt, dass die Dienste nur noch einem Departement unterstellt werden. Danach müssen der Inlandgeheimdienst - der Dienst für Analyse und Prävention (DAP) - und der Strategische Nachrichtendienst (SND) "eine gemeinsame und umfassende Beurteilung der Bedrohungslage" sicherstellen. Seit Anfang 2009 sind der DAP, der bisher zum Justiz- und Polizeidepartement gehörte, und der SND bereits dem VBS unterstellt. Nun hat der Bundesrat das VBS beauftragt, die Dienste per Anfang 2010 in einem neuen Bundesamt zusammenzuführen.

Auch im neuen Bundesamt, dessen Name noch offen ist, soll die Informationsbeschaffung nach In- und Ausland getrennt bleiben. In der Auswertung dagegen wer-den die Bereiche weitgehend zusammengeführt. (ap)

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TIGRIS
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Weltwoche 26.3.09

Bundespolizei

Die "Tiger" tarnen sich jetzt als "Tigerli"

Von Daniel Ammann

Die Bundeskriminalpolizei täuschte die kantonalen Polizeikommandanten über den wahren Zweck ihrer "Einsatzgruppe Tigris". Ausländische Anti-Terror-Spezialisten bildeten den Kampftrupp des Bundes aus.

Die Parlamentarier wussten nichts davon, die kantonalen Polizeidirektoren wussten nichts davon, mehrere kantonale Polizeikommandanten wussten nichts davon. Geheim aber soll die geheime "Einsatzgruppe Tigris" der Bundeskriminalpolizei trotzdem nicht gewesen sein, sagte alt Bundesrat Christoph Blocher Anfang Woche der Schweizerischen Depeschenagentur. Und: Es handle sich "auf keinen Fall um eine Bundessicherheitspolizei".

Justizminister Blocher wusste von den "Tigern" und liess sie weiterlaufen - trotz seiner "Skepsis", wie er sagte ("Ich hätte sie kaum bewilligt"). Gegründet worden war die "EG Tigris" zwar 2003 noch unter der Ägide von Ruth Metzler. Doch neu ausgerichtet, ausgebaut und bewaffnet wurde sie unter Blocher (2004-2007). Ihren 2,9 Millionen Franken teuren Stützpunkt in den Militäranlagen Worblaufen bezogen die Kampfpolizisten schliesslich unter der aktuellen Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf. Nachdem sie sich erst ahnungslos gegeben hatte, sagte sie am Sonntag, es brauche eine solche Truppe. Die Bundesrätinnen und Bundesräte haben allen Grund, die Aufregung um die so umstrittene Bundeskampftruppe herunterzuspielen. Schliesslich waren beziehungsweise sind sie politisch dafür verantwortlich, was in ihren Ämtern passiert.

Und die Aufregung ist gross, seit die Weltwoche letzte Woche die Elite-Einheit aus der Dunkelkammer Bundeskriminalpolizei ans Licht brachte. Der grüne Nationalrat Daniel Vischer verlangt in einer Motion vom Bundesrat, "die kriminalpolizeiliche Kampftruppe unverzüglich aufzulösen". Sie verfüge, sagt er, "weder über eine gesetzliche Grundlage noch über eine politische Legitimation". Sein Parteikollege Josef Lang will wissen, wie sich der Aufbau einer solchen Sondereinheit mit der kantonalen Polizeihoheit vertrage. Der Aargauer Sozialdemokrat Max Chopard verlangt Auskunft über die Einsatzdoktrin der "Tiger".

Aktiv wird auch die Geschäftsprüfungskommission (GPK), also die parlamentarische Aufsichtsinstanz der Regierung. Es stelle sich die Frage, sagte die fürs Justizdepartement zuständige Genfer SP-Nationalrätin Maria Roth-Bernasconi, ob der Aufbau der Tigris unter Umgehung des Parlaments rechtens gewesen sei: "Wir wollen wissen, ob diese Einheit opportun ist, ob sie effizient arbeitet und warum nicht offen informiert wurde." Gegenüber der Weltwoche betont Roth-Bernasconi, dass die GPK nichts von der Einsatzgruppe gewusst habe. Sie widerspricht damit alt Bundesrat Blocher, der sagte, die parlamentarische Delegation hätte "auf jeden Fall" davon gewusst.

Wichtig zu wissen: Erst vor kurzem inspizierte die Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates die Bundeskriminalpolizei zum letzten Mal. Am 25. November besuchte eine Delegation der parlamentarischen Aufsicht das Amt. Allein, die "Tiger" blieben ihr verborgen. Die Existenz der Einsatzgruppe Tigris wurde der Aufsichtskommission verschwiegen. Roth-Bernasconi passt das gar nicht. "Das müssten wir wissen", sagt die Nationalrätin. Sie findet, dass die Bundeskriminalpolizei (BKP) eine "Bringschuld" hat, wenn sie eine derart heikle Truppe aufbaut: "Sie muss das Parlament aktiv darüber informieren."

"Nur zur Selbstverteidigung"

Genau das wollte die BKP-Führung unter Kurt Blöchlinger offensichtlich nicht. Auch die kantonalen Polizeidirektoren wurden nicht aktiv über die Kampftruppe des Bundes informiert. Fragt man das Bundesamt für Polizei, wieso denn nicht, heisst es: "Wir haben unsere Informationspflicht gegenüber unseren kantonalen Partnern wahrgenommen, indem wir die Einsatzgruppe anlässlich der Konferenz der kantonalen Polizeikommandanten im September 2005 [. . .] präsentiert haben. Es ist unserer Meinung nach Sache der Polizeikommandanten, ihre Vorgesetzten, namentlich die Polizeidirektoren, anschliessend ins Bild zu setzen."

Über was aber wurde in jenem September 2005 eigentlich genau informiert? Am Mittwoch, dem 14. September 2005, trafen sich die Polizeikommandanten der Kantone zu ihrer 96. Jahreskonferenz. Tagungsort war ein Fünf-Sterne-Luxushotel in Genf, das "Intercontinental". Sie diskutierten, wie gross die Risiken islamistischer Umtriebe in der Schweiz wirklich seien. Die Kommandanten redeten darüber, ob die Kantone davon betroffen sind, dass das Parlament den Ausbau der Bundeskriminalpolizei stoppte.

Nach dem Jahresbericht des Präsidenten schliesslich kam Traktandum 10 zur Sprache: "Tigris - die Einsatzgruppe der Bundeskriminalpolizei". BKP-Chef Kurt Blöchlinger informierte die kantonalen Polizeikommandanten über ein neu geschaffenes "Kommissariat". Diese Einsatzgruppe, sagte er, sei zuständig für "allgemeine Vorermittlungen", "erste Massnahmen" und "Zielfahndungen". Ein Teilnehmer der Konferenz verstand darunter, was man als Polizist unter ersten Massnahmen versteht: Bei einem neuen Fall wird abgeklärt, in welche Kompetenz er fällt. Ist es Bundessache oder ist ein Kanton dafür zuständig? Zielfahnder suchen ausgeschriebene Straftäter. Klassische kriminalpolizeiliche Aufgaben. Blöchlinger betonte denn auch, bei der Einsatzgruppe handle es sich um ein "kriminalpolizeiliches Element".

Dann legte Blöchlinger eine Folie auf, welche die Kommandanten beruhigen sollte, die allenfalls befürchteten, die Einsatzgruppe des Bundes könnte die kantonale Polizeihoheit verletzen: "Die Einsatzgruppe Tigris ist keine Interventionseinheit analog der Kantone", stand auf dieser Folie unmissverständlich. Als Interventionseinheit versteht man gemeinhin eine Spezialeinheit, die bei besonders gefährlichen oder gewalttätigen Straftätern zum Einsatz kommt, bei bewaffneten Geiselnahmen etwa oder bei Terroristen.

Der Aargauer Polizeikommandant fragte anschliessend noch, ob die Mitarbeiter der Tigris nur in Zivil aufträten oder ob sie auch polizeiliche Aufschriften und Abzeichen trügen. Blöchlinger antwortete, die Beamten der Tigris hätten Gilets mit der Aufschrift Polizei, die sie überziehen können, um während eines Einsatzes erkennbar zu sein. Der Schaffhauser Kommandant wollte wissen, wie die EG Tigris den Gebrauch von Schusswaffen handhabe. Die Schusswaffen, sagte Blöchlinger, seien "nur zur Selbstverteidigung". Die Kosten der Bundestruppe waren kein Thema.

Ein Polizeikommandant eines grösseren Kantons, der dabei war, kriegte den Eindruck, bei der Tigris handle es sich bloss um eine Gruppe von speziell ausgebildeten Kriminalpolizisten, die sich auch um Verhaftungen kümmern und im Auftrag des Bundes ausgeschriebene Straftäter aufspüren. Eine solche "niederschwellige Gruppe", wie er sagt, schien ihm sinnvoll und zweckmässig. Das mag der Grund sein, dass die Kommandanten die Information über Tigris nicht an ihre politischen Vorgesetzten, die Polizeidirektoren der Kantone, weitergaben: Sie war nicht wichtig, da "keine Interventionseinheit analog der Kantone".

"Stage" bei der GSG 9

Blöchlinger führte, man kann es nicht anders sagen, die Kommandanten hinters Licht. Ein Eingeweihter spricht von "Täuschung": Die Einsatzgruppe Tigris ist nämlich nichts anderes als "eine Interventionseinheit analog der Kantone". Ein Beteiligter schilderte sie uns als "Hardcore-Interventionseinheit", ein anderer als "reines Interventionsinstrument". Davon zeugen auch die Ausrüstung, die Ausbildung und die Infrastruktur der "Tiger". So verfügt die Tigris über alles Material, das eine gutausgerüstete Anti-Terror-Einheit braucht. Von Maschinenpistolen und Rammböcken über Blendgranaten und Knallpetarden bis zu Flinten und Kevlar-Helmen. So haben die "Tiger" eine klassische Grenadierausbildung, wie sie für Interventionseinheiten üblich ist. So bildeten sogar ausländische Anti-Terror-Spezialisten die Schweizer Bundespolizisten aus - zum Beispiel in Nahkampf, Taktik und Schiessen. "Tiger" besuchten nach Informationen der Weltwoche Lehrgänge unter anderem bei der legendären GSG 9 der deutschen Bundespolizei und beim "Einsatzkommando Cobra" des österreichischen Innenministeriums. Das Bundesamt für Polizei bestätigte, dass "Angehörige der Einsatzgruppe zur Weiterbildung Stages bei ausländischen Partnern" absolvierten. Das Amt weigerte sich aber zu sagen, wo diese "Stages" stattfanden. Schliesslich ist auch die Infrastruktur auf eine Interventionseinheit gemünzt, mit einer interaktiven Schiessanlage und einem Spezialraum, um die Stürmung von Wohnungen einzuüben.

Das alles zeigt klar, wohin die Reise gehen sollte. Es ist wenig glaubwürdig, die "Tiger" nun als harmlose "Tigerli" zu tarnen. Das weiss auch die BKP-Führung - allen öffentlichen Verlautbarungen zum Trotz - selber am besten. Tigris-Chef Michael Jaus stellte erst vor kurzem stolz fest, seine Einsatzgruppe sei jetzt die beste Sondereinheit der Schweiz. Seine Männer, die laut "10 vor 10" des Schweizer Fernsehens das "Tiger"-Logo auf die Schulter tätowiert haben, hörten die Worte ihres Chefs mit Stolz.

Die engen Freunde Blöchlinger und Jaus hatten bis letzte Woche ehrgeizige Pläne für die Einsatzgruppe Tigris. Sie wollten sie von den heute vierzehn auf mehrere Dutzend Elitepolizisten ausbauen. Sie wollten einen 24-Stunden-Pikettdienst einrichten. Sie wollten, dass sämtliche Verhaftungen der Bundespolizei nur durch die Tigris erfolgen sollten. Sie wollten den Bundessicherheitsdienst, der für den Personen- und Gebäudeschutz zuständig ist, an die Einsatzgruppe anbinden. Nationalrat Josef Lang hat wohl recht, wenn er vermutet, dass die Tigris in Richtung eines "Sicherheitsdetachements light" ging. Ruth Metzler scheiterte 2002 mit ihrer Idee einer solchen Bundespolizeitruppe. Im Jahr darauf segnete sie die Bildung der Einsatzgruppe Tigris ab.

Die ehrgeizigen Pläne der "Sheriffs", wie Blöchlinger und Jaus intern genannt werden, dürften erledigt sein. Das Parlament wird jetzt, endlich, die Einsatzgruppe beobachten und begleiten. Die wichtigsten Fragen sind gestellt: Ist sie nötig, nützlich und wirksam? Sind die 2,7 Millionen Franken, die sie uns jedes Jahr kostet, gerechtfertigt? Gibt es eine gesetzliche Grundlage für sie? Verletzt sie die Polizeihoheit der Kantone? Und vor allem: Wurde sie, weil sich niemand um sie kümmerte, hinter dem Rücken der Politik ausgebaut?

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Blick 26.3.09

Nach Tigris-Enthüllungen im BLICK

Widmer-Schlumpf verhängt Maulkorb

Von  Henry Habegger

Im Tigris-Streit verhängt Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf Maulkörbe an Fedpol-Chef und Bundesanwalt.

Es gab und gibt bei der Bundeskriminalpolizei (BKP) keine "Kampftruppe" Tigris. Geheim war sie schon gar nicht. BKP-Chef Kurt Blöchlinger (45) musste selbst hinstehen und im BLICK-Intereview sagen, was Sache ist. Dass Politiker ein kurzes Gedächtnis haben, wissen wir. Wo aber blieben im "Gschtürm" um Tigris die Chefs in Verwaltung und Justiz, die bestens Bescheid wussten? Jene Leute, die Tigris bewilligt haben, wie etwa Jean-Luc Vez, Chef des Bundesamts für Polizei (Fedpol). Oder Erwin Beyeler, Chef der Bundesanwaltschaft, für die Tigris einen Grossteil ihrer bisher 130 Einsätze durchführte?

BLICK wollte von Fedpol-Chef Vez und Bundesanwalt Beyeler gestern wissen: Warum hat keiner Tigris und dem einmal mehr unter massiven Beschus der "Weltwoche" geratenen BKP-Chef Blöchlinger den Rücken gestärkt?

Antwort auf solche Fragen gab es gestern leider keine. Das Fedpol antwortete erst gar nicht auf eine Anfrage. Und Bundesanwalt Beyeler liess aussrichten: "Die Bundesanwaltschaft sieht keine Veranlassung, sich auch noch zum Thema zu äussern. Dem Interview des Chefs BKP ist nichts beizufügen."

Dank EJPD-Chefin Widmer-Schlumpf haben die Schweiger sogar noch ein praktische Erklärung für ihr Schweigen. Widmer-Schlumpf hat Vez und Beyeler einen Maulkorb verpasst.

EJDP-Sprecherin Brigitte Hauser bestätigt, dass Fedpol und Bundesanwaltschaft angewiesen wurden, zu Tigris keine Stellung zu nehmen: "Nachdem Frau Bundesrätin Widmer-Schlumpf Abklärungen angeordnet hat, ist auch das Generalariat EJPD für die Information/Kommunikation zuständig. Sobald die Abklärungen abgeschlossen sind, wird die Öffentlichkeit informiert werden."

Ein Maulkorb ist manchmal ein kommodes Ding. Wenn unangenehme Fragen der Antworten harren.

Doch das Ding hat auch seine Tücken. Dann, wenn es der Bundesanwalt ist, der sich von der Justizministerin einen Maulkorb umhängen lässt. Sowas riecht leicht nach mangelnder Unabhängigkeit.

Hingegen ist fehlende Rückendeckung durch Chefs nichts Aussergewöhnliches. Es ist eines der Hauptprobleme, mit denen Bundesangestellte im Bereich Polizei kämpfen. Wenn es kritische Artikel gibt, lässt man die Leute gerne im Regen stehen.

So bleibt Kurt Blöchlinger der Einzige, der für Tigris einstand. Und er bereut es nicht, im BLICK die Hintergründe dargelegt zu haben. "Ich bekam den ganzen Tag Anrufe und SMS", sagt Blöchlinger. "Sie waren durchwegs positiv. Der Tenor: Endlich hatte einer den Mut, hinzustehen und die Wahrheit zu sagen".

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Blick am Abend 25.3.09

"Über ‹Tigris› wussten immer alle Bescheid"

Wirbel → Die Einsatztruppe "Tigris" war und ist nicht geheim. Das sagt der Chef der Bundeskriminalpolizei, Roman Blöchlinger.

markus.ehinger@ringier.ch

Ein Sonderkommando der Bundeskriminalpolizei mit 14 Mann und einem Budget von knapp 2,7 Millionen Franken. Und niemand wusste etwas davon? Die "Weltwoche " behauptete, "Tigris" sei eine "geheime Bundespolizei ". "Eine solche Geheimtruppe gibt es nicht und es gab sie nie", sagt Kurt Blöchlinger, Chef der Bundeskriminalpolizei (BKP), heute dem "Blick". Er bestätigt im Interview, dass es eine ‹Tigris›-Einheit gibt: "Die Politik, das Justizdepartement und der Direktor des Bundesamtes für Polizei - alle waren im Bild", sagte Blöchlinger. 2005 habe der damalige Justizminister Christoph Blocher im Rahmen einer Inspektion die Einsatzgruppe Tigris untersuchen lassen. Auch zu Blochers Nachfolgerin Eveline WidmerSchlumpf sei die Bundeskriminalpolizei offen gewesen. "
Wir luden die Departementsspitze via Generalsekretärin vor rund einem halben Jahr ein, die Spezialeinheiten, unter anderem "Tigris", zu besuchen." Dieser Besuch habe bisher aber nicht stattgefunden.
"Die Kantone wollten und konnten gewisse Aufgaben zugunsten der Bundesstrafverfahren nicht mehr für den Bund übernehmen." Zudem habe man die Kantone damals für ihre Einsätze bei Bundesstrafverfahren nicht bezahlt. Deshalb habe er als Leiter der BKP ein spezialisiertes Team gebildet. "Tigris " wurde während Blochers Amtszeit zwischen 2004 und 2005 aufgebaut. "Ich habe ‹Tigris› mit Einwilligung meiner Vorgesetzten eingeführt. "
Bis heute habe "Tigris" bei rund 130 Einsätzen mit 21 Kantonen zusammengearbeitet, sagte Blöchlinger. Aus den Kantonen seien bisher nur äusserst positive Rückmeldungen gekommen. "Es kam bisher nie zu einer Schussabgabe", sagte Blöchlinger.

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STREIK-PROZESS
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WoZ 26.3.09

Angriff auf die Streikposten

Streikrecht - Der Strafprozess zum Allpack-Streik in Baselland ist kein Einzelfall. Seit das Streikrecht in der Verfassung steht, drohen die Patrons kämpfenden ArbeiterInnen vermehrt mit Schadenersatzklagen. Eine unternehmerfreundliche Justiz hilft dabei kräftig mit.

Von Mischa Suter

Am Mittwochmorgen früh haben sich rund hundert GewerkschafterInnen und UnterstützerInnen vor dem Strafgericht Basel-Landschaft in Liestal versammelt. Der Anlass ist ein eher unspektakuläres Berufungsverfahren, dessen Urteil für Freitag, 27. März, erwartet wird. Und doch geht es um Grundsätzliches: um nicht weniger als das Streikrecht. Gegen 22 Personen bestehen Strafbefehle wegen Nötigung und Hausfriedensbruch, weil sie in einem Arbeitskampf Streikposten standen. Der Anlass selbst liegt weit zurück - die Mühlen der Jus tiz mahlen langsam. Fünf Jahre ist es her, dass die Angeklagten beim Streik in der Liestaler Firma Allpack das Werktor blockierten.

Doch die Justiz mahlt präzis: Sieben Tagessätze bedingt - umgerechnet rund 1200 Franken - hat in den meisten Fällen das Bezirksstatthalteramt Liestal verlangt, dessen Strafbefehle nun angefochten werden. Parallel zur Strafklage hat Allpack-Chef Robert Scheitlin eine Zivilklage lanciert, in der er Schadenersatz fordert. Kostenpunkt: 800 000 Franken, macht inklusive Zinsen seit Ende 2003 eine runde Million. "Da ergänzen sich ein strafrechtlicher und ein zivilrechtlicher Angriff", sagt Lothar Moser, ein angeklagter Aktivist aus dem Solidaritätskomitee zum Streik. Wie alle 22 Angeklagten bekommt Moser seit fünf Jahren, immer im Dezember, Post von Scheitlin - ein Zahlungsbefehl, gegen den Moser jedes Mal Rechtsvorschlag erheben muss.

"Wie Menschen behandelt werden"

Allpack in Reinach BL mit seinen wenigen Dutzend Angestellten ist ein kleiner, aber typischer Fall. Die Firma ist ein Produkt der Outsourcingwelle der letzten Jahrzehnte: Novartis, Ricola oder Migros lagerten Verpackungsarbeiten in den Kleinbetrieb aus, der keinen Gesamtarbeitsvertrag (GAV) kennt und in dem prekäre Arbeitsbedingungen herrschen. Im November 2003 stellte Scheitlin die Allpack-Belegschaft vor die Wahl: Entweder sie akzeptierten eine Woche weniger ­Ferien, Mehrarbeit, einen verschlechterten Mutterschutz und die Umwandlung des 13. Monatslohns in einen variablen Bonus - oder allen würde gekündigt. Die Arbeiter Innen, fast alle ausländische Frauen, beschlossen zu streiken. Insgesamt ging es um eine Lohnsenkung von gegen fünfzehn Prozent - ebenso ging es aber um Respekt für ihre Arbeit. "Wir wollen wie Menschen behandelt werden", stand auf einem der selbst gemalten Transparente.

"Die Arbeitsteilung zwischen Staat und Unternehmer gegen den Streik bestand von Anfang an", erinnert sich der Streikunterstützer Lothar Moser. Sogleich bewilligte die zuständige Behörde ein Gesuch des Unternehmers für Nachtarbeit, um die Ausfälle nach Ablauf des Streiks aufzuholen. Und als am 1. Dezember 2003 das Schlichtungsverfahren scheiterte, räumten Polizisten in Kampfmontur die Blockade am Werktor und verhafteten rund dreissig Personen. Es gab vier Verletzte.

Einschüchterungstaktik

Aufgrund dieser Verhaftung stehen heute die 22 Leute in Liestal vor Gericht. Der zehntägige Streik endete mit einer Niederlage. Rund zehn entlassene Arbeiterinnen wurden nicht wieder eingestellt, einige blieben länger arbeitslos. Sie hätten auch nicht unter demselben Besitzer weiterarbeiten wollen, meint Roland Kreuzer, Ko-Präsident der zuständigen Gewerkschaft Comedia. Der GAV, auf den die Schlichtungsstelle des Kantons Baselland den Unternehmer verpflichtet hatte, ist bis heute nicht umgesetzt. Dazu kommt die Drohung mit der Zivilklage auf Schadenersatz. Von dieser schreibt zwar auch die Staatsanwaltschaft, sie sei "nicht genügend ausgewiesen". Dennoch habe das Vorgehen System, sagt Roland Kreuzer. Seit dem Jahr 2000 ist das Streikrecht in der Bundesverfassung verankert. "Seither versuchen die Unternehmer mit Strafprozessen und Schadenersatzforderungen eine Taktik der Einschüchterung."

Die Comedia war in den letzten Jahren bei den Druckereien Tamedia/ARO in Zürich und Presses Centrales Lau sanne (PCL) nach Streiks mit Schadenersatzforderungen konfrontiert. Im Fall von PCL hatte das Bundesgericht entschieden, eine Blockade sei zwar grundsätzlich durch das Streikrecht erlaubt, aber bereits eine Menschenkette der Streikposten könne eine "Unverhältnismässigkeit" bilden. Kreuzer geht davon aus, dass das Urteil im Allpack-Strafprozess Einfluss auf das Schadenersatzverfahren haben wird. Auch wenn der Unternehmer mit seiner Millionenforderung nicht durchkommen wird, dürfte der Zivilprozess anrollen, falls jetzt ein negatives Strafurteil gegen die 22 Personen gefällt wird.

Demonstration "Solidarität mit den Angeklagten im Allpack-Prozess - für das Streikrecht": Donnerstag, 26. März, 18 Uhr, Bahnhofplatz Liestal.

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Basler Zeitung 26.3.09

Auftakt mit Transparenten und Polizei

 Liestal. Allpack-Prozess findet unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen statt

Thomas Gubler

Vor dem Strafgericht Baselland hat gestern der Prozess gegen die Allpack-Streikenden begonnen. Während der Staatsanwalt bedingte Geldstrafen von wenigen Tagen und Bussen wegen Nötigung und Hausfriedensbruch fordert, plädiert die Verteidigung auf Freispruch.

Dass die 22 Angeklagten nicht alleine zum Auftakt des Allpack-Prozesses in Liestal erscheinen würden, war erwartet worden. Mindestens 100 Kolleginnen und Kollegen der Gewerkschaft Comedia begleiteten sie in einer friedlichen Kundgebung vor Gericht - einige bis in den Gerichtssaal. "Streiken ist keine Straftat" oder "Wir verteidigen das Streikrecht gegen die Bosse, die Polizei und die Justiz", lauteten die Parolen auf den mitgeführten Transparenten.

Schon eher mit Überraschung, teilweise mit Befremden wurden dagegen das grosse Polizeiaufgebot vor und im Gerichtsgebäude sowie die Sicherheitsbestimmungen zur Kenntnis genommen. Sämtliche Anwälte, Zuschauer und Medienvertreter mussten sich rigorosen Kontrollen unterziehen und Handys, Aufnahmegeräte etc. dem Gerichtsweibel abgeben. WC-Besuche während der Verhandlung waren nur in Begleitung möglich. Im Internet sei im Zusammenhang mit dem Prozess zu Gewalttaten aufgerufen worden, erklärte der Einsatzleiter der Polizei.

Drei Tranchen

Mit einer Videoaufnahme über die Ereignisse von Ende November und Anfang Dezember 2003 - weil es schon so lange her ist - eröffnete Gerichts-Vizepräsident Christoph Spindler dann die Verhandlung gegen die 22 Angeklagten. Oder zumindest einmal gegen die ersten acht. Denn der Prozess wird aus Platzgründen in drei Teilverhandlungen geführt. Die zweite Achtergruppe war am Nachmittag dran, und über die verbeleibenden sechs wird heute verhandelt. Das Urteil gegen alle 22 wird dann am Freitagnachmittag gesprochen.

Weil der Sachverhalt - der zehntägige Streik bei der Allpack und die Ereignisse bei der polizeilichen Auflösung am 1. Dezember 2003 (BaZ vom Montag) - nicht bestritten war, konnte der Einzelrichter das Beweisverfahren schnell abschliessen und den Parteivertretern das Wort zu den Plädoyers geben. Dabei stellte Staatsanwalt Friedrich Müller gleich zu Beginn grundsätzlich fest, dass der Streik rechtswidrig war. Die Streikenden hätten zudem mit der Blockade und der aggressiven Art, wie sie angeblich Arbeitswilligen den Zugang versperrten, den Tatbestand der Nötigung erfüllt. Und weil die Streikenden trotz Aufforderung durch die Polizei das Firmengelände nicht verlassen hätten, sei bei den allermeisten der Tatbestand des Hausfriedensbruchs gegeben.

Er beantragte, weitgehend analog zu den Strafbefehlen des Statthalteramtes, für die ersten acht Angeklagten bedingte Geldstrafen zwischen drei und sieben Tagessätzen sowie Bussen zwischen 150 und 250 Franken. Lienhard Meyer, der Anwalt des Allpack-Besitzers, unterstützte den Staatsanwalt.

Der Verteidiger

Dann schlug die Stunde von Verteidiger Nicolas Roulet. Mit Witz, teils mit bitterer Ironie, versuchte er, den Staatsanwalt als Gehilfen des Allpack-Eigners darzustellen. Den Polizeieinsatz bezeichnete er als nicht gerechtfertigt. Es sei nicht Aufgabe der Polizei, einen Arbeitskampf zu beenden. Und da der Einsatz nachmittags um halb vier, also kurz vor Feierabend stattgefunden habe, sei das Ganze ohnehin "eine Show-Veranstaltung gewesen". Den Tatbestand der Nötigung bestritt Roulet: "Die Seiteneingänge waren nie blockiert. Es wurde niemand wirklich von der Arbeit ferngehalten." Auch den Punkt des Hausfriedensbruchs liess Roulet nicht gelten. Das Hausrecht beginne erst hinter der Drehtüre. Vorher gebe es keine Umfriedung, erklärte der Verteidiger und forderte Freispruch für alle.

Betreffend SP-Landrätin Eva Chappuis, die sich laut Anklage der psychologischen Gehilfenschaft schuldig gemacht hat, sagte Roulet: "Psychologische Gehilfenschaft zur Nötigung ist schlicht einfach nichts." Die Zivilforderung der Allpack von 800 000 Franken beantragt er abzuweisen.

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Basellandschaftliche Zeitung 26.3.09

Allpack-Streik erregt die Gemüter weiter

Prozessauftakt mit friedlichen Demonstranten und völlig unverhältnismässigen Sicherheitsvorkehrungen

Seit gestern wird vor dem Baselbieter Strafgericht den Allpack-Streikenden der Prozess gemacht › fünf Jahre nach angeblichem Hausfriedensbruch in Reinach.

Rolf Schenk

Was sich gestern schon vor Prozessbeginn vor dem Kantonsgerichtsgebäude in Liestal abgespielt hat, kommt einer Farce gleich: Scharf beobachtet von Polizisten › einer hat sogar einen furchterregenden Bluthund an der Leine › warteten die Angeklagten im Allpack-Prozess, deren Verteidiger und viele Sympathisanten friedlich darauf, dass sie eingelassen wurden. Auf dem Parkplatz hinter dem Gerichtsgebäude waren weitere Polizisten postiert, bereit für einen allfälligen Einsatz.

Vor dem Gerichtssaal die nächste Überraschung: Personenkontrolle wie bei einem Terroristenprozess. Alle wurden "gefilzt", Mobiltelefone und "gefährliche Gegenstände" wie Taschenmesser mussten abgegeben werden. Und das alles, weil sich in mehreren Tranchen jene 22 Personen vor Gericht verantworten müssen, die nach dem Streik bei der Reinacher Allpack AG am 1. Dezember 2003 der Nötigung und des Hausfriedensbruchs angeklagt worden sind (bz vom Dienstag).

Gewaltloser Widerstand

Mit halbstündiger Verspätung konnte dann Strafgerichts-Vizepräsident Christoph Spindler als Einzelrichter die Verhandlung mit der Befragung zur Person eröffnen. In der ersten Verhandlungs-Tranche haben sich neun Personen zu verantworten, die damals mit gewaltlosem Widerstand den Eingang zur Allpack blockiert haben.

 Die meisten Angeklagten wollten sich jedoch nicht äussern, was beim Vorsitzenden auf gewisses Verständnis stiess. "Ist ja nicht die grosse Kriminalität", meinte er fast etwas verlegen. Ist es wirklich nicht, aber da muss bei der Prozessvorbereitung wohl jemand anderer Meinung gewesen sein. Wer diese schlicht unverhältnismässige Massnahme angeordnet hat, war gestern indes nicht zu klären.

 Dass die Streikenden damals passiven Widerstand geleistet hatten, war in der Video-Sequenz zu sehen, die vor der Befragung zur Sache vorgeführt wurde und eigentlich nur den nach Meinung der Angeklagten unverhältnismässigen Polizeieinsatz dokumentierte. Der Staatsanwalt war da allerdings anderer Meinung: Der Streik sei rechtswidrig gewesen. Er sei zwar von einer tariffähigen Organisation getragen worden, habe jedoch nur der Durchsetzung von Einzelinteressen und kaum dem Abschluss eines neuen Arbeitsvertrags gegolten. Allpack-Geschäftsführer Robert Scheitlin habe den Streikenden nämlich ein Angebot zu Verhandlungen über einen neuen Gesamtarbeitsvertrag angeboten, das von ihnen jedoch ignoriert worden sei. Sie hätten Arbeitswilligen den Zugang zum Betrieb mit unverhältnismässigen Mitteln verwehrt. Auch die Polizei habe die Blockade erst mit dem Einsatz ihres Ordnungsdienstes auflösen können.

 Die mitangeklagte SP-Landrätin Eva Chappuis habe die Streikenden zwar nur "psychisch aktiv" unterstützt, damit aber den Tatbestand der Beihilfe zur Nötigung erfüllt, sagte der Ankläger, der für die Angeklagten bedingte Geldstrafen von wenigen Tagessätzen und "spürbare Bussen" in der Grössenordnung um die 250 Franken fordert. Allpack-Anwalt Lienhard Meyer verzichtete zwar auf eine ausführliche Stellungnahme, "weil der Staatsanwalt bereits alles gesagt" habe, fügte aber bei, dass das Unternehmen an den Zivilforderungen von über 800 000 Franken festhalten werde.

Polizei-Einsatz "reine Show"

Verteidiger Nicolas Roulet war da anderer Meinung: Statt die Forderung auf den Zivilweg zu verweisen, sei sie gänzlich abzulehnen und seine Mandanten freizusprechen. Er räumte zwar ein, dass jeder Streik als Nötigung angesehen werden könne, hielt aber fest, dass dem leitenden Personal der Zugang nie verweigert worden sei. Die Allpack-Leitung sei in verschiedener Hinsicht überfordert gewesen. Deswegen habe das Personal als "Sündenbock" hinhalten müssen. Den Polizeieinsatz bezeichnete er als "reine Show-Veranstaltung" für das Fernsehen. Er könne nämlich nichts erkennen, was den gesetzlichen Auftrag der Polizei gerechtfertigt hätte. Der Einsatz sei wohl einfach "von oben" angeordnet worden, vermutete Nicolas Roulet.

 Auf das Urteil in diesem Prozess, das Christoph Spindler am Freitagnachmittag eröffnen wird, dürften nicht nur die Angeklagten gespannt sein.

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Indymedia 25.3.09

1. Tag Allpackprozess - Bericht

AutorIn : Revolutionärer Aufbau Schweiz

Vor dem Gericht Bericht zum ersten Prozesstag beim Allpackstreik. Über 100 Leute anwesend. Morgen wird auf eine Demo mobilisiert. Kommt alle. Das Streikrecht verteidigen!

Bericht und mehr Bilder auf:
 http://www.aufbau.org/index.php?option=com_content&task=view&id=571&Itemid=77     
    
Zum heutigen Prozess-Auftakt gegen die Streikenden vom Allpack-Streik versammelten sich über 100 AktivistInnen und Gewerkschaftsfunktionäre um 7.30 Uhr vor dem Gericht am Bahnhofsplatz in Liestal. Die Bullen waren schon zugegen, hielten sich aber im Hintergrund. Dies ist in Basel-Land nicht selbstverständlich, erinnern wir uns nur an die Räumung des Allpack-Streiks und die darauf stattfindende Demo gegen die Repression. Bei beiden zeigte sich der örtliche Repressionsapparat äusserst aggressiv und prügelnd.

Auf den Prozess mobilisierten die Solikomitees Zürich und Basel sowie die Gewerkschaft Comedia, deren Funktionäre u. a. vor Gericht standen. Die Anklage auf Nötigung betrifft über 20 Leute, welche jeweils in drei "Schichten" vor der Klassenjustiz antraben müssen. Dies beansprucht den Mittwoch und Donnerstag. Am Freitag soll die Urteilsverkündung sein. Angeklagt sind vor allem UnterstützerInnen und GewerkschafterInnen.

Die Protestierenden versammelten sich vor dem Gerichtsgebäude und es wurden einige Reden gehalten, welche auf die Verteidigung des Streikrechts verwiesen und auch klar machten, dass Streik nunmal weh tun soll und insofern eine Nötigung darstellt. Das Solikomitee Basel und das Solikomitee Zürich hatten je ein grosses Transpi mit der Aufschrift "Verteidigen wir unser Streikrecht gegen die Bosse, Polizei und Justiz!" und "Gemeinsam gegen die Angriffe der Unternehmer und ihres Staates auf unsere Arbeits- und Lebensbedingungen!" ausgerollt. Der AUFBAU hatte ein Transpi mit der Auschrift "Solidarität mit den Allpack-Angeklagten - Widerstand vor Gericht! - Kampf der Klassenjustiz - 1. Mai, den Spiess umdrehen" an die Bäume gehängt.

Nur wenige der Anwesenden konnten dem Prozess beiwohnen, da nicht genug Platz im Gerichtssaal sei. Der grosse Rest blieb also vor der Türe und stellte Informationsstände auf und verteilte Flugblätter auf dem Platz direkt vor dem Bahnhof. Im Gerichtssaal konnte man dann feststellen, dass es an Plätzen noch einige freie gehabt hätte. Die Angst des Gerichtsweibels vor "Unordnung" hatte wohl zur Fehlkalkulation geführt. Im Gang versammelten sich die UnterstützerInnen und Angeklagten und wurden vom Weibel instruiert, dass bei Störungen oder Tumult der Polizist oder der Weibel selbst die UnruhestifterInnen herausbegleiten würde und es zu Bussen kommen könnte. Aus dem Büro des Staatsanwaltes konnte man erlauschen, dass es auf dem Internet Aufrufe zu "Gewaltaktionen" gegeben habe.

Den Beginn des Prozesses leitete der Richter mit einem paternalistischen Ritual ein. JedeR Angeklagte wurde zur ökonomischen, familiären, strafrechtlichen und gesundheitlichen Lebenssituation befragt. Diese absurde Farce sollte vor allem der Demütigung der Angeklagten dienen. So fragte der Richter jeweils rethorisch die Leute ab und ergänzte die Antworten mit den Daten in seinem Ordner. Die Situation erinnerte an eine Prüfung, bei welcher bei falschen und unvollständigen Antworten die richtige vom Lehrer präsentiert wurde. So wurden persönliche Details zu Vorstrafen oder Gesundheitszustand den Medienschaffenden präsentiert.

Danach wurden die Beweismittel vorgelegt: Der Tele-Basel-Bericht und einige Fotos. Die Stimmung im Saal war einhellig: In Anbetracht der massiven Bullengewalt, welche im Film zu sehen war, ist es der Staat, der hätte hier vor Gericht stehen müssen und nicht die Streikenden. Man muss schon im Dienste des Kapitals stehen, in dieser Situation nicht die verkehrte "Gerechtigkeit" zu sehen.

Es folgten die Plädoyers der Vertreter des Unternehmers. Der Staatsanwalt lehrte uns, dass Streik eine Nötigung darstellt, wenn man "Arbeitswillige" nicht mit "Überredung durch sachliche Argumentation", sondern mit physischer Präsenz am Betreten des Betriebs hinderte. Der Saal schwankte zwischen Empörung und Gelächter ab dem Juristen-Quatsch. Den Höhepunkt des humoristischen Entertainments des Staats- und Kapitalistenlakaien war die spezielle Konstruktion der Straftat für die Co-Präsidentin des SGB. Da sie nur am Streik präsent war, jedoch bei der Blockade nicht weggeschleppt wurde, konnte der Staatsanwalt sie nicht direkt der Nötigung anklagen. Wer es noch nicht wusste, konnte heute lernen, dass es eine sogenannte "psychische Gehilfeschaft zur Nötigung" gibt, wenn man sich solidarisch mit Streikenden zeigt, ihnen einen Kaffee holt oder sagt "ich finde gut, was ihr macht". Unter dem Gelächter musste selbst der Staatsanwalt sich dem Publikum zuwenden und erklären, dass das nun einmal ein juristischer Begriff sei.

Nach diesem Amüsement wurde es ernster, denn der ständig süffisant lächelnde Anwalt Müller des Kapitalisten Scheitlin begann mit seinen Ausfällen. Sein Plädoyer stellte zu Beginn schon klar, was denn Klassenjustiz bedeutet. Er dankte dem Staatsanwalt und musste ab der dicken Schleimspur, welche dieser hinterlassen hatte, selbst gestehen, dass er zu den Ausführungen seines Kollegen ja gar nicht mehr viel hinzuzufügen habe. Kein Wunder. Hatte der Staatsanwalt doch die Notwendigkeit zur Restrukturierung und Kürzung der "Personalkosten" als
Naturgesetz dargestellt, welche Scheitlin einfach durchzusetzen gezwungen sei, während die prekären Arbeitsverhältnisse eine rein subjektive Interpretation der ArbeiterInnen sei. Müller konnte also direkt an der Schleimspur ansetzen. Er erklärte uns mit dem sicheren Gefühl der Überlegenheit, dass es einfach so ist, dass der Schutz des privaten Eigentums ein öffentliches Interesse ist, während das Interesse der ArbeiterInnen eben Privatsache sei. Einen sozialen Konflikt wollte er darin nicht sehen. Der Streik habe das Ziel verfolgt, die Kündigungen rückgängig zu machen. Und da diese Forderung aus seinen Augen eine rein private Sache sei, sei der Streik illegal. Weiter habe der Streik nicht einen GAV zum Ziel gehabt, weil die Streikenden auf die grosszügigen Angebote von Scheitlin nicht eingangen seien.

Nachdem wir uns diesen Mist anhören mussten, kam schliesslich der Anwalt der Angeklagten zu Wort. Er baute sein Plädoyer technisch und überraschend politisch auf. Zuerst tat er seine Verwunderung darüber kund, dass heute der Staatsanwalt gefehlt habe, dafür aber zwei Vertreter des Unternehmers anwesend seien. Dann baute er die technische
Argumentation vor allem auf den Aussagen eines ehemaligen Arbeiters von Allpack auf. Bestechend war, dass sich dieser noch im Tele-Basel-Beitrag - d.h. noch im Arbeitsverhältnis - gegen den Streik ausgesprochen hat. Kaum hatte dieser jedoch bei Allpack gekündigt, rückte er mit interessanten Aussagen heraus. So konnte der Anwalt beweisen, dass der finanzielle Ausfall von 800000 CHF erfunden ist, da während des Streiks 1. die Maschinen sowieso nicht funktionierten, 2. die Streikbrecher sich durchaus in die Fabrik begeben konnten und 3. die Auftragslage schlecht war. Ganz nebenbei erwähnte der Anwalt noch, dass die ArbeiterInnen während der Nacht ohne Bewilligung arbeiteten. Diese technische Argumentation diente wohl vor allem dazu, die evtl. Zivilklage für Schadensersatz abzuschmettern. Sie hatte aber auch etwas Heikles, da eigentlich die Wirksamkeit des Streiks auf den symbolischen Gehalt reduziert wird. Erfreulicherweise führte der Anwalt dann aber auch aus, dass Streik immer eine Nötigung darstellt. Und dass diese Nötigung sozial angebracht sei.

Zum Schluss konnten die Angeklagten selber noch ihre Plädoyers halten. Davon machte nur einer gebrauch. Er hielt ein gänzlich politisches Plädoyer, fing mit den Arbeitsbedingungen an und führte aus, dass die Kündigungen eben Änderungskündigungen seien und dass dies viel eher einer Nötigung gleichkommt. Die Rede endete schliesslich mit der Gewissheit, dass es letztlich - auch trotz Klassenjustiz und Repression - immer Streiks und Widerstand von den ArbeiterInnen geben wird. Mit diesem vom Publikum beklatschten Schlusswort, endete der inhaltliche erste Teil des Prozesses.     

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HOMOHASS
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Radio Corax (Halle) 25.3.09

Mord an Transgender-Aktivistin in Türkei

Die türkische Trans*-Aktivistin Ebru Soykan wurde am 10. März 2009 in ihrem Haus in Istanbul ermordet. Ebru war prominentes Mitglied von Lambda Istanbul, der größten Interessenvertretung lesbischer, schwuler, bisexueller und transgeschlechtlicher Menschen in Istanbul und der Türkei. Sie arbeitete seit Jahren gegen die polizeiliche Gewalt und die schlechte Behandlung von transgeschlechtlichen Menschen in Taskim, einem Bezirk im Zentrum Istanbuls. Es herrscht Entrüstung über die Tatenlosigkeit ...

Gespräch mit Aykan Safoglu (sprich: Ajkan Safochlu). Aktivist bei Lambda, Mitglied von Gladt e.V. und Redakteur der schwul-lesbischen Zeitschrift "caos-GL" in Istanbul.
http://www.freie-radios.net/mp3/20090325-mordantran-27078.mp3

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VERDINGKINDER
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BZ 26.3.09

Ausstellung im Käfigturm

Die Kinder wurden zum Ding gemacht

Ein dunkles Kapitel wird ausgeleuchtet: "Enfances volées - Verdingkinder reden" heisst eine Ausstellung im Käfigturm.

Wenn etwas ausgeleuchtet wird, kommen manchmal schreckliche Dinge ans Licht. Dinge, die schmerzhaft sind - vor allem für diejenigen, die ertragen mussten, in ihrer Kindheit ein "Ding" zu sein. Ein trauriges Synonym zum Namen "verdingen", was bis in die Sechzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts hinein so viel bedeutete, wie Kinder gegen Kost und Logis arbeiten zu lassen. In den meisten Fällen waren es Kinder, die von ihrenPflegefamilien ausgebeutet, schikaniert, grundlos bestraft oder ignoriert wurden. Oft wurden Bauernhöfe zu ihrem neuen Wohnort. Weggegeben wurden die Kinder unter anderem deshalb, weil sie unehelich geboren wurden oder ihre Eltern arm waren. Oft auch gegen den Willen ihrer Eltern.

Stimme für Betroffene

Was widerfährt einem Kind, das von seinen Eltern getrennt wird und in einem völlig fremdenUmfeld aufwächst? "Das Schlimmste war die Ausgrenzung aus der Gemeinschaft und das Fehlen von Liebe", sagt ein Betroffener in einem Zitat in der Ausstellung "Enfances volées - Verdingkinder reden" im Berner Käfigturm. "Am Ende hast du nicht nur das Bedürfnis, geliebt zu werden, sondern auch das Bedürfnis, es selbst zu können."

Die vom Verein Geraubte Kindheit konzipierte und von mehreren Institutionen (Bundesamt für Kultur, Pro Helvetia, Unicef u.a.) finanziell unterstützte Ausstellung will ein Kapitel Schweizer Geschichte vor dem Vergessen bewahren. Hauptziel ist das "Zu-Wort-kommen-Lassen" ehemaliger Verding- und Heimkinder. Im Zentrum der Ausstellung stehen Hördokumente und Filmsegmente, die aus 300 Interviews ausgewählt wurden, in denen sich Betroffene erinnern: "Wir hatten das Gefühl, nichts wert zu sein"; "ich spürte nur grosse Einsamkeit und Verlassenheit"; "wie willst du dich wehren als Kind, wenn du keine Mutter hast und keinen Vater, die dich schützen? Da hast du nicht die geringste Chance, dass dir jemand glaubt oder hilft."

Wie war es möglich?

Behörden haben jahrelang Augen und Ohren verschlossen vor den Kinderseelen und ihrem Schicksal. Einigen Kindern wurde das Sprechen verboten, andere mussten in ihrem Verschlag essen statt am Familientisch. Die Ausstellung gibt den damals Ungehörten Raum, endlich gehört zu werden. Ein Teil der Ausstellung zeigt, dass zu allen Zeiten Kinder ausserhalb ihrer Familien platziert wurden. Es werden Persönlichkeiten vorgestellt, die durch ihre Kritik an ausserfamiliären Erziehungsformen bekannt wurden, wie zum Beispiel die Schriftsteller Jeremias Gotthelf oder C.A. Loosli. Andere Ausstellungsteile bringen dem Besucher den "Tag, an dem die Kinder von zu Hause weggeholt wurden," näher. Oder sie erzählen von den Überlebensstrategien der Kinder und schliesslich "vom Leben danach".

Er sei immer nur "der Bub" gewesen, sagt Charles Probst, der an der Pressekonferenz anwesend war. Viele Jahre lang habe er niemandem erzählt, was er erleben musste. Die Geschichte der ausserfamiliären Erziehung in der Schweiz sei bis heute nicht wissenschaftlich erforscht, heisst es in der Ausstellungsbroschüre. Die Ausstellung beruhe daher auf dem Bestand der Interviews.

Sonja L.Bauer

http://www.verdingkinderreden.ch

Die Wanderausstellung ist vom 26.März bis zum 27.Juni im Käfigturm zu besichtigen. Schulen sind willkommen. Neben der Ausstellung laufen zahlreiche Veranstaltungen zum Thema.

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Bund 26.3.09

Verdingkinder reden

Zum Auftakt der Ausstellung "Verdingkinder reden" im Polit-Forum Käfigturm hat Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf in der Heiliggeistkirche dazu aufgerufen, aus der Vergangenheit zu lernen. Die Aufarbeitung der Verdingkinder-Geschichte sei "nicht nur erstrebenswert, sondern nötig". Charles Probst, ein ehemaliger Verdingbub, hat die Ausstellung besucht. (wd)

Seite 21

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Ausstellung "Verdingkinder reden" im Käfigturm

Auch Charles war ein Verdingbub

Bei Charles Probst, 79-jährig, weckt der Besuch der Ausstellung "Verdingkinder reden" im Käfigturm Bern besondere Emotionen: Er war selber ein Pflege- und Verdingkind. Diese für ihn schlimme Zeit hat er lange verdrängt, doch nun redet er darüber.
 
Walter Däpp

Eigentlich habe er viele Jahre "einigermassen gelassen" auf seine verlorene Kindheit und Jugendzeit zurückgeblickt, sagt er: Schliesslich habe er sein Leben dann gelebt, sich "durchgekämpft und durchgeboxt". Doch seit er sich in die Akten aus jener Zeit vertieft habe, sei er "wütend" - wütend vor allem über die damalige Behandlung seiner leiblichen Eltern durch die Behörden. Und über die Art, wie man mit ihm "umgegangen" sei.

Charles ("Charly") Probst, heute 79-jährig, war ein aussereheliches Kind. Er war krank und schwach zur Welt gekommen, mit elf Monaten wurde er "der Mutter weggenommen und nach Lyssach in eine Pflegefamilie gegeben". Dort sei er "relativ gut aufgehoben" gewesen. Doch später, als er sich "allmählich habe nützlich machen können", sei er "in die Arbeitswelt geschleust" worden. Erst als Achtjähriger habe er vernommen, dass er gar nicht zur Familie gehörte, sondern ein Pflegekind war. "Von diesem Moment an", sagt er, "war ich, rückblickend betrachtet, ein Verdingkind - nur da, um zu arbeiten und einen Knecht zu ersetzen." Wenn "Charly" nun aus jener Zeit zu erzählen beginnt, schweift er immer wieder ab. Dann berichtet er zum Beispiel von rüden Erziehungsmassnahmen seines Pflegevaters, nachdem er einmal nicht pünktlich zur Arbeit erschienen war. Oder von schweren Folgen einer Pockenimpfung. Oder von seinem ersten "Suff" und vom Versuch, sich umzubringen.

 Oder er erinnert an seine Mutter, die auch ein Verdingkind gewesen war - als Magd in Heimiswil, wo sie vom älteren Sohn der Meisterfamilie geschwängert und daraufhin vom Hof gejagt worden sei. Sein leiblicher Vater habe sich der Verantwortung entzogen, der Stiefvater habe dann die Vaterrolle übernommen.

Als Zehnjähriger war Charles Probst in eine Bauernfamilie nach Gurzelen verdingt worden, von dort aber nach zwei Monaten weggelaufen. So kam er für mehrere Jahre in ein Heim für schwererziehbare Knaben, wo er, wie er sagt, "immer wieder schikaniert und geschlagen" wurde. Und nach seinem Schulaustritt 1946 wurde er Knecht in Gurzelen. Später konnte er eine Gärtnerlehre antreten, doch erst als Zwanzigjähriger war er "wirklich frei": Er fuhr mit dem Velo statt in die Rekrutenschule (die er später nachholte) nach Frankreich - nach Paris, wo er sich auf seine Weise weitergebildet habe. Später baute er eine eigene Transportfirma auf, die er dann während 35 Jahren führte.

Rückblickend schmerzt ihn an seiner Verdingbub-Vergangenheit vor allem der Umstand, dass er ausgegrenzt war, "von Dorfbewohnern beschimpft und geplagt wurde". Und als schlimm bezeichnet er vor allem die Trennung von seiner Familie - von seiner Mutter. Amtlichen Dokumenten habe er nun entnommen, dass ihre Gesuche, ihn besuchen zu dürfen, stets abgelehnt worden waren. Auch die Teilnahme an der Beerdigung seiner Grossmutter sei ihm erst auf ein Gesuch hin bewilligt worden.

"Meine Mutter war Akkordarbeiterin in einer Fabrik", sagt er, "aber ihr Lohn reichte nicht aus, um uns durchzubringen." Statt sie zu unterstützen, habe man die Familie auseinandergerissen. Dies erfülle ihn noch heute mit Bitterkeit. Und das habe dazu geführt, dass er seine Verdingbuben-Zeit lange verdrängt, nur unter einem Pseudonym davon erzählt habe. Doch nun rede er. So, wie viele andere Verdingkinder in der Ausstellung auch redeten. Wenn er sich in der Ausstellung umsehe, "diese vielen Lebensgeschichten" an sich vorbeiziehen lasse, wühle ihn das auf, sagt er: "Vieles habe ich auch erlebt. Als Kinder und Jugendliche mussten wir hart arbeiten. Deshalb waren wir für die Bauern auch erst interessant, als wir genügend Kraft hatten, um zupacken zu können."

Auf eindrückliche Art wird in der Ausstellung gezeigt, wie viele Verdingkinder Opfer von Willkür, falschen Massnahmen und Gewalt waren. Man lässt sie erzählen - und führt die Besucherinnen und Besucher in Themenfelder, denen die Kinder damals ausgeliefert waren: an ihre Pflegeorte, in die Schule, zu Behördestellen. Und man erfährt, was für Überlebensstrategien sie entwickelten. Die Ausstellung beansprucht nicht, die Geschichte der ausserfamiliären Erziehung ausgewogen darzustellen. Ihre Absicht ist bloss, "den Erinnerungen von Betroffenen Gehör zu schenken".

 Es lohnt sich, das Angebot anzunehmen - und hinzuhören.

[i]

VERDINGKINDER REDEN

Wanderausstellung im Polit-Forum Käfigturm, bis 27. Juni, mit vielen Rahmenveranstaltungen. Internet: http://www.kaefigturm.ch, http://www.verdingkinderreden.ch

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ZIRKUS
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Obersee Nachrichten 26.3.09

Demo gegen Tiere im Knie: "Isch doch für d'Füchs!"

Azot-Aktivisten wollen am Samstag in Rapperswil wieder auf die Strasse

Die "Aktion Zirkus ohne Tiere" hat auf Samstag in Rapperswil wieder eine Demo gegen die Tierhaltung im Circus Knie angekündigt. Dabei weiss inzwischen jedes Kind, wie gut die Tiere im Schweizer Nationalzirkus umsorgt werden. Der Protest ist darum fragwürdig.

Schon vergangenes Jahr demonstrierte die "Aktion Zirkus ohne Tiere" (Azot) zum Auftakt der neuen Knie-Tournee in Rapperswil. Einige Aktivisten versuchten gar die Premiere am Freitagabend zu stören. Tags darauf zogen ein paar Dutzend Demonstranten durch Rapperswils Strassen - ihr Aufmarsch war fast schon mehr peinlich als dienlich. Denn der Circus Knie geniesst - besonders an seinem Hauptsitz am Obersee - hohes Ansehen. Und der Nationalzirkus nahm den aufdringlichen Tierfreunden den Wind aus den Segeln, indem er transparent darlegte, wie professionell und artgerecht die Tiere gehalten werden.

Die Azot-Aktivisten stiessen auch kaum auf Beachtung, als sie auf dem Rapperswiler Hauptplatz mit ihrem Elefanten-Mobil auffuhren und dort brutale Tierquäler-Szenen auf einem Grossbildschirm zeigten. Im Gegenteil, sie wurden von einzelnen Passanten sogar übel beschimpft, weil der Film offensichtlich nicht in der Schweiz gedreht worden war. "Es ist doch eine Sauerei, den Knie mit ausländischen Elefantenquälern zu vergleichen!" Und trotzdem wagt sich die Azot dieses Jahr wieder in die Höhle des Löwen.

Beim Circus Knie ist man über den angekündigten Aufmarsch nicht überrascht. "Aber nachdem die Aktion bereits letztes Jahr auf allgemeines Unverständnis gestossen ist, fragt man sich schon, was das soll", so Mediensprecher Niklaus Leuenberger. Wenn die Tiere nicht liebevoll umsorgt würden, könnte Knie im Kinderzoo und Zirkus auch nicht jedes Jahr hunderttausende Besucher verzeichnen. "Und die wissen genau, wie wir mit unseren Tieren umgehen. Nicht umsonst ist bei uns alles seit Jahrzehnten öffentlich zugänglich."

Bei Knie bereitet man sich nicht speziell auf die Azot-Aktivisten vor. "Unser Sicherheitsdispositiv ist so oder so aufgestellt", erklärt Leuenberger. Die Polizei wird laut Mediensprecher Hans Eggenberger "mit einem für uns geeigneten Aufgebot" vor Ort sein und wie es sich gehört für Ruhe und Ordnung sorgen. Die Gesetzeshüter könnten sich den Aufwand - den letztendlich der Steuerzahler berappt - sparen, wenn die Azot-Aktivisten auf ihre bewilligte Demo verzichten würden. Und das wäre vielleicht keine schlechte Idee, denn die Mehrheit der Bevölkerung hat sich ihre Meinung längst gebildet: "Die Demo isch doch eifach für d'Füchs!"
Dominic Duss

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Südostschweiz 26.3.09

Aktionen gegen den Knie-Start geplant

Am Samstag startet der Circus Knie seine Tournee in Rapperswil-Jona. Genau dies ist der Aktion für einen Zirkus ohne Tiere (Azot) ein Dorn im Auge. Sie ruft dazu auf, in der ganzen Stadt Aktionen durchzuführen.

Von Stefan Breitenmoser

Rapperswil-Jona. - Mit Strassentheater, dem Verteilen von Flyern, Live-Musik, Reden und verschiedenen anderen Aktionen will die Azot den Tourneestart des Nationalcircus am Samstag in Rapperswil-Jona stören. Dies geht aus einem Aufruf hervor, welchen die Azot über das Internet verbreitet. Sie wünscht sich einen "kreativen Widerstand".

Demonstration ist bewilligt

Bereits in den letzten drei Jahren organisierte die Azot zum Tourneestart kleinere Demonstrationen. Dieses Jahr aber sollen es verschiedene, in kleineren Gruppen ausgeführte Aktionen sein. Offiziell bewilligt ist indes nur eine Demonstration vom Bahnhof via Alpenstrasse zum Hauptplatz, wo dann auch die Schlusskundgebung stattfindet, wie Roland Meier, Sicherheitschef der Stadt, bestätigt. Meier erwartet auf Grund der Erfahrungen der letzten Jahre, dass die Demonstration "gesittet" abläuft. Die Polizei wird trotzdem vor Ort sein.

Den Circus Knie lassen die geplanten Aktionen kalt. Niklaus Leuenberger, Medienverantwortlicher des Zirkus, verweist auf das Recht auf freie Meinungsäusserung. Er ist sich sicher, dass die Premiere trotz der Azot "magique" wird.

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ANTI-ATOM
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WoZ 26.3.09

Atomenergie

GAU in Harrisburg

Ein blöder Zettel, ein falsch angeschlossener Schlauch und ein kaputtes Ventil führten am 30. März 1979 im US-amerikanischen Atomkraftwerk Three Mile Island zum GAU. Das Wort GAU steht für "grösster anzunehmender Unfall", also für einen Unfall, für den das Kraftwerk so weit gerüstet sein sollte, dass nur relativ wenig Radioaktivität nach draussen gelangt. In Three Mile Island hatten sie unverschämt Glück, dass es beim GAU blieb, ein bisschen weniger Glück, und es wäre zu einem Super-GAU gekommen - wie sieben Jahre später in Tschernobyl, wo der ganze Reaktor explodierte. Drei der fünf Schweizer Atomkraftwerke - Gösgen, Beznau I und II - sind nach demselben Prinzip gebaut wie der Unglücksreaktor von Three Mile Island. sb

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Three Mile Island-Vor dreissig Jahren kam es im Atomkraftwerk bei Harrisburg (USA) zu einer partiellen Kernschmelze. Nur wenig fehlte, und der Unfall hätte so schlimm geendet wie jener in Tschernobyl.

Sie hatten Glück, viel Glück

Von Niels Boeing

Um 23 Uhr tritt Schichtleiter Bill Zewe im neuen Atomkraftwerk auf Three Mile Island zur Nachtschicht an. Es ist ­Dienstagabend, der 27. März 1979. Erst vor 88 Tagen ist der neue Reaktor ans Netz gegangen. Das Atomkraftwerk liegt nahe von Harrisburg in Pennsylvania, etwa 250 Kilometer westlich von New York, auf einer Insel im Susquehanna River. Bill Zewe und zwei seiner Kollegen waren zuvor bei der US-­Marine Reaktor operateure. Es sind erfahrene Männer, die wissen: In einer solchen Anlage kommt es dank ausgeklügelter Sicherheitssysteme höchstens mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zu einer Million zu einem schweren Unfall - was soll da schon passieren?

Zewe kann nicht ahnen, dass ein harmloser Gummischlauch und eine banale Unachtsamkeit fünf Stunden später eine Kaskade in Gang setzen werden, die zum bis dahin schlimms­ten Unfall in der Geschichte der zivilen Atomenergienutzung führt.

Ein dummer Fehler…

Ein Atomkraftwerk ist nichts anderes als eine gigantische Dampfmaschine: Heisser Wasserdampf setzt eine Turbine in Bewegung und treibt danach einen Stromgenerator an. Der Dampf wird abgekühlt, verflüssigt sich zu Wasser und wird erneut erhitzt.

Die Komplexität eines AKWs entsteht dadurch, dass zur Erhitzung des Wassers die Wärme genutzt wird, die beim Kernzerfall des Uranbrennstoffs entsteht. Das Wasser wird dabei aber radioaktiv verseucht und darf nicht in die Umwelt gelangen. In Harrisburg ist ein Druckwasserreaktor in Betrieb, der über einen zweiten Wasserkreislauf verfügt, damit die Turbine nicht mit verseuchtem Wasser in Kontakt kommt. Im Dampferzeuger gibt das kontaminierte Reaktorwasser seine Wärme ab, ohne mit dem zweiten Kreislauf in Berührung zu kommen (vgl. Grafik). Nach demselben Prinzip funktionieren in der Schweiz die Atomkraftwerke Beznau I und II und Gösgen. Auch die modernsten Reaktoren, die zurzeit in Finnland und Frankreich gebaut werden, sind Druckwasserreaktoren.

Wichtig ist, dass der Reaktorkern - der Ort, wo sich das radioaktive Brennmaterial befindet und die Wärme produziert wird - immer von Wasser umgeben ist und nie zu heiss wird. Dafür sorgt eine komplizierte Architektur von Leitungen, Pumpen und Ventilen, die von den Operateuren im Kontrollraum gesteuert werden.

Normalerweise haben sie wenig zu tun. Doch am Abend des 27. März 1979 ist auf Three Mile Island nichts normal. Ein Techniker schliesst einen Gummi schlauch falsch an und verbindet so das Wasser- mit dem Druckluftsystem. Wasser schiesst nun durch die Druckluftleitungen, die eigentlich die Ventile steuern, welche die Wasserzufuhr des zweiten Kreislaufs regeln - in der Folge schliessen sich diese Ventile. Ein Ächzen geht durch das Gebäude, als um vier Uhr morgens frisches Kühlwasser gegen die verschlossenen Ventile hämmert. Zwar ist diese mögliche Komplikation schon länger bekannt, aber niemand hat nachträglich entsprechende Sicherheitsvorkehrungen eingebaut.

Die Operateure merken, dass etwas nicht stimmt. Sie schalten die Turbine aus. Der Reaktor produziert aber weiterhin Wärme und damit Dampf. Die Hitze muss unbedingt abgeführt werden. Deshalb versuchen die Operateure, den Dampf in eine andere Kammer umzuleiten. Dort sollte er sich abkühlen, verflüssigen und in den Dampferzeuger zurück, um den ersten Kreislauf zu kühlen. Doch das gelingt nicht. Also wird der überschüssige Dampf über Notventile in die Umgebung abgelassen. Das hallt wie der dumpfe Ton eines Schiffs horns durch die Nacht - ein erstes unfreiwilliges Warnsignal.

…ein kaputtes Ventil…

Gleichzeitig steigt im Reaktorkern die Temperatur des Reaktorwassers, das im Dampferzeuger nicht mehr abgekühlt wird. Automatisch wird der Reaktor heruntergefahren, indem die sogenannten Steuerstäbe herunterfallen, um die Kernspaltung zu stoppen. Als Schichtleiter Bill Zewe die Unterbrechung über die Lautsprecheranlage durchgibt, scheint alles nach Plan zu funktionieren.

Die Notpumpen springen automatisch an, um wieder Kühlwasser in den Kreislauf zu speisen. Doch es kommt nicht weit: Nach Wartungsarbeiten haben die Techniker vergessen, die Ventile wieder aufzudrehen, die zwischen Notpumpen und Kühlkreislauf liegen. Ein Knopfdruck hätte genügt, um sie zu öffnen. Aber die entsprechende Warnlampe im Kontrollraum ist von einem Wartungszettel bedeckt, der auf einem Schalter daneben klebt. Deshalb sehen die Operateure nicht, dass die Lampe brennt.

Weil Temperatur und Druck im Reaktorkessel weiter steigen, öffnet sich ein Sicherheitsventil über einer Kammer des Reaktorkreislaufs, in der der Druck reguliert wird. Das Ventil schliesst sich nicht mehr - was die Mannschaft aber nicht mitbekommt. In nur zwei Minuten ist der Reaktor in einen bedrohlichen Zustand geraten.

…und zwei bange Tage

Um 4.08 Uhr entdeckt Operator Craig Faust endlich den fatalen Zettel über der Warnlampe und öffnet die Ventile zum Kühlwasserkreislauf. Frisches Wasser durchspült den Dampferzeuger. Es vermag das Reaktorwasser zwar nicht zu kühlen, verlangsamt aber den Temperaturanstieg. Doch das fehlerhafte Sicherheitsventil steht immer noch offen, und dann passiert das Unvermeidliche: Der Tank, der den entweichenden Dampf auffängt, birst - eine strahlende, kochend heisse Brühe ergiesst sich ins Auffangbecken des Containments, der Betonschutzhülle um den Reaktor. Von da gelangt das radioaktive Dreckwasser über Drainagen ins Versorgungs gebäude.

Derweil sinkt der Druck im Reaktorkreislauf weiter - bis das Wasser wegen des geringen Drucks zu kochen beginnt. Ein Gemisch aus Wasser und Dampfblasen jagt nun durch die Leitungen des Reaktorkreislaufs und versetzt dessen Pumpen in heftige Schwingungen. Um zu verhindern, dass Pumpen auseinanderbrechen, müssen die Operateure sie abschalten. Nun zirkuliert das Wasser nicht mehr, es bildete sich im Kessel eine Dampfblase, und der Wasserspiegel sinkt allmählich, bis schliesslich die oberen Enden der Brennstäbe freiliegen.

Ohne Kühlwasser beginnen die Brennstäbe zu schmelzen, es kommt zu einer sogenannten partiellen Kernschmelze. Gleichzeitig wird wegen einer chemischen Reaktion Wasserstoff freigesetzt, der in grossen Mengen hochexplosiv ist - und nun auch ins Containment gelangt.

Es dauert bis zum morgendlichen Schichtwechsel, als ein ausgeschlafener Ingenieur um 6.18 Uhr das defekte, lecke Ventil identifiziert und ein zweites dahinter schliesst. Der Druckabfall wird damit gestoppt. Aber längst ist über Lüftungsschächte im Versorgungsgebäude radioaktiver Dampf ins Freie gelangt. Zudem hat man kontaminiertes Wasser aus den überquellenden Auffangbecken in den Susquehanna River gepumpt. Die Geigerzähler im Kraftwerk spielen verrückt, und die Wasserstoffblase im Containment ist eine tickende Zeit­bombe.

Obwohl der Schichtleiter um 7.24 Uhr höchste Alarmstufe ausgelöst hat, bequemt sich der Kraftwerksbetreiber Metropolitan Edison erst zwei Stunden später zu einer Stellungnahme. Es sei keine Radioaktivität ausgetreten, lässt er verlauten. Der Alarm wird nicht erwähnt. Was in den nächsten zwei Tagen folgt, ist ein Hinhalten und Schönreden, wie es von vielen Katastrophen bekannt ist. Unterdessen versuchen die Techniker, den Reaktorkern abzukühlen.

Immer wieder tritt radioaktives Gas aus dem Kraftwerk. Erst zwei Tage nach dem Unglück, am 30. März, wird das Katastrophenzentrum von Pennsylvania darüber benachrichtigt, dass die Umgebung evakuiert werden müsste. Und erst zwei weitere Tage später gelingt es den Ingenieuren, die Lage im Atomkraftwerk unter Kontrolle zu bekommen.

Das unbekannte Risiko

In den USA sind seitdem keine neuen AKW mehr genehmigt worden. Nach dem Unfall in Three Mile Island mussten die Schweizer AKW-Betreiber ihre Anlagen nachrüsten. Sie wurden aber nie müde zu behaupten: Harrisburg wiederholt sich nicht.

Die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit in Köln hat 2006 in einer Sicherheitsanalyse untersucht, was passiert, wenn der Kern eines Siede wasserreaktors "schwer beschädigt" wird, falls - ähnlich wie in Harrisburg - Pumpen und Ventile in einer Kaskade versagen. Ergebnis: Die Wahrscheinlichkeit, dass dann radioaktive Substanzen aus dem Reaktor in die Umwelt gelangen, ist grösser als fünfzig Prozent.

AKW-ExpertInnen werden immer wieder überrascht von Situationen, die sie sich gar nicht vorstellen konnten. 2001 kam es etwa im deutschen AKW Brunsbüttel in einer Zuleitung zum Reaktorkern zu einer Wasserstoffexplosion - obwohl das Wasser in der Leitung stand und nicht floss. Zuvor hatte man nur Szenarien entwickelt, wie das leichte Gas in fliessendem Wasser freigesetzt werden könnte.

Michael Sailer, Atomexperte des Öko-Instituts Darmstadt und Mitglied der deutschen Reaktorsicherheitskommission, weist denn auch darauf hin, dass eben nicht nur Bauteile unter der jahrzehntelangen Beanspruchung leiden. Auch die Sicherheitskonzepte selbst würden altern, weil sie nicht als Ganzes auf dem neuesten Stand gehalten würden. Hinzu kommt, dass manche Ersatzteile nicht mehr identisch sind mit den Originalteilen aus den siebziger Jahren, weil Schalter beispielsweise andere Eigenschaften haben oder inzwischen andere Normen gelten.

Die Reaktoren der dritten Genera tion, die derzeit in Finnland und Frank reich gebaut werden, sind zwar so konstruiert, dass mehr Ersatzsysteme einspringen können, wenn wie in Harrisburg Teile der Anlage ausfallen. Aber selbst der Erbauer dieser neuen AKW, der Energiekonzern EDF, musste in einem Schreiben an die französische Reaktorsicherheitskommission einräu men, dass die Sicherheitskonzepte "nicht alle Eventualitäten einschliessen können". Es ist der Reaktortyp, den die grossen Energieunternehmen Axpo, BKW und Alpiq in der Schweiz gerne bauen möchten.

Druckwasserreaktor

Der Reaktorbehälter (1) steht unter hohem Druck (rund 150 bar), das Wasser weist eine Temperatur von 300 Grad auf und füllt den Behälter vollständig - es dürfen darin keine Dampfblasen entstehen. Das Wasser zirkuliert (2) aus dem Reaktor in den Dampferzeuger (3), gibt dort seine Wärme an einen zweiten Wasserkreislauf (4) ab und wird danach durch eine Pumpe (5) wieder in den Reaktor befördert. Dieser Wasserkreislauf ist hochradioaktiv - man nennt ihn Primärkreislauf. Reaktor wie Primärkreislauf sind in einer Betonschutzhülle, dem Containment (6) untergebracht. Der sogenannte Sekundärkreislauf, der im Dampferzeuger die Wärme aufnimmt, kommt mit dem kontaminierten Wasser nicht in Kontakt. Dieser Kreislauf treibt die Turbine (7) an, mit der via Generator (8) Strom erzeugt wird. Im Kondensator (9) kühlt der restliche Dampf ab und verflüssigt sich. Das Wasser gelangt wieder in den Dampferzeuger, wo es erneut Wärme aufnimmt und verdampft.

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GIPFEL-SOLI-NEWS 26.3.09
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gipfelsoli.org/Newsletter 26.3.09

26.3.2009 Strasbourg/ Baden-Baden

- Broschüre mit praktischen Infos für die NATO-Proteste
- NATO-Widerstand: Camp-Aufbau hat begonnen
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- Regierung verweigert Informationen zu Bundeswehreinsatz bei NATO-Gipfel
- Reaktion aus Paris zu angeblichem Verbot von Anti-NATO-Fahnen
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