MEDIENSPIEGEL 30.9.10
(Online-Archiv: http://www.reitschule.ch/reitschule/mediengruppe/index.html)

Heute im Medienspiegel:
- Reitschule-Kulturtipps (Tojo, DS, Kino)
- Reitschule bietet mehr: Danke, Erich Hess!
- Kultur-BotschafterIn BE
- Bern 68: Stattland-Rundgang 6.10.10
- Squat Fribourg: geräumt
- Squats NL: Kriminalisierung; 200 räumungsbedroht; Demos
- Volkshaus ZH: 100 Jahre Bewegung
- Drogen: Ritalin-Sucht; Kiff-Prävention
- Big Brother Sport: Bussen; Datenbank
- Privat-Security: Weinland-Streit; Brugg-Erfahrungen
- Ausschaffungen: Luftwaffen-Sondeflüge; Churer Ausschaffungsfall
- Ausschaffungs-Initiative: Zusatzstrafe Wegweisung
- Rechtsextrem: Dr. Alois B. Stocher; Rasierklingenkleberfalle
- Antisemitismus: Corbusier-Debatte
- RAF: Verena Becker am Buback-Prozess
- Anti-Atom: Pro-Endlager-Studien-Knatsch; Genfer Debatten; Finnland; Rosatom-Milliarden

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REITSCHULE
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Do 30.09.10
21.00 Uhr - Frauenraum - "Die Körper der Multitude", Lesung mit dem Autor Robert Foltin
22.00 Uhr - Rössli - Midilux & Rössli present: Heu, Stroh und Hafer: Pixelpunks -live (Glücksscherben/ZH); Bertel Gee (HLM/BE); Racker (Midilux, Festmacher/BE)

Fr 01.10.10
19.00 Uhr - Kino - Zyklus "Muslim/a. Die vielen Gesichter des Islam" - Eröffnungsanlass mit Apèro
20.00 Uhr - Kino - "MUSLIM/A" - Auf meine Art! Junge Muslime | Kurzfilme
22.00 Uhr - Frauenraum - POPSHOP "women only"
22.00 Uhr - Dachstock - 22-PISTEPIRKKO (FIN) & DOLLHOUSE (SWE), Support: DJ Brother Pantichrist. " rock, garage, soul

Sa 02.10.10
20.30 Uhr - Tojo - TITTANIC, die Achte Der Quotenknüller! Frauenanteil auf der Bühne: 100%
21.00 Uhr - Kino - "MUSLIM/A" - Kald Mig Bare Axel (Nenn mich einfach Axel) | Pia Bovin, Dänemark 2002
23.00 Uhr - Dachstock - Liquid Session: LENZMAN (NL), EVESON (UK) & RIYA (UK), Support: TS Zodiac, Rollin John & Badboy MC " drumnbass

So 03.10.10
09.00 Uhr - Grosse Halle - Flohmarkt und Brunch im SLP, bis 16.00 Uhr
13.30 Uhr - Kino - Kinderfilm am Flohmi-SunntIg: Pünktchen & Anton, Österreich/D 1953
20.15 Uhr - Kino - Zusammen TATORT gucken
20.00 Uhr - Rössli - THE CHAP (UK) " rock, electronica

Infos:
http://www.reitschule.ch
http://www.reitschulebietetmehr.ch

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Bund 30.9.10

Tittanic, die Achte

 Texte mit Oberweite

 In Sandra Künzis Lesereihe "Tittanic" mit ausschliesslich weiblichen Stimmen werden am Samstag die Ostschweizerin Andrea Gerster, die Zürcherin Esther Banz (Bild) und die Bernerin Nicolette Kretz erwartet. Die drei treffen erst kurz vor der Veranstaltung aufeinander und wählen ihre vorlesewürdigen Kolumnen selbst aus; ad hoc werden dann die Texte und die Musik, die von Nadja Zela stammt, zu einem "Tittanic"-Abend verwoben. (reg)

 Tojo-Theater Reitschule Sa, 2. 10., 20.30 Uhr.

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BZ 30.9.10

Toptipps

 Knüller mit Texten

 Wieder mal geht im Berner Tojo-Theater der sogenannte Quotenknüller "Tittanic" über die Bühne - eine Mischung aus Performance, Lesung und Konzert, kuratiert von Sandra Künzi. Die achte Ausgabe widmet sich dem Kolumnen-Genre und anverwandter Textsorten. Eingebettet in die direkten und teils düsteren Songs der Zürcher Musikerin Nadja Zela tragen die Autorinnen und Journalistinnen Esther Banz (Zürich), Andrea Gerster (Thurgau) und Nicolette Kretz (Bern) ihre Texte vor.
 pd

 "Tittanic, die Achte": Sa. 2. 10., 20.30 Uhr, Tojo-Theater Bern. http://www.tojo.ch.

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Bund 30.9.10

22 Pistepirkko

 Helden der Zwischentöne

 Seit 30 Jahren stehen sie auf den Musikbühnen weltweit, und es gibt kaum einen stilistischen Einfluss, der sie nicht gestreift hätte: Elektronika, Pop, Psychedelik, Blues oder schlichter Rock 'n' Roll. 22 Pistepirkko, die finnischen Helden der Zwischentöne, haben sich in den letzten Jahren wieder vermehrt der Gitarrenmusik zugewandt und begeistern seither mit ihrem ironisch-melancholischen Tundrablues. (reg)

Reitschule Dachstock Fr, 1. Oktober, 22 Uhr.

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Bund 30.9.10

Film Zyklus "Label: Muslima/Muslim"

 "Bei Frauen ist es dasselbe"

 Manchmal sind die Stempel, die der Westen dem Islam aufdrückt, grob geschnitzt. Manchmal sind es aber auch die muslimischen Männer, wie die Filmreihe der Berner Programmkinos zeigt.

 Regula Fuchs

 "Der Islam wird heute auf den Schleier reduziert", sagt Su'ad Saleh. Die ältere Dame ist in Ägypten eine hoch angesehene Religionsführerin, die Ratsuchende in einer eigenen Fernsehsendung berät. Brigid Maher porträtiert sie im Dokfilm "Veiled Voices".

 Dass die Schleierfrage nicht die einzige ist, die der Islam heute aufwirft, beweist der Filmzyklus von "Das andere Kino", der fünf Berner Programmkinos, mit einer vielfältigen Filmreihe. Gemeinsam mit dem Verein "tuos - für eine tolerante und offene Schweiz" werden unter dem Titel "Label: Muslima/Muslim" rund 40 Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilme gezeigt, die vor Augen führen, dass die Stempel, die der Westen vielen Muslimen aufdrückt, oft grob geschnitzt sind.

 Das beginnt schon damit, dass Schleier nicht gleich Schleier ist - wie Vanessa Langer in ihrer Kurzdoku "Regards sur le voile" eindrücklich demonstriert. Die Schweizerin hat sich im Jemen die ganze Vielfalt an Verhüllungsmöglichkeiten zeigen lassen und festgestellt, dass auch ein Tuch, das nur gerade einen Sehschlitz offen lässt, ein modisches Statement sein kann. Und ein gesellschaftliches: Lässt eine Frau eine Haarlocke unter dem Kopftuch hervorstehen, so zeigt sie an, dass sie weltoffen, tolerant oder auch ein bisschen provokant ist. "Der Schleier ist meine Identität, ich bin stolz darauf", sagt dagegen eine Frau, von der man nichts sieht als die Wimpern zwischen den Tuchrändern - und die für westliche Augen damit gesichtslos und ohne Identität bleibt. Langer zeigt einige für uns irritierende Bilder: wie etwa eine Ärztin im weissen Kittel einem Mann eine Spritze gibt - ihr Gesicht allerdings ist unter einem Tuch versteckt. Eine solche Art der Verschleierung ist auch für jemenitische Männer problematisch: Man habe das Gefühl, man spreche mit einer Wand, wenn die Gesprächspartnerin total verhüllt sei, sagt einer. Delikat ist die Sache auch, wenn es ums Heiraten geht: Manch einer sieht das Gesicht seiner Gattin erst in der Hochzeitsnacht.

 Ganz nach oben kommen sie nicht

 Die Frauen in "Veiled Voices" tragen zwar auch Kopftücher, ihre Lebensweise erscheint dem Okzident jedoch viel näher. Und auch ihre Probleme als Frauen in einer Männerdomäne. Brigid Maher porträtiert Frauen aus Ägypten, Libanon und Syrien, die religiöse Führerinnen sind. Aber auch wenn der Koran es theoretisch nicht verbietet, dass sie in höhere religiöse Ämter aufsteigen könnten - die bestehenden Männergremien tun es.

 Nicht jedes Klischee wird in "Label: Muslim/Muslima" widerlegt. "Heirate drei, vier Frauen, wenn du dir es leisten kannst", sagt der Koran, und im ländlichen Iran wird dieser Satz wörtlich genommen. Etwa in der Familie von Heda, der vier Frauen und eine Busladung Kinder hat. Die schwedisch-iranische Filmerin Nahid Persson begleitete die Familie drei Jahre lang. Die Anfangssequenz von "Four Wives - One Man" kondensiert das problematische familiäre Knäuel, in dem alle stecken und dabei nicht recht glücklich sind: "Sag, dein Sohn sei gut", sagt eine der Ehefrauen zu ihrer Schwiegermutter. Diese antwortet: "Mein Sohn ist gut - darin, mit euch Sex zu haben. Er liebt euch alle." - "Liebt?", fragt eine der Frauen mit Stirnrunzeln.

 Die vier Ehefrauen sind trotz der Konkurrenz in ihrer Abhängigkeit von Heda aneinandergekettet und streiten ständig darum, wer wie viel Aufmerksamkeit, Fleisch und Geld bekommt. Dennoch gibt es auch jene Momente, in denen die Frauen gemeinsam lachen - vor allem, wenn sie Heda schlechtmachen. Denn er eignet sich bestens als Feindbild. Auch für das Publikum, wenn er sagt: "Schau dir die Schafe an, eines gleicht dem anderen. Bei Frauen ist es dasselbe."

 Kinos Cinématte, Lichtspiel, Kunstmuseum, Reitschule, Kellerkino 1. bis 31. 10. Programm und Infos: http://www.dasanderekino.ch.

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WoZ 30.9.10

Kultour Film

 Label Muslima/Muslim

 "Weiterer Triumph für die Muslime!" titelte der "Blick" vergangene Woche: "Vorgestern die Baubewilligung für das Minarett, gestern die Aufhebung des Kopftuchverbots: Es läuft gut für die Muslime in der Schweiz."

 Immer häufiger werden in den Medien - nicht nur im "Blick" - "die Muslime" als eine homogene, einheitliche Gruppe dargestellt - die sie so gar nicht sind. Die in der Schweiz lebenden MuslimInnen kommen aus unterschiedlichen sprachlich-kulturellen, nationalen und innerislamischen Traditionen.

 Der Verein für eine tolerante und offene Schweiz (Tuos) organisiert während des Oktobers gemeinsam mit den fünf Berner Programmkinos die Film- und Veranstaltungsreihe "Label: Muslima/Muslim. Die vielen Gesichter des Islam". Ziel des Projekts ist es, einen Beitrag zur differenzierteren Wahrnehmung der muslimischen Minderheit in der Schweiz zu leisten und die Vielfalt der MuslimInnen sichtbar zu machen. Rund vierzig Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilme werden gezeigt, ausserdem finden mehrere Rahmenveranstaltungen statt. Die monatliche Veranstaltungsreihe ist in fünf thematische Felder unterteilt: Diaspora, Frauen, religiöse Praxis, Brücken und Junge. Zu sehen sind unter anderem der persönliche und aufschlussreiche Dokumentarfilm "City Walls - My Own Private Teheran" von Afsar Sonia Shafie, Ken Loachs "Ae Fond Kiss", der von der Liebe zwischen einem muslimischen Pakistani und einer katholischen Irin in Glasgow erzählt, oder "Les Silences du Palais" der tunesischen Regisseurin Moufida Tlatli. süs

 Label: Muslima/Muslim. Die vielen Gesichter des Islam, in: Bern Kino Cinématte, Kellerkino, Kino in der Reitschule, Kino Kunstmuseum und Kino Lichtspiel, Fr, 1. Oktober, bis So, 31. Oktober. http://www.dasanderekino.ch

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BZ 29.9.10

Filmreihe in den Berner Kinos

 Von den vielen Gesichtern des Islam

 "Den" Islam gibt es nicht. Das beweist die Filmreihe "Label: Muslim/a". Sie wird diesen Monat in verschiedenen Berner Kinos gezeigt und ist eine Reaktion auf die Annahme der Minarett-Initiative im letzten November.

 Ein junger französischer Secondo muss mit seinem marokkanischen Vater nach Mekka fahren. Der westliche Sohn fühlt sich durch den gläubigen Muslim überfordert. Auf der Reise kommen sich die beiden schliesslich doch näher. Darum dreht sich "Le grand voyage".

 Der Spielfilm ist einer von rund 40 Filmen, die im Rahmen der Reihe "Label: Muslim/a" gezeigt werden. Den ganzen Oktober widmet "das andere Kino", ein Zusammenschluss von fünf Berner Programmkinos, dem Islam.

 Eine Brücke schlagen

 Es geht dabei um Tradition, aber nicht nur. Auch um Klischees, um Vorurteile und nicht zuletzt um Verständnis. Eine Brücke soll geschlagen werden zwischen Schweizern und Muslimen. Das ist auch das Ziel des Vereins Tuos, der die Reihe initiiert hat. Tuos (Verein für eine tolerante und offene Schweiz) ist ein lockerer Zusammenschluss aus Gleichgesinnten, die sich letzten Dezember, im Anschluss an die Annahme der Minarett-Initiative, gefunden haben. Ihr erstes Projekt war eine Internet-petition, die im März an eine muslimische Jugendorganisation übergeben wurde. Über 4000 Menschen hatten darin bekannt: "I said No" ("Ich sagte Nein").

 Die Filmreihe ist nun das zweite Projekt der Gruppe. "Wir haben den Kinos rund 100 Titel vorgeschlagen", erzählt Stefanie Arnold, Vorstandsmitglied von Tuos. Aus der Liste wählten die Kinos anschliessend nach Möglichkeit und Vorliebe aus und ergänzten mit eigenen Filmen.

 Breites Programm

 So ist ein breites Programm entstanden, das verschiedene Themenfelder absteckt. Es gibt Filme zur Diaspora, der im Ausland lebenden Bevölkerung eines Landes, zur Religion, zu jungen Menschen und zu Frauen. Die Filme stammen aus ganz verschiedenen Ländern.

 So ist zum Beispiel "Exile Family Movie" ein amüsanter Dokumentarfilm über eine iranische Grossfamilie in Österreich. "Der Weg nach Mekka" berichtet von einem jungen Mann, der 1900 als Jude in Lemberg zur Welt kommt, zum Islam konvertiert und ein bedeutender muslimischer Denker wird. Und "Na Putu" ist eine Liebesgeschichte aus Bosnien-Herzegowina, die die fundamentale Frage stellt: Wie viel Religion erträgt der Mensch?

 Gespräche nach dem Film

 Stefanie Arnold empfiehlt aber nicht nur die Filme, sondern auch die Gespräche, die es im Anschluss an einige Vorführungen gibt. Zum Beispiel diskutieren nach "Na Putu" zwei Musliminnen mit dem Publikum über den Film. Und die Eröffnungsveranstaltung, die sich Kurzfilmen von jungen Muslimen und Musliminnen widmet, ist gefolgt von einem Gespräch mit jungen Menschen. Unter ihnen auch die praktizierende Muslimin Fathima Ifthikar, die im Vorstand von Tuos sitzt. Verständnis soll laut Stefanie Arnold nicht nur durch die Filme entstehen, sondern auch den Austausch darüber. Denn dafür gebe es ein Bedürfnis: "In den letzten Monaten habe ich festgestellt, dass zwar viele schockiert über das Minarettverbot waren, doch gleichzeitig wenig über den Islam wussten und keine Muslime persönlich kannten. Das wollen wir ändern."

 Marina Bolzli

 Vollständiges Programm unter: http://www.dasanderekino.ch.

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REITSCHULE BIETET MEHR
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WoZ 30.9.10

Ausserdem

 Reitschule: Danke, Erich Hess!

 von Dinu Gautier

 Sie, Erich Hess, sind als SVP-Parlamentarier der Stadt Bern auf die wahnsinnig originelle Idee gekommen, per Initiative die Schliessung des alternativen Polit- und Kulturzentrums Reitschule und dessen Versteigerung an den Meistbietenden zu fordern. Ganze 31,6 Prozent sind Ihnen nun an der Urne gefolgt. Damit ist die vierte Anti-Reitschule-Initiative gescheitert - und zwar so deutlich wie nie zuvor.

 Zur Deutlichkeit der Ablehnung, geschätzter Herr Hess, haben Sie einiges beigetragen. Da war doch dieses Musikvideo von Müslüm: bunt und trashig, ein Ihnen persönlich gewidmeter Hit. Wie haben Sie darauf reagiert? Statt zu tanzen, luden Sie und Ihr Komitee zu einer Pressekonferenz ins Untergeschoss eines sterilen Hotels, gaben die durch zigfache Wiederholung nicht weniger absurd werdenden Sätze à la "Das sind Terroristen" von sich und boten ein dermassen graues Bild, dass das Lokalfernsehen in Sorge um das psychische Wohlbefinden seiner ZuschauerInnen Szenen aus dem Müslüm-Video in den Bericht reinschneiden musste. Thomas Fuchs, Ihr Ziehvater, drohte Radiostationen andererseits mit Klagen, sollten sie das Müslüm-Lied spielen.

 Ihre GegnerInnen legten sich derweilen heiter und vergnügt ins Zeug, zogen mit einem trojanischen Pferdchen durch die Stadt und an Quartierfeste. Die Abstimmungs-CD, zu der MusikerInnen kostenlos Lieder beigesteuert hatten, verkaufte sich über 3000 Mal, bald gab es kaum eine Strasse mehr, an der nicht eine bunte Reitschule-Unterstützungsfahne an einer Fassade hing.

 Zum Schluss, am Abstimmungstag, strömten Hunderte vor die Reitschule, feier ten, tranken Freibier. Sie hingegen zogen allein durch die graue Innenstadt, übten sich in Selbstmitleid ("Drei Viertel der Berner sind Linke") und kündigten an, die Reitschule - diesen "rechtsfreien Raum" - nun auf kantonaler Ebene zu bekämpfen.

 Gäbe es Sie nicht bereits, Herr Hess, man müsste Sie erfinden. Als realsatirische Antithese zu einem Ort des kreativ-vergnügten Freiraums, wie es die Reitschule ist und bleibt.

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KULTURBOTSCHAFT
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BZ 30.9.10

Kulturveranstalter Christian Pauli

 Gesucht: Botschafter für Kultur

 "Kultur soll selbstverständlicher werden", fordert Christian Pauli, Präsident des Vereins der Berner Kulturveranstalter bekult. Im Gespräch erklärt er, was die Kulturschaffenden und die Politik dazu beitragen können.

 Christian Pauli, wenn Sie drei Wünsche frei hätten, was würden Sie sich für die Berner Kultur wünschen?

 Christian Pauli: Dass sie im Alltag selbstverständlicher wird, so wie in Genf oder Luzern. Dann wünsche ich mir Kulturereignisse, über die man spricht. Deshalb sollte die Kultur auch provokativer werden. Und mein dritter Wunsch: Sie sollte sich besser vernetzen.

 Woran merken Sie, dass die Kultur in Bern nicht selbstverständlich ist?

 Wir haben in dieser Stadt eine enorme kulturelle Vielfalt. Aber ich beobachte vor allem in der Politik, teilweise auch in der Bevölkerung, eine Skepsis gegenüber kostenintensiven Leistungen - nach dem Motto: Muss das sein? Brauchen wir das wirklich?

 Vielleicht hängt diese Skepsis auch mit einer gewissen Anspruchshaltung von Kulturschaffenden zusammen: Man hört sie allzu oft über zu wenig öffentliche Gelder klagen.

 Was würden Sie tun, wenn Sie zu viel zum Sterben, aber zu wenig zum Leben hätten? Das ist kein Klagen um des Klagens willen! Fakt ist, dass viele kulturelle Bereiche ohne Subventionen inexistent wären, sei dies Theater, Tanz, Klassik oder Jazz. Die subventionierten Institutionen wollen eine ansprechende Arbeit machen und brauchen dafür genügend Geld. Da sind wir nicht anders als andere. Die Bauern kämpfen auch für einen fairen Milchpreis.

 Die Stadt gibt jährlich knapp 34 Millionen Franken für Kultur aus. Weshalb ist das nicht genug?

 Für eine kleine Stadt ist dieses Budget beachtlich. Wenn man die Kulturausgaben aber schweizweit vergleicht, und dieser Vergleich drängt sich bei einer Hauptstadt nun mal auf, dann sind die Mittel knapp. Auch das ist wieder eine Frage des Berner Kulturverständnisses.

 Fehlt der Berner Kultur also eine politische Lobby?

 Ja. Traditionell werden die grossen Kulturinstitutionen vom freisinnigen Bürgertum getragen. Es gehört zu dessen Selbstverständnis, dass man sich mit Kultur präsentiert, auch mit zeitgenössischer, und diese zum Beispiel auch als Mäzen fördert, wie etwa in Basel. Mir scheint, der Berner Freisinn habe diese Tradition aufgegeben. Hier setzen sich die Linken für vergleichsweise konservative Häuser wie das Stadttheater ein - das ist eigenartig.

 Wie steht bekult zu der von Stadt und Kanton angeordneten Fusion zwischen Stadttheater und Symphonieorchester?

 Wenn Bern ein gut finanziertes und eigenständiges Musik- und Theaterangebot der beiden Flaggschiffe hat, profitiert auch die freie Szene davon. Die beiden Institutionen sollten sich inhaltlich aber noch öffnen, ihr Programm sollte frischer und flinker werden.

 Mit dieser Fusion hat die Politik ein Signal gesetzt. Gleichzeitig hat man den Eindruck, die Geldgeber haben sich erst eingeschaltet, als nichts mehr ging.

 Soll ich wieder klagen? (lacht) Man kann auch mal würdigen, dass die Politik nun aktiv nach Lösungen sucht. Genauso wie der Stadtpräsident nun für die Kultur und ihre Vielfalt einsteht.

 Müsste die Politik nicht auch Visionen haben?

 Eher längerfristige Strategien, zum Beispiel: Wo soll das Stadttheater in zehn Jahren stehen? Kulturschaffende reagieren allergisch darauf, wenn sich die Politik zu sehr in inhaltliche Fragen einmischt. Meiner Meinung nach sind Visionen primär eine Aufgabe der Kulturszene.

 Wie sehen die Visionen von bekult aus?

 Das Label Kulturstadt soll offensiver verkauft werden. Deshalb braucht Bern eine Art Kulturbotschafter, der dem kulturellen Leben ein Gesicht gibt und Kulturschaffende vermehrt auch mit der Wirtschaft vernetzt. Die Vernetzung wollen wir auch untereinander vorantreiben, um die kulturelle Vielfalt besser zu nutzen: Small but different - so stelle ich mir das Berner Kulturleben vor. Wir denken über bestimmte Aktionen nach, aber auch über eine für alle Veranstalter gemeinsame Ticketverkaufsstelle an zentraler Lage, damit die Kultur im Alltag präsenter wird. Unser erstes Ziel muss jedoch sein, dass die Subventionsverträge 2012-2015 vom Stadtrat und Volk angenommen werden.

 Der Stadtpräsident möchte das Kulturbudget halten, obwohl die Stadt in den nächsten Jahren sparen muss. Haben Sie einen Plan B, sollte die Kultur Kürzungen hinnehmen müssen?

 Falls Kürzungen unumgänglich sind, haben wir den Wunsch geäussert, dass die Stadt mit uns darüber spricht. Alle Institutionen haben knapp genug. Da kann man nicht einfach linear kürzen, sondern gezielt und mit einer längerfristigen Strategie vor Augen.

 Welche Bilanz ziehen Sie nach knapp eineinhalb Jahren bekult?

 Wir haben gemerkt, dass das Bedürfnis nach Austausch gross ist. Bekult zählt denn auch 63 Mitglieder, das sind fast alle Berner Veranstalter. Inzwischen deponieren wir unsere Anliegen auch regelmässig bei der Stadt. Gleichzeitig waren die Erwartungen am Anfang vielleicht allzu hoch, was der Verein mit seinem kleinen Budget alles leisten sollte. Deshalb würde ich meinen: Die Zündung ist passiert, aber erst jetzt können wir grössere Aufgaben angehen.

Interview: Lucie Machac

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Verein & Verträge

 Die Fakten

 Der Verein Bekult, der die Interessen der Berner Kulturveranstalter gegenüber der Politik vertritt, wurde im Juni 2009 gegründet. Er zählt 63 Mitglieder. Die Kulturverträge 2012-15 hat die Stadt mit den einzelnen Institutionen eben ausgehandelt. Im Dezember kommt das Gesamtpaket in den Gemeinderat. Über Subventionen, die höher sind als 75 000 Franken pro Jahr, beschliesst nächstes Jahr der Stadtrat.
 Lm

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BERN 68
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WoZ 30.9.10

Politour

 Bern 68

 Auf dem Stadtrundgang Bern 68 von Stattland Bern erleben die TeilnehmerInnen, wie damals in Berner Kellern, Kneipen und Kommunen, an Demonstrationen, Sit-ins und Teach-ins gegen die Zwänge der bürgerlichen Gesellschaft protestiert wurde.

 Bern, ab Nydeggkirche, Mi, 6. Oktober, 18 Uhr.

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SQUAT FRIBOURG
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Freiburger Nachrichten 30.9.10

Besetzer haben Häuser schon wieder verlassen

 Freiburg Zwei seit Freitag besetzte Häuser an der Industriegasse in Freiburg sind gestern Nachmittag geräumt worden. Bei einem ersten Kontakt hat Oberamtmann Carl-Alex Ridoré die Besetzer aufgefordert, die Häuser noch am selben Tag zu verlassen. Aus Sicherheitsgründen sei ein Aufenthalt nicht möglich, so Ridoré. Die gestern anwesenden vier Besetzer bedauerten einen fehlenden Dialog mit der Hausbesitzerin Fenaco, zogen aber friedlich ab. Dabei wurden sie von einer grossen Anzahl Polizisten beobachtet. pj

 Bericht Seite 3

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Besetzte Häuser wieder geräumt

 Oberamtmann Carl-Alex Ridoré hat die Auflösung der Besetzung der Häuser an der Industriegasse angeordnet. Gestern Nachmittag zogen die Besetzer bereits wieder ab.

 Pascal Jäggi

 Freiburg Gestern Morgen inspizierte Oberamtmann Carl-Alex Ridoré mit Unterstützung der Polizei die Häuser an der Industriegasse 24 und 26 in Freiburg. Seit Freitag hatte ein Kollektiv namens Raie-Manta die geschützten Arbeiterhäuser besetzt. "Wir haben einige dieser Leute angetroffen und mit ihnen ausgehandelt, dass sie die Gebäude noch am Nachmittag verlassen", erklärte Ridoré gegenüber den FN. Diese hätten zuerst noch insistiert, bis heute Morgen bleiben zu wollen, aber in einem "ernsthaften Dialog" schliesslich eingewilligt, früher zu gehen.

 Nur Option Auszug

 Die zu diesem Zeitpunkt nicht Anwesenden seien informiert worden und hätten sich ebenfalls an die Abmachung zu halten, so Ridoré. Und wenn sie dennoch bleiben? "Diese Frage stellt sich nicht." Er könne nicht zulassen, dass jemand dort übernachtet. Der Oberamtmann betont: "Diese Häuser sind im momentanen Zustand nicht bewohnbar." Und fügt etwas überraschend an: "Die Besetzer waren sich nicht bewusst, dass ein Projekt für diese Häuser existiert." Gemeint ist das Projekt der Firma Losinger, welche die benachbarten Häuser abreissen, die Arbeiterhäuser aber renovieren will. Im nächsten Jahr soll gebaut werden.

 Friedlich abgezogen

 Bei einem Augenschein am Nachmittag sagten die Besetzer etwas anderes. "Wir haben uns informiert", sagt einer, "und wären vor dem Baustart 2011 wieder ausgezogen". Einen echten Dialog mit den Behörden konnten sie nicht erkennen. "Es gab nur die Option, dass wir sofort wieder raus müssen", meint ein anderer.

 Beobachtet von einer stattlichen Anzahl Polizisten schaffen vier Besetzer ihr Hab und Gut aus den Häusern. Unter unbewohnbar verstehen sie offensichtlich etwas anderes als der Oberamtmann. "Im Haus 26 waren alle Wohnungen in gutem Zustand. In der Nummer 24 hatte es bloss einige Löcher im Boden", beschreibt einer die Lage.

 Schade finden sie, dass es keinen Dialog mit der landwirtschaftlichen Genossenschaft Fenaco, der Hausbesitzerin, gegeben habe. Sie hätten der Fenaco einen Brief mit einem Angebot unterbreitet, doch vergeblich auf eine Reaktion gewartet. "Jemand ist zwar vorbeigekommen. Bevor wir ihm einen Kaffee anbieten konnten, ist er aber wieder verschwunden", erzählt einer.

 Laut den Besetzern hat die Fenaco Anzeige wegen Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung eingereicht. Eine anwesende Vertreterin von Fenaco will das nicht kommentieren. Die Besitzerin äussere sich nicht zu dem Fall, gibt sie zu verstehen.

 Die Besetzer ziehen sich schliesslich zurück, bedauernd, dass sie ihre Idee eines kulturellen Zentrums nicht umsetzen können. Einer klagt noch, dass er jetzt erneut keinen Ort zum Schlafen habe.

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La Liberté 30.9.10

Un squat évacué à Fribourg

 Cccupation ● Le "Collectif Raie Manta", qui avait investi vendredi deux immeubles à la rue de l'Industrie à Pérolles, a été prié de plier bagage hier matin.

 Marc-Roland Zoellig

 Les membres du "Collectif Raie Manta", au nombre d'une dizaine, n'auront pas eu le temps de faire beaucoup parler d'eux. A peine rendue publique, lundi matin sur le site Web alternatif Indymedia, leur occupation de deux immeubles abandonnés sis à la rue de l'Industrie, à Fribourg, a été interrompue par intervention préfectorale. Sans opposer de résistance, les squatters ont paisiblement quitté les lieux hier entre la fin de matinée et le début d'après-midi, sous la surveillance d'un détachement de gendarmerie. Les accès aux deux bâtiments ont ensuite été condamnés. Une plainte a été déposée pour violation de domicile.

 "J'ai été contacté mardi par un représentant du propriétaire (ndlr: le groupe fenaco). J'ai rencontré les occupants hier matin", confirme Carl-Alex Ridoré, préfet de la Sarine. "Je leur ai expliqué que pour des raisons de sécurité, de salubrité et d'hygiène, il était impossible de les laisser là." Privés d'eau et d'électricité, les immeubles - classés biens culturels - sont dans un état de délabrement assez avancé et peuvent présenter un danger pour leurs occupants.

 Un magasin gratuit

 "On voulait aménager des locaux de répétition, une crèche autogérée et un magasin gratuit (ndlr: self-service proposant des vêtements et objets de récupération)", expliquaient, hier matin, deux jeunes squatteuses joviales occupées à rassembler leurs affaires. "Il n'y a plus de lieu alternatif à Fribourg!"

 Elles se réfèrent notamment aux actions du Collectif Arti-Fri-Ciel, qui avait occupé, en 2003 et 2004, l'ancienne imprimerie Nawratil à la Route-Neuve puis les anciens garages des bus GFM à la rue des Pilettes. Des bâtiments aujourd'hui rasés.

 Le "Collectif Raie Manta", qui avait emménagé vendredi passé à la rue de l'Industrie, souhaitait "y habiter en se soustrayant à la logique du capitalisme". Mais également transformer leur nouveau logement en "centre culturel et social ouvert à touTEs". "On avait déjà prévu d'organiser un apéro pour les habitants du quartier", expliquent les deux squatteuses.

 Un chantier début 2011?

 Du côté du propriétaire des lieux, on ne l'entendait évidemment pas de cette oreille. Un projet de rénovation des numéros 24, 26 et 28 de la rue de l'Industrie, ainsi que du 2 de la route Wilhelm-Kaiser, est actuellement à l'étude, explique Alex Segovia, porte-parole de Losinger Construction SA, société chargée des travaux. La demande de permis de construire circule actuellement dans les services concernés, confirme le préfet Carl-Alex Ridoré.

 Si tout se passe comme prévu, la rénovation démarrera au début 2011, ajoute Alex Segovia. Outre la réfection de ces immeubles centenaires, le projet immobilier prévoit de raser les numéros 4, 6, 8, 10 et 10a de la route Wilhelm-Kaiser - dont le bâtiment abritant le garage Migrol - afin d'y édifier un vaste complexe d'habitation et de bureaux. I

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SQUAT NL
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Indymedia 30.9.10

NL: Verbot von Squats - Widerstand ::

AutorIn : Solidarité avec les squats hollandais  |  übersetzt von : der Wind         

NL: Verbot von Squats - Widerstand

Di 28.09.2010

Wir sind Besetzer aus den Niederlanden. Wir rufen Euch auf, uns zu unterstützen bei unserem Kampf gegen das Verbot der Squats in den Niederlanden. Zwei Demonstrationen finden diese Woche statt, am 1. Oktober in Amsterdam und am 2. Oktober in Nijmegen.

Diese Woche verkündete der Amsterdamer Bürgermeister, dass in den kommenden Monaten 200 Squats in der Stadt geräumt werden würden!

Falls Ihr nicht in die Niederlande kommen könnt, so organisiert bitte lokal einen Protest oder eine Aktion gegen das Verbot, dass am 1. Oktober in Kraft tritt.

Demo in Amsterdam am 1. Oktober:
http://indymedia.nl/nl/2010/09/69650.shtml

Demo in Nijmegen am 2. Oktober (englischer Text im 2. Kommentar):
http://indymedia.nl/nl/2010/09/69622.shtml

Aufruf des Kollektivs "Geist der Einheit":

An alle Gegner des Squatverbots, an alle Ex-Besetzer, an alle Jugendlichen, die besetzen möchten, an alle Freunde und Sympathisanten der Besetzer, an alle politischen Aktivisten, an alle antifaschistischen Aktivisten, an alle Künstler, die in den Squat Werke kreieren, an alle Bandmitglieder oder DJs, die in Squats gespielt haben, an alle, die Partys und Konzerte in den Squats geniessen, an alle Reisenden, die Squats besuchen und dort übernachten und an alle, die nicht erwähnt wurden.

Wie ihr vielleicht schon wisst kommen düstere Tage auf die niederländische Besetzerbewegung zu. Das niederländische Parlament stimmte für ein Verbot von Squats. Das heisst, dass Leute, die versuchen, leere Häuser zu besetzen, als Kriminelle und Delinquenten betrachtet und bestraft werden. Die Sanktionen sind beträchtlich - zwischen ein und zwei Jahren und acht Monaten Gefängnis! Denkt bitte daran, dass dieses Repressionsgesetz ohne die Unterstützung rassistischer und fremdenfeindlicher Abgeordneter wie Geert Wilders nicht zustande gekommen wäre.

Es ist eine ernsthafte Bedrohung! Wir können es nicht zulassen, dass die Politiker die Besetzerbewegung und die Bewegungsfreiheit in den Niederlanden zerstören! Wir können nicht und nicht mehr warten! Wir müssen jetzt handeln!

Die Zukunft der niederländischen Besetzerbewegung liegt in unseren Händen, was auch eine grosse Verantwortung darstellt. Wir müssen Respekt zeigen für jede und jeden, die/der es möglich gemacht hat, dass eine grosse Besetzungsbewegung in den Niederlanden möglich geworden ist. Sie haben viel Zeit und Energie für uns geopfert. Wir sollten auch an alle junge Leute denken, die die Möglichkeit haben möchten in Zukunft in einem Squat zu leben.

Die Medien und die Politiker sagen, dass wir nur wenige sind, aber unser Geist ist stärker als dieses faule und inhumane, von Politikern kreierte Gesetz! Wir sind bereit, Politiker und Polizeikräfte zu treffen, um ihnen unsere Entschlossenheit in Sachen Recht auf Wohnen zu zeigen und ihnen den Mangel an günstigem Wohnraum in den Niederlanden zu beweisen. Ein kleines Zimmer in Amsterdam beispielsweise kostet mittlerweile zwischen 300 und 550 Euro per Monat!

Die Massenmedien und der Politbetrieb behaupten, wir seien gewalttätig, die Christen aber der CDU (Christlich-Demokratische Partei), der CU (Christliche Union) und des PSC (Orthodoxe Protestantische Partei) hätten diese Bezeichnung eher verdient. Für sie sind leere Häuser wichtiger als Menschen, die eine Wohnung suchen. Und diese "Christen" haben entschieden, dass die Polizei uns verhaften muss, falls wir nach dem 1. Oktober versuchen, ein Haus zu besetzen.

Wir sind stolz auf unsere Art zu leben und bereit, unser Recht, leere Häuser zu besetzen, zu verteidigen. Wir werden den Kampf nicht aufgeben! Einige von Euch erinnern sich vielleicht an die stolzen und wütenden Jugendlichen von Kopenhagen, die fürs Ungdomshuset und die Würde kämpften. Einige von Euch unterstützten sie in ihrem Kampf. Falls nötig, sind wir bereit den jugendlichen Geist Dänemarks und Griechenlands in unsere Strassen zu tragen!

Die Politiker lassen uns keine andere Wahl! Ab dem 1. Oktober haben wir die Wahl zwischen "obdachlos" oder "kriminell". Diese Wahl wollen wir nicht! Wir werden weder auf der Strasse, noch in ihren Gefängnissen leben! Wir sind menschliche Wesen und verdienen Respekt! Wir werden für unsere Würde kämpfen!

Es gibt Hunderte von Squats in den Niederlanden. Wir können uns nicht erlauben, diese enorme Infrastruktur zu verlieren! Es gibt Wohnhäuser, autonome Zentren, Kulturzentren. In all diesen von uns belebten Gebäuden versuchen wir, unsere politischen Ideen voranzubringen. Wir benutzen diese Orte, um unabhängige Kunst und Untergrund-Konterkultur zu fördern, im Gegensatz zur Mainstream-Pop-Kultur.

Seien wir ein bisschen sentimental. Für viele von uns ist besetzen eine Lebensart. Viele von uns verbrachten die besten Momente ihres Lebens in einem Squat. Wir erlebten unvergessliche Abenteuer zusammen. Wir haben viele wertvolle Erfahrungen, seien es selbstorganisierte Gemeinschaften oder Wohnkollektive. Viele von uns trafen ihre besten FreundInnen in Squats, für uns auch ein Grund, gegen das Verbot zu kämpfen!

Reagieren wir auf die Bedrohung, statt auf die Knie zu gehen! Benutzt Eure Phantasie, öffnet Eure Augen, steht auf und handelt!

Unser Kampf ist derjenige für eine Welt ohne Kapitalismus, ohne Sexismus, ohne Rassismus, ohne Patriarchat, ohne Homophobie, ohne Hierarchien, ohne Armut und ohne Krieg!

Wir sind sehr dankbar für Eure Unterstützung. Die Solidarität ist unsere Waffe

Spirit of Unity collective

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VOLKSHAUS ZH
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WoZ 30.9.10

Politour

 Zürcher Volkshaus

 Viele soziale Bewegungen der letzten hundert Jahre haben im Volkshaus Zürich ihre Spuren hinterlassen (vgl. Seite 25). Generalstreik, Rotes Zürich, antifaschistisches Exil, Jugendrevolten, Ausländerorganisationen, Nationale Aktion, Latino-Festivals … 1910 als alkoholfreier Treffpunkt und Veranstaltungsort für Arbeiterinnen und Arbeiter eröffnet, ist das Haus schnell ein Treffpunkt verschiedenster Szenen geworden: missionarische Predigten, Boxmeetings, Arbeiterbildung, avantgardistisches Theater, Rock- und Punkkonzerte, Modeschauen, Dia vorträge von Weltreisenden - alles hatte und hat Platz im Volkshaus. Das Haus ist auch ein Gewerkschaftszentrum, eine Buchhandlung und seit neuestem ein schickes Lokal. Das Buch "100 Jahre Volkshaus Zürich. Bewegung, Ort, Geschichte" lässt seine wechselvolle Geschichte Revue passieren. Nun wird das Buch vorgestellt. Es gibt eine Einleitung durch WOZ-Redaktor Stefan Keller (Mitherausgeber), dann diskutieren unter Leitung der Historikerin Regula Bochsler Florian Bachmann (Bildredaktor), Franz Cahannes (Volkshausstiftung), Rebekka Wyler (Mitherausgeberin) und Jakob Tanner (Professor für Geschichte) über das Volkshaus und seine Geschichte. Anschliessend Apéro.

 Zürich Restaurant Volkshaus, Stauffacherstrasse 60, So, 3. Oktober, 15 Uhr.

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DROGEN
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20 Minuten 30.9.10

Tablettensucht: Immer mehr gefälschte Rezepte

 BERN. Apotheken stossen immer häufiger auf gefälschte Rezepte. Grund: Die Medikamentensucht in der Schweiz nimmt zu.

 Viele Schweizer sind ganz wild auf Beruhigungsmittel, sogenannte Tranquilizer. Und um an die Pillen zu kommen, werden immer mehr zu Urkundenfälschern: Laut dem Berner Kantonsapothekeramt schlagen die Apotheken immer häufiger wegen gefälschter Rezepte Alarm. "Waren es früher eine bis zwei Meldungen pro Woche, sind es heute bereits zwei bis drei", so Laborleiter Hans-Jörg Helmlin.

 Bei den Fälschern handle sich einerseits um Drögeler aber andererseits auch um ganz normale Berufsleute. In einem Fall hätten sogar Eltern versucht, mit einem gefälschten Arztrezept Ritalin für ihr Kind zu erschleichen. "Dank neuer Technik ist es heute einfacher, zu fälschen - und das wird auch gemacht", so eine Mitarbeiterin der Suchtprävention Zürich zum Trend. Ruth Hagen von Sucht Info Schweiz vermutet: "Die Medikamentensucht nimmt zu, weil der Leistungsdruck im Beruf steigt."

 Zu Beginn verschreibe oftmals noch der Arzt die Pillen. Mache er nicht mehr mit, werde der nächste aufgesucht. Bis auch das nicht mehr geht: "Viele Fälscher sind normale Leute, denen niemand mehr ein Dormicum verschreibt", so der Berner Apotheker Daniel Wechsler. Dann greifen einige laut Helmlin zu Scanner und Laserdrucker oder schnappen sich den Rezeptblock vom Arztpult. "Die plumpsten und dümmsten Fälscher fallen sofort auf. Einige gehen aber hoch professionell vor", weiss Helmlin.  

Pedro Codes

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 Auch Betriebe handeln illegal

 BERN. Das Kantonsapothekeramt schlägt sich nicht nur mit Rezeptfälschungen herum: Eine Untersuchung von Schlankmacher-Kapseln beispielsweise ergab, dass diese gesundheitsschädliche Wirkstoffe enthielten und erst noch illegalerweise in der Schweiz landeten. Eine Berner Drogerie verkaufte zudem eine ätzende Natriumchlorit-Lösung, auch bekannt als Blutgift, als Heilmittel. Andere geschäfteten illegal mit dem Web-Vertrieb verschreibungspflichtiger Arzneien.

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Tagesanzeiger 30.9.10

Jugendliche Kiffer verzichten auf den Morgenjoint

 Dank Gesprächsrunden den Cannabiskonsum reduzieren: Dieses Ziel verfolgt die Oberländer Suchtprävention. Die ersten Kurse waren erfolgreich - zeigten aber auch die Grenzen auf.

 Von Thomas Bacher

 Oberland - Jugendliche sollten ihren Umgang mit Cannabis hinterfragen und in der Folge den Konsum reduzieren: Mit diesem Ziel startete die Suchtprävention Zürcher Oberland ein Pilotprojekt namens Join-t-us, welches vier Kursabende umfasst und auf freiwilliger Teilnahme basiert. Inzwischen sind drei Kurse absolviert und ausgewertet. Projektleiterin Karin Landolt ist zufrieden mit dem Ergebnis. Die Sozialarbeiterin führte die Kurse zusammen mit einem Psychologen durch.

 Es sei spannend gewesen, wie sich die Jugendlichen mit ihrem Konsumverhalten auseinandergesetzt hätten, sagt sie rückblickend. Man habe die privaten Lebensumstände der Teilnehmer ausgeleuchtet und analysiert, in welchen Situationen die Jugendlichen zum Joint greifen. Zwar hätten die Kursleiter laut Landolt auf den Mahnfinger verzichtet, dennoch sei über mögliche negative Folgen auf die Ausbildung und das Leben im Allgemeinen diskutiert worden. Dies alles mit dem Ergebnis, dass die Teilnehmer des ersten Kurses zunehmend auf sogenannten Ego-Joints verzichteten - also nicht mehr so oft alleine rauchten - und vor der Schule gar kein Cannabis mehr konsumierten.

Cannabis bewusst rauchen

 "Abstinenz ist nicht Ziel des Kurses", sagt Landolt. Vielmehr gehe es um einen bewussten Umgang mit der Droge Cannabis - analog zu den Erwachsenen, die in gemütlicher Runde ein Glas Wein geniessen würden. "Uns geht es darum, diejenigen Jugendlichen zu unterstützen, die ihren Konsum freiwillig reduzieren möchten. Und dabei konnten wir den Teilnehmern tatsächlich helfen." So hätten die Jugendlichen am Ende des ersten Kurses insgesamt merklich weniger gekifft.

 Landolt belegt diese Aussage mit einem Fragebogen, welchen die Teilnehmer über einen gewissen Zeitraum hinweg ausfüllen mussten. Dabei ist sie überzeugt, dass die Angaben der Wahrheit entsprächen - weil keine Sanktionen drohten und die offene Gesprächskultur im Kurs eine gegenseitige Vertrauensbasis geschaffen habe. Davon zeugt auch der individuelle Schlussbrief mit Analysen und persönlichen Tipps, welchen die Teilnehmer von der Kursleitung erhielten.

 Allerdings stösst das Konzept auch an Grenzen. Denn sobald die freiwillige Teilnahme als wichtigste Grundvoraussetzung wegfalle, sei eine Veränderung viel schwieriger zu erreichen - jedoch nicht unmöglich, sagt Landolt. Dies zeigten die Kurse 2 und 3 auf. Durchgeführt wurden diese auf Anfrage einer Schule im Oberland, in der Schüler beim Kiffen erwischt wurden. Alle Teilnehmer hätten ihr persönliches Verhalten hinterfragt und einige von ihnen den Konsum von Cannabis etwas reduziert. So habe es Jugendliche gegeben, die vor der Schule nicht mehr gekifft hätten, um ihre Leistung in der Schule zu verbessern. "Vielleicht sind die vier Abende ja ein erster Schritt zu einem genuss- und massvollen Cannabiskonsum", sagt Landolt. Ihre Zuversicht gründet auf der Motivation aller Teilnehmer. Denn obwohl diese "verknurrt" worden waren, seien alle gerne zu den Gesprächsrunden erschienen. "Das hat mich positiv überrascht."

 Nochmals über die Bücher

 Aufgrund der gemachten Erfahrungen möchte die Suchtpräventionsstelle Zürcher Oberland gerne weitere Kurse anbieten. An die Zielgruppe heranzukommen sei aber schwierig, räumt Landolt ein. So seien sowohl Schulsozialarbeiter wie auch Jugendarbeiter in verschiedenen Oberländer Gemeinden über das Angebot informiert worden - mit durchwegs positiven Rückmeldungen. Dennoch hätten sich noch keine weiteren Jugendlichen gemeldet. "Vielleicht ist es der fehlende Leidensdruck, oder unser Angebot ist einfach immer noch zu wenig bekannt", sagt Landolt. "Wir müssen diesbezüglich also nochmals über die Bücher."

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BIG BROTHER SPORT
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Obersee Nachrichten 30.9.10

"Hohe Bussen reichen" - wirklich?

 Im Kampf gegen Gewalt an Sportanlässen hat die Justiz beim Strafmass genug, aber beschränkt Spielraum

 1250 Franken muss ein 19-jähriger EVZ-Fan hinblättern, weil er sich nach dem ersten Heimspiel der Lakers am Bahnhof Rapperswil vermummte. Tut eine Busse in dieser Höhe genug weh? Oder wären soziale Arbeitseinsätze das noch effizientere Mittel, um Gewalt einzudämmen?

 "Im Kanton St. Gallen ist es nicht gut, wenn man sich nicht an die Spielregeln hält." Schon beim ersten Heimspiel der Rapperswil-Jona Lakers gegen den EV Zug erfuhr ein 19-Jähriger aus der Innerschweiz, welche Bedeutung die Worte von Hans-Rudolf Arta haben. Der Generalsekretär des St. Galler Sicherheits- und Justizdepartements hat den Einsatz der Kapo in Rapperswil am Nachmittag und Abend begleitet. Der Zuger Fan provozierte in der Rapperswiler Bahnhofunterführung Polizisten verbal. Verhaftet wurde er dann aber, weil er sich vermummt hatte. "Unser Vorgehen hatte sicher abschreckende Wirkung", ist Arta überzeugt. Die Beamten transportierten den Verhafteten umgehend zur Staatsanwaltschaft nach Uznach, wo ihm eine hohe Busse aufgebrummt wurde. 1250 Franken muss der Lehrling nun hinblättern, weil er gegen das im Kanton St. Gallen eingeführte Vermummungs-Verbot verstiess. In der Bevölkerung ist man sich einig: "Leider geht es nicht mehr anders." Wer nicht hören will, muss eben fühlen.

 Von Bevölkerung goutiert

 Obwohl vereinzelt Stimmen laut werden, welche die Aufgebote zahlreicher Polizisten in Kampfmontur kritisch hinterfragen, ist sich Arta sicher: "Von der grossen Mehrheit wird positiv wahrgenommen, dass wir im öffentlichen Raum für Sicherheit sorgen." Stadtpräsident Benedikt Würth erfährt zu diesem "hochemotionalen Thema" zwar unterschiedliche Feedbacks. "Aber grossmehrheitlich unterstützt die Bevölkerung unseren Kurs." Insbesondere die Anwohner im Südquartier schätzten die Massnahmen.

 Gutgeheissen werden von der Mehrheit auch Sanktionen, die richtig weh- tun. Doch tun Bussen in dieser Höhe überhaupt weh, und sind sie das richtige Mittel? Oder wäre ein Sozialdienst als Bestrafung oder Ergänzung nicht sinnvoller? Mit solchen Fragen setzt sich derzeit auch Felix Hof, Leiter des Regionalen Beratungszentrums Rapperswil-Jona, auseinander. Er ist ins Projekt "gewaltfreier Sport" involviert und zeigt sich zwar - wie Arta und Würth - erfreut über die abschreckenden Signale, welche die Polizei an den ersten Heimspielen der Lakers ins ganze Land aussandte. Ebenso begrüsst er sämtliche Massnahmen.

 "Täterschaft organisiert sich"

 Mittel- und langfristig wäre es aus seiner Sicht aber sinnvoll, diese zu hinterfragen. "Bei materiellen Einschränkungen organisiert sich eine Täterschaft schnell, sodass eine Busse nicht mehr so wehtut", meint Hof. Wenn hohe Geldstrafen ausgesprochen würden, spüre der Steuerzahler zwar, dass etwas unternommen werde. Trotzdem dürfe sehr wohl hinterfragt werden, was ein sozialer Arbeitseinsatz als Ergänzung bewirken könnte. "Das würde nicht nur mehr wehtun, sondern den Tätern vielleicht auch andere Einsichten bringen, wenn sie mal mit Menschen in Kontakt geraten, denen es dreckig geht." Ausserdem könnte es von der Öffentlichkeit durchwegs als eine "Art Wiedergut-machung" wahrgenommen werden.

 Nur ist die Rechtslage verzwickt, sodass ein Sozialdienst vorerst nicht in Frage kommt. "Bei über 18-Jährigen kommt das Erwachsenenstrafrecht zum Zug", erklärt der Generalsekretär. Darum gibt es kaum Spielraum. Noch schwieriger gestaltet es sich, wenn jemand wie im aktuellen Fall gegen das Vermummungsverbot verstösst. "Da ist eine Busse vorgesehen, weil es sich um ein kantonales Gesetz handelt." Der Sanktionenkatalog ist somit ziemlich eingeschränkt. "Man muss auch die Relationen im Auge behalten", fügt Arta dem noch an.

 Prävention statt nur Repression

 Der Generalsekretär ist denn auch überzeugt, dass Bussen reichen. Ausserdem werde nicht nur auf Repression gesetzt. "Der Prävention wird ebenso Bedeutung geschenkt." Den präventiven Ansatz hebt auch Benedikt Würth hervor, welcher für ihn "sehr zielorientiert angelegt sein muss". Der Stadtpräsident stellt klar: "Eine neue Disziplin von Sozialarbeit wollen wir nicht aufbauen." Arta sieht dies gleich. "Wichtig ist, dass das Puzzle von Massnahmen greift." Der Generalsekretär spricht damit auch die Fanarbeit - bei der aus Würths Sicht übrigens bereits erste Fortschritte erzielt werden konnten -, die Kommunikation des Klubs und die Videoüberwachung an. Die Zusammenarbeit zwischen Kanton, Stadt und Lakers klappe jedenfalls hervorragend, und die ersten Massnahmen hätten ihre Wirkung nicht verfehlt. So kann das Ziel aller Beteiligten, "die hohe Polizeipräsenz schrittweise wieder zu reduzieren" und "dass Familien mit Kindern nach Spielschluss wieder problemlos nach Hause können" weiter angestrebt werden. Dank hartem Durchgreifen der Polizei vielleicht sogar, ohne dass je wieder eine Busse aus- oder das Thema Sozialdienst angesprochen werden muss. Wünschenswert ist das auf jeden Fall.

 Dominic Duss

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Tagesanzeiger 30.9.10

Zürcher Polizei will Hooligan-Datenbank weiterführen

Huber Martin

 Zürich - Gewaltbereite Sportfans in Zürich sollen weiter in der polizeilichen Datenbank Gamma registriert werden. Der Stadtrat beantragt dem Gemeinderat, die Testphase mit Gamma um zwei Jahre bis Ende 2012 zu verlängern, wie er gestern mitteilte. Die Stadtpolizei hatte die Datenbank Anfang dieses Jahres in Betrieb genommen und kann sie probehalber bis Ende Jahr führen.

 Derzeit sind 69 Personen in der Datenbank erfasst. Die Stadtpolizei müsse aber noch mehr Erfahrungen mit Gamma sammeln, damit über deren Nutzen eine fundierte Aussage möglich sei. Eine Verlängerung der Testphase soll Aufschluss geben, ob mit der Datensammlung tatsächlich Gewalttaten frühzeitig erkannt und verhindert werden können. Jede in Gamma registrierte Person wird über ihren Eintrag in der Datenbank informiert. Diese Deanonymisierung soll erfasste Personen von Straftaten abhalten.

 Die Zürcher haben der "Gamma-Vorlage" vor einem Jahr mit über 70 Prozent zugestimmt. Gegner hatten kritisiert, dass in Gamma Personen registriert werden, bevor sie eine Straftat begangen haben. Das sei ein Widerspruch zur Unschuldsvermutung für nicht straffällige Personen. Zudem bezweifeln sie die Wirksamkeit. (mth)

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NZZ 30.9.10

Datenbank Gamma umfasst 69 Personen

 Zürich will Versuch verlängern

Reto Scherrer (rsr)

 rsr. · Seit Anfang Jahr führt die Stadtpolizei Zürich die Datenbank Gamma. Darin sollen "gewaltbereite und Gewalt suchende" Personen verzeichnet werden, die sich im Umfeld von Sportveranstaltungen auffällig verhalten; das waren bis anhin 69, wie der Stadtrat in einer Mitteilung schreibt.

 Die Grundsätze von Gamma sind in einer Verordnung geregelt, deren Gültigkeit bis Ende 2010 befristet ist und die vor rund einem Jahr von 72,6 Prozent der Stimmbürger gutgeheissen worden ist. Nun beantragt der Stadtrat dem Gemeinderat, diese Frist bis Ende 2012 zu verlängern. Als Grund dafür gibt er an, es müssten noch mehr Erfahrungen gesammelt werden. Vor allem erhoffe er sich Aufschluss darüber, ob "tatsächlich Gewalttaten frühzeitig erkannt und verhindert werden können".

 Nach nur neun Monaten verfügt das Polizeidepartement über zu wenig Daten, um Aussagen zur Wirksamkeit von Gamma machen zu können, wie dessen Sprecher Reto Casanova auf Anfrage erklärt. Ursprünglich sei der Versuch auf zwei bis drei Jahre angelegt gewesen; wegen des Referendums habe sich dessen Start jedoch derart verzögert, dass nur ein Jahr zum Testen übrig geblieben sei. Sollte der Gemeinderat der Verlängerung nicht zustimmen, würden alle 69 Einträge gelöscht, sonst blieben sie während höchstens fünf Jahren gespeichert.

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20 Minuten 30.9.10

Hool-Datenbank bis Ende 2012

 ZÜRICH. Personen, die an Sportveranstaltungen in der Stadt Zürich Gewalt suchen und gewaltbereit sind, sollen noch bis Ende 2012 registriert werden. Der Zürcher Stadtrat beantragt beim Gemeinderat eine Verlängerung der Datenbank Gamma um zwei Jahre. Aktuell sind 69 Personen erfasst, wie der Stadtrat gestern mitteilte. Jede registrierte Person wird darüber in Kenntnis gesetzt. Das Volk hatte der "Gamma-Vorlage" vor einem Jahr zugestimmt.

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stadt-zuerich.ch 29.9.10

Medienmitteilungen

Der Stadtrat von Zürich
 29. September 2010

Stadtrat beantragt dem Parlament Verlängerung der GAMMA-Verordnung

In der Volksabstimmung vom 27. September 2009 wurde die Vorlage zur Datenbank GAMMA zur Reduktion von Gewalt im Umfeld von Sportveranstaltungen angenommen. Die Stadtpolizei führt die Datenbank seit Anfang dieses Jahres. Weil die Gültigkeit der Verordnung bis Ende 2010 befristet ist und die Stadtpolizei noch nicht genügend Erfahrungen sammeln konnte, beantragt der Stadtrat dem Gemeinderat eine Verlängerung bis 31. Dezember 2012.

Als eine von zahlreichen Massnahmen zur Reduktion von Gewalt im Umfeld von Sportveranstaltungen und als Instrument zur Deanonymisierung von gewaltbereiten und Gewalt suchenden "Fans" wurde der Stimmbevölkerung die Datenbank GAMMA zur Annahme empfohlen und von dieser am 27. September 2009 mit grosser Mehrheit angenommen. Die Spezialisten der Stadtpolizei Zürich haben die GAMMA ab 1. Januar 2010 in Betrieb genommen. Als gewaltbereit gilt, wer bereits gewalttätiges Verhalten gezeigt hat. Demgegenüber ist jemand Gewalt suchend, wenn er sich anlässlich von Sportveranstaltungen derart auffällig benimmt, dass er sich von rein sportinteressierten Zuschauerinnen und Zuschauern klar unterscheidet. Aufgrund seines Verhaltens im Zusammenhang mit einer Sportveranstaltung wird er einer polizeilichen Massnahme unterzogen, weil er beispielsweise eine Bedrohungslage gegenüber Personen oder Eigentum schafft. Aktuell sind 69 Personen in der Datenbank erfasst.

Jede registrierte Person wird darüber in Kenntnis gesetzt, dass sie in der Datenbank erfasst worden ist. Sie weiss deshalb, dass ihre persönlichen Daten der Stadtpolizei Zürich bekannt sind. Diese Deanonymisierung soll registrierte Personen von Straftaten abhalten. GAMMA wirkt in diesem Sinne präventiv. Die polizeilichen Szenenkenner haben bei den Spielen die Absicht, mit gewaltbereiten und Gewalt suchenden Personen den Kontakt zu pflegen, indem sie im Vorfeld oder am Rande der Sportveranstaltungen die in GAMMA erfassten Personen ansprechen und mit ihnen Gespräche führen. Dabei handelt es sich um eine vorrangige Aufgabe, die Personen von Gewalttaten abhalten soll.

Aufgrund der langen Behandlungsdauer der GAMMA-Verordnung und der Volksabstimmung wurde die Verordnung erst auf den 1. Januar 2010 in Kraft gesetzt. Entsprechend konnte die Stadtpolizei das Instrument GAMMA erst während eines kurzen Zeitraums nutzen. Sie muss noch mehr Erfahrungen mit GAMMA sammeln, bis über deren Nutzen eine fundierte Aussage gemacht werden kann. Eine Verlängerung der Gültigkeitsdauer der Verordnung und der damit verbundenen Massnahmen zur Deanonymisierung soll Aufschluss darüber geben, ob mit der Datensammlung tatsächlich Gewalttaten frühzeitig erkannt und verhindert werden können. Der Stadtrat beantragt deshalb dem Gemeinderat, die Anwendbarkeit der GAMMA-Verordnung bis 31. Dezember 2012 zu verlängern.

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PRIVAT-SECURITY
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Landbote 30.9.10

Private Sicherheitsdienste im Streit

 Peter Fritsche

 Weinland - Der bisherige und der neue Chef des privaten Sicherheitsdienstes Politas liegen sich in den Haaren. Grund sind Meinungsverschiedenheiten nach dem Verkauf der Firma. Der an sich interne Streit ist nun eskaliert. Der bisherige Inhaber hat eine Konkurrenzfirma gegründet, mehrere Politas-Mitarbeiter haben gekündigt und arbeiten wieder für ihren früheren Chef. Dieser versucht nun, die früheren Kunden wieder an Bord zu holen. Die Folge ist ein Gerangel um Kunden und Aufträge. Und es ist auch schon zu verbalen Scharmützeln an Einsatzorten gekommen, wie etwa in einem Park in Andelfingen, den beide Chefs und ihre Mitarbeiter als ihr Revier reklamierten. Der Streit sorgt für Verunsicherung in den betroffenen Gemeinden. Andelfingen beschäftigt nun wieder die Firma des alten Politas-Chefs. Marthalen schreibt den Sicherheitsauftrag neu aus. Die beiden Streithähne haben je einen Anwalt eingeschaltet. (pfr) lKommentar Seite 21

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Dicke Luft bei der Privat-Security

 Peter Fritsche

 Zwei private Sicherheitsfirmen rangeln um Kunden und Aufträge in der Region. Die Stimmung ist aufgeheizt. Hintergrund ist der Verkauf der Firma Politas. Deren neuer Chef und der bisherige liegen sich in den Haaren.

 WEINLAND - Was sich am Abend des 4. September in Andelfingen abspielt, ist bezeichnend für die verfahrene Situation. Spätnachts fallen im lauschigen Grillenpark laute Worte. Mitarbeiter und Chefs der privaten Sicherheitsfirmen Politas und AEB stehen sich gegenüber. Beide reklamieren für sich, im Auftrag der Gemeinde im Park patrouillieren zu dürfen. Auf die Frage, was sich denn nun genau abgespielt hat, gehen die Schilderungen diame-tral auseinander. Das gilt auch für den Auslöser des Knatsches: Der Verkauf der Politas, eine private Sicherheitsfirma mit einst etwa 50 festen und freien Mitarbeitern, zuständig für Kontrollgänge in mehreren Gemeinden, bei Sportanlässen und für den Personenschutz. Nachdem er die Firma fast 20 Jahre lang geführt hat, entscheidet der 60-jährige Hansueli Aeber-hard, sich aus dem Geschäft zurückzuziehen und sich der Entwicklungshilfe und seinem Restaurantprojekt auf der indonesischen Insel Bali zu widmen.

 Den Zuschlag als neuer Inhaber erhält 2009 der 30-jährige Pier-Luigi Crema. "Anfangs hatte ich noch einen guten Eindruck von ihm", sagt Aeber-hard. Im Kaufvertrag war neben den Zahlungsmodalitäten auch die Rolle Aeberhards definiert. Für Aeberhard ist klar, dass er während einer Übergangszeit weiter zusammen mit Crema am Ruder bleiben würde. Crema sieht das anders: "Er hätte mich lediglich beraten, Mitarbeitern und Kunden vorstellen sollen." Schon bald herrscht dicke Luft bei der Politas. Wer hat das Sagen? Wer hat Einsicht in die Firmenkonten? Wer darf Geld abheben? Sowohl der bisherige, wie der neue Chef erheben Anspruch darauf.

 Vorwürfe und Dementi

 In Cremas Version der Geschehnisse hat Aeberhard ihn im Regen stehen lassen und weder bei Mitarbeitern noch Kunden eingeführt. Aeberhard dementiert und spricht seinerseits von verspäteten Ratenzahlungen, Mitarbeiterlöhnen und Sozialleistungen, die zu spät oder gar nicht überwiesen worden seien. Etwas, das Crema wiederum in Abrede stellt. Zum Teil habe er Löhne mit Verzögerung überwiesen. Dies aber nur, weil Arbeitsrapporte nicht rechtzeitig überwiesen worden seien. Aeberhard sieht einen anderen Grund: "Meine ehemalige Firma, die ich gesund übergeben habe, treibt dem Konkurs entgegen." Die finanzielle Situation bei der Politas sei in der Tat "nicht berauschend", sagt Cremas Berater Joachim Benke. Das sei aber bereits bei der Übergabe so gewesen und die aktuelle Situation habe nicht gerade zum Besseren beigetragen. Vorwürfe und Anschuldigungen hüben wie drüben.

 Zum grossen Eklat kommt es dann am 1. September bei einer Mitarbeiterinformation, wo ein Treuhänder die finanzielle Situation der Politas erläutert. Aufgebrachte Mitarbeiter erkundigen sich nach Löhnen und Sozialleistungen. Schliesslich erhebt sich Aeber-hard und verlässt den Saal. Viele Politas-Mitarbeiter folgen ihm.

 Nochmals "in die Hosen"

 Vor der Tür fragen sie ihren ehemaligen Chef, ob er nicht eine neue Sicherheitsfirma gründen wolle. "Wenn einer uns retten kann, dann ist das Aeberhard", ist sein Mitarbeiter Frank Bräm überzeugt. Das habe für ihn den Ausschlag gegeben, seine Bali-Pläne sausen zu lassen und "nochmals in die Hosen zu steigen", sagt Aeberhard. Die betreffenden Mitarbeiter kündigen bei der Politas, Aeber-hard erhält die fristlose Kündigung. Er gründet die Konkurrenzfirma AEB und stellt die ehemaligen Mitarbeiter wieder ein. Und beide Seiten kämpfen seitdem um Aufträge und Kunden. Aeberhard mit einem Vorteil, weil er manche Kunden - wie etwa die Gemeinde Andelfingen - schon länger kennt. Dort nimmt man fortan den Dienst der AEB in Anspruch. Marthalen hat den Vertrag mit der Politas per Ende Jahr gekündigt und schreibt den Auftrag neu aus.

 Aeberhard und Crema haben derweil ihre Anwälte eingeschaltet. Dass Aeberhard von Crema den Kaufpreis kassiert habe und nun eine Konkurrenzfirma aufbaue, verstosse gegen das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, sagt Cremas Anwalt Robert Meier. Dem entgegnet Aeber-hards Rechtsvertreter Theo Krummenacher: "Die Auftraggeber entscheiden letztlich, zu wem sie mehr Vertrauen haben." Und da Crema mehrere Abmachungen im Kaufvertrag verletzt habe, könne er auch Aeberhard nicht darauf behaften. Ob der Konflikt vor Gericht ausgetragen wird, ist noch offen. Der Rechtsstreit hat eben erst begonnen. PETER FRITSCHE

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 Die Arbeit privater Ordnungsdienste besser regeln

 Peter Fritsche

 Private Sicherheitsfirmen und Ordnungsdienste erleben einen Boom. Immer mehr Gemeinden landauf, landab heuern Private für Patrouillengänge an, wenn sie Probleme haben mit Diebstählen, Vandalismus, Schlägereien oder Alkoholexzessen unter Jugendlichen. Private unterstützen die chronisch personell unterdotierte Polizei auch im Ordnungsdienst bei Sportveranstaltungen, beim Bussenzettelschreiben, im Personenschutz oder bei der Kontrolle von Baustellen. Einschreiten und beispielsweise jemanden festhalten dürfen Private nur aus Notwehr. Im Kanton Zürich gilt - wie in zehn anderen Kantonen auch - keine Bewilligungspflicht für Security-Firmen.

 Laut Zürcher Polizeigesetz gelten aber gewisse Pflichten. So müssen sich zum Beispiel die Uniformen und Ausweise Privater von jenen der Polizei unterscheiden und Private müssen Stillschweigen über Polizeieinsätze bewahren. Gemeinden, die einen privaten Ordnungsdienst anheuern, müssen für den Einsatz ein Reglement erlassen. Hält sich eine private Sicherheitsfirma nicht an die Regeln, kann sie der Kanton verbieten. Um die uneinheitliche Situation in Sachen Bewilligungen zu beseitigen, gründet die Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren (KKJPD) im November ein schweizweites Konkordat über die Zulassung von privaten Securitybetrieben. Wer eine solche Firma besitzt, soll unter anderem die Rechtslage kennen, über einen guten Leumund verfügen und seinen Mitarbeitern eine minimale Ausbildung im Sicherheitsdienst anbieten, erklärt KKJPD-Präsident Roger Schneeberger. (pfr)

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Aargauer Zeitung 30.9.10

Gute Erfahrungen mit Sicherheits-Patrouillen

 Brugg Der weitere Einsatz des privaten Sicherheitsdienstes wird geprüft

Louis Probst

 "Aus meiner Sicht darf eine positive Bilanz gezogen werden", sagt Heiner Hossli, Chef der Regionalpolizei Brugg, zu den Einsätzen privater Sicherheitsdienste an den Wochenenden. "Seit dem Einsatz der Patrouillen waren keine schweren Delikte zu verzeichnen. Das dürfte mit darauf zurückzuführen sein, dass die Einsatzkräfte bei Vorfällen sofort einschreiten und bei Bedarf die Regionalpolizei oder die Kantonspolizei aufbieten."

 Sicherheit durch Präsenz

 Seit dem 18. Juni dieses Jahres stehen in Brugg in den Nachtstunden der Wochenenden uniformierte Zweierteams der Securitas im Einsatz. Präsent sind die Patrouillen vor allem an den so genannten Hotspots wie der Altstadt, auf dem Neumarkt, dem Bahnhofgebiet und der Aarauerstrasse. Zum Einsatz privater Sicherheitsdienste entschlossen hatten sich der Stadtrat und die Regionalpolizei Brugg, nachdem aus der Bevölkerung vermehrt Reklamationen wegen Pöbeleien, Schlägereien, Ruhestörungen und Sachbeschädigungen eingegangen waren.

 "Für uns ist es wichtig, dass die Mitarbeitenden des Sicherheitsdienstes durch ihre Präsenz den Anwohnern und Passanten ein Sicherheitsgefühl vermitteln können", erklärt Repol-Chef Hossli. "Die Patrouillen sorgen zudem dafür, dass den Bestimmungen des Polizeireglements nachgelebt wird, indem sie auffällige Personen ermahnen. Entscheidend ist, dass der Sicherheitsdienst sofort die Polizei aufbietet, wenn sich eine Auseinandersetzung anbahnt." Wie Heiner Hossli erklärt, werden die Einsätze anhand ihrer Rapporte laufend analysiert und optimiert. Aufgrund der guten Erfahrungen wird jetzt der weitere Einsatz des privaten Sicherheitsdienstes geprüft.

 "Kein Wildwest in Brugg"

 Bereits bei der Einführung der Patrouillen hatte der Stadtrat darauf hingewiesen, dass die polizeilichen Studien für Brugg keine beunruhigenden Zahlen über entsprechende Vorfälle aufweisen würden. "Die Statistiken zeigen, dass wir in Brugg keine Wildwest-Situation haben", betont auch Heiner Hossli.

 Wie andere grössere Gemeinden und Zentren bleibt allerdings auch Brugg von gewissen unerfreulichen Begleiterscheinungen des veränderten Ausgehverhaltens der Jugendlichen und jungen Erwachsenen nicht verschont. Heiner Hossli verweist dabei aber auch auf eine Untersuchung in der ganzen Schweiz, die aufzeigt, dass 80 Prozent der Jugendlichen keine Probleme verursachen. "Lediglich fünf Prozent gelten als so genannte Intensivtäter, die fortlaufend schwere Delikte verüben und sich auch von Haftstrafen nicht beeindrucken lassen", stellt der Repol-Chef fest. Die Entwicklung der Problematik führt Heiner Hossli auf das veränderte Lokalangebot und die Lockerungen in der Gastgewerbegesetzgebung zurück. "Einerseits wird das jetzt vorhandene Angebot begrüsst, wie sich eine junge Einwohnerrätin an der letzten Sitzung äusserte", stellt er fest. "Andererseits haben die verlängerten Öffnungszeiten einen direkten Einfluss auf das Ausgehverhalten und auch auf den Alkoholkonsum. Diese Tatsachen sind für die Einhaltung der Bestimmungen im Polizeireglement nicht unbedingt förderlich. Gerade in diesem niederschwelligen Gesetzesbereich fehlen der Polizei oft die gesetzlichen Grundlagen, um sofort nachhaltige Massnahmen ergreifen zu können. Bei Pöbeleien und Nachtruhestörungen gibt es wenig Möglichkeiten. Das gilt insbesondere für den Erlass von Wegweisungen. Ähnlich verhält es sich beim Alkoholkonsum. Wir können zwar Jugendliche, die im öffentlichen Raum Alkohol konsumieren, büssen. Mehrheitlich haben wir es aber mit jungen Erwachsenen, ab 18 Jahren, zu tun. Bei ihnen besteht keine Möglichkeit, für diesen Bereich Ordnungsbussen auszusprechen. Weil keine rechtlichen Grundlagen bestehen, fehlt es an unmittelbaren Konsequenzen für fehlbare Personen."

 "Kein Brugger Problem"

 Wie der Repol-Chef betont, widerspiegelt sich das Verhältnis zwischen korrekten und auffälligen Jugendlichen auch in Brugg. "Der grosse Anteil der Jugendlichen und jungen Erwachsenen verhält sich anständig und korrekt", betont er. Es zeige sich aber auch, dass sich die Problematik nicht auf Brugg beschränkt, sondern alle regionalen Zentren betrifft, stellt Heiner Hossli fest. "Man darf aber doch sagen, dass wir in Brugg in diesem Jahr bis jetzt keine schweren Vorfälle hatten, insbesondere keine schweren Körperverletzungen, aber auch weniger Meldungen wegen Nachtruhestörungen."

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AUSSCHAFFUNGEN
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Blick 30.9.10

Armee soll Abgewiesene ausfliegen

 Die Schweizer Luftwaffe soll abgewiesene Asylbewerber ausser Landes schaffen.

 Es war der erste Ausschaffungsflug nach Afrika seit Monaten. Und er endete als Debakel. Als die Schweiz Ende Juli fünf abgewiesene Asylbewerber aus Gambia mit dem Flugzeug in ihr Heimatlang zurückschaffen wollte, verweigerte die gambische Luftfahrtbehörde dem Schweizer Flugzeug die Landeerlaubnis. Peinlich für das Bundesamt für Migration: Das Flugzeug musste mit den Flüchtlingen nach Zürich zurückkehren.

 Aber damit nicht genug: Das Fiasko soll auch gegen 110 000 Franken gekostet haben. Dass der Bund für die Ausschaffung von ein paar wenigen Asylsuchenden einen 160-plätzigen Flieger mietete, gab in der Schweiz viel zu reden. SVP-Nationalrat und Pilot Thomas Hurter wunderte sich zudem, dass die Schweiz für diese Transporte eine Privatmaschinen chartert.

 Der Bundesrat solle prüfen, ob nicht die Luftwaffe solche Transporte künftig übernehmen könne, verlangt nun Hurter in einem Vorstoss. Zudem will er wissen, was ein Transport durch die Armee allenfalls kosten würde. "Ich könnte mir vorstellen, dass Ausschaffungen mit der Beech 1900 der Luftwaffe billiger sind." Ob dies tatsächlich der Fall ist, muss Verteidigungsminister Ueli Maurer klären. Die Maschine hat jedenfalls rund 18 Plätze - und wäre damit ideal für Ausschaffungen. Die Armee setzt dieses Fluggerät zurzeit als Transportmittel bei Auslandeinsätzen ein. Das Problem ist die Reichweite der Maschine. Bei einem Flug nach Gambia müsste sie zum Beispiel einmal zwischenlanden und auftanken.

 Hubert Mooser

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Südostschweiz 30.9.10

Untersuchungsbericht wäscht Bündner Polizeibehörde rein

 Von Hansruedi Berger

 Chur. - "Wie Puppen" hätten Bündner Polizeiorgane die vier Kinder der sechsköpfigen Kurdenfamilie bei ihrer Ausschaffung auf dem Areal der Churer Strafanstalt Sennhof in den Bus geworfen. Auf der anschliessenden Rückschaffung in ihr Ursprungsland seien sie von ihren Eltern getrennt gewesen. Ganz traumatisiert, seien sie schliesslich in Damaskus auf dem Flughafen gelandet. Mit diesen und ähnlichen Vorwürfen sah sich die Regierung nach der Ausschaffung einer sechsköpfigen syrischen Kurdenfamilie, deren Asylantrag abgewiesen worden war, nach der Ausschaffung am 14/15. Juli konfrontiert.

 Vorwürfe haltlos oder falsch

 Gestern wurde der von der zuständigen Regierungsrätin Barbara Janom Steiner in Auftrag gegebene Untersuchungsbericht in Chur den Medien präsentiert. Der für den Bericht zuständige Churer Anwalt Andrea Cantieni kommt dabei zu einem klaren Schluss: Die im Zusammenhang mit der Ausschaffung gegenüber den Bündner Behörden geäusserten Vorwürfe sind haltlos oder falsch. So zeigten beispielsweise Videobilder klar, dass die Kinder nicht in den Bus geworfen wurden und dabei auch nicht geweint hätten. Es seien keine Gesichtsmasken verwendet worden, und es habe keinen Tumult durch Strafgefangene gegeben. Die Kinder und Eltern seien nicht getrennt worden. Zudem seien die Kinder nicht traumatisiert worden. Auch weitere Vorwürfe am Vorgehen auf dem Transport nach Bern-Belp und dem Flug nach Damaskus haben sich laut Cantieni als nicht zutreffend erwiesen. Dies ergebe sich aus den Aussagen von Begleitpersonen - darunter dem sich an Bord befindlichen Arzt.

 Recht- und verhältnismässig

 Für Cantieni und Janom Steiner steht deshalb einwandfrei fest, dass die Ausschaffungsaktion rechtmässig und verhältnismässig abgelaufen ist. Es sei weder die Kinderrechts- noch die Folterrechtskonvention verletzt worden, und es habe auch keinen Amtsmissbrauch gegeben.

 Anlass zur Diskussion gibt es laut Cantieni lediglich in einem Punkt. Seiner Meinung nach hätten die Eltern nicht während des ganzen Flugs an ihre Lehnen gefesselt sein müssen. Denn die Begleitpersonen seien körperlich überlegen gewesen. Allerdings sei auch dies im Ermessensspielraum der Behörden gewesen, und die Kinder seien nicht von ihren Eltern getrennt gewesen. Allerdings gibt Cantieni auch zu bedenken, dass dann wohl auch die Zahl der Begleitpersonen vergrössert werden müsste.

 Die Kinder verängstigt

 Während die Bündner Vollzugsbehörden durch den Untersuchungsbericht entlastet werden, wird das Verhalten der Eltern erheblich kritisiert. So hätten sie einmal in der Schweiz und das zweite Mal nach der Landung in Damaskus ihre Kinder mit lautem Schreien verängstigt und ihnen gesagt, dass sie jetzt alle getötet würden. Dies wurde vom Begleitpersonal bestätigt. Denn die älteste Tochter hatte jeweils nachgefragt, ob denn die Aussagen ihrer Eltern auch tatsächlich stimmen würden.

 Denise Graf, Flüchtlingskoordinatorin von Amnesty International (AI), dankte der Regierung, dass sie die Angelegenheit untersucht habe. Sie forderte aber, den von der Regierung unter Verschluss gehaltenen Bericht zu veröffentlichen. Sie äusserte zudem nach wie vor Zweifel, ob bei der ganzen Aktion die Verhältnismässigkeit gewährleistet gewesen sei.

 Kommentar 5. Spalte

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 Amnesty International habe keine Vorwürfe erhoben, sondern lediglich Fragen gestellt. Die Menschenrechtsorganisation sei nach wie vor überzeugt, dass die Fesselung der Eltern bei der Ausschaffung unverhältnismässig gewesen sei. Das sei ein generelles Problem: "In keinem anderen europäischen Land werden Leute bei Ausschaffungen so gefesselt wie in der Schweiz", erklärte Graf.

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Kommentar

 Nach dem Motto, etwas bleibt schon hängen

 Von Hansruedi Berger

 Folter, Kindsmisshandlung, Amtsmissbrauch - solche und andere Vorwürfe wurden an die Justiz- und Polizeibehörden des Kantons Graubünden nach der Ausschaffung einer sechsköpfigen syrischen Kurdenfamilie Mitte Juli gerichtet. Auslöser der ganzen Aktion war ein offener Brief eines Insassen der Strafanstalt Sennhof, der versicherte, alles hautnah mitbekommen zu haben. Ergänzt wurden die "Ungeheuerlichkeiten" von Mitgliedern des Vereins Miteinander Valzeina, die darin wohl eine willkommene Gelegenheit sahen, den ungeliebten Vorsteher des Bündner Amts für Polizeirecht, Heinz Brand, endlich loszuwerden. Schliesslich liess sich auch noch Amnesty International (AI) vor den Karren spannen und forderte eine Untersuchung der Vorfälle.

 Seit gestern liegt der Bericht vor, und was wohl kaum jemand erwartet hätte: Nicht ein einziger Vorwurf trifft zu. Alles scheint frei erfunden zu sein. Nicht nur die an der Aktion beteiligten Personen bestätigen dies. Auch die bei der Churer Strafanstalt angebrachten Videokameras zeigen nichts, was auf einen Amtsmissbrauch schliessen liesse. Dafür gibts eigentlich nur eine Erklärung: Die "Hüter der Menschenrechte" haben spekuliert - ganz nach dem Motto, etwas wird schon hängen bleiben.

 Gänzlich anders sehen dies offensichtlich einige Mitglieder des Vereins Miteinander Valzeina. Ruth Zimmermann, nach eigenen Aussagen auch AI-Mitglied, sagte am Rande der Medienkonferenz: "Ich glaube nur, was die ausgeschaffene Frau mir gesagt hat." Und: Der für die Untersuchung eingesetzte Anwalt sei nicht unabhängig gewesen, weil er vom Kanton bezahlt worden sei. Wer sonst hätte denn die Kosten übernehmen sollen? Mit anderen Worten: Die nächste Räuberstory made in Valzeina kommt bestimmt. Und dies zum Schaden derjenigen, die wirklich auf politisches Asyl angewiesen sind.

 hberger@suedostschweiz.ch

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AUSSCHAFFUNGS-INITIATIVE
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NZZ 30.9.10

Wegweisung als "Strafe" für Ausländer

 Die heutige Praxis, die Ausschaffungsinitiative und der Gegenentwurf

 Die Initiative der SVP macht die Wegweisung verurteilter Ausländer allein vom Delikt abhängig. Der Gegenvorschlag lässt Raum zur Beurteilung des Einzelfalls, würde die bisherige Praxis aber ebenfalls verschärfen.

 Christoph Wehrli

 Es ist grundsätzlich wenig bestritten, dass ein Staat das gute Recht hat, Zugewanderte, die für die Öffentlichkeit eine Gefahr oder eine anderswie unzumutbare Last sind, wieder wegzuweisen. Für die Betroffenen bedeutet der Verlust des Aufenthaltsrechts - über eine verbüsste Strafe hinaus - allerdings einen tiefen Eingriff in die existenziellen Umstände, vor allem wenn jemand im Land schon verwurzelt ist. Die Frage ist denn auch rechtlich näher geregelt. Die Abstimmung vom 28. November über die Ausschaffungsinitiative und den Gegenentwurf ist ein Anlass, über die Kriterien breiter zu diskutieren.

 Abwägung im Einzelfall

 Heute enthält die Bundesverfassung nur eine kurze, allgemeine Bestimmung über die Ausweisung gefährlicher Ausländer. Im Gesetz findet sich eine konkretere Regelung, die teilweise nach Aufenthaltsstatus und -dauer differenziert. Die Behörden (primär die kantonalen) haben dabei einen Spielraum, da sie Bewilligungen widerrufen "können", nicht aber müssen. Gewisse Leitplanken setzt das Bundesgericht. Namentlich hat es 2009 entschieden, dass eine Freiheitsstrafe ab einem Jahr "längerfristig" ist und damit gemäss Gesetz den Entzug der Bewilligung erlaubt. Bei Verstössen gegen die öffentliche Ordnung oder Gefährdung der Sicherheit ist eine Ausweisung grundsätzlich auch ohne Strafurteil möglich.

 Im konkreten Fall werden das öffentliche und das private Interesse gegeneinander abgewogen. Für die öffentliche Sicherheit sind die Schwere des Delikts oder des Verschuldens und die Wiederholungsgefahr massgebend. Auf der Seite des Betroffenen wird berücksichtigt, welches seine Bindungen zur Schweiz beziehungsweise zum Herkunftsland sind. Kriterien sind etwa die Aufenthaltsdauer, die Integration und die Familienverhältnisse. Zum Beispiel führte eine Haftstrafe von zwei Jahren zur Wegweisung eines Ausländers, der mit einer Schweizerin verheiratet war, aber sich erst kurz im Land aufgehalten hatte; dagegen konnte ein 13-jährig in die Schweiz gekommener 26-jähriger Täter mit gleicher Strafe hier bleiben.

 Bei Personen aus der EU setzt das Freizügigkeitsabkommen eigene, wohl etwas höhere Schranken für Wegweisungen. Voraussetzung ist eine effektive und hinreichend schwere Gefährdung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Jeder Fall ist einzeln zu prüfen.

 Nach offizieller Schätzung wird jährlich 350 bis 400 Ausländern wegen Straffälligkeit das Aufenthaltsrecht entzogen. Den primären Entscheid fällt jeweils das Migrationsamt (die Fremdenpolizei). Die Landesverweisung als gerichtlich verhängte Nebenstrafe wurde auf Anfang 2007 abgeschafft. Dadurch entfallen Doppelspurigkeiten oder Unklarheiten der Zuständigkeit. Die ausländerrechtlichen Massnahmen sind juristisch gesehen keine Strafe, obwohl sie faktisch ähnlich wirken und gerade auch von den Urhebern der Ausschaffungsinitiative so verstanden werden. Die Rückkehr zur Landesverweisung steht im Rahmen der Strafrechtsverschärfung zur Diskussion.

 In Richtung Automatismus

 Die von der SVP 2007 lancierte Ausschaffungsinitiative enthält eine "klare" Regelung. Sie zählt die Delikte auf, die nach Verurteilung des Täters zum Verlust des Aufenthaltsrechts führen. Eingeschlossen wird auch der missbräuchliche Bezug von Sozialhilfe oder Leistungen der Sozialversicherungen. Auf Gesetzesstufe sollen diese Tatbestände näher umschrieben werden, was speziell beim Sozialmissbrauch und beim Einbruch (im Strafgesetzbuch kein Begriff) nötig sein dürfte. Der Katalog kann zudem verlängert werden. Beim Vollzug soll - den Äusserungen der SVP nach zu schliessen - kein wesentlicher Ermessensspielraum mehr bestehen.

 Es ist allerdings nicht ganz klar, ob die Initiative doch mit einer gewissen Flexibilität umgesetzt werden soll. Im Parlament bestand Einigkeit darüber, dass das zwingende Völkerrecht nicht verletzt werden darf und zum Beispiel bei Flüchtlingen, denen nach einer Rückschaffung Folter drohen würde, die Wegweisung nicht vollzogen würde. Diese Interpretation erlaubte es, die Initiative für gültig zu erklären. Offen bleibt aber, wie mit Widersprüchen zu anderem Völkerrecht und zur Bundesverfassung umzugehen wäre. Es geht dabei um das EU-Freizügigkeitsrecht, das Recht auf Familienleben, um Kinderrechte und generell um die Verhältnismässigkeit staatlichen Handelns.

 Alternative des Parlaments

 Der Bundesrat lehnte das Volksbegehren ab, wollte den Initianten, die innert acht Monaten 211 000 Unterschriften gesammelt hatten, aber mit Änderungen im Ausländergesetz entgegenkommen. Der Nationalrat folgte zuerst diesem Kurs, doch der Ständerat entschied sich für einen Gegenvorschlag auf Verfassungsstufe. In der von beiden Kammern verabschiedeten Form enthält er neben einer Aufzählung einzelner Delikte eine generelle Umschreibung der Gründe für eine (grundsätzlich obligatorische) Ausweisung. Massgebend ist die Schwere des Tatbestands (Strafandrohung von mindestens einem Jahr) oder das konkrete Strafmass (mindestens zwei Jahre, bei Betrug 18 Monate).

 Insbesondere weil die Entscheide verhältnismässig sein müssen, sind Ausnahmen möglich. Nach Auffassung des Bundesamts für Migration könnte das Parlament anderseits auf Gesetzesstufe eine Kompetenz ("Kann-Vorschrift") für Wegweisungen in weiteren Fällen vorsehen. Es wird angenommen, dass sich die Zahl der Wegweisungen auf 750 bis 800 pro Jahr verdoppeln würde. Die Initiative würde zu schätzungsweise 1500 Wegweisungen führen, die Fälle von Sozialmissbrauch nicht gerechnet.

 Der Gegenentwurf enthält zudem einen Artikel über die Integration. Sie bekommt dadurch mehr Gewicht. Auch ist so die Ausländerpolitik in der Verfassung nicht nur negativ sichtbar. Was die am Schluss erwähnte Befugnis, allenfalls Vorschriften zu erlassen, genau bedeutet, ist unklar. Doch dürfte der Bund namentlich mit Eingriffen in die kantonale Schulhoheit vorsichtig sein.

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 Eidgenössische Abstimmung vom 28. November Ausschaffungsinitiative und Gegenvorschlag

 Die Position der NZZ

 zz. · Die Ausschaffungsinitiative enthält eine Liste von Tatbeständen, die unterschiedlich gravierend sind und auch den "missbräuchlichen" Bezug sozialstaatlicher Leistungen einschliessen. Diese Kriterien sollen zwingend zur Wegweisung von Ausländern führen - ohne Berücksichtigung der Umstände des jeweiligen Falls. Durch diesen willkürlichen Schematismus wäre Unrecht programmiert. Der Gegenentwurf stellt hingegen auf die Schwere des konkreten Delikts ab und vermeidet Konflikte mit grundlegendem Verfassungs- und Völkerrecht. Er führt aber zu einer einheitlicheren und strengeren Praxis. Zudem erhält die Integrationspolitik eine verbindliche Basis. Die NZZ-Redaktion empfiehlt ein Nein zur Initiative und ein Ja zum Gegenvorschlag.

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 Die Abstimmungsvorlage im Wortlaut

 zz. · Die Stimmberechtigten können zur Ausschaffungsinitiative und zum Gegenvorschlag separat Ja oder Nein sagen und bei der Stichfrage in jedem Fall angeben, welche Vorlage sie vorziehen, falls beide angenommen werden.

 Das geltende Recht

 Bundesverfassung Art. 121 Abs. 2

 Ausländerinnen und Ausländer können aus der Schweiz ausgewiesen werden, wenn sie die Sicherheit des Landes gefährden.

 Ausländergesetz Art. 62

 Die zuständige Behörde kann Bewilligungen, ausgenommen die Niederlassungsbewilligung, und andere Verfügungen nach diesem Gesetz widerrufen, wenn die Ausländerin oder der Ausländer: [. . .]

 b. zu einer längerfristigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde oder gegen sie eine strafrechtliche Massnahme im Sinne von Artikel 64 oder Artikel 61 des Strafgesetzbuches angeordnet wurde;

 c. erheblich oder wiederholt gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung in der Schweiz oder im Ausland verstossen hat oder diese gefährdet oder die innere oder die äussere Sicherheit gefährdet. [. . .]

 1. Ausländergesetz Art. 63 Die Niederlassungsbewilligung kann nur widerrufen werden, wenn:

 a. die Voraussetzungen nach Artikel 62 Buchstabe a oder b erfüllt sind;

 b. die Ausländerin oder der Ausländer in schwerwiegender Weise gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung in der Schweiz oder im Ausland verstossen hat oder diese gefährdet oder die innere oder die äussere Sicherheit gefährdet. [. . .]

 2. Die Niederlassungsbewilligung von Ausländerinnen und Ausländern, die sich seit mehr als 15 Jahren ununterbrochen und ordnungsgemäss in der Schweiz aufhalten, kann nur aus Gründen von Absatz 1 Buchstabe b und Artikel 62 Buchstabe b widerrufen werden.

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 Die Initiative

 Volksinitiative "für die Ausschaffung krimineller Ausländer"

 Bundesverfassung Art. 121 Abs. 3-6 .

 3. Sie [= die Ausländerinnen und Ausländer] verlieren unabhängig von ihrem ausländerrechtlichen Status ihr Aufenthaltsrecht sowie alle Rechtsansprüche auf Aufenthalt in der Schweiz, wenn sie: wegen eines vorsätzlichen Tötungsdelikts, wegen einer Vergewaltigung oder eines anderen schweren Sexualdelikts, wegen eines anderen Gewaltdelikts wie Raub, wegen Menschenhandels, Drogenhandels oder eines Einbruchsdelikts rechtskräftig verurteilt worden sind; oder missbräuchlich Leistungen der Sozialversicherungen oder der Sozialhilfe bezogen haben

 4. Der Gesetzgeber umschreibt die Tatbestände nach Absatz 3 näher. Er kann sie um weitere Tatbestände ergänzen.

 5. Ausländerinnen und Ausländer, die nach den Absätzen 3 und 4 ihr Aufenthaltsrecht sowie alle Rechtsansprüche auf Aufenthalt in der Schweiz verlieren, sind von der zuständigen Behörde aus der Schweiz auszuweisen und mit einem Einreiseverbot von 5 bis 15 Jahren zu belegen. Im Wiederholungsfall ist das Einreiseverbot auf 20 Jahre anzusetzen.

 6. Wer das Einreiseverbot missachtet oder sonst wie illegal in die Schweiz einreist, macht sich strafbar. Der Gesetzgeber erlässt die entsprechenden Bestimmungen.

 Übergangsbestimmungen Art. 197

 8. Der Gesetzgeber hat innert fünf Jahren seit Annahme von Artikel 121 Absätze 3-6 durch Volk und Stände die Tatbestände nach Artikel 121 Absatz 3 zu definieren und zu ergänzen und die Strafbestimmungen bezüglich illegaler Einreise nach Artikel 121 Absatz 6 zu erlassen.

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 Der Gegenvorschlag

 Bundesverfassung Art. 121a Integration

 1. Das Ziel der Integration ist der Zusammenhalt der einheimischen und der ausländischen Bevölkerung.

 2. Die Integration erfordert von allen Beteiligten die Respektierung der Grundwerte der Bundesverfassung und der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, den Willen zu eigenverantwortlicher Lebensführung sowie die Verständigung mit der Gesellschaft.

 3. Die Förderung der Integration bezweckt die Schaffung von günstigen Rahmenbedingungen für die chancengleiche Teilhabe der ausländischen Bevölkerung am wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben.

 4. Bund, Kantone und Gemeinden stellen bei Erfüllung ihrer Aufgaben die Berücksichtigung der Anliegen der Integration sicher.

 5. Der Bund legt die Grundsätze der Integration fest und fördert Integrationsmassnahmen der Kantone, Gemeinden und von Dritten.

 6. Der Bund überprüft in Zusammenarbeit mit den Kantonen und Gemeinden periodisch den Stand der Integration. Werden die Anliegen der Integrationsförderung nicht erfüllt, so kann der Bund nach Anhörung der Kantone die notwendigen Vorschriften erlassen.

 Art. 121b Aus- und Wegweisung

 1. Ausländerinnen und Ausländer können aus der Schweiz ausgewiesen werden, wenn sie die Sicherheit des Landes gefährden.

 2. Ausländerinnen und Ausländer verlieren ihr Aufenthaltsrecht und werden weggewiesen, wenn sie:

 a. einen Mord, eine vorsätzliche Tötung, eine Vergewaltigung, eine schwere Körperverletzung, einen qualifizierten Raub, eine Geiselnahme, einen qualifizierten Menschenhandel, einen schweren Verstoss gegen das Betäubungsmittelgesetz oder eine andere mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedrohte Straftat begangen haben und dafür rechtskräftig verurteilt wurden;

 b. für einen Betrug oder eine andere Straftat im Bereich der Sozialhilfe, der Sozialversicherungen oder der öffentlichrechtlichen Abgaben oder für einen Betrug im Bereich der Wirtschaft zu einer Freiheitsstrafe von mindestens 18 Monaten rechtskräftig verurteilt wurden; oder

 c. für eine andere Straftat zu einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren oder zu mehreren Freiheitsstrafen oder Geldstrafen von insgesamt mindestens 720 Tagen oder Tagessätzen innerhalb von zehn Jahren rechtskräftig verurteilt wurden.

 3. Beim Entscheid über die Aus- und Wegweisung sowie den Entzug des Aufenthaltsrechts sind die Grundrechte und die Grundprinzipien der Bundesverfassung und des Völkerrechts, insbesondere der Grundsatz der Verhältnismässigkeit, zu beachten.

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RECHTSEXTREM
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Olaf als SVP-Konkurrenz?

 Ohne Ausländer gibt es keine Ausländerkriminalität

 Dr. Alois B. Stocher hat einen radikalen Vorschlag, wie man die Ausländerfrage lösen kann.

 Von Dinu Gautier (Text und Foto)

 Bern, Stunden vor den Bundesratswahlen: eine langweilige Nacht des eitlen Small Talks, von der Presse absurderweise "Nacht der langen Messer" genannt. In der Bar des Hotels Bären prostet Dr. Alois B. Stocher den SVP-Nationalräten Ulrich Schlüer und Toni Bortoluzzi zu. Man duzt sich. Stocher überreicht den Herren den neusten Prospekt seiner Organisation zur Lösung der Ausländerfrage Olaf. Dann, endlich, ist Alois B. Stocher bereit, "dem Kommunistenblatt" Red und Antwort zu stehen - nicht ohne vorher mit dem Anwalt zu drohen, sollte der Bericht "tendenziös" ausfallen.

 Als Geschäftsführer der Olaf wirbt Stocher im Internet für die sofortige Ausschaffung von AusländerInnen - noch bevor über die SVP-Ausschaffungsinitiative abgestimmt wird. "Wir verfolgen einen 3-Phasen-Lösungsansatz: Markieren, Sammeln, Ausschaffen." Bis zu zwanzig AusländerInnen würden in einen Olaf-Container passen. Die Container würden per Zug ausser Landes gebracht, behauptet Stocher. "Als internationales Unternehmen sind wir nur sehr beschränkt an lokale Gesetze gebunden." Das sei gegenüber den Behörden ein grosser Vorteil: "Die müssen sich an die Verfassung halten, es gibt Gerichte, Menschenrechte und so weiter", so Stocher in angewidertem Ton.

 Alois B. Stocher ist 47-jährig, trägt Anzug, Schnauz und Seitenscheitel. Er ist ein Reaktionär, wie er im Buche steht, von Hass aufs Fremde getrieben. Wenn er sagt: "Ich bin ein freiheitsliebender Mensch", dann tut er das mit der herablassenden Gestik und Mimik eines Gefängnisaufsehers.

 Seine Organisation sei zwar der SVP eng verbunden, im Namen einer ausserhalb der Politik stehenden Firma könne er aber reden, ohne Rücksicht auf Diplomatie und Wahltaktik nehmen zu müssen. Das eigentliche Problem sei nicht die Ausländerkriminalität, sagt Alois B. Stocher. "Wer nämlich nicht Ausländer ist, der kann überhaupt nicht krimineller Ausländer werden. Insofern betreibt die SVP lediglich Symptombekämpfung."

 Eine Herausforderung ist es laut Stocher freilich, herauszufinden, wer denn "echter Schweizer" sei und wer nicht. "Gentests sind sehr teuer, wir wenden sie nur in Härtefällen an." Härtefälle kämen etwa vor, wenn das Olaf-Expertenteam bei der Stammbaumforschung in der zehnten Generation nicht mehr weiterkomme.

 Dass Ausländer heute schneller einen Schweizer Pass als Cumulus-Punkte in der Migros bekämen, sei schlimm. "Richtig schlimm wird es aber, wenn es ihnen nicht einmal mehr anzusehen ist. Ich habe schon mit solchen Leuten gesprochen und nichts gemerkt, weil die perfiderweise Mundart redeten."

 Stocher hat im Internet ein Meldeformular eingerichtet, wo SchweizerInnen den Namen von AusländerInnen angeben und deren Ausschaffung beantragen können. Damit hofft er, den Aufwand begrenzen zu können. "Es ist zugegebenermassen Verhältnisblödsinn, was wir derzeit machen. Was uns das kostet ..." Stocher verwirft theatralisch die Hände, dann flüstert er: "Es gibt natürlich andere, viel effizientere Lösungen. Aber das ist Zukunftsmusik. Schreiben Sie das ja nicht auf."

 Unternehmer Stocher wäre nicht Unternehmer, würde er bei seinen Geschäften nicht auch an die Gesamtwirtschaft denken. Um zu verhindern, dass in einer Schweiz ohne AusländerInnen die Wirtschaft zusammenbrechen würde, denkt er laut über ein "Kinderobligatorium" nach, das allenfalls mit staatlichen Kinderzulagen als "Anreiz" zu kombinieren wäre. Auf die Frage, ob es nicht zu Schein eltern schaf ten kommen könnte und sich Scheineltern bei Kontrollen nicht einfach Nachbarskinder borgen würden, kommt der Vater dreier Kinder zum ers ten Mal ins Grübeln. Nach einer Weile sagt er nachdenklich: "Daran haben wir noch nicht gedacht. Sie sind natürlich raffiniert, die se Linken. Die haben ein wahnsinnig destruktives Potenzial."

 Dann kippt die Stimmung. Stochers Tonfall wird noch barscher. Auslöser ist die Frage, ob es sich bei seinem ganzen Unternehmen, wie im Internet behauptet wird, um ein satirisches Projekt linker Künstler handle. "Dieses Gerücht ist ein Problem für uns." Grund hierfür sei der Grafiker, der die Website aufgesetzt und registriert habe. "Wir haben uns zu wenig über den erkundigt. Das ist tatsächlich so ein Linker, der hat Sachen gemacht, das können Sie sich gar nicht vorstellen." Als Olaf davon erfahren habe, habe man den Grafiker sofort auf die Strasse gestellt. "Doch die Leute sind ja nicht dumm. Jeder Besucher unserer Website wird merken, dass wir alles andere als links sind   - sonst versteh ich die Welt nicht mehr", sagt Stocher.

 Die Satirevorwürfe scheinen jedenfalls Stochers Popularität im Internet keinen Abbruch zu tun. Zahlreiche PolitikerInnen zählen weiterhin zu seinen Freunden auf Facebook.

http://www.olaf-schweiz.ch

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20 Minuten 30.9.10

Rasierklinge unter Aufkleber

 RHEINFELDEN (D). Eine junge Frau im badischen Rheinfelden entfernte gestern einen Sticker mit der Aufschrift "Organisiert den nationalen Widerstand" von einem Laternenmast. Doch der Kleber war manipuliert, dahinter war eine Rasierklinge so positioniert, dass sich der Entferner heftig in die Finger schneiden sollte. Mit viel Glück blieb die Frau aber unverletzt. Die Methode ist in Deutschland in rechtsradikalen Kreisen verbreitet.

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ANTISEMITISMUS
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Bund 30.9.10

Meinungen

 Debatte Le Corbusier wird als "Antisemit" zur Unperson erklärt - wie schon andere vor ihm. Kein Grund, sie abzuschreiben.

 Dürfen Geistesgrössen irren?

Guido Kalberer

 Louis-Ferdinand Céline, einer der grössten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, war ein glühender Antisemit. Martin Heidegger, einer der grössten Philosophen des 20. Jahrhunderts, liess sich 1933 von den Nationalsozialisten zum Rektor der Universität Freiburg im Breisgau wählen. Und nun verliert auch Le Corbusier, einer der grössten Architekten des 20. Jahrhunderts, seine politische Unschuld. Man kann weiter in der Geistesgeschichte zurückgehen und etwa bei Arthur Schopenhauer einen Halt machen, der die Frauen herzhaft hasste, oder in den Norden reisen zu Knut Hamsun, der dem nationalsozialistischen Gedankengut nahestand.

 Man kann aber auch die Stirn runzeln über das Verhalten der jüdischen Philosophin Hannah Arendt, die nicht nur vor, sondern auch nach dem Zweiten Weltkrieg mit Heidegger liiert war, obwohl sich ihr Liebhaber mit keinem Wort von seiner politischen Vergangenheit distanzierte - was ihm der Dichter Paul Celan nie verzieh. Man kann auch einen Blick auf die zahlreichen Geistesheroen des 18. Jahrhunderts werfen, welche die sich anbahnende Demokratisierung vehement ablehnten und in der Französischen Revolution Teufelswerk sahen. Nur allzu schnell geht vergessen, dass der Geist jahrhundertelang die vornehme Perücke des Adels trug.

 Grenzen der Toleranz

 Es ist ein weites Feld, das sich hier auftut, und ein heikles dazu mit vielen offenen Fragen. Erträgt man es, dass Geistesgrössen, deren Werk man schätzt oder gar bewundert, moralisch oder politisch irren? Wenn ja, wie weit reicht unsere Toleranz? Und schliesslich stellt sich die für die Ästhetik zentrale Frage: Hat die politische Haltung - wie etwa ein ressentimentgeladener Rassismus - auf das künstlerische Werk durchgeschlagen, sodass es davon infiziert ist? Ist etwa Friedrich Nietzsche schuld daran, dass die Nationalsozialisten ihn wie einen Eisheiligen verehrten, oder wurde sein radikales Konzept des Übermenschen für deren Zwecke instrumentalisiert oder gar missbraucht? Und trägt "Sein und Zeit", das 1927 erschienene Hauptwerk von Heidegger, bereits den Stempel des späteren NS-Parteimitglieds? Dutzende von Studien beschäftigen sich mit dieser komplexen Materie und kommen von Fall zu Fall und von Autor zu Autor zu anderen Schlüssen.

 Nur eines lässt sich mit Sicherheit sagen: Je älter und geografisch entfernter der Skandal, desto unaufgeregter die Reaktion; je historischer das Denken, desto gelassener das Urteil. Niemand wirft Sokrates oder Platon Pädophilie vor, sie war, wie die Sklaverei, weitverbreitet und Teil der antiken Lebenswelt - bei der Odenwaldschule allerdings regte sich unser kollektiver Widerstand, mit dem Effekt, dass die alternativen pädagogischen Konzepte auf einen Schlag entwertet wurden. Mit der philosophischen Aufklärung haben sich nicht nur normative Standards über das richtige Leben durchgesetzt, auch eine gewisse Selbstverblendung der Moderne wurde Mode und Methode: So kommt das moralische Urteil der Nachwelt häufig einer Absolution der realen Gegenwart gleich. Es geht dabei weniger um Einsichten und Erkenntnisse, sondern um eine Überhöhung des eigenen Standpunktes.

 Wenn die Grossen klein denken

 Wenn man eine Meinung oder Haltung in einen bestimmten historischen Kontext stellt, heisst das aber noch nicht, dass man sie damit akzeptiert oder gar entschuldigt. Es handelt sich bloss um den Versuch, ein Stück weit einen unangenehmen Weg zu gehen, um jemanden zu verstehen. Man kann zum Beispiel die Musik von Carlo Gesualdo in vollen Zügen geniessen, ohne damit den Mord an seiner Ehefrau zu rechtfertigen.

 Klar: In letzter Instanz, wie Friedrich Engels sagen würde, hat das von zahlreichen Zwängen entfesselte Individuum in den meisten Situationen die freie Wahl zwischen Mitmachen oder Verweigern. Je näher wir dem ideologietrunkenen 20. Jahrhundert kommen, desto schmerzhafter macht sich der Stachel moralischen Verfehlens bemerkbar. Es ist letztlich die Freiheit, die uns so sehr bewegt und verletzt, wenn die Grossen klein denken oder falsch handeln.

 Der Widerspruch zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, ist umso stossender, je bedeutender eine Persönlichkeit ist. Wieso? Weil wir ihr eine Erhabenheit zuschreiben, die mehr über uns und unsere Wünsche verrät als über die Künstler selbst. Gottfried Benn, auch er kein Leuchtturm ethischen Verhaltens, übertrieb nur wenig, als er schrieb, Kunst sei das Gegenteil von gut gemeint. Richtig ist sicherlich, dass der Ästhetik mit rein moralischen Urteilen nicht beizukommen ist.

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St. Galler Tagblatt 30.9.10

Pakt mit dem Teufel

 Le Corbusier Die UBS stoppt eine Kampagne mit dem Bild des Schweizer Architekten. Was ist dran am Vorwurf des Antisemitismus?

 Peter Surber

 Bildsujet und dazugehöriger Satz sind tatsächlich unglücklich gewählt: "Weil wir Vergangenes aufarbeiten wollen…", schreibt die UBS in ihrer jüngsten Werbekampagne und setzt dazu den Kopf des Architekten Le Corbusier (1887-1965). Dagegen hat sich nun ihrerseits eine Protestkampagne formiert, mit dem Ergebnis, dass die UBS die Werbung mit Le Corbusier entfernt hat.

 Viele Pläne, wenig Skrupel

 Denn just in der Vergangenheit des legendären Architekten gibt es dunkle Flecken. 1941 engagierte ihn das faschistische Vichy-Regime in Frankreich als "Verantwortlichen für Städtebau". 1940 äusserte er sich in einem Brief an seine Mutter bewundernd über Hitler. Zudem suchte er die Zusammenarbeit mit Mussolini - für die UBS, die sich mit ihrer eigenen Vergangenheit schwertut, also nicht gerade eine Lichtgestalt.

 Und für Kritiker offensichtlich Grund genug, ihn zur Unperson zu erklären. Architekturhistoriker Pierre Frey von der ETH Lausanne wird von der "Sonntags-Zeitung", die den Fall aufgebracht hat, mit den Worten zitiert, Le Corbusier sei ein "Theoretiker der räumlichen Eugenik und ein rabiater Antisemit", gewesen. Das hatte er bereits vor Jahresfrist in der "Weltwoche" gesagt und das Konterfei des Architekten auf der Zehnernote kritisiert. Neu ist die Debatte nicht, auch Biographien, zuletzt jene des Amerikaners Nicholas Fox Webber, verschweigen seine problematischen Positionen nicht.

 "Le Corbusier wollte bauen - und hatte wenig Skrupel, sich dafür allen möglichen Regimes anzubieten", bestätigt auf Anfrage Sonja Hildebrand, Dozentin am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur (gta) der ETH Zürich. Das sei fragwürdig, aber noch kein Grund, seinem Bauen selber einen "totalitären" Geist zu unterstellen. Allerdings erhebe es den so umfassenden wie selbstbewussten Anspruch, die Wohnbedürfnisse der Menschen zu kennen und zu befriedigen - und gerate damit in Gefahr, gleichmacherisch über die Vielfalt der Lebensweisen hinwegzusehen.

 Die "Idealstadt", wie sie Le Corbusier im indischen Chandigarh (oder Oscar Niemeyer in Brasilia) zu realisieren versuchten, sei heute städtebaulich überholt - auch wenn, wie Hildebrand einschränkt, an einem Ort wie Abu Dhabi nicht minder megalomane Bauherren am Werk seien. In Europa aber gehe es um Differenzierung und Vielfalt, selbst wo ganze Quartiere wie der Hafen Hamburg oder der Novartis-Campus in Basel neu gebaut würden.

 Politischer Opportunismus

 Le Corbusier hoffte in jenen Jahren, in Algerien seine Idealstadt zu realisieren - und paktierte deshalb mit dem Pétain-Regime. Zuvor aber hatte er unter anderem die Villa Schwob in La Chaux-de-Fonds für einen jüdischen Auftraggeber gebaut. "Opportunismus" könne man ihm vorwerfen, schreibt die NZZ gestern. Statt über Plakate wäre es aber wichtiger, über solchen politischen Opportunismus zu diskutieren, vor dem auch und gerade grosse Köpfe nicht gefeit seien.

 Stanislaus von Moos, Kunsthistoriker und Autor mehrerer Bücher über den Architekten, argumentiert ähnlich: "Le Corbusier wäre um der Realisierung seiner Ideen willen bereit gewesen, fast jeden Pakt mit dem Teufel zu schliessen. So gesehen verhält es sich nicht grundsätzlich anders als im Falle eines Waffenlieferanten aus Oerlikon, mit dem Unterschied, dass es dabei um Wohnbau ging und nicht um Kriegsgerät." Weder mit Mussolini noch mit Pétain kam es dann aber zur Zusammenarbeit, und Le Corbusier verabschiedete sich bereits 1942 vom "beschissenen Vichy".

 Sonja Hildebrand sagt: "So viele Gandhis laufen ja nicht durch die Welt. Menschen sind Menschen." Über deren Fehlurteile soll man reden, aber nicht gleich richten. Die Architekturgeschichte ist voll von Prachtsbauten, die von absolutistischen Herrschern unter menschenverachtenden Bedingungen erbaut wurden. Wichtig, das zu wissen - aber nicht, sie deshalb abzureissen.

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 Nicht für Despoten

 "Wer einmal das kleine Häuschen von Le Corbusiers Eltern am Genfersee, die Unité d'Habitation in Marseille oder die Wallfahrtskapelle von Ronchamps besucht hat, der spürt auf Anhieb, warum Hitler, Mussolini und ihre Bürokraten letztlich nichts mit solchem Zeug zu tun haben wollten."

 Stanislaus von Moos, Kunsthistoriker

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RAF
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Junge Welt 30.9.10

Neuer RAF-Prozeß

Ab heute muß sich Verena Becker in Stuttgart wegen der Erschießung von Generalbundesanwalt Siegfried Buback vor 33 Jahren verantworten

Von Torsten Hamann
 
Die Justiz nimmt 33 Jahre nach der Erschiessung von Generalbundesanwalt Siegfried Buback nun noch mal Anlauf, das Attentat vom 7. April 1977 aufzuklären. Das ehemalige Mitglied der "Roten Armee Fraktion" Verena Becker muß sich ab dem heutigen Donnerstag vor dem Oberlandesgericht Stuttgart wegen des Vorwurfs der Mittäterschaft verantworten. Allerdings glaubt die Bundesanwaltschaft nicht, daß sie es war, die damals auf den Generalbundesanwalt und seine beiden Begleiter geschossen hat. Michael Buback, Sohn des Ermordeten, ist dagegen überzeugt, daß Becker die Täterin war. Er glaubt, das beweisen zu können und tritt deshalb im Verfahren als Nebenkläger auf.

 Der Ablauf des Anschlags ist klar: Am 7. April 1977 fuhren in Karlsruhe zwei vermummte RAF-Mitgieder auf einem Motorrad neben Bubacks Dienst wagen, der an einer Ampel gehalten hatte. Der Täter auf dem Sozius feuerte dann mit einem automatischen Gewehr aus nächster Nähe durch das rechte Seitenfenster in das Wageninnere. Buback und sein Fahrer Wolfgang Göber waren sofort tot. Ihr Begleiter Georg Wurster starb wenige Tage später.

 Zwar wurden 1980 Knut Folkerts und 1985 Brigitte Mohnhaupt sowie Christian Klar wegen Mittäterschaft an dem Anschlag verurteilt. Doch wer damals geschossen und wer das Motorrad gefahren hatte, blieb unklar. Der Fall geriet schließlich in Vergessenheit, bis sich 2007 der RAF-Aussteiger Peter-Jürgen Boock in den Medien äußerte und Michael Buback, der Sohn des erschossenen Generalbundes anwaltes, daraufhin eine Wiederaufnahme der Ermittlungen auch gegen Becker erreichte.

 Die heute 58jährige ist seit 1977 verdächtig, weil sie bei ihrer gemeinsamen Festnahme mit Günter Sonnenberg die Tatwaffe mit sich führte. Das Ermittlungsverfahren gegen sie verlief 1980 aber im Sande: Haare, die an einem beim Anschlag benutzen Motorradhelm gefunden wurden, stammten nicht von Becker. Zudem konnten Sekretspuren an einer Motorradjacke, einem Helm und Handschuhen damals der Blutgruppe A zugeordnet werden, Becker hat jedoch eine andere. Erneute DNA-Untersuchungen im Jahr 2008 bestätigten endgültig, daß Becker nicht die Verursacherin der Spuren war. Mit neuen Nachweisme thoden fanden die Kriminaltechniker allerdings DNA-Spuren Beckers an den damaligen Bekennerschreiben der RAF. Dies und die Aussagen Boocks, Becker sei bei den Anschlagsvorbereitungen eine treibende Kraft gewesen, reichten der Bundesanwaltschaft aus, erneut Anklage gegen sie zu erheben.

 Michael Buback hält Becker dagegen für die Mörderin seines Vaters und will das nun mit Augenzeugen untermauern, die damals eine Frau auf dem Sozius des Motorrads gesehen haben wollen. Daß die Strafverfolger seiner Mordtheorie nicht folgen, liegt nach seiner Ansicht an der "schützenden Hand" der Behörden. Sie deckten Becker, weil sie früher mit dem Verfassungsschutz zusammengearbeitet habe, glaubt der Chemieprofessor.

 Die Bundesanwaltschaft verweist demgegenüber auf andere Zeugen, die nur Männer gesehen haben wollen. Die Spuren sprächen jedenfalls nicht für Becker. Wer der Schütze war, sei damit weiterhin unklar. Und offen ist auch, ob Sonnenberg der Fahrer des von ihm gemieteten Motorrads war. Sonnenberg wurde im Fall Buback nicht angeklagt, weil nach einem Kopf schuß bei seiner Festnahme an dessen Folgen litt.

 Daß Becker nun ab Donnerstag ihr mögliches Wissen um den wahren Täter preisgibt, ist kaum zu erwarten: Zwar soll sie Anfang der 80er Jahre dem Verfassungsschutz Stefan Wisniewski als Schützen genannt haben. Doch 2007 traf sich Becker mit Mohnhaupt in Mannheim, um das alte Schweigegelübde der RAF erneut zu besiegeln. In einem im Mai 2010 in junge Welt veröffentlichten Brief betonen einige ehemaligen RAF-Mitglieder, die anonym bleiben, daß sie jede Zusammenarbeit mit den staatlichen Ermittlungsbehörden ablehnen. "Keine Aussagen zu machen ist keine Erfindung der RAF. Es hat die Erfahrung der Befreiungsbewegungen und Guerillagruppen gegeben, daß es lebenswichtig, in der Gefangenschaft nichts zu sagen, um die, die weiterkämpfen, zu schützen", heißt es in dem Schreiben.

 Doch wenige Tage vor dem Prozeß tauchten immer neue Spekulationen auf. Von welcher Seite diese gestreut werden, darüber kann nur gemutmaßt werden. Federführend ist dabei der Spiegel. So hatte die Onlineausgabe des Magazins am Montag berichtet, die früheren RAF-Mitglieder Silke Maier-Witt und Peter-Jürgen Boock hätten in Interviews mit Spiegel TV übereinstimmend erzählt, daß Wisniewski vom Tatmotorrad aus Buback erschossen habe. Quelle seien "exklusive Interviews" mit Spiegel TV, die am 3. Oktober auf RTL ausgestrahlt würden. Der Spiegel berichtete zudem über einen Vermerk des Verfassungsschutzes von 1981, demzufolge sowohl Becker als auch Brigitte Mohnhaupt zum Zeitpunkt des Anschlags auf Buback im April 1977 im Irak gewesen seien.

 Maier-Witt dementierte indes diese Berichte, nach denen sie Wisniewski als Todesschützen genannt hätte. "Zu dieser Frage kann ich überhaupt nichts sagen", erklärte Maier-Witt in der Dienstagsausgabe der Tageszeitung Die Welt. Innerhalb der RAF sei nach Anschlägen nie über die Täter direkt gesprochen worden - auch nicht nach dem Attentat auf Generalbundesanwalt Buback. Sie habe eine Vermutung, wisse aber letztlich nicht, wer der Täter sei. RAF-Aussteiger Boock sagte zu den angeblichen Enthüllungen: "Das ist absoluter Humbug".

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Tagesanzeiger 30.9.10

RAF-Terroristen waren unterwegs nach Zürich

 Wer hat 1977 den Generalstaatsanwalt Siegfried Buback ermordet? Ein Prozess in Stuttgart könnte eines der grossen Rätsel der deutschen Nachkriegsgeschichte lösen. Viele Spuren führen in die Schweiz.

 Von David Nauer, Berlin

 Der Tipp kam von einer Rentnerin aus dem süddeutschen Singen. Die rüstige Dame erkannte am Marmor-Ecktisch im Café Hanser zwei Terroristen der Roten-Armee-Fraktion (RAF). Sie lässt Brötchen und Konfitüre stehen, eilt über den Hinterausgang auf den nächsten Polizeiposten. Als Beamte das verdächtige Paar kontrollieren wollen, schiessen die beiden plötzlich. Es kommt zu einer wilden Verfolgungsjagd, an deren Ende die Verhaftung von Verena Becker und Günter Sonnenberg steht.

 Die RAF-Kaderleute haben ein Schnellfeuergewehr der Marke Heckler & Koch bei sich, Typenbezeichnung 43, Seriennummer 10 01529 E. Mit dieser Waffe war vier Wochen zuvor, am 7. April 1977, der deutsche Generalstaatsanwalt Siegfried Buback in Karlsruhe erschossen worden. Ursprünglich stammt die HK 43, wie Kenner das effiziente Mordgerät nennen, aus der Schweiz. Ein RAF-Mann hatte sie unter dem Decknamen "Herr Zeidler" bei der Firma Grünig + Elmiger im luzernischen Malters gekauft. Kostenpunkt: 960 Franken.

 Unklar, wer geschossen hat

 Die Ermordung von Generalstaatsanwalt Buback ist über 33 Jahre her, doch jetzt kommt sie wieder vor Gericht. Und mit ihr die ganzen Intrigen und Rätsel, Fragen und offenen Wunden rund um den sogenannten Deutschen Herbst 1977. Die Schüsse auf Buback waren der Auftakt gewesen für eine beispiellose linke Terrorserie. Bis heute ist die Tat nicht aufgeklärt. Zwar sind die RAF-Mitglieder Knut Folkerts, Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt für eine allgemeine Beteiligung am Buback-Mord verurteilt worden. Das Gericht fand aber nicht heraus, wer welchen Tatbeitrag geleistet hat, wer das Motorrad der Attentäter lenkte, wer den Abzug der HK   43 drückte, wer im Fluchtauto sass.

 Vielleicht bringt der Prozess, der heute in Stuttgart beginnt, Licht ins Dunkel. Angeklagt ist Verena Becker (58), die Frau, die nach dem Tipp der Rentnerin in Singen verhaftet wurde. Sie hatte schon 1977 als verdächtig gegolten - immerhin hatte sie die Tatwaffe des Buback-Mordes auf sich. Zudem beschrieben zahlreiche Zeugen, die tödlichen Schüsse habe eine zierliche Person in Motorradkleidung abgegeben, am ehesten eine Frau. Die Beschreibung passt auf Becker, doch die Ermittlungsbehörden wandten sich rasch von ihr ab. Sie wurde abgeurteilt für die Schiesserei in Singen, eine Anklage in Sachen Buback blieb aus. Bereits 1989 - zwölf Jahre nach ihrer Festnahme - kam Becker frei und lebt seither im Berliner Villenquartier Wilmersdorf, wo sie als Heilpraktikerin arbeitet.

 Diese staatliche Milde ist für manche der eigentliche Skandal an dem Fall. Michael Buback, Chemieprofessor in Göttingen und Sohn des Opfers, spricht von einem "zweiten Tod meines Vaters". Er geht davon aus, dass eine "schützende Hand" Becker vor einer Strafverfolgung bewahrt habe. So seien Zeugen systematisch nicht befragt worden. Offenbar sind auch Unterlagen und Gutachten verschwunden. Der deutsche Geheimdienst, so die These von Buback junior, soll die Terroristin für ihre umfangreiche Kooperation belohnt haben. Angeblich verriet Becker den Beamten die ganze Struktur der RAF. Erst nach langen Recherchen von Michael Buback erhoben die Behörden doch noch Anklage gegen die mutmassliche Mittäterin.

 Beten für das Mordopfer?

 Im vergangenen Sommer sass Becker kurz in Untersuchungshaft. Gegen sie liegen mehrere Indizien vor: Ihre DNA haftet an Briefen, in denen sich die RAF zu dem Mord bekennt. Zudem soll sie sich in privaten Notizen gefragt haben, ob sie für Buback beten soll - dies ausgerechnet am 31. Jahrestag des Attentats. Die Staatsanwaltschaft wirft ihr inzwischen vor, bei der Vorbereitung des Attentats mitgeholfen zu haben. So habe sie unter anderem am 6.   April 1977, einen Tag vor dem Mord, den Tatort ausgespäht.

 In den vergangenen Wochen sind mehrere Einzelheiten dazugekommen. Für Aufsehen sorgten zwei ehemalige RAF-Kämpfer, die im Fernsehen sagten, Becker sei nicht an der Tat beteiligt gewesen. Neu aufgetaucht sind auch Vermerke des Geheimdienstes, wonach Becker zur Tatzeit in Bagdad gewesen sein soll. Michael Buback, der als Nebenkläger am Prozess teilnehmen wird, ärgert sich über diese nachgereichten Informationen: "Die wirken auf mich wie ein neuerlicher, allerdings besonders massiver Versuch, eine schützende Hand über Verena Becker zu halten."

 Der Prozess in Stuttgart ist wohl die letzte Chance, diese Vorwürfe aufzuklären. Er könnte zudem Aufschluss geben über die umfangreichen Beziehungen, welche die RAF in die Schweiz unterhielt. Der Grossraum Zürich war für Becker und Co. nicht nur der Ort, wo sie Waffen kauften. Hier tauchten sie auch ab und konnten möglicherweise auf willige Helfer zurückgreifen.

 Was man sicher weiss: Bei ihrer Verhaftung in Singen waren Becker und Sonnenberg unterwegs nach Zürich. Dorthin hatte Becker zuvor unter dem Tarnnamen Marion Schneider einen Koffer voller Kleider geschickt. Dieser "Zürcher Koffer" könnte im Prozess eine zentrale Rolle spielen. Man hat darin Haare gefunden, die einer Frau gehören, angeblich nicht Becker. Wem aber dann? Unklar bleibt auch, was Becker in Zürich wollte. Aktenkundig sind mehrere frühere Besuche in der Schweiz - unmittelbar vor und nach dem Mord an Buback. Zwischen dem 14. März 1977 und Ende April stieg Becker mehrmals unter falschem Namen in Zürcher Hotels ab. Am 27. April verbrachte sie mit Günter Sonnenberg und zwei anderen mutmasslichen RAF-Terroristen eine Nacht im Verena-Hof in Baden.

 Terror-Training im Jemen

 Warum immer in die Schweiz? Die "Süddeutsche Zeitung" mutmasste jüngst, Becker habe Kontakt gehabt mit der Terroristin Gabriele Kröcher-Tiedemann, die in Zürich untergetaucht war. Die beiden Frauen kannten sich von einem gemeinsamen Aufenthalt in einem Terrorcamp im Jemen. Verifiziert werden kann die These jedoch nicht mehr: Kröcher-Tiedemann starb 1995 an Krebs, Becker schweigt. Möglich auch, dass es andere illegale Untergrundkämpfer in und um Zürich gab. In den Jahren zuvor waren mehrere Schweizer Militärdepots ausgeraubt worden, die Waffen landeten bei Terrorgruppen weltweit, zum Teil auch bei der RAF.

 Der Waffenhändler nervt sich

 Schweizer Ermittler vermuteten damals, dass Terroristen "verschiedenster Gruppierungen in der Schweiz eine gemeinsame Zentrale aufbauten", wie ein Beamter im Mai 1977 der "Schweizer Illustrierten" verriet. Doch wie viel die Behörden wirklich wussten, bleibt bis heute ein Geheimnis. Die meisten wichtigen Akten im Bundesarchiv sind unter Verschluss. Begründung des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements: Die Papiere seien "von aktueller Staatsschutzrelevanz". Eine allfällige Veröffentlichung sei "geeignet, die Beziehungen zu ausländischen Staaten zu beeinträchtigen sowie die innere und äussere Sicherheit der Eidgenossenschaft zu gefährden".

 Die Geheimnistuerei ist schwer verständlich, selbst in Deutschland sind zuletzt vermehrt Akten aus jener Zeit veröffentlicht worden. Nicht auszuschliessen, dass die Papiere im einen oder im anderen Fall ein Versagen der Schweizer Behörden dokumentieren.

 Ungern denkt man auch beim Waffenhändler Grünig + Elmiger an den Fall Buback zurück. "Es nervt nicht ganz gering, nach 35 Jahren wieder auf ein Ereignis angesprochen zu werden, das auch uns damals echt erschüttert hat", schreibt Senior-Chef Kurt Grünig auf eine Anfrage des "Tages-Anzeigers". Gleichzeitig besteht er darauf, dass die HK   43 damals in der Schweiz frei verkäuflich gewesen sei. Der Mitarbeiter, der den Deal mit dem RAF-Mann abwickelte, habe natürlich "nie im Geringsten daran gedacht, dass damit einmal eine so scheussliche und verwerfliche Tat begangen wird".

 Die böse Ironie der Geschichte: Als die beiden RAF-Leute in Singen vor der Polizei flüchteten, verlor Becker die HK 43. Ein Beamter fand die Waffe und schoss damit auf die Flüchtenden. Beckers Kumpan Sonnenberg wurde am Kopf getroffen, sie selber am Oberschenkel. Die Flucht fand damit ein Ende. Das "Schweizer Gewehr" war den Terroristen zum Verhängnis geworden.

 Die Schweizer Akten bleiben unter Verschluss. Begründung: Die Papiere seien "von aktueller Staatsschutzrelevanz".

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NZZ 30.9.10

Neuauflage des Buback-Prozesses

 Die deutschen Behörden sehen in der RAF-Terroristin Verena Becker eine Mittäterin

 In Stuttgart steht ab Donnerstag die RAF-Terroristin Verena Becker vor Gericht. Die Anklage glaubt aufgrund neuer Erkenntnisse, Becker sei bei der Ermordung des Generalbundesanwalts Buback Mittäterin gewesen.

 Ulrich Schmid, Berlin

 Wieder einmal liegen die langen Schatten des Terrors über Deutschland. Während am Mittwoch Berichte über angebliche Anschlagspläne der Kaida für Aufsehen sorgten, machte man sich in Stuttgart daran, ein düsteres Kapitel deutscher Geschichte neu aufzurollen. Ab Donnerstag wird vor dem Oberlandesgericht Stuttgart der RAF-Terroristin Verena Becker der Prozess gemacht. Sie soll massgeblich an der Ermordung von Generalbundesanwalt Siegfried Buback beteiligt gewesen sein.

 Rasche Festnahme

 Buback wurde am 7. April 1977 an einer Strassenkreuzung in Karlsruhe erschossen. Der höchste Ankläger des Landes sass in seinem Dienstwagen, der Mörder auf dem Soziussitz eines Motorrads. Es fielen mindestens 15 Schüsse aus einer Maschinenpistole. Becker wurde Anfang Mai in der Nähe von Singen festgenommen; sie und ihr Komplize waren in eine Kontrolle geraten und hatten auf Polizeibeamte geschossen. Im November wurde Becker wegen dieser Schiesserei zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Eine Beteiligung an der Ermordung Bubacks konnte ihr nicht nachgewiesen werden. Nach 12 Jahren wurde sie vom damaligen Präsidenten von Weizsäcker begnadigt. Im April 2008 nahm die Bundesanwaltschaft die Untersuchungen gegen Becker wieder auf; unter anderem waren ihre DNA-Spuren auf Bekennerschreiben entdeckt worden.

 Kompliziert wird der Fall Becker durch die Gespräche, die sie in den Jahren 1981 und 1982 mit dem Verfassungsschutz führte. Die lange Zeit aus Gründen des Informantenschutzes gesperrten Dokumente sind heute grösstenteils zugänglich und haben die Staatsanwaltschaft offenbar im Entschluss bestärkt, den Gang vor Gericht zu wagen. Konkret wird Becker beschuldigt, massgeblich an der Entscheidung, Buback zu ermorden, mitgewirkt zu haben, an der Planung und Vorbereitung der Tat beteiligt gewesen zu sein und Bekennerschreiben verschickt zu haben. Ziel des Attentats sei es gewesen, die gefangenen RAF-Terroristen Baader, Ensslin und Raspe freizupressen. Dass es Becker war, die schoss, hält die Anklage offenbar für unwahrscheinlich. Ihr galt lange Knut Folkerts, ein weiterer RAF-Mann, als Schütze. Heute ist auch Stefan Wisniewski wieder ins Blickfeld der Fahnder gerückt; gegen ihn läuft ein Ermittlungsverfahren. Es gibt Zeugen, die auf dem Motorrad zwei Männer gesehen haben wollen, und Becker selber soll gegenüber dem Verfassungsschutz Wisniewski als Schützen identifiziert haben.

 Private Abklärungen

 Eine der Haupttriebkräfte des neuen Prozesses ist Michael Buback, der Sohn des Ermordeten. In privaten Recherchen hat er einige Ungereimtheiten im Verhalten der Bundesanwaltschaft aufgedeckt. Diese bekam offenbar vom Verfassungsschutz bereits kurz nach dessen Gesprächen mit Becker die Information, Becker gehöre vermutlich zum Täterkreis, ging diesem Verdacht aber nie nach. Anders als die Staatsanwaltschaft glaubt Buback, dass Becker die Mörderin gewesen sein könnte. Er stützt sich dabei auf Zeugen, die eine zierliche Person auf dem Motorrad gesehen haben wollen, und auf die Tatsache, dass sie bei ihrer Festnahme in Singen die Tatwaffe mit sich führte. Buback tritt vor dem Oberlandesgericht Stuttgart als Nebenkläger auf.

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Basler Zeitung 30.9.10

Wer erschoss Siegfried Buback?

 Neuer Prozess um die Ermordung des deutschen Generalbundesanwalts durch RAF-Terroristen im Jahr 1977

 Jochen Schmid

 Vor dem Oberlandesgericht Stuttgart ist Verena Becker (58) angeklagt. Sie soll die Tat mit vorbereitet, aber nicht selbst getötet haben. Der Sohn des Opfers, Michael Buback, hält sie für die Mörderin.

 Mehr als 33 Jahre ist es her, dass ein Terror-Kommando der Roten Armee Fraktion (RAF) den deutschen Generalbundesanwalt Siegfried Buback tötete - einer von 34 Morden, die die "antiimperialistische Stadtguerilla" RAF zwischen 1971 und ihrer Selbstauflösung 1998 beging. An diesem 7. April 1977 kamen die beiden Täter auf einem Motorrad der Marke Suzuki GS 750. Sie beschossen Bubacks Dienstlimousine, die vor einer roten Ampel in Karlsruhe angehalten hatte. Ausser Buback starben sein Fahrer und ein Begleiter. Wer die Schüsse abgab, ist bis heute ungeklärt.

 An diesem Donnerstag unternimmt das Oberlandesgericht Stuttgart einen neuen Versuch, Licht ins Dunkel zu bringen. Unter Anklage steht Verena Becker, 58 Jahre alt, Heilpraktikerin aus Berlin. Die Bundesanwaltschaft beschuldigt sie, am Anschlag gegen Buback mitgewirkt zu haben. Darauf weisen angeblich DNA-Spuren an Bekennerbriefen hin. Allerdings soll sie nur an der Planung der Tat beteiligt gewesen sein, auf dem Motorrad habe sie nicht gesessen. Wer aber dann?

 Die Fragen. Zwischen 1980 und 1985 wurden schon die RAF-Mitglieder Knut Folkerts, Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt wegen des Buback-Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Aber auch von diesen dreien, so viel steht fest, fuhr keiner auf der Suzuki mit. Die unmittelbaren Täter von Karlsruhe sind bis heute nicht bestraft worden. Die Frage stellt sich, warum. Nachlässigkeit der Justiz? Oder Kalkül?

 Die Fragen stellt besonders dringlich Michael Buback, Chemieprofessor in Göttingen und Sohn des Opfers. Er möchte wissen, wer seinen Vater umgebracht hat. Deshalb hat er sich in den vergangenen drei Jahren in die Akten eingearbeitet und tritt auch im jetzigen Verfahren gegen Verena Becker als Nebenkläger auf. Über seine Erkenntnisse hat er ein Buch geschrieben ("Der zweite Tod meines Vaters"). Darin geht er mit der Bundesanwaltschaft, die sein Vater einst leitete, hart ins Gericht: Sie habe nicht alles getan, um den Schützen zu finden. Für Michael Buback steht "zu 99 Prozent" fest, wer hinten auf der Suzuki sass und feuerte: Verena Becker.

 Inzwischen gehen alle, auch die Bundesanwaltschaft, davon aus, dass Günter Sonnenberg das Motorrad gelenkt hat. Das RAF-Mitglied Günter Sonnenberg wurde am 3. Mai 1977 nach einer Schiesserei mit Polizeibeamten in Singen verhaftet. An seiner Seite: Verena Becker. Im Gepäck: die Waffe, mit der Siegfried Buback ermordet worden war. Das Duo hatte einen Suzuki-Schraubenzieher dabei, wie er im Bordset des Tat-Motorrads fehlte. Und eine Haarspur soll angeblich darauf hinweisen, dass Verena Becker einen der Motorradhelme trug, die bei der Tat in Karlsruhe verwendet worden waren.

 Die Zeugen. Günter Sonnenberg wurde wegen der Schiesserei in Singen zu zweimal lebenslanger Haft verurteilt und ist seit 1992 wieder frei. Einer Anklage wegen des Buback-Mordes entging er, was Michael Buback "unbegreiflich" findet. Noch unbegreiflicher findet er, dass es damals zu keinem Prozess gegen Verena Becker wegen des Buback-Mordes kam. 1979 verurteilte das Oberlandesgericht Stuttgart Becker wegen des Singener Schusswechsels zu zweimal "lebenslänglich" plus 13 Jahre Haft. Bereits 1989 wurde sie von Bundespräsident Richard von Weizsäcker begnadigt. Nun aber, auch auf das Insistieren des Buback-Sohnes hin, kommt es doch noch zu einer Anklage im Fall Buback. Nur, auf dem Motorrad soll Verena Becker nicht gesessen haben.

 Michael Buback hat in den vergangenen Jahren zwanzig Zeugenaussagen ausgegraben, die belegen sollen, dass die Person hinten auf der Suzuki eine "zierliche" Person gewesen sei. Eine Frau. Verena Becker. Buback folgert aus der Ignoranz, mit der die Ermittlungsbehörden solchen Erkenntnissen begegnen, dass es da etwas zu verbergen gebe. Tatsächlich hat Verena Becker, dies ist amtlich, spätestens von 1981 an mit dem deutschen Verfassungsschutz zusammengearbeitet und über die inneren Strukturen der RAF Auskunft gegeben. Seitdem, so vermutet Buback, gebe es eine "schützende Hand", die sich über Verena Becker lege.

 Die Spekulationen. Noch bevor der Prozess gegen sie überhaupt begonnen hat, geistern neue Spekulationen durch die deutschen Medien. Der Schütze auf dem Motorrad sei Stefan Wisniewski gewesen, der später an der Entführung von Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer beteiligt war und 1999 aus der Haft entlassen wurde. Überdies streute der deutsche Verfassungsschutz in den vergangenen Tagen, Verena Becker habe sich zum Tatzeitpunkt gar nicht in Deutschland aufgehalten, sondern in Bagdad - eine sehr späte Erkenntnis, nach 33 Jahren. Auf das Stuttgarter Gericht kommt viel Arbeit zu. Der Prozess soll ein Jahr dauern.

 Es geht dabei um mehr als einen Kriminalfall. Die Geschichte der RAF ist nicht zu Ende geschrieben, ihr Terror aus den 80er- und 90er-Jahren blieb weitgehend unaufgeklärt. Auch zum Buback-Mord schweigen die Insider beharrlich. Verena Becker dürfte in dem heute beginnenden Prozess ebenfalls die Auskunft verweigern. Eine deutsche Omertà. Sie leistet Legendenbildungen und Verschwörungstheorien Vorschub. Die Angehörigen der RAF-Opfer fordern deshalb, alle Akten zum Thema RAF öffentlich zu machen; oder auch den Tätern Straffreiheit zuzusichern, wenn sie sich offenbaren.

 Michael Buback sagte gestern der BaZ, er empfinde Erleichterung, dass es nun endlich zu diesem Verfahren komme; er hege aber auch "die Befürchtung, dass es ein langwieriger, belastender und Kräfte zehrender Prozess wird".

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Zürichsee-Zeitung 30.9.10

Deutschland Prozess gegen Verena Becker

 Suche nach Mördern von Siegfried Buback geht weiter

 Die Ex-RAF-Terroristin Verena Becker steht wegen ihrer möglichen Beteiligung am Siegfried-Buback-Mord vor 33 Jahren erneut vor Gericht.

 Helmut Uwer, Berlin

 "Nein, ich weiss nicht, wie ich für Herrn Buback beten soll, ich habe wirklich kein Gefühl für Schuld und Reue. Natürlich würde ich es heute nicht wieder machen." Diese handgeschriebene Notiz vom April 2008 gilt als einer der neuen Hinweise auf eine mögliche Beteiligung Beckers an der Ermordung von Generalbundesanwalt Siegfried Buback und seines Fahrers am 7. April 1977. Vor allem aber wurde dank neuer DNA-Methoden Speichel an einem der Bekennerschreiben gefunden. Becker ist nicht wegen Mordes angeklagt, sondern wegen Beteiligung an der Planung und der Vorbereitung des Bekennerschreibens.

 Viele Spekulationen

 Einer, der sie für die Täterin hält, ist Michael Buback, der Sohn des Ermordeten. Seit Jahren sucht er nach Hinweisen auf den Täter. Die Tatsache, dass Becker für den Verfassungsschutz gearbeitet hat und ihre Akten lange unter Verschluss lagen, macht sie für ihn verdächtig. Auch gab es Zeugenaussagen, die von einer zierlichen Person auf dem Sozius des Motorrades sprachen, von dem die tödlichen Schüsse abgegeben wurden. Andere wie der Ex-Terrorist Peter Jürgen Boock halten Stefan Wisniewski für den Todesschützen. Diese Version erhielt am Wochenende erneut Nahrung durch eine Meldung von "Spiegel-TV", die aber dann nicht bestätigt wurde. Die ebenfalls genannte Ex-Terroristin Silke Maier-Witt dementierte gegenüber der "Welt", sich diesbezüglich geäussert zu haben. Darum dürfte auch dieses Verfahren, das wie schon die anderen RAF-Prozesse in Stuttgart-Stammheim stattfindet, keine Erkenntnisse über die Täter erbringen.

 Zu den Charakteristika der RAF-Prozesse gehört das Schweigen der Angeklagten. Zwar haben sie in zahlreichen Bekennerschreiben ihre Ablehnung des bestehenden Staates dokumentiert. Doch von individueller Verantwortung wollte nie einer etwas wissen. Darum schweigen alle bis heute - bis auf Boock, der allerdings nicht als sonderlich verlässlich gilt.

 1989 begnadigt

 Becker war im Mai 1977 zusammen mit Günther Sonnenberg in Singen am Bodensee verhaftet worden, nachdem sie zuvor zwei Polizisten niedergeschossen hatten. In Sonnenbergs Rucksack befand sich das Gewehr, mit dem Buback erschossen worden war. Becker wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, 1989 aber begnadigt. Sie lebt heute in Berlin.

 Die RAF (Rote-Armee-Fraktion) war 1970 unter anderem von Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und dem Rechtsanwalt Horst Mahler gegründet worden. Auf das Konto der 1998 aufgelösten Gruppe gehen 34 Morde.

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Süddeutsche Zeitung 30.9.10

Verena Becker, die RAF und der Buback-Mord

An diesem Donnerstag beginnt in Stuttgart-Stammheim der Prozess gegen die ehemalige Terroristin Verena Becker. Die Anklage wirft ihr aufgrund neuer Indizien vor, im April 1977 an der Ermordung von Generalbundesanwalt Siegfried Buback beteiligt gewesen zu sein. Ein Trauma der Bundesrepublik lebt wieder auf: der Terror der RAF, der 1977 in den Morden an Siegfried Buback und Hanns Martin Schleyer gipfelte und den Rechtsstaat erschütterte. 33 Jahre später geht es nicht nur um die Frage: Wer hat geschossen damals?

Krieg und Frieden

 Die Zeit der Notwehr-Justiz gegen die RAF ist vorüber - die Verhandlung gegen Becker gibt der Wahrheit eine Chance

Von Heribert Prantl; Hans Leyendecker

 Im Dienstgebäude der Bundesanwalt-schaft zu Karlsruhe ist seit kurzem ei-ne Ausstellung mit Justiz-Karikaturen zu sehen; sie heißt "Sehe ich Recht?" Die Zeichnungen stammen von Philipp Heinisch. Justizbehörden treten neuerdings ganz gern als Aussteller auf, das gibt ihnen ein aufgeschlossenes Image.
Das Besondere an der Ausstellung ist ein merkwürdiges Zusammentreffen. Der Karikaturist war einst Strafverteidiger in RAF-Verfahren, unter anderem 1977 in Stuttgart-Stammheim, wo fast gleichzeitig die Prozesse gegen Verena Becker und Günter Sonnenberg stattfanden. Beide RAF-Mitglieder wurden zu lebenslanger Haft verurteilt — wegen der Schüsse, die sie bei ihrer Festnahme in Singen auf Polizisten abgefeuert hatten. Die Verteidigung von Günter Sonnenberg damals war für Philipp Heinisch "die härteste, mit der ich je zu tun hatte". Unter anderem deswegen hängte er den Beruf des Strafverteidigers an den Nagel und wurde juristischer Karikaturist.

 Und just jetzt, während Heinischs Karikaturen über Recht und Gerechtigkeit die Räume der Bundesanwaltschaft schmücken, werden die Ereignisse von damals noch einmal aufgerollt. Verena Becker steht aufgrund einer Anklage der Bundesanwaitschaft abermals in Stammheim vor Gericht — nun wegen Mordes an Generalbundesanwalt Siegfried Buback.
Ist das Recht, 33 Jahre später? Ist es Recht, weil es nie zu spät ist für Aufklä-rung, für Strafe und Sühne - und weil Mord nie verjährt? Ist die neue Anklage Recht, obwohl Verena Becker schon 1977 als Mittäterin bei der Ermordung Bubacks unter Verdacht stand? Damals verfolgte die Bundesanwaltschaft diese Spuren und den Verdacht nicht weiter.

 Warum nicht? Der Prozess gegen Verena Becker im Spätherbst 1977 stand im Schatten eines neuerlichen RAF-Verbrechens: der Entführung und Ermordung des Arbeitgeber-Präsidenten Harms Martin Schleyer. Dem damaligen Generalbundesanwalt Kurt Rebmann, Bubacks Nachfolger, war an einer schnellen Verurteilung Beckers gelegen, ganz gleich wegen welcher Tat. Ihm genügte daher das "Lebenslänglich" wegen der Schüsse auf die Polizisten. Eine Verhandlung wegen des Buback—Mordes hätte lange, zu lange gedauert. Es war dies also eine prozessökonomische Entscheidung.

 Schon 1977 hatte es Hinweise auf eine Beteiligung Beckers an der Ermordung von Buback gegeben. Bei ihr wurde die Waffe sichergestellt, mit der Buback erschossen worden war, ein Selbstladegewehr Heckler & Koch, Kaliber 223; außerdem ein Schraubenzieher, der womöglich aus dem Bordwerkzeug des Suzuki-Motorrads stammte, von dem aus auf Buback geschossen worden war. Aber, wie gesagt: Die Anklagebehörde versuchte damals nicht, auf diesen Spuren eine Verurteilung aufzubauen. Sie stellte das Verfahren insoweit ein.

 Generalbundesanwalt Buback war, zusammen mit den ihn begleitenden Polizisten, am 7April 1977 in seinem Dienstwagen von der RAF erschossen worden. Das Oberlandesgericht Stuttgart verurteilte im Juli 1980 den RAF-Terroristen Knut Folkerts und im April 1985 die RAF-Terroristen &igitte Mohnhaupt und Christiän Klar als Mittäter. Das Gericht ließ offen, wer genau was getan hatte. Stattdessen arbeiteten die Richter die "arbeitsteilige Kollektivität" der RAF heraus, die alle Mitglieder zu Mittätern macht. Das war juristisch vertretbar, tatsächlich aber unbefriedigend. Das Gericht brauchte nicht zu klären, wer wie am Tatplan beteiligt war. Die Mitwisserschaft aller RAF-Mitglieder reichte für ein "lebenslänglich" aller irgendwie Beteiligten. Nach Einschätzung von Kriminalisten waren an der Planung und Durchführung des Mordes bis zu zwei Dutzend Personen beteiligt. Aber nur drei sind deswegen verurteilt worden. Verena Becker wurde nach zwölf Jahren Haft 1989 von Bundespräsident Richard von Weizsä-cker begnadigt. Erst 2007, dreißig Jahre nach den Mordtaten, wurde dann bekanrit, dass sie in den achtziger Jahren ausgesagt hatte, Stefan Wisniewski sei Bubacks Todesschütze gewesen. Auch Ex-Terrorist Peter-Jürgen Boock belastete Wisniewski. Daraufhin begann die Bundesanwaltschaft, gegen ihn zu ermitteln, Spurenanalysen erhärteten den Verdacht allerdings nicht.

 In einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung äußerte dann Michael Buback, der Sohn des Ermordeten, am 1. Mai 2007 die Vermutung, eine Frau sei an der Ausführung der Tat beteiligt gewesen — die Vermutungen gingen stets in Richtung Verena Becker. Die Bundesanwaltschaft begann imApril 2008, neu gegen sie zu ermitteln. Sie fand DNS-Spuren Beckers an Bekennerschreiben zum Mord an Buback, sie durchsuchte Beckers Wohnung und erwirkte sodann gegen sie einen Haftbefehl wegen Mordes.

 Der Bundesgerichtshof hob die Tjntersuchungshaft wieder auf, weil er den Tatbeitrag, der Becker vorgeworfen wurde, nur als Beihilfe wertete. Gleichwohl klagte die Bundesanwaltschaft Verena Becker im April 2010 wegen Mittäterschaft an der Ermordung an. Sie sei zwar an der Tatausführung nicht unmittelbar beteiligt gewesen, habe aber die konkreten Tatplanungen bejaht. Darüber wird nun vor Gericht verhandelt.

 Philipp Heinisch, RAF-Verteidiger von 1977/78, hat sich die Qualen von damals von der Seele gezeichnet — zum Beispiel in der nebenstehenden Karikatur, die auch die furchtbare Atmosphäre im Stammheimer Gericht zum Ausdruck bringen soll. Es gab unendliche, scharfe und schärftste Auseinandersetzungen — zwischen Verteidigern und Anklägern, zwischen Verteidigern und Gericht. Der Staat und seine Organe fühlten sich im Ausnahmezustand; und so wurden die Stammheimer Prozesse auch geführt: als Notwehraktionen des Staats gegen die RAF, am Rande der Prozessordnung oder jenseits davon. Heinisch konnte nicht verhindern, dass seinem Mandanten, der bei der Verhaftung einen Kopfschuss erlitten hatte, volle Verhandlungsfähigkeit attestiert wurde. Die Strafverteidiger selbst galten ja den Anklägern als verdächtig, als "RAF-Anwälte" eben — und so wurden sie auch behandelt. Am liebsten hätte man sie verhaftet. Das Prozessklima war katastrophal. Es war kein Klima der Aufklärung. Das ist heute anders.
 Die große Konfrontation ist vorbei, die RAF ist Geschichte. Uber die Taten von damals kann also anders verhandelt werden als damals. Vielleicht ist das eine Chance des neuen Prozesses gegen Verena Becker. Vielleicht kann er der Wahrheitsfindung dienen. So oder so: Der Prozess wird Rechtsgeschichte schreiben.

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 Die DNS des Terrors

Mit moderner Technik versuchen Ermittler, die RAF-Morde aufzuklären — der Fall Becker zeigt Möglichkeiten und Grenzen der neuen Spurensuche

Von Hans Leyendecker

Im April 1998 verkündete die RAF auf acht Seiten ihre Kapitulation, aber auch nach der Selbstauflösung der Mordbande war das Fiasko der Fahnder un— übersehbar. Und daran hat sich bis heute nichts geändert. Seit Mitte der achtziger Jahre wurde keiner der fünf Anschläge mit insgesamt sechs Toten aufgeklärt.

 Wer erschoss am 1. Februar Ernst Zimmermann, den Chef von MTU? Wer steckt hinter dem Mord an Siemens-Manager Karl Heinz Beckurts und dessen Fahrer Eckhard Groppler im Juli 1986? Wer erschoss drei Monate später den Bonner Diplomaten Gerold von Braunmühl? Wer bastelte die teuflische Bombe, die am 30. November 1989 Alfred Herrhausen, den Vorstandssprecher der Deutschen Bank, tötete? Wer gehörte zu dem Mordkommando, das am 1. April 1991 Treuhandchef Detlev Karsten Rohwedder erschoss? Die Fahnder wissen es nicht. Auch konnte bis heute nicht geklärt werden, welcher der Desperados 1977 den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer erschossen hat — und auch der Mordschütze im Fall Buback ist nicht bekannt.

 Merkwürdigerweise können in diesen Fällen die Ermittler etwas Hoffnung auf den Faktor Zeit setzen. Vielleicht haben manche der Täter doch noch etwas zu sagen, bevor sie sterben. Späte Reue hat es immer wieder gegeben und Erinnerung kann auch für sehr robuste Täter eines Tages zur Bürde werden. Mehr Hoffnung allerdings können die Ermittler auf Aufklärung durch den technischen Fortschritt setzen. Neuartige DNS-Analysen bringen manchmal zu Tage, was früher nicht festgestellt werden konnte.

 Der Fall der Verena Becker zum Beispiel steht für die Möglichkeiten und die Grenzen dieser Entwicklung. Am 9. April 2008 leitete der Generalbundesanwalt das Ermittlungsverfahren gegen die frühere RAF-Terroristin wegen des Anschlags auf Buback und dessen Begleiter ein, nachdem durch neue Untersuchungen neue Spuren entdeckt worden waren. Zu den vielen Asservaten im Fall Buback gehörten auch die Umschläge der Briefe, mit denen die RAF sich am 13. April 1977 zu dem Anschlag bekannt hatte und die an .diverse Medien geschickt worden waren.

 Diesmal konnten an drei Briefumschlägen Speichelspuren von Verena Becker festgestellt werden. Becker hatte demnach die in Duisburg und Düsseldorf aufgegebenen Bekennerschreiben in der Hand gehabt, die Laschen angeleckt und die Briefmarken auf die Kuverts geklebt.
In zwei weiteren Fällen konnte zumindest nicht ausgeschlossen werden, dass sie auch diese Briefe in der Hand hatte.

 Diese Entdeckung, die mit den alten Ermittlungsmethoden nicht möglich gewesen war, ließ zwar keinesfalls den Rückschluss zu, dass sie auch bei der Tat dabei war. Aber dieses DNS-Gutachten mit den neu entdeckten molekulkargenetischen Spuren war ein wichtiges Indiz für die These, dass sie damals in die RAF-Maschinerie für den Anschlag eingebunden und zumindest nach dem Attentat aktiv dabei war.

 Noch einmal wurden dann auch DNA-Mischspuren untersucht, die damals an einem Motorradhandschuh, einem Motorradhelm und einer Motorradjacke gefunden worden waren. Das Tatfahrzeug war eine Suzuki 750 GS gewesen, die kurz nach dem Mordanschlag gefunden wurde. Diese Mischspuren stammten definitiv nicht von Verena Becker. Zumindest eine der Spuren war aber so gut wie verbraucht.

 Durch die vielen Untersuchungen der vergangenen Jahre mit immer neuen Methoden sind die verwendbaren Beweisstü-cke rar geworden. Auch wenn heutzutage ein Tausendstel Millimeter zur Bestimmung eines DNS-Profils reichen kann, so sind einige Beweismittel mittlerweile schlicht verbraucht.

 Ein paar Erfolge können die Ermittler dennoch verbuchen. So wurde im Frühjahr 2001 durch eine neuartige Methode festgestellt, dass der Terrorist Wolfgang Grams zehn Jahre zuvor beim Attentat auf Detlev Karsten Rohwedder beteiligt war. Haare in einem am Tatort zurückgelassenen Frottee-Handtuch stammten von Grams, der allerdings nicht mehr vernommön werden konnte: Er war 1993 in Bad Kleinen ums Leben gekommen. Und Münchner Forensiker versuchen derzeit, ein Detail der Ermordung von Hanns Martin Schleyer aufzuklären. Mit Hilfe des Sakkos von Schleyer versuchen sie herauszufinden, wer im Oktober 1977 den gefesselten Chefmanager zu dem Auto geführt hatte, in dem er dann erschossen wurde.

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 Schweigen bis ins Grab

Der RAF-Ehrenkodex gilt bis heute

Von Hans Leyendecker

Der Text erschien vor einigen Monaten in der Tageszeitung Junge Welt, und nicht nur die Uberschrift wirkte verquast. Sie lautete: "Neue Prozesse, Zeugenladungen und Bombendrohungen: Etwas zur aktuellen Situation — von einigen, die zu unterschiedlichen Zeiten in der RAF waren." Die unbekannten Verfasser erklärten, warum Kader der Rote-Armee-Fraktion (RAF), die 1998 ihre Selbstauflösung erklärte, bis ins Grab schweigen wollen. Obwohl das alte Emblem der Terroristen mit den weißen Buchstaben RAF und der schwarzen Heckler&Koch-Maschinenpistole vor einem roten fünfzackigen Stern naturgemäß in der Erklärung fehlt, sind sich Bundesanwälte sicher, dass der Text von alten RAF-Kadern — etwa ein Dutzend bilden den harten Kern — stammt. Dieser Duktus klingt allzu verträut.

 "Seit nunmehr drei Jahren spekulieren Staatsschützer und Medien darüber, wer im Einzelnen vor mehr als dreißig Jahren die Schüsse auf Siegfried Buback und Hanns Martin Scffleyer abgegeben hat", beginnt der Beitrag. Auch das Verfahren gegen Verena Becker, von der sich die RAF 1983 nach sechsjähriger Zugehö-rigkeit getrennt habe, sei nur ein Versuch, "individuelle Schuldzuweisungen zu bekommen, also Beteiligte unter Druck zu setzen und zum Reden darüber zu bringen, wer genau was gemacht hat".
Jahrzehntelang sei "allen ziemlich egal" gewesen, wer wofür verurteilt wurde. "Hauptsache, sie verschwanden hinter Schloss und Riegel."

Die anonym gebliebenen Autoren behaupten, es habe nie eine "besondere Absprache in der RAF gegeben", über die Taten zu schweigen, sondern Aussageverweigerung sei "für jeden Menschen mit politischem Bewusstsein selbstverständlich". Also: "Eine Sache der Würde, der Identität — der Seite, auf die wir uns gestellt haben." Das Schweigen sei für Guerillagruppen, aber auch für die frühere Studentenbewegung "eine breit begriffene Notwendigkeit" gewesen.

 Dieses Pamphlet lässt erahnen, dass auch der Prozess gegen Becker nicht zur Klärung der Frage führen wird, wer am 7. April 1977 in Karlsruhe drei Menschen ermordet hat. Zwar haben frühere RAF-Leute wie beispielsweise die heutige Psychologin Silke Maier-Witt ihre "Scham" bekannt, Mitglied der Bande gewesen zu sein. Maier-Witt hat vor drei Jahren in einem Interview ihre einstigen Mitkämpfer ermuntert, das Schweigen zu brechen, aber auch betont, dass sie wenig Hoffnung habe. Manche der Ehemaligen hielten die Sache "immer noch hoch". Andere kokettierten mit ihrer Vergangenheit. "Bei anderen ist es wohl eher das Gefühl: Das macht man nicht." Man redet nicht mit Vertretern der Staatsmacht, die aus Sicht der RAF-Leute ohnehin nie durchgeblickt haben.

 Aber warum redet Verena Becker, bislang jedenfalls, nicht? Die Ex-Terroristin hat Anfang der achtziger Jahre im Gefängnis dem Bundesamt für Verf assungsschutz wichtige Hinweise auf Arbeitsweise und Hierarchie der Bande gegeben und in einer von Strafverfolgern sichergestellten Notiz vom 7. April 2008, dem 31.  Jahrestag des Anschlags, stehen der Name Buback und der Satz: "natürlich würde ich es heute nicht mehr machen": Aber vor dem Ermittlungsrichter hat Becker nur erklärt, diese Passage beziehe sich nur auf ihren "früheren Weg mit dem bewaffneten Kampf". Aus Unterlagen der Ermittler geht hervor, dass sich Verena Becker im April 2007 mit zwei einstigen RAF-Kämpfern getroffen hat.
 Die drei sollen damals verabredet haben, keine Aussagen zu machen. "Wir machen keine Aussagen, weil wir keine Staatszeugen sind, damals nicht, heute nicht", so heißt es in der Jungen Welt.

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ANTI-ATOM
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20 Minuten 30.9.10

Gegner empört über Pro-Endlager-Studie

 SOLOTHURN. Ein Endlager für radioaktive Abfälle wäre für das solothurnische Niederamt ein finanzieller Gewinn. Zu diesem Schluss kommt eine Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz, die der Solothurner SVP-Kantonalpräsident Heinz Müller in Auftrag gegeben hat. "Schon während des Baus flössen bis zu 600 Millionen Franken ins Niederamt", so Müller. Trotz des Lagers würden die Immobilienpreise steigen und Investitionen und Abgeltungen die Kassen der Standortgemeinden füllen. "Eine Frechheit", findet Urs Huber, SP-Kantonsrat und Präsident des Vereins "Niederamt ohne Endlager", die Studie. Müller, der 50 km entfernt wohne, dürfe sich nicht anmassen, den Leuten im Niederamt zu sagen, was gut für sie sei. Huber fordert nun die sofortige Veröffentlichung einer Umfrage, gemäss der das Lager bei der Bevölkerung weithin auf strikte Ablehnung stosse.  NJ

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Oltner Tagblatt 30.9.10

Stabile Immo-Preise und tiefere Steuern

 Olten Studie der FHNW zu finanziellen Auswirkungen eines Endlagers für radioaktive Abfälle im Niederamt

 von Urs Amacher

 Heinz Müller, Unternehmer und SVP-Kantonsrat aus Grenchen, stellte ges-tern im Bahnhofbuffet Olten eine neue Studie vor. Sie untersucht die finanziellen Auswirkungen, falls ein Endlager von radioaktiven Abfällen in der Region Niederamt verwirklicht würde. Verfasst wurde die Studie an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) in Olten.

 Müller unterstrich an der Medienkonferenz, dass er den Verfassern der Studie keine Vorgaben gemacht habe. Er habe das Thema bei der Fachhochschule eingereicht, worauf es von vier Wirtschaftsstudenten der FHNW gegen geringe Entschädigung zur Bearbeitung als Semesterarbeit übernommen wurde. Geleitet wurde das Forschungsprojekt von Professor Mathias Binswanger. Er wirkt als Professor für Volkswirtschaft an der FHNW und Privatdozent an der Universität Sankt Gallen. Binswanger ist auch Publizist, der sich pointiert zu gesellschaftlichen und wirtschaftspolitischen Fragen äussert, zuletzt mit dem 2010 erschienenen Buch: "Sinnloser Wettbewerb - Warum wir immer mehr Unsinn produzieren". Ausgearbeitet wurde die Niederamt-Studie von Michael von Arx, Chung-Enh Taing, Claudio Bernasconi und Sven Boillat.

 Möglicher Standort

 Das Niederamt wird bekanntlich als möglicher Standort für ein Endlager von radioaktiven Abfällen gehandelt. "An Podiumsdiskussionen werde ich oft mit der Aussage konfrontiert, das Gebiet werde dann von der Wohnbevölkerung gemieden", erklärte Müller auf Nachfrage nach dem Ziel der nun vorgelegten Studie. Deshalb wollte er sich Zahlen erarbeiten lassen, um Bescheid über die Auswirkungen eines "Atommülllagers" zu wissen.

 Eingegrenzt wurden die Forschungsarbeiten auf die geldmässigen Aspekte: Ziel der Studie war, die finanziellen Auswirkungen eines Tiefenlagers für schwach- und mittelradioaktive Abfälle, bei denen die Zerfallszeit mehrere hundert Jahre beträgt, auf die Region Niederamt zu analysieren. Andere Folgen, wie psychologische und emotionelle Belastungen, sozioökonomische Effekte oder Änderungen in der Lebensqualität wurden bewusst ausgeklammert. Die Studie wurde auf drei Teilbereiche fokussiert: Nämlich auf die Auswirkung der Atomanlage auf die Immobilien- und Baulandpreise, auf die Steuerfüsse sowie die Investitionstätigkeit in der Region. Die vier Verfasser des Berichts haben dabei auf Studien zurückgegriffen, die an vergleichbaren Orten wie am Nidwaldner Wellenberg, im Zürcher Weinland oder beim Zwischenlager in Würenlingen vorgenommen wurden.

 Öffentliche Finanzen: verbessert

 Während des Bewilligungsverfahrens, dem Bau und dem 15 Jahre dauernden Betrieb, bei dem das Endlager gefüllt wird, tätigt der Lagerbetreiber Nagra Investitionen. Vor allem die Kerngemeinden Däniken, Gretzenbach, Niedergösgen und Schönenwerd dürften zudem mit Abgeltungen rechnen, welche die Nagra für Unannehmlichkeiten, welche die Gemeindebevölkerung auf sich nimmt, entrichtet. Die Verteilung der Abgeltung ist dabei transparent zu gestalten und muss vor dem Standortentscheid ausgearbeitet werden. Die Studie kommt zum Schluss, dass sich die öffentlichen Finanzen der Standortgemeinden verbessern dürften. Die Verfasser der Studie können hingegen einen Zusammenhang zwischen dem Bau eines Tiefenlagers und den Preisen für Bauland und Wohneigentum nicht nachweisen. Allerdings werden Häuser mit direkter Sicht auf die Anlage als unattraktiv empfunden; deshalb ist hier mit einer Abwanderung der oberen Mittelschicht zu rechnen. Andere werden von den günstigeren Lagen profitieren, wodurch sie die Einwohnerzahlen wieder ausgleichen dürften. Die Studie deckt nur einen Teilbereich ab. Sie bildet einen Mosaikstein, der - so Müllers Anliegen - in die Diskussion einfliessen möge.

 Die Studie kann heruntergeladen werden von der Website http://www.heinz.mueller.ch

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"Keine Ratschläge aus Grenchen"

 Olten Zum obigen Artikel nimmt Urs Huber, Kantonsrat und Präsident "Niederamt ohne Endlager" (NoE), in einer Medienmitteilung Stellung.

 "Ein SVP-Kantonsrat aus Grenchen bestellt uns eine Studie und gibt der Niederämter Bevölkerung Ratschläge, warum sie doch ein atomares Endlager begrüssen sollte. Solche Ratschläge aus 50 km Entfernung sind eine Zumutung für das Niederamt, insbesondere wenn man sich die sogenannten <Neuigkeiten> des Herrn Müller mal anschaut." So beginnt Hubers Medienmitteilung zur gestern publizierten Studie, welche im Auftrag von Heinz Müller, SVP-Kantonsrat und Unternehmer, in Zusammenarbeit mit Studenten der FHNW entstand und ebenfalls gestern publiziert wurde. Das der Bau eines Endlagers wohl Bauaufträge bringen würde, sei wohl klar, schreibt Huber. Erfahrungsgemäss würden die aber an auswärtige, internationale Firmen vergeben. Und dass auch versucht werde, Gemeinden mit Steuergeschenken zu kaufen, sei ebenfalls bekannt. "Hat aber schon am Wellenberg nicht funktioniert", wie der NoE-Präsident weiter schreibt. Im Übrigen seien solche Studien schon lange im Gange oder abgeschlossen, u. a. im Auftrag der Niederämter Gemeinden. "Diese Studie bringt also keine neuen Erkenntnisse und beweist wie immer alles und auch das Gegenteil."

 Geld sparen

 Huber hält in diesem Zusammenhang auch Ratschläge für Müller bereit: "Herr Müller hätte sich das Geld sparen können. Das Niederamt will kein Endlager, um keinen Preis." So oder so seien weitere atomare Belastungen, Sicherheitsaspekte und der Imageschaden niemals auszugleichen. Hier irre die Studie gewaltig, ein bestehendes AKW mit einem drohenden Endlager vergleichen zu wollen. Huber: "Seit längerem gilt der Standort Niederamt/Jurasüdfuss nicht als optimaler Standort, dies können auch Geldzuschüsse nicht ändern. Oder gilt neu: Kein guter Standort, aber mit genug Geld ist es dann ok? So viel zum Primat der Sicherheit."

 Was steckt dahinter?

 Eine Frage - so Huber - müsste noch beantwortet werden: Warum Herr Müller aus Grenchen eine Studie in Auftrag gebe? "Will er sich für einen Verwaltungsratssitz empfehlen?", mutmasst Huber und meint: "Es käme auch keinem Niederämter in den Sinn, mit einer privaten Studie beweisen zu wollen, dass man den Flugplatz Grenchen schliessen soll."

 Die Region Niederamt sei mit verschiedenen Werken bereits massiv überbelastet. der Standort am Jurasüdfuss mit Abstand am Stärksten bevölkert. "Als Standort eines Endlagers für radioaktive Abfälle würde für die Region zusätzlich ein massives Imageproblem entstehen. Für eine Region, die sich unter dem Label <Aareland> gerade als Wohn- und Erholungsgebiet vermarkten will, eine unmögliche Situation", meint Huber.

 Der Verein Niederamt ohne Endlager verspricht weiterhin dafür zu kämpfen, dass aus der Region Niederamt/Jurasüdfuss immer klare Signale kommen: "Kein Endlager im Niederamt, jetzt längt's!"

 Umfrage-Ergebnisse an Öffentlichkeit

 Im Rahmen der erwähnten Sozio-ökonomischen Studie im Auftrag der Niederämter Gemeindepräsidien wurde auch eine breite Umfrage unter Bevölkerung, Firmen usw. zu Endlager und Gösgen 2 durchgeführt. Diese Umfrage ist seit Monaten gemacht, die Resultate liegen den Gemeindepräsidien vor. "Wir fordern eine sofortige Veröffentlichung dieser Ergebnisse. Es kann nicht mehr angehen, dass von Interessenvertretern irrelevante Studien der Öffentlichkeit präsentiert werden, aber die Stimmung der Bevölkerung als geheime Kommandosache behandelt wird", so Huber. NoE sei überzeugt, dass ein riesengrosser Teil der Niederämter Bevölkerung kein atomares Endlager wolle. Dieses Ziel hätten auch die Gemeindepräsidien der Region von Beginn weg verkündet. Auch der Regierungsrat müsse diese Haltung vertreten, sei doch ein solcher Auftrag in Solothurn überwiesen worden. Deshalb könne es nur eine Haltung geben: "Die Umfrage muss veröffentlicht werden, bevor noch mehr selbst ernannte Retter des Niederamts aus der Ferne auftauchen."

 Der Verein Niederamt ohne Endlager wird weiter energisch Widerstand gegen die Endlager-Pläne leisten", verspricht Huber. Und er erklärt:" Wir fordern Gemeinden, Private und Organisationen dazu auf, die bis Ende November 2010 laufende <Anhörung> zu benützen, um klaren Widerstand zu signalisieren. (mgt/otr)

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WoZ 30.9.10

Kommentar

 Atomarer Abstimmungsegoismus

 Von Susan Boos

 Es ist ein Lehrstück schweizerischer Betroffenheitsdemokratie: 64 Prozent der Nidwaldner Innen, die sich am vergangenen Wochenende an die Urne bemühten (Stimmbeteiligung: 39,4 Prozent), sagten Nein zur Energieinitiative der SP. Es war eine besonnene Initiative: Sie verlangte, dass der Kanton nach einer Übergangsfrist von dreissig Jahren keinen Atomstrom mehr bezieht. Heute versorgt sich Nidwalden zu 55 Prozent mit Atomstrom, zudem gedenkt das Elektrizitätswerk Nidwalden, sich an geplanten neuen Atomkraftwerken zu beteiligen.

 Dabei weiss die Nidwaldner Bevölkerung genau, was Atomstrom alles mit sich bringt: Vor über zwanzig Jahren lud ihre Regierung die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) ein, auf Nidwaldner Gebiet nach einem Endlager zu suchen. Die Nagra stieg gerne darauf ein, wurde sie doch andernorts mit Mistgabeln empfangen.

 Aber auch in Nidwalden formierte sich Widerstand. Die Opposition hatte zwar am Anfang lausige Karten, weil sie rechtlich gesehen keine Interventionsmöglichkeit hatte. Doch sie kämpfte beherzt, machte den Wellenberg berühmt und schaffte es am Ende, dass die Bevölkerung dreimal über das geplante Endlager abstimmen konnte. Dreimal sagte sie Nein, das letzte Mal 2002, worauf die Nagra das Projekt ruhen liess.

 Inzwischen ist die Suche nach einem Endlager weitergegangen. Der Wellenberg taucht erneut als möglicher Standort auf. Die Nidwaldner Regierung hat bereits kundgetan, dass sie dagegen ist. Am 13. Februar werden die Nidwaldner Innen an der Urne Stellung nehmen können. Doch diesmal wird es ihnen nichts bringen: Das Atomgesetz wurde geändert und sieht nicht mehr vor, dass eine betroffene Region sich über ein Endlager äussert. Die gesamte Schweiz wird darüber abstimmen, ob der Atommüll im Wellenberg oder doch im Zürcher Weinland vergraben wird. Spätestens dann werden die Nidwaldner Innen mit all den anderen Abstimmungsegoist Innen konfrontiert sein, die zwar Atomstrom, aber keinen Atommüll in ihrer Nähe haben wollen. Und die anderen werden mehr sein.

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Le Temps 30.9.10

Des constituants libéraux veulent convertir Genève au nucléaire

Cynthia Gani

 Les élus qui réécrivent la charte fondamentale décideront ce jeudi s'ils suppriment la clause qui bannit l'atome du canton. La gauche dénonce la proposition et appelle à manifester. Alors que le débat est vif au plan national, le signal donné au bout du Léman sera attentivement observé

 Genève l'antinucléaire est mis à rude épreuve. Des constituants libéraux proposeront ce jeudi lors d'un débat en plénière de supprimer l'article qui bannit l'énergie nucléaire du canton depuis 1986. La fronde est menée par le banquier Bénédict Hentsch, qui veut mettre un terme à "l'hypocrisie magistrale actuelle": le libéral estime qu'il faut offrir un cadre plus flexible aux autorités et leur permettre de soumettre au peuple d'éventuels projets relatifs au nucléaire. Selon lui, la droite élargie pourrait suivre lors du vote, qui se déroulera dans un contexte tendu: ulcérée, la gauche a déjà organisé, via Facebook, un rassemblement antinucléaire, qui se tiendra au moment du débat rue de l'Hôtel-de-Ville. Pionnier dans le domaine, Genève sera observé par tout le pays. Surtout au moment où l'atome suscite de vives discussions au niveau national.

 L'article remis en cause prévoit que "les autorités cantonales s'opposent par tous les moyens juridiques et politiques à leur disposition à l'installation de centrales nucléaires, de dépôts de déchets radioactifs et d'usines de retraitement sur le territoire et au voisinage du canton." En commission, trois libéraux ont proposé de le remplacer par cette disposition: "L'Etat collabore aux efforts tendant à se passer de l'énergie nucléaire." Un net assouplissement. Assorti d'une possibilité d'organiser des scrutins sur le sujet.

 Pour Bénédict Hentsch, la situation actuelle est paradoxale: "On donne aux autorités la mission de garantir l'approvisionnement du canton, mais on ne leur fait pas confiance sur la manière d'y parvenir." Le libéral affirme que le développement des énergies renouvelables ne suffit pas à assurer l'avenir du canton: "Nous ne sommes pas encore en mesure de compenser l'énergie nucléaire." En attendant que la situation évolue, dit-il, il ne faut pas fermer la porte à l'atome. Sous peine de "passer à la bougie."

 L'élu ajoute que personne ne peut savoir d'où vient l'énergie consommée: "On achète beaucoup en France, pays qui compte 56 centrales nucléaires…" Bénédict Hentsch estime qu'il faut en finir avec les souvenirs de Creys-Malville: "Genève a cru bien faire en édictant cet article. Comme souvent, on a voulu régir le monde, mais au moment où l'on réécrit notre texte fondamental, il est temps de le supprimer."

 A gauche, on dénonce "la manœuvre". Pour le Vert Jérôme Savary, les pincettes prises sur la forme par les libéraux ne font qu'amener de la confusion au débat: "Il n'y a pas de solution intermédiaire: soit on est favorable au nucléaire, soit on le combat." Le Vert Andreas Saurer estime "inadmissible d'affaiblir la position de Genève en matière de nucléaire". Il assure que le problème de la pénurie ne se posera pas, mais que celui des déchets nucléaires s'accentuera.

 Sur Facebook, les organisateurs de la manifestation regrettent que l'on tente de supprimer "l'action impérative des autorités contre le nucléaire" et fustigent l'ajout du "fardeau du référendum, puisque ce serait aux antinucléaires de se mobiliser pour récolter les signatures contre un projet nucléaire."

 Aux Services industriels de Genève (SIG), on suivra le débat avec intérêt. Aujourd'hui, le canton est fortement dépendant des marchés extérieurs pour se fournir en électricité: seuls 25% des besoins sont couverts par les SIG. Directeur du pôle clients, Philippe Verburgh fait le point sur la relation de Genève à l'atome: "SIG n'achète plus de nucléaire depuis 2002. Nous demandons à nos fournisseurs de nous certifier qu'ils vendent de l'énergie non nucléaire." Mais malgré ces précautions, il est impossible de retracer la provenance de chaque électron.

 Pour Philippe Verburgh, ce n'est pas une raison pour disqualifier la disposition constitutionnelle. "A titre personnel, j'estime que sans pression du marché et du pouvoir législatif, on aura tendance à choisir la facilité et à cesser de produire du renouvelable. Si on veut véritablement sortir du nucléaire et éviter la construction d'une, voire deux centrales, il faut mettre le paquet sur les économies d'énergie et le renouvelable."

 Au bout du Léman, l'interdiction du nucléaire date de 1986. Il est le fruit d'une longue lutte: dans les années 1970-80, le surgénérateur français de Creys-Malville et le projet avorté de centrale nucléaire à Verbois avaient déjà mobilisé les Genevois. Depuis la fin des années 1970, Genève a toujours voté contre le nucléaire lors des scrutins fédéraux. Quelques mois après l'accident de Tchernobyl, les Genevois ont approuvé à 60% l'adoption de l'article aujourd'hui remis en question.

 Si une majorité de constituants accepte la proposition libérale, Genève donnera un signal au reste de la Suisse, où trois projets de centrales sont à l'étude: à Gösgen, Mühleberg et Beznau. Le peuple devrait être consulté au niveau national en 2013. D'autres villes et cantons ont adopté une posture antinucléaire: les deux Bâle l'ont inscrite dans leur Constitution respective; les villes de Zurich, Saint-Gall et Berne veulent sortir du nucléaire à l'horizon 2040-50. Les gouvernements fribourgeois et neuchâtelois, les Vaudois ainsi que la ville de Berne se sont opposés à la demande de levée de la limitation d'exploitation de Mühleberg, en vain.

 La Constituante a déjà surpris par quelques décisions, comme celle de retirer l'égalité hommes-femmes et le droit au logement de la charte fondamentale du canton. Avec la proposition libérale, un nouveau feu risque d'être allumé.

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Oltner Tagblatt 30.9.10

Die Finnen setzen auf Kernenergie Olkiluoto Erster Reaktor der neusten Generation vor der Vollendung

 von Beat Nützi, Helsinki

 In Finnland ist in der Umsetzung, was in der Schweiz noch kommen soll: In Olkiluoto steht ein Kernkraftwerk neuster Generation im Bau und für die Realisierung eines Tiefenlagers sind alle Weichen gestellt.

 Hoher Energieverbrauch

 Finnland ist geprägt durch sein relativ kühles Klima, die geringe Bevölkerungsdichte (rund 5 Mio. Einwohner auf 338 000 Quadratkilometern) und die grossen Transportdistanzen, die es im Land zu überbrücken gilt. Der hohe Lebensstandard der Bevölkerung und die energieintensive Industriestruktur (z. B. Papier, Metall, Chemie) haben dazu geführt, dass Finnland im europäischen Vergleich beim Pro-Kopf-Energieverbrauch, der fast doppelt so hoch ist wie in der Schweiz, in der Spitzengruppe liegt. Das Land hat keine Reserven an fossilen Energieträgern, ist zudem relativ flach, sodass trotz der vorhandenen 40 000 Seen das Wasserkraft-Potenzial beschränkt und bereits weitgehendst erschlossen ist.

 Hohe Importabhängigkeit

 Die daraus resultierende Importabhängigkeit im Energiebereich - 2008 importierte das Land 55 Prozent der insgesamt konsumierten Energie aus dem Ausland (Schweiz: fast 70 Prozent) - hat frühzeitig das Interesse an der Kernenergie geweckt. So stammen heute rund 28 Prozent des Stroms aus Kernkraftwerken (Schweiz: 40 Prozent). Die finnische Kernenergiewirtschaft ist im internationalen Vergleich relativ klein, denn sie umfasst nur zwei Anlagen mit je zwei Reaktorblöcken in Olkiluoto (am Bottnischen Meerbusen etwa 50 Kilometer nördlich von Rauma gelegen) und Loviisa (etwa 200 Kilometer östlich von Helsinki gelegen) mit einer installierten Leistung von insgesamt rund 2700 Megawatt (MW).

 Beide Kraftwerkstandorte verfügen bereits über Lager für den schwach- und mittelaktiven radioaktiven Abfall, die ohne öffentliche Akzeptanzprobleme eingerichtet wurden. Die schwach- und mittelaktiven Abfälle werden jeweils in 70 bis 110 Metern Tiefe in gewachsenem Felsgestein eingelagert. Am Standort Olkiluoto, an dem die beiden schwedischen Siedewasserreaktoren betrieben werden, begann man 1988 mit der Ausschachtung und 1992 mit der Einlagerung. In Loviisa, wo die beiden Reaktoren sowjetischer Bauart betrieben werden, nahm man 1993 die Ausschachtung in Angriff und begann 1998 mit der Einlagerung. Beide Lager sind so dimensioniert, dass sie sowohl die schwach- und mittelaktiven Abfälle, als auch die bei einem Rückbau der beiden Kernkraftwerkblöcke anfallenden Entsorgungsvolumina aufnehmen können.

 Endlager bis 2020

 Aufgrund des Ausfuhrstopps für radioaktive Abfälle gründeten die beiden finnischen Betreiberunternehmen Fortum Oy (Standort Loviisa) und TVO-Teollisuuden Voima Oyjfür (Standort Olkiluoto) für das Entsorgungsmanagement 1996 gemeinsam das Unternehmen Posiva (entspricht der schweizerischen Nagra), das Umweltverträglichkeitsprüfungen für verschiedene Standorte vorlegte. Das finnische Parlament hat im Mai 2001 einen Grundsatzentscheid der Regierung aus dem Vorjahr für den Bau eines Endlagers für abgebrannte Brennelemente an der Westküste in Olkiluoto (Gemeinde Eurajoki) ratifiziert. Bei 159 Ja und 3 Nein stimmten weniger als eine Handvoll der insgesamt 200 Mitglieder des nationalen Parlaments dagegen. Mit Untersuchungen in einem 420 Meter tiefen Sondierstollen (künftiges Lagerniveau) werden die Eigenschaften des zwei Milliarden Jahre alten Grundgesteins verifiziert, bevor der Bau des Endlagers 2012 begonnen werden soll. Die Betriebsaufnahme ist für 2020 geplant.

 Olkiluoto-3 vor der Vollendung

 Zurzeit laufen in Olkiluoto die Bauarbeiten am Reaktorblock 3 auf Hochtouren. Verantwortlich für den Bau sind die französische Areva (Nuklearteil) und der deutsche Siemens-Konzern (Maschinenhaus). Eigentlich hätte der erste europäische Druckwasserreaktor als Prestigeobjekt bereits Ende April 2009 fertiggestellt sein sollen. Doch Olkiluoto als Vorzeigeobjekt der Atomindustrie ist für Areva und Siemens wegen massiven Bauverzögerungen längst zum Problemfall geworden. Wegen der Verzögerungen streiten sich die beiden Firmen seit zwei Jahren mit der Bauherrin TVO vor Gericht. Es geht um viel Geld, weil mit Mehrkosten in Milliardenhöhe für die mit drei Milliarden Euro veranschlagte Anlage zu rechnen ist. Gegenüber Schweizer Journalisten, die sich auf Einladung des Nuklearforums Schweiz in Olkiluoto aufhielt, wollten die Verantwortlichen vor Ort keine konkreten Angaben zu den Mehrkosten machen. Hinter vorgehaltener Hand spricht man allerdings sogar von einer Verdoppelung des veranschlagten Preises. Nach heutigem Planungsstand soll das neue Kernkraftwerk im Jahr 2012 erstmals Strom ans Netz abgeben - also etwa mit drei Jahren Verzögerung.

 Die Dimensionen des 1,6-Megawatt-Werks sind gewaltig: Insgesamt wurden rund 300 000 Kubikmeter Beton verbaut und der Generator wiegt alleine 4300 Tonnen.

 Ausbau der Kernenergie geht weiter

 Der Ausbau der Kernenergie-Nutzung in Finnland ist mit dem Reaktorblock 3 in Olkiluoto nicht abgeschlossen. Das finnische Parlament hat sich nämlich im vergangenen Juli für den Bau von zwei weiteren Kernkraftwerken ausgesprochen. So soll in Olkiluoto eine vierte Anlage entstehen und eine weitere in Simo oder Pyhäjoki. Ein drittes Gesuch für einen dritten Block in Loviisa wurde hingegen abgelehnt. Für die bewilligten Projekte müssen nun innerhalb von fünf Jahren die Gesuche für eine Baubewilligung eingereicht werden, sonst verfallen die Grundsatzentscheide. Mit dem weiteren Ausbau der Kernenergie und der erneuerbaren Energien wollen die Finnen "erhebliche Emissionsreduktionen in der Stromerzeugung" erreichen und "den Weg zur EU-Vision einer Kohlenstoff-neutralen Enegieerzeugung" weiter verfolgen, wie Jorma Aurela vom Ministerium für Arbeit und Wirtschaft vor den Schweizer Journalisten in Helsinki betonte.

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pressetext.ch 30.9.10

Rosatom: Russland brennt aufs große Atomgeschäft

 Staatlicher Reaktor-Anbieter will bis 2030 über 50 Mrd. Dollar umsetzen

 Moskau/New York (pte/30.09.2010/11:45) - Russland will in den kommenden Jahren zum weltweit führenden Anbieter von Atomanlagen aufsteigen. Zu diesem Zweck soll der staatseigene Nukleargigant Rosatom http://rosatom.ru auch künftig global Geschäfte anbahnen. Der Anfang der Offensive ist gemacht. Weltweit bestreitet der Konzern derzeit 15 Atom-Projekte. Das ist mehr als jeder andere internationale Rivale gegenwärtig aufweisen kann. Fünf der Anlagen werden außerhalb Europas errichtet.

 China und Indien im Visier

 "Länder, die Russland mit dem Bau von Meilern beauftragen, sollten sich darüber im Klaren sein, dass die Bauzeiten sehr lang sind und dahinter ein schwerfälliger Apparat steht", so der Atomexperte Stefan Füglister von der Kampagnenforum GmbH http://kampagnenforum.ch gegenüber pressetext. "Die Russen importieren neben den Anlagen dann oft auch eine sehr laxe Gesetzgebung in Bezug auf die Sicherheitsanforderungen der Anlagen", kritisiert Füglister.

 Die Chancen im Atom-Business stehen gut. Anfang der Woche gab Rosatom bekannt, zwei Atomreaktoren als Folgeaufträge nach China zu liefern. Die boomende Volksrepublik hatte bereits in der Vergangenheit zwei Nuklearanlagen von den Russen aufbauen lassen. "China hat gegenwärtig keine Priorität Nummer eins. Wir haben größere Partnerschaften in Indien, der Türkei und bald auch in Vietnam", zitiert Bloomberg Rosatom-CEO Sergei Kiriyenko.

 Die Nachfrage nach Energie ist vor allem in den aufstrebenden Schwellenländern sehr groß. Ein weiterer Vorteil gegenüber der internationalen Konkurrenz: Rosatom kann vor allem bei der günstigen Preisgestaltung punkten. Der OECD nach kostet der Bau einer 1.000 Megawatt leistenden Anlage bei den Russen im Schnitt rund 2,9 Mrd. Dollar. Im Vergleich zu globalen Rivalen fallen die Preise für die Anlagen damit zwischen 20 und 50 Prozent niedriger aus.

 Staat zieht weltweit Aufträge an Land

 Die Technologien Rosatoms stehen denen westlicher Anbieter in nichts mehr nach. Denn seit dem Super-Gau in Tschernobyl im April 1986 wurde das Entwicklungsdesign internationalen Sicherheitsstandards angepasst. Kiriyenko, der ehemaliger Chef des russischen Atomenergie-Ministeriums war, treibt den Expansionskurs von Rosatom bereits seit 2005 aggressiv voran. Seine Vision: Den Jahresumsatz von derzeit 17 Mrd. bis 2030 auf 50 Mrd. Dollar zu erhöhen.

 Rosatom profitiert stark von der politischen Schützenhilfe aus dem Kreml. Premier Vladimir Putin vermittelte dem Konzern in Indien 2009 zwei Aufträge für Atomreaktoren. Die Inder beauftragten die russische Rüstungsindustrie zudem mit dem Bau von 29 MiG-Kampfjets und anderer Waffen. Um die Nachfrage nach Atomanlagen zu stärken, hat sich Kiriyenko mit Rosatom im Juni 2010 für rund 610 Mio. Dollar bei einer kanadischen Uran-Mine eingekauft.